Sulina

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Autor: Wilhelm von Hamm
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Titel: Sulina
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aus: Die Gartenlaube, Heft 27–29, S. 380–383, 399–400, 415–417
Herausgeber: Ferdinand Stolle
Auflage:
Entstehungsdatum:
Erscheinungsdatum: 1859
Verlag: Verlag von Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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Sulina.
Reiseskizze von Dr. Wilhelm Hamm.
Reisegesellschaft auf dem Metternich. – Douanenwachen und türkische Subordination. – Bei der Sulinamündung. – Stadt Sulina. – Stadt der Qualen und Verdammniß. – Ein Gang durch die Straße. – Keine Frauen.

Wir reisten mit dem „Fürsten Metternich“, aber nicht mit dem alten berühmten Diplomaten und Besitzer des edelsten Weines, sondern in dem prächtigen Dampfboote der Donau-Compagnie, das seinen Namen trägt. Die Gesellschaft, welche sich in der blendenden, geräumigen Cajüte zusammengefunden hatte, war nicht groß, aber desto besser; aus aller Herren Länder waren Repräsentanten darunter. Dort ein Merchant’s-Clerk aus Manchester, Missionär für Calico und Jaconnet unter den Heiden des Ostens; hier ein fideler Weinreisender aus Marseille, welcher mit unnachahmlicher Suada la belle France und ihre moussirenden Producte pries; dort ein Hamburger Commis, der natürlich „Behrens“ hieß und männiglich im Vertrauen fragte, ob er glaube, daß es in Odessa „gutes Bier“ gäbe; hier ein griechischer Dandy aus Constantinopel, mit Ungeduld die Stunde erwartend, wo er wieder seine lackirten Stiefel auf der Promenade zeigen könne; ein Woll-wollender Speculant aus Basel begann seinen Einzug in die Cajüte gleich mit einem heftigen Zornergusse über den italienischen Steward, der es in irgend etwas gegen den gestrengen Herrn verfehlt hatte; umsonst suchte ein handfester westphälischer Ingenieur den Streit zu beschwichtigen, es bedurfte der Dazwischenkunft des Capitains, um einen Faustkampf zu verhindern; dem Schweizer aber gerieth seine Autoritätsucht nicht zum Besten, denn von nun an fügte es der Zufall, daß bei Tafel stets die Schüssel an ihn zuletzt kam. Da war noch ein Bankier aus Wien, ein feiner Mann, der wohlgefällig seinen ungeheueren Reichthum an Weißzeug umpackte – er führte nicht weniger als hundert Dutzend Hemden mit sich, alle zu eigenem Gebrauch, denn „Wer kann es mir wehren?“ sagte er; ferner ein junger Kaufmann aus Odessa, der von seiner großen Tour in „Europa“ zurückkehrte; eine kleine Sammlung junger Engländerinnen unter dem Schutze einer resoluten Gouvernante aus Neufchatel, im Begriff, sich nach Feodosia zu begeben; endlich ein paar schlanke, sehr gewählt gekleidete Damen aus Prag, junge Mädchen, deren treffliches, Clavierspiel uns manche langweilige Stunde verkürzte, aber leider doch nicht trefflich genug war, ihnen

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Sulina und die Sulinamündung. (Nach einem Croquis von W. Hamm.)

[382] später die geträumten goldenen Berge im Lande der Verheißung Rußland zu erobern.

Rasch waren wir eingerichtet, die geringe Zahl der Passagiere erlaubte es, Jedem eine Doppelkoje für sich einzuräumen, die er sonst hätte theilen müssen, und das war gut. Die Dampfschiffe der Donaugesellschaft sind alle vortrefflich und elegant, wenn sie auch in letzterer Hinsicht nicht mit denen des österreichischen Lloyd concurriren können; aber auf dem Meere bedarf man größeren Comforts, wie auf dem Strome, der alle Augenblicke zu landen erlaubt; freilich ist hier auf Terra firma blitzwenig von diesem zu gewahren und zu holen. Die Ufer der unteren Donau sind aller Reize baar. In endlosen Ebenen, soweit das Auge reicht, erstreckt sich links und rechts das sumpfige Schilfmeer, das hier viele Hunderte von Quadratmeilen einnimmt; weit und breit kein Baum, kein Strauch, keine menschliche Wohnung. Nur hier und da erhebt sich auf der linken, moldavanischen Stromseite in regelmäßigen Intervallen eine armselige Breterhütte, bestimmt für die türkische Douanenwache. So oft nun das Boot eine derartige Station passirte, sprangen rasch die paar Mann der Besatzung hervor, stellten sich in’s Glied, so gut es ging, und präsentirten ernsthaft das Gewehr. Ich sah mich unter der Gesellschaft der Cajüte um, im Glauben, es befinde sich vielleicht ein hoher Würdenträger incognito darunter, dem dies gelte; aber der Wiener, welcher die Reise schon mehr als einmal gemacht hatte, belehrte mich: „Die Burschen wollen durch diese Huldigung nur darthun, daß sie die unendliche Höhe unserer Nationalität über der ihrigen anerkennen!“ Gewiß ist noch niemals auf der unteren Donau so homerisch gelacht worden, wie im Laufe dieses Nachmittags auf unserem Deck. Als wir wiederum einmal eines jener Wachtlocale passirten, exercirte vor demselben ein türkischer Harambasse vier Mann Rekruten ein. Aber dieselben schienen schwer von Begriffen, denn laut und zornig scholl sein strenger Commandoton über das Wasser, er stand dabei nicht vor, sondern etwa zwanzig Schritte hinter seinen Mannen. Diese waren lange, robuste Schlingel im blauen Waffenrock und Fes, natürlich dabei barfüßig, der Unterofficier aber ein ganz kleiner schmächtiger Kerl, so daß es aussah, als sei er der Page der mit mühsamer, oft unterbrochener Fühlung voranmarschirenden Rekruten. Plötzlich aber schien Einer von diesen das Maß der Geduld des Befehlenden doch allzuheftig erschöpft zu haben, denn wie ein kleiner Tiger sprang er vorwärts und versetzte dem Strafbaren einen so wackeren Fußtritt auf das Ende der Rückenwirbel, daß er sofort überkollerte; dann aber fiel er mit einem Prügel, den er in der Hand trug, über ihn her und bläuete ihn auf das Jämmerlichste ab. Die anderen Rekruten marschirten gravitätisch weiter, ohne sich umzublicken, und ließen eine Lücke für den gezüchtigten Cameraden, welche dieser, nachdem er sich aufgerafft, im Doublirschritt wieder zu gewinnen trachtete. Aber unser lautes Gelächter war dem armen Teufel verderblich, denn es weckte wahrscheinlich die Bosheit des Harambassen und er fiel sofort auf’s Neue über sein geduldiges Opfer her, so daß sich die – für die Zuschauer – spaßhafte Scene noch mehrmals wiederholte, bis die Station dem Gesichtskreise entrückt war. Da hatten wir denn ein Pröbchen bekommen von dem Geiste des türkischen Kriegsheeres – an Subordination schien es zum mindesten nicht zu fehlen.

