Studien über Hysterie/Beobachtung IV. Katharina…

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Beobachtung III. Frl. Lucie R… Studien über Hysterie (1895)
von Sigmund Freud, Josef Breuer
Beobachtung V. Frl. Elisabeth v. R…
[106]
IV. Katharina .... (Freud).

In den Ferien des Jahres 189* machte ich einen Ausflug in die Hohen Tauern, um für eine Weile die Medicin und besonders die Neurosen zu vergessen. Es war mir fast gelungen, als ich eines Tages [107] von der Hauptstrasse abwich, um einen abseits gelegenen Berg zu besteigen, der als Aussichtspunkt und wegen seines gut gehaltenen Schutzhauses gerühmt wurde. Nach anstrengender Wanderung oben angelangt, gestärkt und ausgeruht sass ich dann, in die Betrachtung einer entzückenden Fernsicht versunken, so selbstvergessen da, dass ich es erst nicht auf mich beziehen wollte, als ich die Frage hörte: „Ist der Herr ein Doctor?“ Die Frage galt aber mir und kam von dem etwa 18jährigen Mädchen, das mich mit ziemlich mürrischer Miene zur Mahlzeit bedient hatte und von der Wirthin „Katharina“ gerufen worden war. Nach ihrer Kleidung und ihrem Betragen konnte sie keine Magd, sondern musste wohl eine Tochter oder Verwandte der Wirthin sein.

Ich antwortete, zur Selbstbesinnung gelangt: „Ja, ich bin ein Doctor. Woher wissen Sie das?“

„Der Herr hat sich in’s Fremdenbuch eingeschrieben, und da hab’ ich mir gedacht, wenn der Herr Doctor jetzt ein bischen Zeit hätte –, ich bin nämlich nervenkrank und war schon einmal bei einem Doctor in L..., der hat mir auch etwas gegeben, aber gut ist mir noch nicht geworden.“

Da war ich also wieder in den Neurosen, denn um etwas anderes konnte es sich bei dem grossen und kräftigen Mädchen mit der vergrämten Miene kaum handeln. Es interessirte mich, dass Neurosen in der Höhe von über 2000 Metern so wohl gedeihen sollten, ich fragte also weiter.

Die Unterredung, die jetzt zwischen uns vorfiel, gebe ich so wieder, wie sie sich meinem Gedächtniss eingeprägt hat, und lasse der Patientin ihren Dialect.

„An was leiden Sie denn?“

„Ich hab’ so Athemnoth; nicht immer, aber manchmal packt’s mich so, dass ich glaube, ich erstick’.“

Das klang nun zunächst nicht nervös, aber es wurde mir gleich wahrscheinlich, dass es nur eine ersetzende Bezeichnung für einen Angstanfall sein sollte. Aus dem Empfindungscomplex der Angst hob sie das eine Moment der Athembeengung ungebührlich hervor.

„Setzen Sie sich her. Beschreiben Sie mir’s, wie ist denn so ein Zustand von „Athemnoth“?“

„Es kommt plötzlich über mich. Dann legt’s sich zuerst wie ein Druck auf meine Augen, der Kopf wird so schwer und sausen thut’s, nicht auszuhalten, und schwindlich bin ich, dass ich glaub’, ich fall’ um, und dann presst’s mir die Brust zusammen, dass ich keinen Athem krieg’.“

[108] „Und im Hals spüren Sie nichts?“

„Den Hals schnürt’s mir zusammen, als ob ich ersticken sollt?“

„Und thut es sonst noch was im Kopf?“

„Ja, hämmern thut es zum Zerspringen.“

„Ja, und fürchten Sie sich gar nicht dabei?“

„Ich glaub’ immer, jetzt muss ich sterben, und ich bin sonst couragirt, ich geh’ überall allein hin, in den Keller und hinunter über den ganzen Berg, aber wenn so ein Tag ist, an dem ich das hab’, dann trau’ ich mich nirgends hin, ich glaub’ immer, es steht jemand hinter mir und packt mich plötzlich an.“

Es war wirklich ein Angstanfall, und zwar eingeleitet von den Zeichen der hysterischen Aura, oder besser gesagt, ein hysterischer Anfall, dessen Inhalt Angst war. Sollte kein anderer Inhalt dabei sein?

„Denken Sie was, immer dasselbe, oder sehen Sie was vor sich, wenn Sie den Anfall haben?“

„Ja, so ein grausliches Gesicht seh ich immer dabei, das mich so schrecklich anschaut, vor dem fürcht’ ich mich dann.“

Da bot sich vielleicht ein Weg, rasch zum Kern der Sache vorzudringen.

