Trauerklänge aus Schwaben
Trauerklänge aus Schwaben.
Im Herzen des Schwabenlandes, tief eingebettet in die mächtigen Forsten des Schönbuchs, liegt, nicht gar weit entfernt von der Musenstadt Tübingen, ein alter Klosterbau, die ehemalige Cistercienserabtei Bebenhausen. Längst sind freilich die Mönche verschwunden, und in den Hallen von klassisch schöner Gothik hatte der Herrscher des Landes, König Karl I., sich heimisch gemacht, um hier fernab vom rauschenden Weltgetriebe köstliche Tage der Ruhe zu verbringen oder auch eine fröhliche Jagdgesellschaft um sich zu versammeln. Auch dieses Jahr hatten die schönen Herbsttage den König nach jenem stillen Waldsitz eingeladen, auch dieses Jahr wieder umgab ihn das idyllische Thal mit seinem würzigen Duft und seinem erquickenden Frieden – aber von der Seele dessen, der sich in seinen Schutz geflüchtet, vermochte aller Waldeszauber die schwarzen Schatten der Sorge nicht mehr zu bannen, und aus dem geheimnißvollen Flüstern der uralten Buchenhaine klangen die rauschenden Fittiche des Todesengels!
Als ein schwer kranker Mann mußte König Karl am 3. Oktober das traute Thal verlassen, um auf den Rath seiner Aerzte in seine Residenz Stuttgart zurückzukehren. Ein traurig Scheiden – auf Nimmerwiederkehr!
Und nun ein paar lange, lange Tage des Bangens, des Hoffens – und des Verzagens!
Als am Morgen des 6. Oktober das Tagesgestirn in siegreichem Glanze emporstieg über Stuttgarts freundlichen Höhenkranz, da huben auf einmal von allen Thürmen die Glocken zu läuten an, und man wußte, was das Läuten bedeute. Nach so vielen Stunden unsäglicher Schmerzen war dem greisen Herrscher der erlösende Tod erschienen – die Glocken verkündeten es seinem trauernden Volke.
Ja, Württemberg trauert um seinen König! Der Tag ist noch nicht gekommen, wo die Geschichte der neuesten Zeit so offen vor unseren Augen liegt, daß jedermann sich ein Urtheil über den persönlichen Antheil des Herrschers bilden könnte, welcher in den letzten siebenundzwanzig Jahren die württembergische Krone getragen hat. Was aber König Karl als Mensch gewesen ist, das weiß jeder; die schlichte Einfachheit seines Auftretens, die sichere Zuverlässigkeit und vornehme Milde seines Charakters, die Großmuth und Güte seines Herzens, der rege Sinn für die idealen Güter des Lebens, für Bildung, Kunst und Wissenschaft, das alles sind Züge, die, früh in ihm erkannt und nie vermißt, sich unauslöschlich seinem Volke eingeprägt haben, Züge, die mit dem Bilde König Karls, so wie es in den Herzen seiner Unterthanen fortleben wird, unzertrennlich verknüpft sind.
Aber auch außerhalb der schwarz-rothen Grenzpfähle hat der Tod König Karls schmerzlichen Widerhall geweckt. Mit seltener Einmüthigkeit hat die deutsche Presse aller Parteischattierungen dem Heimgegangenen Nachrufe voll ehrender Anerkennung gewidmet. Denn auch da, wo man die Vorzüge seiner Persönlichkeit nicht unmittelbar vor Augen hatte, wußte man doch die Eigenschaften zu schätzen, die dem König Karl die Verehrung seines Volkes sicherten.
Es ist ja heute in unserem deutschen Vaterlande das Gefühl der Stammesgemeinschaft glücklicher Weise so hoch entwickelt, daß alle Glieder unseres vielverzweigten Volksganzen sich solidarisch fühlen, daß des einen Freude auch des andern Lust und des einen Trauer auch des andern Schmerz ist. Und nicht bloß das: man hat in König Karl auch immer einen von denjenigen deutschen Bundesfürsten gesehen, welche unter opfervoller Selbstbeschränkung den Boden geebnet haben, auf welchem ein solches Solidaritätsgefühl sich herausbilden konnte, man ist sich stets bewußt geblieben, daß dieses Verdienst um so schwerer wiegt, je höher der Fürst stand, der es sich erworben, je bedeutsamer die selbständige Macht war, die er vertrat. Von den Königen, die vor nunmehr bald einundzwanzig Jahren an der Gründung des Deutschen Reiches mitgewirkt haben, war König Karl der letzte – auch ein Gesichtspunkt, der seinen Tod über die Bedeutung eines bloßen Thronwechsels hinaushebt.
Und nun haben sie auch ihn bestattet zur ewigen Ruhe wie vor ihm so manchen gekrönten Mitarbeiter an jenem großen Werke, bestattet pomphafter vielleicht, als in seinem bescheidenen Sinne gelegen hatte. Es war sein Wunsch gewesen, daß seine Beisetzung ohne die Theilnahme auswärtiger Fürstlichkeiten oder ihrer Vertreter stattfinde. Doch noch ehe dieser Wunsch zum Ausdruck gelangte, trafen die Anmeldungen befreundeter Fürsten ein, denen es ein inniges Bedürfniß war, ihre Theilnahme durch persönliches Erscheinen bei der Leichenfeier oder durch Absendung hervorragender Vertreter zu bezeugen. So kamen sie denn, der Kaiser Wilhelm II.
[749]an der Spitze, der noch vor kaum mehr als zwei Jahren die fröhlichen Tage des fünfundzwanzigjährigen Regierungsjubiläums an der Seite König Karls mitgefeiert hatte, und so folgten sie dem Sarge an der Seite seines Nachfolgers, des heute regierenden Königs Wilhelm II., bis zu der Kapelle im ehrwürdigen „Alten Schloß“, unter welcher der verewigte König bald nach seiner Thronbesteigung für die Mitglieder des württembergischen Königshauses eine Begräbnißstätte hatte erbauen lassen. Und mit ehrfürchtigem Staunen blickten die dichtgedrängten Volksmassen rechts und links von dem kurzen Weg, welchen der Zug zurückzulegen hatte, auf das glänzende fürstliche Gefolge, das ihren König zu seiner letzten Ruhe geleitete – sie wußten, daß etwas mehr als bloß höfisches Ceremoniell diese stolze Schar zusammengeführt hatte, und sie verstanden, was das bedeutete. Mitten in aller aufrichtigen Trauer durchdrang sie ein erhebendes Gefühl, sie waren noch einmal stolz auf ihren König Karl.