Mittlerweile war der Strom immer schmäler und schmäler geworden. War das noch die gewaltige Donau? Oft nur kaum hundert Fuß breit wand sich ein stiller Wasserspiegel dahin, unbewegt, wie ein stagnirender Sumpfcanal; wir waren in den eigentlichen Sulina-Arm eingelaufen, und die Fahrt in demselben erinnerte mich auffallend an diejenige mit dem Dampfboote von Oldenburg nach Elsfleth. Die mäandrischen Windungen aber, welche der im Morast seiner Delta’s halb verkommene Fluß hier macht, zu beschreiben, ist kaum möglich. In Texas gibt es, wie Gerstäcker irgendwo erzählt, einen River, in welchem keine Fische gedeihen, weil denselben seiner vielen Krümmungen wegen alsbald das Rückgrat verrenkt wird – von dem Donaucanale der Sulina dürfte man getrost das Gleiche berichten. Es lag gerade eine zahllose Menge von Getreideschiffen, nach Tuldscha, Galatz und Ibraila bestimmt, und auf günstigen Wind zum Aufwärtssegeln wartend – denn von einem Leinpfad ist hier nicht mehr die Rede – ruhig im Fluß vor Anker, hauptsächlich türkische, griechische, ionische, aber auch französische Fahrzeuge. Schon von Weitem erblickte man die Masten derselben, aber alle Augenblicke veränderten sie ihre Stellung: Schiffe, welche hinter uns zu liegen schienen, waren noch zu passiren, und die, an denen wir schon vorübergekommen, erschienen plötzlich wiederum vor uns oder zur Seite. Ueberall aber im ganzen Kreise des Horizontes erhoben sich die schlanken Masten, so daß man sich auf dem schrankenlosen Meere zu befinden wähnen konnte, wäre nicht das grüne Schilf dazwischen gewesen statt der grünen Wogen. Unser Dampfer fuhr dabei ganz langsam, augenscheinlich mit großer Vorsicht; die Passagiere waren gebeten worden, den Raum vor dem Steuerrade nicht zu betreten. Daß dies seinen guten Grund hatte, bewiesen hier und da die schwarzen Wracks, die entweder halb am Strande lagen oder deren morsche Spieren über dem Wasserspiegel hervorragten. Nur Schiffe von geringem Tiefgange können die Sulina ohne Gefahr mit Ladung passiren. Abwärts wird in Tuldscha oder Prislav, aufwärts in Sulina ein Lootse an Bord genommen. Aber damit ist keineswegs jede Gefahr beseitigt, denn die Lootsen der Donaumündungen sind nicht die vorzüglichen, zuverlässigen Führer norddeutscher Häfen, sondern größtentheils griechisches Gesindel ohne Treue und Verlaß, dem es nur darum zu thun ist, die Capitaine nach Kräften zu prellen, was ihnen gewöhnlich gelingt, da kein Tarif existirt und die Preise je nach Jahreszeit und Frequenz sehr wechseln. Zur Fahrt stromaufwärts bedienen sich die Getreideschiffe am besten der österreichischen Schleppdampfer; thun sie das nicht, so bringen sie oft von Sulina bis Galatz, eine Entfernung von nur sechzehn geographischen Meilen, einen Monat zu und noch länger, und wie sich in diesem langen Zeitraume das Geschäft verändern kann, braucht nicht auseinandergesetzt zu werden. Es gibt dies aber einen hinreichenden Beleg für die Gefährlichkeit und die Noth der Schifffahrt in der Sulina. Wir in unserem prächtigen Steamer, unter der Obhut eines fast nur zu sorglichen Capitains, in der Klarheit eines wundervollen Junitages, hatten freilich nichts zu fürchten und dachten so wenig an die Tücke des stillen schmalen Stromes, daß wir geneigt waren, die Wracks, welchen wir begegneten, für Opfer unverzeihlicher Fahrlässigkeit zu halten.

Um sechs Uhr Abends kam der Leuchtthurm von Sulina in Sicht, und eine halbe Stunde später lag der Metternich vor Anker auf dem linken Ufer des nach der Mündung zu sich wieder verbreiternden Stromes, gegenüber der Stadt und dem Mastenwald des Hafens. Vor uns aber rollten, mit weißen Schaumkronen geschmückt, die langen Wogen des schwarzen Meeres. Ein unvergeßlicher Anblick!

Mehrere Stunden Rast waren uns hier vergönnt, denn erst mit dem Beginn der Ebbe sollte die Barre passirt werden; dies war erst um Mitternacht zu erwarten. Also rasch an’s Land! Eine Menge von Booten umdrängte schon unser Schiff; mit eindringlichen Gebehrden und in allen möglichen Sprachen luden die sonnverbrannten, wild aussehenden Führer derselben ein, uns ihrer zum Landen zu bedienen. Wir wählten den hübschesten darunter zur Ueberfahrt aus – die Stimme der Damen entschied – einen schlanken, braunen Griechen, dem der überhängende Fes der Inseln gar malerisch auf den pechschwarzen Locken saß, und dessen blitzende Augen, tadellose Nase und weißen Zähne in jedem Salon Aufsehen gemacht haben würden. Gewandt und kräftig schob er sein breitbauchiges Kielboot zwischen den Rivalen hindurch bis zur Treppe, und nach wenigen Ruderschlägen betraten wir auf einem morschen Landungsgerüst das rechte Donauufer und die an seinem äußersten Ende erbaute Stadt Sulina.

Wer hat noch nicht von den Städten in Amerika gelesen, die wie Pilze über Nacht aus der Erde schießen, von San Francisco in Californien, dessen Einwohnerzahl sich von Tag zu Tag um Tausende vermehrte, von der fabelhaften Schnelligkeit, mit welcher die australischen Golddistricte eine zahllose Bevölkerung an sich zogen? Aber man braucht nicht den Ocean zu messen und in fremden Welttheilen zu suchen, was man in Europa ebenso überraschend finden kann, ja noch viel erstaunenswerther, weil eben in der Nähe, wenigstens im Bereich der abendländischen Civilisation. Noch im Jahr 1850 stand auf dem rechten Ufer der Sulinamündung blos der Leuchtthurm und eine Lootsenhütte, heute erhebt sich hier eine Stadt, deren wechselnde Population manchmal fünfundzwanzigtausend Seelen und mehr beträgt, die man aber in geographischen Handbüchern und Conversationslexicis vergeblich aufsuchen wird. Und was für eine Stadt ist es, die hier aus der Erde, nein, aus dem Sumpfe wuchs! Wer sie betritt, der fühlt sich augenblicklich in eine fremde, neue Welt versetzt; hat er nicht überflüssigen Muth, so befällt ihn vielleicht ein gelindes Frösteln; ist er in [383] der Literatur bewandert, so kommt ihm jene Stelle aus dem Dante: „Dies ist die Stadt der Qualen und Verdammniß“ in den Sinn, und über jeder Thüre der zusammengeschichteten Häuser glaubt er zu lesen: „Laßt alle Hoffnung hinter Euch!“ Diese Häuser! Aus allem Material der Welt sind sie zusammengebaut, aber die wenigsten aus wirklichem Baumaterial und die seltensten gebaut. Cigarrenkistendeckel sind verhältnißmäßig noch ein höchst solider Stoff für die Verkleidung der Wände, häufig sieht man dazu blos Kattun benutzt, und zwar nach der Straße heraus; Schilf vertritt, in starke Bündel zusammengebunden, die Stelle der Balken, und ist das allgemeine Deckmittel. Nur einige Hauptgebäude sind theilweise aus gebrannten Steinen errichtet, die von fern her eingeführt werden mußten; selbst die Moschee ist zur größeren Hälfte aus weiß übertünchten Bretern zusammengeschlagen. Schiffstrümmer bilden einen Hauptbestandtheil der Bauten, und manches merkwürdige Gallionbild schaut aus ganz ungewöhnlicher Ecke in das tolle Treiben ringsum. Die Hauptstraße besteht nur aus zwei langen Reihen solcher Baracken, aber dieselben sind gefüllt mit Menschen bis in die entlegensten Winkel, und ein unbeschreibliches Gewühl, ein ohrvernichtendes Schreien, Singen, Lachen, Pfeifen, Rufen, Musiciren betäubt zugleich mit der sonderbar parfümirten Atmosphäre den Fremdling. Jedes Haus ist zugleich ein Laden und eine Schenke und eine Spielhölle.

Handwerker, friedliche Bürger, Familien gibt es hier nicht, aber alle rohen Genüsse des Lebens werden dem Einwohner geboten. Allein dieser will auch um Alles in der Welt nicht dauernd hier bleiben, ihn fesselt nur die Erwerbgier oder die Noth, welche gewöhnlich gleichbedeutend ist mit dem Arme der Gerechtigkeit. Hier ist der Auswurf von ganz Europa zusammengeflossen: entflohene Matrosen, gejagte Seeräuber, entsprungene Galeerensträflinge, Mörder, die sich vor dem Gesetz oder der Blutrache verbergen, Spieler, welche allüberall anderswo zu sehr gekannt sind, Deserteure, Gauner jeder Art und Kategorie – sie finden Alle hier ein sicheres Asyl unter türkischer Oberhoheit. Denn man braucht Menschen, und diese verdienen ein fabelhaftes Geld.