„Erkennen Sie das Gesicht; ich mein’, ist das ein Gesicht, was Sie einmal wirklich gesehen haben?“ – „Nein.“

„Wissen Sie, woher Sie die Anfälle haben?“ „Nein.“ – „Wann haben Sie die denn zuerst bekommen?“ – „Zuerst vor zwei Jahren, wie ich noch mit der Tant’ auf dem anderen Berg war, sie hat dort früher das Schutzhaus gehabt, jetzt sind wir seit 1½ Jahren hier, aber es kommt immer wieder.“

Sollte ich hier einen Versuch der Analyse machen? Die Hypnose zwar wagte ich nicht in diese Höhen zu verpflanzen, aber vielleicht gelingt es im einfachen Gespräch. Ich musste glücklich rathen. Angst bei jungen Mädchen hatte ich so oft als Folge des Grausens erkannt, das ein virginales Gemüth befällt, wenn sich zuerst die Welt der Sexualität vor ihm aufthut.[1]

[109] Ich sagte also: „Wenn Sie’s nicht wissen, will ich Ihnen sagen, wovon ich denke, dass Sie Ihre Anfälle bekommen haben. Sie haben einmal, damals vor zwei Jahren, etwas gesehen oder gehört, was Sie sehr genirt hat, was Sie lieber nicht möchten gesehen haben.“

Sie darauf: „Jesses ja, ich hab’ ja den Onkel bei dem Mädel erwischt, bei der Francisca, meiner Cousine!“

„Was ist das für eine Geschichte mit dem Mädel? Wollen Sie mir die nicht erzählen?“

„Einem Doctor darf man ja alles sagen. Also wissen Sie, der Onkel, er war der Mann von meiner Tant’, die Sie da gesehen haben, hat damals mit der Tant’ das Wirthshaus auf dem **kogel gehabt; jetzt sind sie geschieden, und ich bin Schuld daran, dass sie geschieden sind, weil’s durch mich aufgekommen ist, dass er’s mit der Francisca hält.“

„Ja, wie sind Sie zu der Entdeckung gekommen?“

„Das war so. Vor zwei Jahren sind einmal ein paar Herren heraufgekommen und haben zu essen verlangt. Die Tant’ war nicht zu Haus’, und die Francisca war nirgends zu finden, die immer gekocht hat. Der Onkel war auch nicht zu finden. Wir suchen sie überall, da sagt der Bub, der Alois, mein Cousin: ‚Am End’ ist die Francisca beim Vatern‘. Da haben wir beide gelacht, aber gedacht haben wir uns nichts Schlechtes dabei. Wir gehen zum Zimmer, wo der Onkel gewohnt hat, das ist zugesperrt. Das war mir aber auffällig. Sagt der Alois: Am Gang ist ein Fenster, da kann man hineinschauen in’s Zimmer. Wir gehen auf den Gang. Aber der Alois mag nicht zum Fenster, er sagt, er fürcht sich. ‚Da sag’ ich: Du dummer Bub, ich geh hin, ich fürcht’ mich gar nicht‘. Ich habe auch gar nichts Arges im Sinne gehabt. Ich schau hinein, das Zimmer war ziemlich dunkel, aber da seh ich den Onkel und die Francisca, und er liegt auf ihr.“

„Nun?“

„Ich bin gleich weg vom Fenster, hab’ mich an die Mauer angelehnt, hab’ die Athemnoth bekommen, die ich seitdem hab’, die Sinne sind mir vergangen, die Augen hat es mir zugedrückt und im Kopf hat es gehämmert und gebraust.“

„Haben Sie’s gleich am selben Tag der Tante gesagt?“

„O nein, ich hab nichts gesagt.“

[110] „Warum sind Sie denn so erschrocken, wie Sie die Beiden beisammen gefunden haben? Haben Sie denn etwas verstanden? Haben Sie sich etwas gedacht, was da geschieht?“

„O nein, ich hab’ damals gar nichts verstanden, ich war erst 16 Jahre alt. Ich weiss nicht, worüber ich so erschrocken bin.“

„Fräulein Katharin’, wenn Sie sich jetzt erinnern könnten, was damals in Ihnen vorgegangen ist, wie Sie den ersten Anfall bekommen haben, was Sie sich dabei gedacht haben, dann wäre Ihnen geholfen.“

„Ja, wenn ich könnt’, ich bin aber so erschrocken gewesen, dass ich alles vergessen hab’.“

(In die Sprache unserer „vorläufigen Mittheilung“ übersetzt, heisst das: Der Affect schafft selbst den hypnoiden Zustand, dessen Producte dann ausser associativem Verkehr mit dem Ichbewusstsein stehen.)

