Theatererinnerung eines alten Schauspielers

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Titel: Theatererinnerung eines alten Schauspielers
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aus: Die Gartenlaube, Heft 36, S. 609–610
Herausgeber: Ernst Keil
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Erscheinungsdatum: 1876
Verlag: Verlag von Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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Quelle: Scans bei Commons
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[609] Theatererinnerung eines alten Schauspielers. Im August des Jahres 1845 war ich auf dem Callenberge, dem reizenden Lustschlosse des Herzogs von Coburg, und hatte mich kaum in der dorigen Restauration an den Tisch gesetzt, um eine Tasse Kaffee zu trinken, als sich ein Herr zu mir gesellte und sich mir als den Schauspieler Hübsch vorstellte. Er war als Director des Königsberger Theaters thätig gewesen und sah sich nun, wie er mir erzählte, directionsmüde nach einem dauernden Engagement um. In Coburg habe er Gönner gefunden, die ihn dem Baron von Gruben (damaligem Intendanten des Hoftheaters) empfohlen hätten; von diesem sei ihm ein Gastspiel zugesagt und zugleich die Aussicht auf die Regie eröffnet worden. Er würde nun in den ersten Tagen des Septembers in „Don Carlos“ als Philipp auftreten und also, wie er sich ausdrückte, das Vergnügen haben, mit mir, der ich im Besitze der Rolle des Don Carlos war, zusammen zu wirken.

Nachdem wir unsern Kaffee getrunken hatten, traten wir, weiter plaudernd, unseren Rückweg nach der Stadt an, wo wir uns trennten, um uns erst nach einigen Wochen auf der ersten Theaterprobe des „Don Carlos“ wieder zu sprechen, obschon ich ihn einige Male auf der Straße bemerkt hatte, auf der seine außerordentlich vortheilhafte Persönlichkeit Aufmerksamkeit zu erregen begann.

Die erste Theaterprobe überzeugte uns leider, daß Hübsch, obgleich er mehr als genügende Zeit zur Vorbereitung gehabt hatte, kaum einiger Worte seiner Rolle mächtig, ja nicht einmal im Stande war, den allzulauten Einflüsterungen des Souffleurs nachzusprechen; die Probe wurde also unterbrochen, und wir mußten – da Hübsch nach Hause geeilt war, um seine vergessene Rolle zu holen, deren Vermissen er als Grund seiner sogenannten Zerstreuung angab – geduldig auf seine Wiederkunft warten. Sei es nun, daß er mittlerweile die verlorene Fassung wieder erlangt, sei es, daß das Bewußtsein, seine Rolle bei sich zu wissen, ihm das Gedächtniß gestärkt hatte, es ging nach seiner Rückkehr etwas besser und die Probe wurde wenigstens ohne weitere Störung zu Ende geführt. Am folgenden Tage, dem Tage der Aufführung, war auch die Generalprobe in Gegenwart des Intendanten. Obschon mir nun Hübsch versicherte, die ganze vergangene Nacht dem Studium gewidmet zu haben, wurden seine Gedächtnißlücken doch bald dergestalt merkbar, daß der Regisseur ihn ermahnen mußte, sich im Laufe des Nachmittags noch fleißig mit der Rolle zu beschäftigen.

Endlich kam der verhängnißvolle Abend. Ich, der ich als Don Carlos das Stück zu beginnen hatte, war bereits mit meiner Costümirung soweit fertig, daß ich mir nur noch den Hermelinmantel mit der Mantelschnur befestigen zu lassen brauchte, als endlich – es mochte wohl schon halb sieben Uhr sein – Hübsch fast athemlos in die Garderobe kam, um sich anzukleiden. Da ihm sein Platz neben meinem angewiesen war, hatte ich Gelegenheit ihm zu bemerken, daß er keine Zeit mehr zu versäumen hätte. Hierauf erwiderte er mir, während er sich ankleidete, daß er auf dem Wege in’s Theater an einem Silberladen vorübergegangen und durch flüchtiges Betrachten des Schaufensters plötzlich auf den Gedanken gekommen wäre, seiner Frau, deren Namenstag in kurzer Zeit sei, eine Freude zu machen. Wie sehr er sich nun aber auch mit der Bestellung eines Dutzend silberner Bestecks beeilt hätte, dürfte er sich doch wohl etwas zu lange dabei aufgehalten haben, er werde aber sicher noch rechtzeitig mit seiner Costümirung fertig werden.