Seitdem der Getreidehandel der unteren Donauländer sich regelmäßig organisirt hat, ist die Menge der Schiffe, welche in die Sulina einlaufen, ungemein groß; sie zählt nach Tausenden. Die meisten davon müssen mehrere Tage, wenn nicht Wochen, vor der neuen Stadt liegen bleiben; der Matrose findet hier die erste Gelegenheit, sein Geld los zu werden. Kommen die Fahrzeuge von Ibraila, Galatz, Tuldscha mit Getreide beladen zurück, dann können sie gewöhnlich, weil sie für das Meer, nämlich mit scharfem Kiel und Tiefgang gebaut sind, die gefährliche Barre der Sulina nicht passiren, welche meistens nur 7–8 Fuß Wasser hat und blos Schiffen von höchstens 300 Tonnen und mit platten Böden die Passage erlaubt. Die Capitaine sind daher gezwungen, ihre Ladung zu löschen und sie mittelst Leichtern über die Barre hinaus zu befördern. Da finden denn genug Hände Arbeit und hohen Verdienst. Unter einem Ducaten täglich ist selten ein Kornträger zu haben; in Perioden des Arbeitermangels oder der Anhäufung von Schiffen, die nach Beförderung drängen, steigt aber manchmal der Taglohn auf 6 Ducaten und mehr. Und wer heute die sechs Ducaten in der Tasche hat, der rührt gewiß nicht eher einen Getreidesack an, bis sie rein alle geworden sind, was freilich häufig in einer kurzen Stunde der Fall zu sein pflegt. Dazu kommt neuerdings der Zusammenfluß von Menschen durch die Etablirung der Donaucommission, den Beginn der Stromregulirung, die Station türkischer, englischer und französischer Kriegsschiffe, und die Rast der Dampfboote der österreichischen, russischen und französischen Gesellschaften – lauter Elemente, aus welchen ein wogendes Leben und Treiben ununterbrochener Aufregung zusammenschießt.

Alle Nationalitäten sind hier vertreten[WS 1]. Türken von jedem Kaliber und in jeder Tracht, besonders viele Bulgaren und Albanesen; Inselgriechen und Ionier, Malteser, Egypter, Neger, Armenier, Serben, Moldavaner, Wlachen, Russen treiben sich in dichtem Gewühl durcheinander; dazwischen geht breitspurig, Arm in Arm, eine Kette englischer Matrosen, mit fabelhaft übergelegten, blauen, weiß besetzten Hemdkragen, kurzen Jacken und Wachstuchhüten, die so weit als möglich im Nacken sitzen; dort eine Gruppe französischer Seeleute, welche mit Bewunderung den Künsten eines tanzenden Affen zusehen, den ein kleiner Tunese in fast paradiesischer Tracht umherführt; hier die gesetzten, ernsten illyrischen Matrosen der Donaudampfer vor dem lockenden Tisch des Polentakochs; dann ein Trupp türkischer Linie von der Fanalwache; geschäftige Kleinhändler mit angehängten Kästen voll unnützen Tandes, orientalischer Abkunft, wie überall in der Welt; halbnackte Bessarabier mit Körben trefflicher Kirschen; zerlumpte Zigeuner und zahllose abenteuerliche Gestalten, von welchen auch der geübteste Kenner nicht zu behaupten vermag, weß Landes, leicht aber, weß Geistes Kinder sie sind. Alle Sprachen schwirren durcheinander, aber die allgemeine Sprache des Handels und der Conversation ist die italienische, die Lingua franca, wie im ganzen Orient; ein Ueberbleibsel der Herrschaft der Republiken Genua und Venedig über das Mittelmeer und seine Grenzländer. Ein ohrbetäubendes Geräusch durchschwirrt die ganze Stadt. In die heiseren Töne der Ausrufer aller möglichen Comestibilien mischen sich die eintönigen Klänge der Guzla, in die wilden Gesänge berauschter Seeleute das „Guarda“ der Lastträger, wenn sie Jemandem einen Balken auf die Brust gestoßen haben; ein melancholischer Drehorgelmann ergeht sich halb schlafend in seinem Melodienzauber, der leider alle Augenblicke einmal abschnappt, Folge einiger geplatzter Pfeifen seines Kastens, welchen nichts desto weniger die griechischen Schiffsjungen umstehen, wie das achte Weltwunder; von der Landung erschallt das „Hoi, hüahoi“ der Matrosen an der Schiffswinde; Teller klappern, Gläser klingen, die schmutzigen Marqueure schreien wie Besessene, Flüche der Spieler, Gekreisch von Papageien, Rollen von Billardbällen und Kegelkugeln, Heulen zahlloser Hunde, manchmal ein Schuß aus der Pistole eines Uebermüthigen – Alles das vereinigt sich zu einem unbeschreibbaren Ganzen.

Wer Nationen und Charaktere studiren will, der wende sich hierher. Welcher Unterschied! Dort die ernsten, stillen Türken, mit gekreuzten Beinen unbeweglich auf der niedrigen Pritsche sitzend, welche den Divan vorstellt, nur von Zeit zu Zeit thun sie einen tiefen Zug aus dem Nargileh, behalten den Rauch minutenlang in sich und lassen ihn dann mächtig hervorquellen, selten den trockenen Gaumen erfrischend mit dem köstlichen, dicksatzigen Trank der Levante aus den winzig kleinen Obertassen; hier eine Gruppe italienischer Marinari, die im leidenschaftlichsten Moraspiel die Hände durcheinanderwerfen, als gehörten sie ihnen nicht; ein zerlumpter bulgarischer Bettler, welcher mit tausend Bücklingen und Händekreuzen vor der Brust eine Gabe erfleht; dort ein berauschter Aethiope, der, von wildem Beifall angefeuert, mit schäumendem Mund und hervorgequollenen Augen sich in seinem Grotesktanze dreht, bis er niederbricht; ein griechischer Pope mit langem Bart, der den hohen Rohrstock mit regelmäßiger Bedächtigkeit vor sich niedersetzt und escortirt wird von einem Gefolge strenggläubiger Schiffer, welche seine staubige Soutane küssen, und ihm gegenüber ein halbnackter Derwisch, fußlange Stahlnadeln durch die mit Eisenplatten bedeckten Brustwarzen gebohrt. Wie in einem verzauberten Land aus Tausend und Einer Nacht wähnt man zu wandeln, der Kopf schwindelt, fieberisch kocht das Blut, als sei die allgemeine Aufregung ansteckend. Hier sieht man die ganze Welt, wie sie der Kalif im Krystall erblickte; nur zwei ihrer wichtigsten Insassen fehlen – Polizei und Weiber! Aber in einem solchen Flibustierlager ist kein Platz für Beide. In der ganzen Stadt Sulina mögen keine zwanzig Frauen existiren, und die da sind, gingen des Namens längst verlustig. Einige alte Vetteln unsauberster Art sieht man an den Schenktischen hantieren, hier und da, aber sehr selten, auch ein jüngeres Wesen, das der Kleidung nach dem weiblichen Geschlechte anzugehören scheint; ein Bild von diesen Töchtern der Sünde zu geben, dazu fehlen alle Farben. Während wir die lange Hüttenzeile der Stadt durchschritten, konnten wir nur zu deutlich gewahren, wie hier das Weib betrachtet wird. Die Damen unserer Gesellschaft waren das Ziel der allgemeinen Aufmerksamkeit, es bildete sich förmlich eine Gasse, um solch’ eine ungewohnte Erscheinung zu begaffen; wenn wir auch die sich kreuzenden Rufe und Bemerkungen nicht verstanden, so doch wohl die brennenden Blicke, die unzüchtigen Gebehrden. Umkehren durften wir nicht, denn Mutlosigkeit solchem Gesindel gegenüber ist der Anfang zum Verderben; aber manche Hand griff doch fester nach der verborgenen Waffe, und zitternd, nicht wagend, die Blicke vom Boden zu erheben, eilten die uns anvertrauten Reisegefährtinnen dahin in unserer möglichst dicht geschlossenen Mitte.

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Aussicht vom Leuchtthurm. – Der Wind hat umgeschlagen. – Ein Matrosenleben. – Der Friedhof und seine Gräber. – Noch einen Ostwind.