„Sagen Sie, Fräulein, ist der Kopf, den Sie immer bei der Athemnoth sehen, vielleicht der Kopf von der Francisca, wie Sie ihn damals gesehen haben?“

„O nein, der war doch nicht so grauslich, und dann ist es ja ein Männerkopf.“

„Oder vielleicht vom Onkel?“

„Ich hab’ sein Gesicht gar nicht so deutlich gesehen, es war zu finster im Zimmer und warum sollt’ er denn damals ein so schreckliches Gesicht gemacht haben?“

„Sie haben Recht.“ (Da schien nun plötzlich der Weg verlegt. Vielleicht findet sich in der weiteren Erzählung etwas.)

„Und was ist dann weiter geschehen?“

„Nun, die zwei müssen Geräusch gehört haben. Sie sind bald herausgekommen. Mir war die ganze Zeit recht schlecht, ich hab’ immer nachdenken müssen, dann ist zwei Tage später ein Sonntag gewesen, da hat’s viel zu thun gegeben, ich hab’ den ganzen Tag gearbeitet und am Montag früh, da hab’ ich wieder den Schwindel gehabt und hab’ erbrochen und bin zu Bett geblieben und hab’ drei Tage fort und fort gebrochen.“

Wir hatten oft die hysterische Symptomatologie mit einer Bilderschrift verglichen, die wir nach Entdeckung einiger bilinguer Fälle zu, lesen verstünden. In diesem Alphabet bedeutet Erbrechen Ekel. Ich sagte ihr also: „Wenn Sie drei Tage später erbrochen haben, so glaub’ ich, Sie haben sich damals, wie Sie in’s Zimmer hineingeschaut haben, geekelt.“

[111] „Ja, geekelt werd’ ich mich schon haben,“ sagt sie nachdenklich. „Aber wovor denn?“

„Sie haben vielleicht etwas Nacktes gesehen? Wie waren denn die beiden Personen im Zimmer?“

„Es war zu finster, um was zu sehen, und die waren ja beide angezogen (in Kleidern). Ja, wenn ich nur wüsst’, wovor ich mich damals geekelt hab’.“

Das wusste ich nun auch nicht. Aber ich forderte sie auf, weiter zu erzählen, was ihr einfiele, in der sicheren Erwartung, es werde ihr gerade das einfallen, was ich zur Aufklärung des Falles brauchte.

Sie berichtet nun, dass sie endlich der Tante, die sie verändert fand und dahinter ein Geheimniss vermuthete, ihre Entdeckung mittheilte, dass es darauf sehr verdriessliche Scenen zwischen Onkel und Tante gab, die Kinder Dinge zu hören bekamen, die ihnen über manches die Augen öffneten, und die sie besser nicht hätten hören sollen, bis die Tante sich entschloss, mit ihren Kindern und der Nichte die andere Wirthschaft hier zu übernehmen und den Onkel mit der unterdess gravid gewordenen Francisca allein zu lassen. Dann aber lässt sie zu meinem Erstaunen diesen Faden fallen und beginnt zwei Reihen von älteren Geschichten zu erzählen, die um 2–3 Jahre hinter dem traumatischen Moment zurückreichen. Die erste Reihe enthält Anlässe, bei denen derselbe Onkel ihr selbst sexuell nachgestellt, als sie erst 14 Jahre alt war. Wie sie einmal mit ihm im Winter eine Partie in’s Thal gemacht und dort im Wirtshaus übernachtet. Er blieb trinkend und kartenspielend in der Stube sitzen, sie wurde schläfrig und begab sich frühzeitig in das für Beide bestimmte Zimmer im Stock. Sie schlief nicht fest, als er hinaufkam, dann schlief sie wieder ein und plötzlich erwachte sie und „spürte seinen Körper“ im Bett. Sie sprang auf, machte ihm Vorwürfe. „Was treiben’s denn, Onkel? Warum bleiben’s nicht in Ihrem Bett?“ Er versuchte sie zu beschwatzen; „Geh, dumme Gredel, sei still, du weisst ja nicht, wie gut das is.“ – „Ich mag Ihr Gutes nicht, nit einmal schlafen lassen’s einen“. Sie bleibt bei der Thür stehen, bereit, auf den Gang hinaus zu flüchten, bis er ablässt und selbst einschläft. Dann legt sie sich in ihr Bett und schläft bis zum Morgen. Aus der Art der Abwehr, die sie berichtet, scheint sich zu ergeben, dass sie den Angriff nicht klar als einen sexuellen erkannte; darnach gefragt, ob sie denn gewusst, was er mit ihr vorgehabt, antwortete sie: Damals nicht, es sei ihr viel später klar [112] geworden. Sie hätte sich gesträubt, weil es ihr unangenehm war, im Schlaf gestört zu werden, und „weil sich das nicht gehört hat“.