Und er hatte die Wahrheit gesprochen. Mit fabelhafter Geschwindigkeit hatte er sich während der Unterredung die einzelnen Costümstücke anzulegen gewußt und war nach einer Viertelstunde bereits geschminkt; er hatte nur noch sein Haar zu ordnen, um ganz fertig zu sein, als ihn mein Blick zufällig streifte und ich erstaunt bemerkte, daß er sich eine blonde Lockenperrücke aufstülpen lassen wollte.

„Aber, Herr Hübsch,“ rief ich aus, „Sie werden doch nicht als Philipp diese blonde Lockenperrücke aufsetzen wollen?“

„Allerdings werde ich das thun,“ gab er mir zur Antwort, „und denke es auch vertreten zu können, da es das Resultat reiflichster Ueberlegung ist.“

Jetzt schlug es sieben Uhr. Das Musikzeichen wurde gegeben; ich mußte auf die Bühne und durfte, um mich nur mit meiner Rolle zu beschäftigen, mich durch Nichts mehr abziehen lassen, war aber dennoch auf’s Aeußerste gespannt auf Philipp’s Auftritt. Nachdem ich die fünfte Scene beendet hatte und als die Königin sich nach dem Hintergrunde zurückziehen wollte, trat unser Philipp ihr entgegen, blickte mit Befremdung umher, und nachdem er eine augenblickliche Pause hatte vorangehen lassen, begann er mit „So allein, Madame?“ Wenn auch kein Philipp, war er trotz seiner blonden Lockenperrücke, die er sich nicht hatte abstreiten lassen, eine so imposante Erscheinung, daß er von vornherein den vortheilhaftesten Eindruck machte, und man hörte auch während der kurzen vorhergehenden Pause ein Beifallsgemurmel im Publicum. Freilich hielt diese ihm günstige Stimmung nicht lange an, denn man wußte das Unbestimmte seiner Charakterzeichnung nicht zu deuten, auch bemerkte man wohl, daß er die Hülfe des Souffleurs über die Gebühr in Anspruch nahm. Dennoch gelang es ihm, diese verhältnißmäßig kurze Scene ohne allzu lange Kunstpausen zu Ende zu führen und sich glücklich „durchzulügen“, wie man in der Coulissensprache zu sagen pflegt. Nun aber begann der zweite Act. Der Auftritt zwischen Philipp, Alba und Carlos geht zu Ende. Alba tritt ab. Carlos befindet sich mit Philipp allein auf der Bühne, und die schöne Scene zwischen Vater und Sohn nimmt ihren Anfang; ich gelange auch glücklich bis zu der Rede:

          „Schicken Sie
Mich mit dem Heer nach Flandern, wagen Sie’s
Auf meine weiche Seele! Schon der Name
Des königlichen Sohnes, der voraus
Vor meinen Fahnen fliegen wird, erobert,
Wo Herzog Alba’s Henker nur verheeren.
Auf meinen Knieen bitt’ ich d’rum. Es ist
Die erste Bitte meines Lebens – Vater,
Vertrauen Sie mir Flandern“ –

Hierauf hat Philipp zu erwidern:

          „Und zugleich
Mein bestes Kriegsheer Deiner Herrschbegierde?
Das Messer meinem Mörder?“ –

Aber Hübsch schweigt, stiert in den Souffleurkasten, blickt mich wie hülfeflehend an, wendet sich wieder nach dem Souffleurkasten und kommt endlich auf mich zu. Er legt mir die Hand auf’s Haupt und sagt mit wimmernder Stimme: „Weiche Seele!“ Ich blicke auf, sehe ihm in’s Auge und – gerechter Gott! Wie ein Blitz durchzuckt mich der Gedanke: Der Mann ist wahnsinnig. Der Schreck lähmt mir die Kraft zur Ueberlegung, und dennoch fühle ich unwillkürlich, daß die Scene auf’s Schnellste zu Ende gebracht werden müsse; ich gebe dem sich vergebens anstrengenden Souffleur unmerklich einen Wink, entwinde mich der unmittelbaren Nähe des sich an mich anklammernden Hübsch, überspringe alle Zwischenreden und finde glücklich mit der folgenden Rede eine Anknüpfung:

„Ich wage meines Königs Zorn und bitte
Zum letzten Mal: Vertrauen Sie mir Flandern!