Endlich lag das Gewühl hinter uns, und über eine breite Fläche gelben, jedweder Vegetation entbehrenden Sandes gelangten wir zu dem Leuchtthurme, dem Ziele des Ausfluges. Derselbe ist von mäßiger Höhe, ganz aus Stein erbaut, wie das daran grenzende, sehr geräumige Wachtlocal, in welchem einige Compagnieen türkischer Soldaten als Besatzung liegen. Diese nahmen uns ganz freundlich auf, gestatteten sogar dem vorwitzigen Schweizer, eines ihrer Lütticher Percussionsgewehre vom Stande hinwegzunehmen und ihnen die Handgriffe der Baseler Miliz vorzumachen – und sie lachten recht herzlich darüber. Auf der breiten Wendeltreppe war die Laterne bald erklommen, rings um dieselbe führt eine mit eiserner Balustrade umgebene Gallerie. Eine großartige, aber einförmige Fernsicht bot sich den Blicken. Vor uns, gen Osten, wogte das schwarze Meer, da und dort tauchte ein Segel empor aus den dunkelgrünen Wogen gleich einem weißen Punkte, blitzschnelle Möven flatterten über den Wassern, sonst kein Leben weit und breit. Wohl aber Denkmale der Zerstörung genug – was bedeutet jenes hochragende schwarze Kreuz mitten in den Wellen? Und jener andere dunkele Gegenstand, und dort wieder – es sind Wracks, die Reste gestrandeter Schiffe, redende Zeugen der gefährlichen Einfahrt, und vierunddreißig davon vermochten wir zu zählen! Es gibt kaum eine andere Stelle in der ganzen Welt, welche so gefürchtet und der Schifffahrt verderblich wäre, wie die Sulinamündung der Donau. Die Barre ist ganz schmal und ihr Fahrwasser verändert sich außerordentlich häufig je nach einer andauernden Windrichtung, welche den Sand und Schlamm der Donau zurückstaut oder weiter zu flößen erlaubt; selbst der kundigste Lootse muß daher von Zeit zu Zeit peilen, um sich nicht zu irren, und auch dies sichert ihn nicht gegen die Tücke der Barre. Dabei wehen die Winde hier ungemein heftig, nirgends gebrochen von entgegenstehenden Hindernissen; sobald ein Kiel sich in der Sandbank festgerannt hat, ist er gewöhnlich auch rettungslos verloren, denn die kleinen Schleppdampfer, welche seit einigen Jahren ausdrücklich dazu in Sulina stationirt sind, um Fahrzeuge über die Barre zu bringen, wagen sich nicht immer hinaus, werden aber auch leider noch viel zu wenig benutzt, besonders von den Türken nicht, welche mit ihrem Fatalismus sagen: „Sollen wir scheitern, so hilft kein Schlepper; wo nicht, warum dann das viele Geld bezahlen?“ In neuerer Zeit ist übrigens, Dank der durch die Donaucommission verbesserten Organisation des Hafendienstes, unausgesetztem Baggern und dem Aufwerfen eines Schutzdammes von der linken Spitze der Mündung aus die Passage bei weitem gefahrloser geworden, wie früher.

Der Leuchtthurm steht auf dem rechten Ufer der Sulina, zur Linken ergießt sich der brackische Strom in mäßiger Breite träg in das Meer, verrätherisch schaut der gelbe Sand zu beiden Seiten einer erkennbaren schmalen grünen Wasserstraße unter den durchsichtigen Wogen hervor. Unabsehbar, so weit das Auge reicht, nach jeder anderen Richtung dehnt sich das Schilf, ein zweites grünes Meer, täuschend vom Wind in Wellenkämme aufgejagt, nur südöstlich liegt ein Raum nackten Sandes, den die Sturmfluth überspült, und hinter uns im Westen erhebt sich die qualmende Stadt, deren niedere Dächer nur die Windmühle, das Minaret der Moschee und die hölzerne Kuppel des griechischen Bethauses überragen. Aber hinter ihnen starrt empor der dichte Mastenwald der Schiffe im Hafen, und sonderbar, bis in die entlegenste Ferne ragen Masten bald einzeln, bald in Gruppm aus dem Schilf: die der stromaufwärts gehenden Schiffe. Gerade ging die Sonne unter und auf dem rothen Schleier, hinter welchem sie sich barg, zeichneten sich die Spieren und das Takelwerk der fernen Fahrzeuge mit unnachahmlicher Schärfe ab. Ihr Sinken mahnte an den Heimweg, denn Heimath durften und mußten wir unser Schiff hier nennen – obgleich manchmal arg umdrängt und roh bespottet, gelangten wir doch ungefährdet zurück nach der Landung und in’s Boot des wartenden Bootsmann, der mit freundlichem Lachen die weißen Zähne zeigte, als ihm die beliebten Zwanziger in die Hand gezählt wurden. Jedes gemünzte Geld der Welt gilt hier, jene aber haben den Vorzug vor allem Uebrigen. Preußische Silberthaler gehen als Fünffrankenstücke, Sechstel als Zwanziger – Papiergeld hingegen wird man in Sulina nur mit Verlust los, selbst die inländischen Kaimes.

Der Metternich sollte in der hellen Vollmondnacht die Barre passiren, um am Morgen im Hafen von Odessa einzulaufen. Müde und vielleicht auch theilweise in Furcht vor dem Meere und der Seekrankheit, hatten die Passagiere ihre Kojen gesucht und verwunderten sich beim Erwachen gewaltig über den sanften Gang des Schiffes, noch mehr über die Todtenstille an Bord. Diese hat etwas Unheimliches – rasch sprang Jedermann an die Luken – da lagen wir noch richtig am gestrigen Platze in der Sulina, und die Sonne schien über alle Berge oder vielmehr Ebenen. Was bedeutet dies? Da trat ein Unglücksbote in die Cajüte: „Der Wind hat umgeschlagen, weht streng aus Osten, die Warnungsfahne flattert am Fanal, kein Schiff darf heute über die Barre laufen!“ Eine schöne Geschichte! Verdruß und Aerger spiegelten sich in allen Augen, Jeder hatte so sicher darauf gerechnet, am Ziele der Reise zu sein, die Seinigen wiederzusehen, Geschäfte abzuschließen, in die alte Ordnung zu kommen – besonders aber beklagte sich der feine Grieche bitterlich darüber, daß er heute Abend nicht, wie er gehofft, das schöne Vaudeville zu sehen bekomme, welches die französische Schauspielergesellschaft in Odessa gebe. Indessen, was half’s? – die Wogen des Unmuths legten sich bald und man fügte sich geduldig, ja scherzend in das Unvermeidliche.

Natürlich begab sich die ganze Gesellschaft nach dem Frühstück an’s Land, mit Ausnahme der Damen, welche um keinen Preis wiederum dazu zu bewegen gewesen wären. Die Boote umdrängten das Schiff, aber der gestrige Führer erhielt den Vorzug und ward als Gondolier förmlich in Dienst genommen. Trefflicher Stasio, wie treulich dientest Du uns, wie sehr bemühtest Du Dich, uns zu unterhalten, und wie wenig verstanden wir Dich und Dein corrumpirtes Italienisch! Und doch ward uns nach und nach seine ganze Lebensgeschichte zu Theil – freilich in Bruchstücken, die man zusammensetzen [400] mußte gleich einer Mosaik. Er war ein Kind der schönen Insel Zante – fiore di Levante, wie er stolz hinzufügte – hatte sich schon vom zehnten Jahre an auf griechischen Schiffen, wohl meistentheils Piraten, umhergetrieben, und war endlich auf einer genuesischen Feluca Steuermann geworden. Hier muß ein schreckliches Ereigniß seinem Leben eine neue Wendung gegeben haben – wir vermutheten aus dunkelen Andeutungen, die er mit unnachahmlichen, aber höchst bezeichnenden Gesten begleitete, daß er seinen Capitain, wahrscheinlich seinen Nebenbuhler bei einer dunkeläugigen Schönen, niedergestochen – er entfloh und ward Matrose auf einem Marseiller Kauffahrer, mit welchem er eine Reise nach New-Orleans machte. Von da fuhr er nach der Havanna, war in Valparaiso, zwei Mal in Hongkong, am Cap der guten Hoffnung und in St. Helena gewesen – von letzterer Insel, als dem Grabe Napoleons des Großen, sprach er mit höchster Verehrung und griff dabei stets an die Mütze – wenn wir ihm einreden wollten, daß sich die Gebeine des Kaisers längst nicht mehr daselbst befänden, schüttelte er mit schlauem Lächeln den Kopf, als wolle er sagen: „Geht doch, ihr Schäker, das weiß ich besser; ich bin ja dort gewesen!“ Wie er nach der Sulina gekommen, verhehlte er trotz aller Redseligkeit sorgfältig; ein Camerad von ihm, der später einem anderen Theile unserer Schiffs-Gesellschaft seine Dienste widmete, behauptete, er sei vor Malta von einer englischen Fregatte entronnen und mit einem türkischen Schiffe dann an der Schlangeninsel gescheitert. Welch’ ein Leben, und zwar in der kurzen Spanne von zweiundzwanzig Jahren!