Ich musste diese Begebenheit ausführlich berichten, weil sie für das Verständniss alles Späteren eine grosse Bedeutung besitzt. – Sie erzählt dann noch andere Erlebnisse aus etwas späterer Zeit, wie sie sich seiner abermals in einem Wirthshaus zu erwehren hatte, als er vollbetrunken war, udgl. mehr. Auf meine Frage, ob sie bei diesen Anlässen etwas Aehnliches verspürt wie die spätere Athemnoth, antwortet sie mit Bestimmtheit, dass sie dabei jedesmal den Druck auf die Augen und auf die Brust bekam, aber lange nicht so stark wie bei der Scene der Entdeckung.

Unmittelbar nach Abschluss dieser Reihe von Erinnerungen beginnt sie eine zweite zu erzählen, in welcher es sich um Gelegenheiten handelt, wo sie auf etwas zwischen dem Onkel und der Francisca aufmerksam wurde. Wie sie einmal, die ganze Familie, die Nacht auf einem Heuboden in Kleidern verbracht und sie in Folge eines Geräusches plötzlich aufwachte; sie glaubte zu bemerken, dass der Onkel, der zwischen ihr und der Francisca gelegen war, wegrückte und die Francisca sich gerade legte. Wie sie ein anderes Mal in einem Wirthshaus des Dorfes N . . übernachteten, sie und der Onkel in dem einen Zimmer, die Francisca in einem anderen nebenan. In der Nacht erwachte sie plötzlich und sah eine lange weisse Gestalt bei der Thür, im Begriff, die Klinke niederzudrücken: „Jesses, Onkel, sein Sie’s? Was wollen’s bei der Thür?“ – „Sei still, ich hab’ nur was gesucht.“ – „Da geht man ja bei der anderen Thür heraus.“ – „Ich hab mich halt verirrt u. s. w.

Ich frage sie, ob sie damals einen Argwohn gehabt. „Nein, gedacht hab’ ich mir gar nichts dabei, es ist mir nur immer aufgefallen, aber ich hab’ nichts weiter daraus gemacht.“ – Ob sie bei diesen Gelegenheiten auch die Angst bekommen? – Sie glaubt, ja, aber diesmal ist sie dessen nicht so sicher.

Nachdem sie diese beiden Reihen von Erzählungen beendigt, hält sie inne. Sie ist wie verwandelt, das mürrische, leidende Gesicht hat sich belebt, die Augen sehen frisch drein, sie ist erleichtert und gehoben. Mir aber ist unterdess das Verständniss ihres Falles aufgegangen; was sie mir zuletzt anscheinend planlos erzählt hat, erklärt vortrefflich ihr Benehmen bei der Scene der Entdeckung. Sie trug damals zwei Reihen von Erlebnissen mit sich, die sie erinnerte aber nicht verstand, zu keinem Schluss verwertete; beim Anblick des [113] coitirenden Paares stellte sie sofort die Verbindung des neuen Eindrucks mit diesen beiden Reihen von Reminiscenzen her, begann zu verstehen und gleichzeitig abzuwehren. Dann folgte eine kurze Periode der Ausarbeitung, „der Incubation“, und darauf stellten sich die Symptome der Conversion, das Erbrechen, als Ersatz für den moralischen und physischen Ekel ein. Das Räthsel war damit gelöst, sie hatte sich nicht vor dem Anblick der Beiden geekelt, sondern vor einer Erinnerung, die ihr jener Anblick geweckt hatte, und alles erwogen, konnte dies nur die Erinnerung an den nächtlichen Ueberfall sein, als sie „den Körper des Onkels spürte“.