[610]

Ich soll und muß aus Spanien. Mein Hiersein
Ist Athemholen unter Henkershand –
Schwer liegt der Himmel zu Madrid auf mir,
Wie das Bewußtsein eines Mords. Nur schnelle
Veränderung des Himmels kann mich heilen.
Wenn Sie mich retten wollen – schicken Sie
Mich ungesäumt nach Flandern!“

Nach einer hier durchaus nöthigen kurzen Pause, die Hübsch nicht durch Worte, sondern durch einige unarticulirte Töne auszufüllen sich abmühte, fahre ich rasch fort:

„O jetzt umringt mich, gute Geister! Vater,
Unwiderruflich bleibt’s bei der Entscheidung?“

Dann verbeuge ich mich, schließe mit den Worten: „Mein Geschäft ist aus“ die Scene und stürze ab. Der rauschende Applaus, der meinen Abgang begleitete, ließ mich vermuthen, daß das Publicum noch keine Ahnung von der Tragödie in der Tragödie hatte, und eiligst verfügte ich mich nach der Coulissenseite, auf der ich den Regisseur zu finden hoffte, um ihm die schreckliche Wahrnehmung mitzutheilen; als ich jedoch, ihn suchend, einen Blick auf die Bühne werfe, sehe ich das Unglaubliche. Hübsch starrt das Publicum an, öffnet den Mund, schließt ihn wieder, wirft dann einen stieren Blick in den Souffleurkasten, dann wieder einen in das Publicum, das nun unruhig zu werden anfängt, weil die Pause bereits zwei peinlich lange Minuten gewährt hat, dann aber, als endlich sich der Vorhang langsam senkt, scheint er aus seiner Betäubung zu erwachen; er läßt den Vorhang nicht ganz zur Erde fallen, sondern hält ihn mit der einen Hand, um sich mit folgenden Worten an das Publicum zu wenden:

„Gnädigster Herzog, verehrungswürdiges Publicum! Der Pfarrer auf der Kanzel kann sich versprechen, darum haben Sie auch Nachsicht mit einem armen Schauspieler.“

Jetzt aber wurde er beim Arme ergriffen und zurückgezogen, damit der Vorhang sich ganz senken konnte; der Intendant, Baron von Grube, der inzwischen aus der Intendanzloge des ersten Ranges auf die Bühne geeilt war, herrschte ihm nun entgegen: „Herr! Sie schänden unser Hoftheater. Sie werden nicht weiter spielen! Entkleiden Sie sich!“

Hübsch, der kein Wort der Erwiderung fand, maß ihn zwar von oben bis unten, ging aber dann ruhig, der Weisung folgend, nach der Garderobe, wo er von drei Schneidern im Empfang genommen und rasch entkleidet wurde, damit der Regisseur Kawaczynski, der, da er die Rolle früher gespielt, schon am Morgen den Wink erhalten hatte, für alle Fälle bereit zu sein, sich der Garderobestücke sofort bedienen konnte. Die Vorstellung nahm nunmehr, nachdem dem Publicum angezeigt war, daß wegen plötzlich eingetretenen Unwohlseins des Herrn Hübsch Herr Kawaczynski die Rolle des Philipp übernommen hätte, ihren ungestörten Fortgang. Der zu Rath gezogene Theaterarzt erkannte diese so plötzlich ausgebrochene Krankheit sogleich als eine sehr gefährliche, ließ einen Wagen kommen, den Patienten nach Hause fahren und ihn während der Nacht bewachen. Am folgenden Morgen schon wurde die irrige Meinung des Publicums, Herr Hübsch hätte sich erfrecht, im Rausche die Bühne zu betreten, durch die Trauerkunde berichtigt, daß der Unglückliche in Tobsucht verfallen und gebunden nach Erlangen in’s Irrenhaus gefahren worden wäre. Seine herbeigeeilte Familie fand ihn nicht mehr am Leben. Er wurde in Erlangen begraben und ist vergessen worden, ich aber werde des Blicks, mit dem er die Worte: „weiche Seele“ an mich richtete, stets eingedenk bleiben.