Während meine Reisegefährten sich in den verschiedenen Locanden, Kaffeehäusern, Billardsälen – es gibt von den letzteren schon mindestens ein Dutzend in der neuen Stadt – zerstreuten, wanderte ich langsam am Fanale vorbei längs des Strandes dahin. Im Anfange war der Weg beschwerlich in dem mahlenden Sande, aber sobald der Fuß den Uferstreifen betrat, welchen die schäumenden Wogen beleckten, fand er einen festen, elastischen Pfad, wie man sich ihn nicht besser wünschen mag. Einige der Wracks lagen hier so nahe, daß ein Steinwurf sie hätte erreichen können; Wellen und Menschen hatten ihnen entrissen, was möglich war, meist aber blieb sorglich ein Mast mit festgebundener Raa stehen, ein Kreuz, aufragend aus dem Leichenfelde der Tiefe. An dem Strande lagen wenige Muscheln, und diese nur von den allergewöhnlichsten Arten, Tychogonia, Mactra, Pecten u. s. w., selten darunter, und zwar stets zertrümmert, eine unechte Wendeltreppe; Reste von Krabben, Hummern, Seesternen, Igeln u. dergl. waren nicht zu entdecken. Nichtsdestoweniger ist das Meer hier überaus fischreich, wie schon die Möven bewiesen, deren spitzbeschwingte Schaaren unablässig darüber kreisen, um da und dort mit nie fehlender Sicherheit plötzlich niederzustoßen auf die unvorsichtige Beute. Eine ziemlich weite Strecke war ich schon gewandert und hatte die ganze Landzunge des rechten Sulinastrandes umgangen, als mir auf einmal ein paar hundert Schritte landeinwärts eigenthümliche Hervorragungen im Dünensande auffielen, deren Zweck ich nicht sofort errieth, bis ein schärferes Hinblicken sie als Kreuze, als Gräber erkennen ließ. Der Friedhof der Stadt Sulina lag vor mir.

Die Erinnerung an diese Stätte der Ruhe wird mich niemals verlassen. Die Gräber sind in lockeren Sand gegraben, tief, aber nicht tief genug für die Springfluth, welche höhnisch die bedeckenden Hügel wegspült und ihren Inhalt dem Tage zeigt. Was die Woge nicht nimmt, das ergreift der Sturm – darum gibt es auch gewiß in der ganzen Welt keinen traurigeren, erschreckenderen Ruheplatz der Todten, wie den von Sulina. Verweht, zusammengesunken, geöffnet, halb wieder gefüllt, so liegen die Gräber in der gelben, nackten Oede, wo blos hier und da kümmerliche Salsolen und Salicornien dem salzgetränkten Boden entsprossen. Nur in der Umfriedigung eines Grabes wächst hohes, grünes Schilf, ein merkwürdiger Anblick; während der Weidenbaum, mit welchem treue Liebe ein anderes nach Kräften zu schmücken versucht hat, schon halb verdorrt ist. Fast alle diese Gräber sind noch neu und jung, sehen aber uralt aus, als schliefen darin längst erloschene Geschlechter. Einzelne davon sind mit einer Umzäunung aus starken Bohlen und gleichem Dach versehen, ähnlich einem kleinen Blockhaus, im Innern sind mächtige Steine darauf gewälzt – aber umsonst, die gierige Hyäne der Meerfluth wird sie eines Tages dennoch öffnen, schon hat sie manche davon halb unterwühlt. So hier – schaudernd trittst du zurück, denn zwei gegeneinander gelegte, noch mit Muskelfasern bedeckte Knochenhände ragen wie flehend aus dem Sand hervor – und dort ein nur noch halb vergrabener, schon eingebrochener Sarg, aus welchem lange, schwarze Haare in den Wind flattern.

Wer hier Schädel und Gebeine sammeln wollte, der hätte die schönste Auswahl, sie sind dabei merkwürdig weiß gebleicht und wohl erhalten. Die ganze Pietät der Bevölkerung, die sich etwa hierher verirrt, beschränkt sich darauf, die entblößten Ueberreste aufzunehmen, und in eines der umzäunten und überdachten Gräber zu werfen, welche dadurch zu wahren Beinhäusern geworden sind. Jeder Ruhestätte ist irgend ein Liebeszeichen gesetzt worden, sei es nur eine Schiffsplanke mit einigen Charakteren darauf, sei es ein rohes schwarzes Kreuz, auf welchem der Name des darunter Ruhenden mit Kreide geschrieben. Aber die wenigsten dieser Erinnerungstafeln stehen längere Zeit, fast alle sind morsch abgebrochen, umgesunken – und Niemand stellt wieder auf, was einmal liegt. Wo sind auch die Freunde und Verwandten der hier Begrabenen? Alle Male sind von Holz, nur ein einziges macht eine Ausnahme, welche hier fast befremdenden Eindruck bewirkt – eine weiße Marmortafel, auf der mit Gold die russische Inschrift steht: „Hier ruhet der Hofrath und Stabsarzt Karl Kondratoff.“ Heute wird der Flugsand sie längst verschüttet haben. Das äußerste, tief eingesunkene Kreuz nach dem Meere zu, bezeichnet mit „Knud Knudsen, Mandal, 1852“, war das älteste Grab, das ich fand. Das jüngste war das des Alexandre Giraud, né à Toulon, marin de l’Averne, † 1858, 6. Juin. Es war kaum drei Wochen alt, und wie verwittert schon sahen die Breter aus, welche den Hügel in einem Kasten zusammenhielten! Dicht daneben ruhten zusammen, wie die hölzerne Tafel berichtete, „William Barter, Stoker on Board H. B. M. S. Weser“, nebst Thos. Cook, A. B.“ 26 Jahre alt, ebenfalls von der Weser, „drowned in St. Georgs Branch of Danube 29. Mai 1858. Dort „Vincent Marzin, Capt. du Brick Les 3 frères de Brest“ brüderlich neben „James Murray, Engineer, 35 years old“ – noch viele Briten, Franzosen, Holländer – etwas abseits von ihnen und möglichst nebeneinander Russen, Armenier, Griechen. Aber nur ein einziges Kreuz mit deutscher Aufschrift fand ich: „C. C. Menkema, geboren 1843“ weiter nichts! Ich wandelte lange zwischen diesen Gräbern herum und suchte die vom Salzgischt der sprühenden Wellen halb zerfressenen Inschriften zu entziffern; keine davon sagte mehr, als wer da liege; der Phantasie blieb es überlassen, an jeden Namen eine Biographie zu heften; leicht würde es ihr in dieser Umgebung geworden sein, die allerphantastischste zu ersinnen – und doch wäre dieselbe vielleicht blaß und einförmig gewesen, gegenüber dem Garn, das mancher der Schläfer da unten von seinem Leben hätte spinnen können. – Dicht am Friedhof der Sulina läuft auf hohen Stangen der Telegraphendraht einher, der nach Constantinopel führt.