Ich sagte ihr also, nachdem sie ihre Beichte beendigt hatte: „Jetzt weiss ich schon, was Sie sich damals gedacht haben, wie Sie in’s Zimmer hineingeschaut haben. Sie haben sich gedacht: jetzt thut er mit ihr, was er damals bei Nacht und die anderen Male mit mir hat thun wollen. Davor haben Sie sich geekelt, weil Sie sich an die Empfindung erinnert haben, wie Sie in der Nacht aufgewacht sind und seinen Körper gespürt haben.“

Sie antwortet: „Das kann schon sein, dass ich mich davor geekelt, und dass ich damals das gedacht hab’.“

„Sagen Sie mir einmal genau, Sie sind ja jetzt ein erwachsenes Mädchen und wissen allerlei –“

„Ja jetzt, freilich.“

„Sagen Sie mir genau, was haben Sie denn in der Nacht eigentlich von seinem Körper verspürt?“

Sie gibt aber keine bestimmtere Antwort, sie lächelt verlegen und wie überführt, wie einer, der zugeben muss, dass man jetzt auf den Grund der Dinge gekommen ist, über den sich nicht mehr viel sagen lässt. Ich kann mir denken, welches die Tastempfindung war, die sie später deuten gelernt hat; ihre Miene scheint mir auch zu sagen, dass sie von mir voraussetzt, ich denke mir das Richtige, aber ich kann nicht weiter in sie dringen; ich bin ihr ohnehin Dank dafür schuldig, dass sie soviel leichter mit sich reden lässt als die prüden Damen in meiner Stadtpraxis, für die alle naturalia turpia sind.

Somit wäre der Fall geklärt; aber halt, die im Anfall wiederkehrende Hallucination des Kopfes, der ihr Schrecken einjagt, woher kommt die? Ich frage sie jetzt darnach. Als hätte auch sie in diesem Gespräch ihr Verständniss erweitert, antwortet sie prompt: „Ja, das weiss ich jetzt schon, der Kopf ist der Kopf vom Onkel, ich erkenn’s jetzt, aber nicht aus der Zeit. Später, wie dann alle die Streitigkeiten [114] losgegangen sind, da hat der Onkel eine unsinnige Wuth auf mich bekommen; er hat immer gesagt, ich bin Schuld an allem; hätt’ ich nicht geplauscht, so wär’s nie zur Scheidung gekommen; er hat mir immer gedroht, er thut mir was an; wenn er mich von Weitem gesehen hat, hat sich sein Gesicht vor Wuth verzogen, und er ist mit der gehobenen Hand auf mich losgegangen. Ich bin immer vor ihm davongelaufen und hab’ immer die grösste Angst gehabt, er packt mich irgendwo unversehens. Das Gesicht, was ich jetzt immer sehe, ist sein Gesicht, wie er in der Wuth war.“

Diese Auskunft erinnert mich daran, dass ja das erste Symptom der Hysterie, das Erbrechen, vergangen ist; der Angstanfall ist geblieben und hat sich mit neuem Inhalt gefüllt. Demnach handelt es sich um eine zum guten Theile abreagirte Hysterie. Sie hat ja auch wirklich ihre Entdeckung bald hernach der Tante mitgetheilt.

„Haben Sie der Tante auch die anderen Geschichten erzählt, wie er Ihnen nachgestellt hat?“

„Ja, nicht gleich, aber später, wie schon von der Scheidung die Rede war. Da hat die Tant’ gesagt: Das heben wir uns auf; wenn er Schwierigkeiten vor Gericht macht, dann sagen wir auch das.“

Ich kann verstehen, dass gerade aus der letzten Zeit, als die aufregenden Scenen im Hause sich häuften, als ihr Zustand aufhörte, das Interesse der Tante zu erwecken, die von dem Zwist vollauf in Anspruch genommen war, dass aus dieser Zeit der Häufung und Retention das Erinnerungssymbol verblieben ist.

Ich hoffe, die Ausprache mit mir hat dem in seinem sexuellen Empfinden so frühzeitig verletzten Mädchen in etwas wohlgethan; ich habe sie nicht wiedergesehen.

Epikrise.