Schon die Unbeweglichkeit des Schiffes verkündete am frühen Morgen des folgenden Tages, daß noch immer die warnende Flagge des Leuchtthurms wehe, und ein Blick vom Verdeck bestätigte unser Schicksal. Der Ostwind war noch viel heftiger als gestern, und blies uns gerade in die Zähne. Um so mehr verwunderten wir uns daher, als wir ein Schiff mit vollen Segeln vor dem Wind daher gejagt kommen sahen, welches geradezu auf die Barre loshielt, während draußen in der Ferne zahlreiche minder waghalsige Fahrzeuge geduldig vor Anker lagen. Verwehrt kann natürlich keinem Kiel die Einfahrt werden, die blaue Flagge warnt nur, befiehlt nicht – wer sich an ihre Warnung nicht kehren will, der nimmt Alles auf seine Kappe. Das that auch der Capitain der Sloop, die keck jetzt hereinflog, das griechische Kreuz an der Gaffel – schwerlich standen Assuradeure hinter ihr, die sich dergleichen Tollkühnheiten höflichst verbeten – kurz, es gelang ihr trefflich, und in wenigen Minuten schoß sie uns gegenüber zwischen ihresgleichen. Sollte das wackere Dampfboot aber nicht hinauskönnen, wo diese griechische Wasserspinne hereinkam? So fragten auf einmal, muthig geworden, viele Passagiere – aber Capitain Bassi schüttelte lachend den Kopf und meinte, eine Maus schlüpfe leicht hindurch, wo ihr die Katze nicht zu folgen vermöge – und somit waren wir abermals zu einem Tag Aufenthalt in Sulina verurtheilt.

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Strandräuber. – Ein Gasthaus. – Concert eines türkischen Marinesoldaten. – Verunglückte Jagd. – Die Stadt brennt. – Ein französischer Dampfer. – Balancir-Spiel der Besatzung. – Abfahrt.


Nicht gewillt, in den Locanden umherzuliegen, und zu ungelehrt, um die Zeit an Bord mit Kartenspiel todtzuschlagen, erbat ich mir die Doppelflinte des Intendanten, der westphälische Ingenieur packte ein in Berlin acquirirtes Zündnadelgewehr aus, und so zogen wir auf die Jagd.

Stasio war bereit und wir legten oberhalb des Fanals am rechten Strand an, um daselbst Möven zu schießen. Heut aber sah es hier ganz anders aus, als gestern. Ein recht artiger Sturm hatte die Nacht hindurch mit vollen Backen gegen das Land geblasen, und da lag ausgebreitet die Fülle seiner Bescheerungen. Vor Allem war es nicht mehr möglich, längs des Gestades herzugehen, ohne verschiedene tiefe Canäle und Tümpel zu durchwaten – „das thut den Augen gut von meiner Mutter Sohn!“ würde Paddy gesagt haben, hätte er uns die Stiefel sorgsam in das Salzwasser tauchen sehen. Ein bischen erschrocken waren wir auch trotz unserer geladenen Flinten, als plötzlich, wenige Schritte vor uns, hinter dem schwarzen Rumpfe eines gekenterten, schon halb im Sand begrabenen Bootes, ein halbes Dutzend dunkelbrauner Kerle auftauchte, mit Harpunen und Bootshaken bewaffnet, grünen Tang über Haar und Südwester, naß wie die Frösche und schmierig zum Entsetzen – sie sahen aus wie die Tritonen in Neptun’s Gefolge, wenn er unter der Linie den Zoll vom Neuling fordert, oder noch besser, ungewaschene Meerjungfern männlichen Geschlechts – waren jedoch weiter nichts als ehrsame Strandräuber. Dieses ist, beiläufig gesagt, in Sulina das gemeinste, aber auch ehrlichste von allen Geschäften, die hier getrieben werden. Die Schiffstrümmer lagen auf dem Sand wie gesäet umher, denn jeder Sturm rüttelt an den Wracks los, was es will, und wirft es auf den Strand.

Aber was fliegt dort die mächtige Krähenschaar empor, bestehend aus unserer deutschen Nebelkrähe und andern Sorten? was flattern die Möven so gierig umher? By God, ein großer Fisch liegt hier auf dem Trocknen, ein Thun; der Bursche ist über vier Fuß lang, und hat einen Rücken wie ein mäßiges Schwein, obenher stahlschwarz, silberweiß am Bauche, ohne erkennbare Schuppen; er ist noch ganz frisch, doch haben ihm die Vögel schon die Augen und eine Seite ausgehackt, aus der das dunkelrothe Fleisch herausschaut. Wir schnitten zum Wahrzeichen ein Stück aus der untern Kinnlade des Fisches, mit beweglichen, hakenförmig gekrümmten, sehr spitzen Zähnen. Hier glückte auch der erste Schuß auf eine große Möve; es mußte eine ziemliche Strecke in die Uferbrandung hinausgewatet werden, um sie zu bekommen; dafür wurden die grauen, an den Spitzen schwarz und weiß gesäumten, weit klafternden Fittiche als Trophäen mitgenommen.

Aber mit der Jagd war es nunmehr auch vorbei, die klugen Vögel waren auf einmal so scheu geworden, daß sie uns kaum auf tausend Schritte nahe kommen ließen, wir wandten uns daher bald zum Rückweg, an dem Friedhof vorbei, nach der Stadt. Es war jetzt ungefähr zehn Uhr Vormittags – das Gewühl in den Straßen ärger als je zuvor, überall wurde gespielt, getrunken, getanzt; jeder dritte Mensch hielt ein Kartenspiel in der Hand, auch die edlen Würfel klapperten in den hölzernen Bechern, und die Billards waren umdrängt von Amateurs. Dabei brodelte und schmorte es über unzähligen Feuern – in Sulina kann man bequem jedem Haus, was gleichbedeutend ist mit jeder Küche, in den Topf gucken – und ein sättigender Duft von Oel und Fisch lagerte wie ein Nebel schwer auf dem ganzen Umkreis. Dazu der Qualm aus Tausenden von Wasserpfeifen, Tschibuks, Papyros und österreichischen Rattenschwänzen, der Dampf der heißen Getränke, welche trotz einer Temperatur von 32° R. im Schatten mit Profusion consumirt wurden, der Rauch des gewöhnlichen Brennmaterials, das salva venia aus Mist besteht, verbunden mit den Ausdünstungen der Schiffe, Fische, Sümpfe, Menschen – und man wird zugeben, daß in einer derartigen Atmosphäre der civilisirte Reisende gar keinen Hunger bekommen kann. Denn größer war unser Durst, und wir sahen uns fleißig nach Löschmitteln um. An anderes Wasser, als das der Donau, ist hier nicht zu denken, glücklich noch, wenn es nur einigermaßen filtrirt ist; gewöhnlich hat es die Temperatur der frisch gemolkenen Milch und das Ansehen, als sei es von einem Topf voll grüner Farbe abgegossen. Zu Thee und Kaffee nimmt man Regenwasser, welches in Fässern aufgefangen und bewahrt wird. Eis ist hier ein ganz seltener Artikel, denn aus Mangel an Kellern ist es nicht zu halten, und die Anlage oberirdischer Eisbehälter kennt man noch nicht. Spähend wanderten wir die Hauptstraße entlang, aber alle Locanden waren so dicht gedrängt voll Menschen, sahen so schmierig aus, daß wir, Besseres hoffend, immer weiter zogen. So kamen wir in den äußersten Stadttheil gen Westen; hier ward es stille, sogar sauberer, ein Trottoir von Bohlen lief neben dem Sumpf der Straße her und überbrückte einige Moorbäche, die sich aus dem Urwald des Schilfes der Donau zuwälzten.

Ein zweistöckiges Haus, natürlich ganz aus Holz erbaut, zog die Aufmerksamkeit an. Das untere Geschoß war verschlossen, zu dem oberen, das mit einer überdachten Gallerie rings umgeben war, führte eine steile hölzerne Treppe. Auf jener saßen rund umher bärtige Türken wie Automaten und rauchten ihre Nargilehs; ohne viele Umstände stiegen wir hinauf und traten in einen großen Saal, der die ganze Etage ausfüllte, Wir befanden uns in einem türkischen [416] Han. Einfacheres kann es nichts geben, als die Einrichtung eines solchen Gasthauses; das ganze Meublement besteht aus einer an drei Wandseiten des Gemachs hinlaufenden breiten hölzernen Pritsche, die als Bett, Divan und Tisch dient. Hier saßen und lagen Türken jeden Alters und Standes; der Eine in süßer Ruhe, der Andere im Begriff, Toilette zu machen und den Turban um den Kopf zu winden, der Dritte mit ernster Miene seine Pfeife vorbereitend; man hätte denken sollen, unser plötzlicher Eintritt habe Verwunderung, Mißfallen erregen müssen – keineswegs, nur einen gleichgültigen Blick warfen die berechtigten Gäste auf die Eindringlinge, dann wurden diese nicht weiter beachtet. Nichts von jener dummen Neugier, die sich in öffentlichen Localen gewisser Städte des Abendlandes sogleich in allen Gesichtern spiegelt, wenn ein Fremder sich dahin verirrt; nichts von der unverschämten Zudringliehkeit, welche ein Examen beginnt mit Jedem, der das Unglück hat, in ihre Nähe zu gerathen; nichts von der Genialität gebildeter Kellner, die sich die Zähne stochern, wenn der Gast nach Bier schreit, wie der Hirsch nach frischem Wasser.

An der vierten Wand des Saales, neben der Eingangsthüre, hatte der unentbehrliche Kaffeewirth sein Büffet aufgeschlagen; es ist wahr, es sah etwas ärmlich aus und entsprach keineswegs den Anforderungen der Reinlichkeit, immer aber noch besser, wie in den fränkischen Locanden. Wir verlangten Kaffee; aus einer zinnernen Dose schüttete der Garçon das dunkelbraune, mehlfein zermahlene Pulver in die kleine, einem halben Ei ähnliche Tasse, ließ heißes Wasser darauf laufen, daß das Getränk schäumend emporwallte, und das Labsal war fertig. Es mundete trefflich und die anwesenden Türken schienen sich über unsere sichtbare Approbation zu freuen. Der Divan – um hochtrabend zu reden – der linken Seite des Saales war von einer Gruppe egyptischer Marinesoldaten eingenommen. In diesem Augenblick ließ sich Einer von ihnen, ein junger, frischer Bursche mit mehreren Medaillen auf der Brust, die Guzla reichen, die kleine persische Laute mit gekrümmtem Hals und mit nur drei Metallsaiten bezogen, und zu dem eintönigen Geklimper derselben begann er mit lauter, etwas von der rauhen Seeluft belegter Stimme einen merkwürdigen Gesang, dessen Melodie sich in nur wenigen Noten bewegte. Leider verstanden wir kein Wort davon, aber der Text, der augenscheinlich imvrovisirt und an uns gerichtet war, schien den allgemeinen Beifall zu erwecken. Lustig nickten die Krieger darein, die entfernter Placirten näherten sich, draußen auf der Gallerie erhoben sich die phlegmatischen Osmanlis, und ihre bärtigen Gesichter unter den bunten Turbanen bildeten einen höchst frappanten Hintergrund. Da waren wir mitten in Gulistan, und der Schenke kredenzte sodann, um das Märchen abzurunden, königlichen Scherbet in diamantenen Pokalen – aber ach, es zog uns sofort mit Gewalt in die alltägliehe Wirklichkeit zurück. Es war eine Art fader Mandelmilch, matt wie Louisens Limonade, und die Gläser, worin dieser altberühmte Trank servirt ward, waren mit ganz Anderem incrustirt, als mit Smaragden und Topasen. Ich wandte mich nach dem Versuch mit Ekel ab, da reichte mir gutmüthig ein Sohn des alten Nil den kurzen Tschibuk vom eigenen Munde weg, wobei er die ganz untürkische Aufmerksamkeit hatte, die kugelige Hornspitze mit Etwas abzuwischen, das er unter der Brustwatte des Waffenrocks hervorzog, und worüber ich noch im Zweifel bin, ob es ein Gewehrputzlumpen oder ein ähnliches Utensil der Reinlichkeit war; laut schrie ich ihm auf Deutsch zu, sein Mund ekele mich weniger an, wie alles Andere – worauf, als hätten sie’s verstanden, ein heller Ausbruch fröhlichen Gelächters folgte. Dann kam ein zweiter Wohlthäter, hob den Deckel von einer gläsernen, im Laufe der Zeit milchig trüb gewordenen Vase und lud uns ein, zuzulangen, indem er fortwährend ausrief: „Rachat lakum – buono, buono!“ Aber auch der süßliche Pomadengeschmack dieser rosenrothen Gallerte, einer im ganzen Orient berühmten Leckerei, vermochte uns nicht mehr zu fesseln. Wir verabschiedeten uns von den freundlichen Insassen des Han’s; ringsum ertönte in tiefen Gaumenlauten das „Salam alächum“ – die Alten auf der Gallerie nickten mit den Köpfen, wie chinesische Pagoden – und fernhin scholl noch der monotone Mollgesang zur Laute, vielleicht ein Abschiedslied für die Fremdlinge. So nahmen wir doch eine hübsche Erinnerung aus Sulina mit.

Am Nachmittag versuchten wir unser Jagdglück an dem linken Ufer, und wanderten im heißesten Sonnenbrand auf gut Glück hinein in das Schilf, einem schmalen ausgetretnen Pfade folgend. Weiter und weiter drangen wir in das Schilfmeer. Mit bleierner Schwere lag die Gluth des Himmels über dem Morast, eine schwüle, dicke, fast greifbare Atmosphäre umgab uns und schien sichtbar aus dem morschen Boden zu brodeln. Man konnte sich zwischen den Bayous in Louisiana wähnen, und es fehlten auch nicht die Peiniger „mit den scharfen Gesichtern“, denn Milliarden von Fliegen und Mücken waren die einzigen Thiere, die wir zu sehen bekamen, aber mit dem Unterschied, daß sie uns jagten und Blut abzapften nach Herzenslust. Diese nichtswürdigen „Gelzen“, welche die ganze untere Donau unsicher machen, sind eine von den allerverwünschtesten Landplagen, und einfache Bekleidung hilft nicht einmal gegen ihre perfiden Saugrüssel.

Etwa eine Stunde lang waren wir im Schweiße unseres Angesichts – oder vielmehr Leibes – in dem Schilfwald umhergestelzt, tättowirt am ganzen Körper, Antlitz und Hände gezeichnet, als seien wir Reconvalescenten der Pocken – immer drückender lastete die dumpfe Hitze auf uns, die Zungen klebten am Gaumen und wir betrachteten den Himmel, um uns nach der Sonne Stand zum Rückweg zu wenden – da schreckte mich plötzlich ein dringliches Zeichen meines um hundert Schritte voraus geeilten Begleiters, des Ingenieurs, aus der apathischen Ermüdung auf, die mich gänzlich hatte vergessen lassen, daß ich eine Flinte trug und auf der Jagd war. Nun aber erwachte auf einmal wieder der alte Eifer, mit gespanntem Hahn schritt ich aufmerksam voran, bis ich den Gefährten ereilte, der in großer Aufregung mir ganz leise zuflüsterte: „Ein Eber! – zwei – noch einer!“

Unsere Jagdfreude dauerte indeß nicht lange, denn je näher wir kamen, je sonderbarer sahen diese Wildsauen aus – sie trugen dicke Pelze, einige sogar Hörner – mit einem Wort, sie verwandelten sich in eine ehrsame Schafheerde, und zwar noch gerade zu rechter Zeit. Jetzt trat auch der bulgarische Hirt mit zwei riesigen Hunden hervor, und alle drei blickten und knurrten nicht schlecht, als sie uns plötzlich wie aus dem Boden gewachsen mitten im unwirthbaren Schilf erblickten. Auf welcher Seite beider Parteien übrigens das Mißtrauen größer gewesen ist, wage ich nicht zu entscheiden. Ohne Gruß und Wortwechsel, aber mit öfterem Umblick, entfernten wir uns von der wilden Gestalt, mit der breitmäuligen Tromblone auf der Schulter und den beiden wölfischen Wächtern. Und nunmehr drang auch das Rauschen der Brandung deutlich an unser Ohr, ward unser Führer, der uns nach einem halbstündigen Marsch an das sandige Meeresgestade nördlich von Suline Bogasi brachte.