Ich kann nichts dagegen einwenden, wenn jemand in dieser Krankengeschichte weniger einen analysirten als einen durch Errathen aufgelösten Fall von Hysterie erblicken will. Die Kranke gab zwar alles, was ich in ihren Bericht interpolirte, als wahrscheinlich zu; sie war aber doch nicht im Stande es als Erlebtes wiederzuerkennen. Ich meine, dazu hätte es der Hypnose bedurft. Wenn ich annehme, ich hätte richtig gerathen, und nun versuche, diesen Fall auf das Schema einer acquirirten Hysterie zu reduciren, wie es sich uns aus Fall III ergeben hat, so liegt es nahe, die zwei Reihen von erotischen Erlebnissen mit traumatischen Momenten, die Scene bei der Entdeckung [115] des Paares mit einem auxiliären Moment zu vergleichen. Die Aehnlichkeit liegt darin, dass in den ersteren ein Bewusstseinsinhalt geschaffen wurde, welcher, von der Denkthätigkeit des Ich ausgeschlossen, aufbewahrt blieb, während in der letzteren Scene ein neuer Eindruck die associative Vereinigung dieser abseits befindlichen Gruppe mit dem Ich erzwang. Andererseits finden sich auch Abweichungen, die nicht vernachlässigt werden können. Die Ursache der Isolirung ist nicht wie bei Fall III der Wille des Ich, sondern die Ignoranz des Ich, das mit sexuellen Erfahrungen noch nichts anzufangen weiss. In dieser Hinsicht ist der Fall Katharina ein typischer; man findet bei der Analyse jeder auf sexuelle Traumen begründeten Hysterie, dass Eindrücke aus der vorsexuellen Zeit, die auf das Kind wirkungslos geblieben sind, später als Erinnerungen traumatische Gewalt erhalten, wenn sich der Jungfrau oder Frau das Verständniss des sexuellen Lebens erschlossen hat. Die Abspaltung psychischer Gruppen ist sozusagen ein normaler Vorgang in der Entwicklung der Adolescenten, und es wird begreiflich, dass deren spätere Aufnahme in das Ich einen häufig genug ausgenützten Anlass zu psychischen Störungen gibt. Ferner möchte ich an dieser Stelle noch dem Zweifel Ausdruck geben, ob die Bewusstseinsspaltung durch Ignoranz wirklich von der durch bewusste Ablehnung verschieden ist, ob nicht auch die Adolescenten viel häufiger sexuelle Kentniss besitzen, als man von ihnen vermeint, und als sie sich selbst zutrauen.

Eine weitere Abweichung im psychischen Mechanismus dieses Falles liegt darin, dass die Scene der Entdeckung, welche wir als „auxiliäre“ bezeichnet haben, gleichzeitig auch den Namen einer „traumatischen“ verdient. Sie wirkt durch ihren eigenen Inhalt, nicht bloss durch die Erweckung der vorhergehenden traumatischen Erlebnisse, sie vereinigt die Charaktere eines „auxiliären“ und eines traumatischen Momentes. Ich sehe in diesem Zusammenfallen aber keinen Grund eine begriffliche Scheidung aufzugeben, welcher bei anderen Fällen auch eine zeitliche Scheidung entspricht. Eine andere Eigentümlichkeit des Falles Katharina, die übrigens seit Langem bekannt ist, zeigt sich darin, dass die Conversion, die Erzeugung der hysterischen Phänomene nicht unmittelbar nach dem Trauma, sondern nach einem Intervall von Incubation vor sich geht. Charcot nannte dieses Intervall mit Vorliebe die „Zeit der psychischen Ausarbeitung.“

Die Angst, an der Katharina in ihrer Anfällen leidet, ist eine hysterische, d. h. eine Reproduction jener Angst, die bei jedem der [116] sexuellen Traumen auftrat. Ich unterlasse es hier den Vorgang auch zu erläutern, den ich in einer ungemein grossen Anzahl von Fällen als regelmässig zutreffend erkannt habe, dass die Ahnung sexueller Beziehungen bei virginalen Personen einen Angstaffekt hervorruft.


  1. Ich will den Fall hier anführen, in welchem ich dies causale Verhältniss zuerst erkannte. Ich behandelte eine junge Frau an einer complicirten Neurose, die wieder einmal nicht zugeben wollte, dass sie sich ihr Leiden in ihrem ehelichen Leben geholt hatte. Sie wandte ein, dass sie schon als Mädchen an Anfällen von Angst gelitten habe, die in Ohnmacht ausgingen. Ich blieb standhaft. Als wir besser bekannt geworden waren, sagte sie mir plötzlich eines Tages: „Jetzt will ich Ihnen auch berichten, woher meine Angstzustände als junges Mädchen gekommen [109] sind. Ich habe damals in einem Zimmer neben dem meiner Eltern geschlafen, die Thür war offen und ein Nachtlicht brannte auf dem Tisch. Da habe ich denn einigemale gesehen, wie der Vater zur Mutter in’s Bett gegangen ist und habe etwas gehört, was mich sehr aufgeregt hat. Darauf bekam ich dann meine Anfälle.“


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