Wir bedurften sehr der Ruhe, noch mehr der Erfrischung; die schäumenden Wellen lockten so verführerisch, daß wir nach kurzer Rast auf dem feuchten Sand uns in ihre wohlige Umarmung schwangen. Wie herrlich war dies Bad in der kühlen, wallenden See! Ein paar hundert Schritte von uns entfernt ragte ein schwarzes Wrack aus der Tiefe empor; wir schwammen darauf zu, und umkreisten es mehrmals, aber an Bord zu kommen, war nicht möglich, denn einerseits war von Bord nicht viel mehr vorhanden, und sodann brach das Holz, sobald man es ergriff, in morsche Späne auseinander. Wir konnten uns sobald von dem erfrischenden Elemente nicht trennen – so oft wir das Ufer gewonnen hatten, zogen uns die schelmischen Wellenmädchen wieder zurück in ihre feuchten Arme – wir sanken hin und wurden nicht mehr gesehen, bis auf dem Kamme der nächsten Woge. Vom Strand aus konnten wir den Leuchtthurm und ein Stück der Stadt Sulina sehen. Plötzlich lagerte sich auf derselben ein dichter rother Qualm, gleich darauf züngelten hohe Flammen empor.

„Die Stadt brennt!“

„Lassen Sie dieselbe in Gottes Namen abbrennen!“ sagte mein Begleiter sehr ruhig, „sie ist nichts Besseres Werth.“

„Wollen wir nicht hin, helfen, retten?“

„Fällt uns gar nicht ein,“ erwiderte er, „hier ist es viel gemüthlicher. Die deutsche Feuereimersucht ist dort nicht am Platz; Sie wurden riskiren, geprügelt oder bestohlen zu werden; hier zu Land löscht Niemand, als wer dazu verpflichtet ist.“ Er hatte sehr recht, der erfahrene, schon lange im Orient ansässige Mann, doch aber mußte ich oft hinüber schauen nach der rothen qualmenden Wolke und Gewissensbisse ob meiner Unthätigkeit in solcher Gefahr bekämpfen.

Nach einer Stunde begaben wir uns auf den Heimweg, und schlenderten gemächlich das Ufer entlang, bis an die äußerste Ecke, wo vor einer Stunde ein Dampfer der „Messagerie imperiale“ Anker geworfen hatte.

[417] Hier läuft der Damm hinaus in die See, welcher bis jetzt das einzige sichtbare Zeugniß der Arbeiten der berühmten Donau-Commission ist, aber schwerlich fertig werden wird, denn heute fehlt es an Holz, morgen an Steinen und alle Tage an Geld. Zu den Arbeiten werden meistens türkische Sträflinge verwendet, daran ist niemals Mangel. Es stehen hier einige Gebäude zum Obdach für Arbeiter und Wachen.

Als wir um die Ecke des Schilfdickichts traten, hatten wir ein höchst lebendiges Schauspiel. Der große französische Dampfer lag etwa einen Steinwurf weit vom Ufer ab, sein ganzes Backbord war garnirt mit Köpfen und unter diesen zeichneten sich namentlich diejenigen einer Anzahl türkischer Frauen aus, deren wir nicht weniger als dreißig zählten. Sie gehörten zu dem Harem des Pascha von Belgrad und reisten mit dem Steamer nach Constantinopel. Sie sowohl, wie die Officiere der Equipage, waren Zuschauer der Spiele, an welchen sich die Matrosen ergötzten. Es ist eigenthümlich, keine andere Nation weiß das Leben so von der fröhlichen Seite aufzufassen, jeder Minute ihren Tropfen abzugewinnen, wie die Franzosen. Sehe man doch irgend ein anderes Fahrzeug der Welt, ob die Mannschaft gleich die erste Stunde der Rast dazu benutzt, sich in Bouffonerieen und grotesken Scherzen zu ergehen! Hier hatte das Spiel auch seinen gymnastischen Zweck. Eine lange Raa war von dem Fallreep aus mittelst eines Taues weitaus über die Tiefe gehängt und zum Ueberfluß mit Seife bestrichen. An ihrem äußersten Ende, gerade über der tiefsten Stromstelle, hing an einer Schnur mit dem Kopfe nach unten ein unglückseliges lebendes Huhn. Die Matrosen, einer nach dem andern, alle blos mit Schwimmhosen bekleidet, versuchten balancirend auf der schmalen Stange bis an das Ende zu gehen, um den Kopf des armen Thieres zu fassen, abzureißen und dann den Körper als Siegesbeute zu erhalten. Aber Wenigen nur gelang das Kunststück; die Meisten fielen auf der Hälfte des schwankenden Weges herab in’s Wasser und mußten schwimmend wieder an Bord zu gelangen suchen. Die Uebung mag ganz gut sein, aber das lebende Huhn ist doch wohl nicht nothwendig.

Auf unser eigenes Schiff zurückgekehrt, empfing uns eine fröhliche Nachricht. „Der Wind hat sich gelegt, die Warnungsflagge weht nicht mehr auf dem Leuchtthurm, in einer Stunde können wir die Barre passiren!“ Das brachte neues Leben in die ganze Gesellschaft. Schon qualmte der Rauch aus dem riesigen Schlot, das Deck war klar gemacht, man sah überall erwartungsvolle, freudige Gesichter. Nur der gute Stasio unten in seiner Jolle, der uns mit Zähigkeit treu geblieben war, zeigte eine trübe Miene, sie galt aber wahrscheinlich mehr unsern Zwanzigern, als uns selber. Wir gewährten ihm die letzte Freude, und ließen uns noch einmal nach der Stadt übersetzen, um die Verwüstungen des heutigen Brandes zu beschauen. In der dritten dem Ufer parallelen Zeile waren sieben Häuser abgebrannt, aber kein Mensch hätte in dem wogenden, unabänderlichen Gewühl irgend eine Andeutung solchen Unglücks aufgefunden. Die Brandstätte rauchte und brannte noch, aber ohne Gefahr; an Löschen dachte man nicht mehr, und selbst neugierige Zuschauer fehlten. Dagegen war von der einen Brandstelle schon der Schutt ziemlich weggeschafft, bis auf einige Haufen verkohlter Trümmer in der Mitte; einige Leute waren beschäftigt, dünne fichtene Stollen als die Eckpfeiler eines neuen Gebäudes aufzurichten, das vielleicht am nächsten Abend fix und fertig war. Das ist die Stadt Sulina in Europa!

Schon standen die Leute am Gangspill, als wir zurückkehrten. Es war etwa sieben Uhr Abends, ein unbeschreiblich klarer Himmel lag über uns, kein Lüftchen erregte die Atmosphäre. Unten in der Cajüte erklang das Clavier in rauschenden Accorden, Herr Kondopulos, der feine Grieche, sang mit extremstem Gefühl Arien von Verdi; der Baseler gab sein heimathliches Leiblied „im Aargäu sind zwei Lieba“ zum Besten, wozu der bedächtige Mr. J. Amschel aus Manchester die Bemerkung machte, das erinnere ihn an den Stier von Uri und sein Horn; dann verbreitete sich auf einmal das Gerücht, Capitain Bassi sei ein bedeutender Sänger – wahrscheinlich als Italiener per se – und er ward umdrängt von flehenden Musikwüthigen, bis er mit Donnerton die Spiegel der Cajüte erbeben machte – es war ein Lärm und Treiben, als habe der gravitätische Metternich die Besatzung mit seinem leichtfertigen französischen Nachbar getauscht.

Endlich kam der Lootse an Bord und übernahm das Commando. Ein paar tiefe, schwere Athemzüge that das Boot, dann fingen seine gewaltigen Schaufeln an zu arbeiten; „Hurrah, Hurrah!“ scholl es von den befreundeten Schiffen zum Abschiedsgruße, und dahin schossen wir, gleich dem Albatroß, hinaus in das dunkle Meer, hinter uns eine milchweiße Straße im aufgeregten Gewässer. Fast ehe wir nur Zeit hatten, an Gefahr zu denken, war die gefährliche Barre hinter uns, der Lootse sprang in seine Nußschale, – lebe wohl, Sulina, wir schwimmen im Pontus Euxinus!



Anmerkungen (Wikisource)

  1. Vorlage: verteten