Turnübungen gegen die hockige Haltung
Turnübungen gegen die hockige Haltung.
Die meisten Schulkinder in den Städten haben hockige Haltung. Daß dieses Uebel vorzugsweise in den Städten seinen Sitz hat, liegt meines Erachtens daran, daß die Kinder dort mehr in den Stuben sitzen und weniger sich im Freien tummeln. Mag auch ungenügendes Athmen nach der Geburt und später Rhachitis („englische Krankheit“) häufig als Mitursache auzusehen sein: die meisten Fälle, die mir vorgekommen sind, lassen davon Nichts erkennen und sind daher wohl auf Gewohnheitsfehler in der Haltung zurückzuführen.
Bei gesunden Menschen ist die Brust breiter gebaut als der Rücken, das heißt die Entfernung der vordern Enden der Achselhöhlen von einander ist größer als die der hintern Enden. In Wirklichkeit aber findet man sehr häufig die Brust flach und schmal, die Schultern nach vorn gedrängt, die Schulterblätter weit von einander entfernt, den Rücken gewölbt, den Kopf vorgeschoben und, wenn man das Bandmaß anlegt, die Breite des Rückens um 5 bis 11 Centimeter größer als die der Brust.
Bei Kindern, die mit solchen Fehlern belastet sind, ist die Athmung oberflächlich und zu wenig ausgiebig und in Folge dessen die Blutbildung unvollkommen. Im spätern Leben sind solche Individuen natürlich viel mehr zur Schwindsucht geneigt als wohlgebildete, kräftige Menschen.
Dagegen könnte das Turnen helfen, welches jetzt vielfach in den Schulen eingeführt ist. Dasselbe hat aber noch zu wenig Raum im Unterrichtsplan gefunden. In wöchentlich 2 Stunden – das ist das gewöhnliche Maß – ist es nicht möglich, den Körper so auszubilden und zu kräftigen, wie es geschehen könnte und sollte. Viel weiter würde man kommen, wenn man täglich in einer verlängerten Zwischenstunde die Kinder ungefähr 20 Minuten lang Freiübungen und außerdem wöchentlich zweimal vielleicht je eine halbe Stunde lang anstrengendere Geräthübungen machen ließe. Bei den Freiübungen müßte man jedoch auf alle Fälle auf tiefes Athmen halten.
Eine solche Einrichtung wird aber wohl noch lange Zeit nicht ins Leben treten. Deßhalb müssen sorgsame Eltern zu Hause das zu ersetzen suchen, was die Schule nicht bietet.
Es kann nun allerdings nicht meine Aufgabe sein, hier die ganze Reihe der ausführbaren Freiübungen durchzumachen und zu beschreiben; nur einige wenige will ich heute angeben, welche vorzugsweise geeignet sind, die hockige Haltung fernzuhalten oder zu beseitigen und die Athmungsorgane gut zu entwickeln.
Vor Allem empfehle ich zu diesem Zwecke die Uebung: „Arme zurückdrücken“ oder „Hände hinten geschlossen“, wie sie von Andern genannt wird. Das stehende Kind faltet hinten die Hände zusammen, streckt die Arme und dreht sie einwärts, so daß die Ellbogen gegen einander gekehrt sind. In dieser Haltung bleibt es einige Sekunden; dann läßt es die Schultern locker, hebt die Hände ruhig einige Zoll in die Höhe, holt dabei tief Athem und wiederholt dann die Uebung, indem es ausathmet. So zehn- bis zwanzigmal nach einander. Von einigen dabei häufig vorkommenden Fehlern erwähne ich zuerst den gewöhnlichsten, daß der Uebende dabei den Oberkörper zurückneigt und den Kopf vorschiebt. Es soll aber vielmehr die Brust vorgeschoben, der Bauch eingezogen und der Kopf zurückgeschoben sein. Ich sage mit Absicht: zurückgeschoben, denn viele Anfänger glauben die Aufgabe dadurch zu erfüllen, daß sie das Kinn heben und somit den Kopf zurückneigen, wobei der Hals noch immer seine Richtung nach vorn behalten kann. Die vordere und hintere Kontour des Halses sollen senkrecht verlaufen und der Kopf seine natürliche Stellung behalten.
Viele Menschen können die Uebung anfangs nicht ausführen, besonders solche mit hockiger Haltung. Sie drehen die Arme nicht einwärts und die Schulterblätter bleiben an ihrer Stelle. Solchen Kindern muß man helfen, indem man, hinter ihnen stehend, die Finger auf die Schultern legt, die Daumen in den Rücken einstemmt und die Schultern kräftig zurückzieht. Eigentlich sollen bei gut ausgeführter Uebung zwei Hautfalten zwischen den Schultern sich bilden, welche in der Mitte sich zu einer tiefen Rinne an einander schließen. So weit bringt es bei Ungeübten auch eine fremde Hand nicht immer; man versuche es aber immer von Neuem und wird bald Fortschritte bemerken. Solche Anfänger stehen am besten mit bloßem Oberkörper vor der helfenden Person, der sie den Rücken zudrehen.
Allmählich werden, wenn der Unterstützende nicht ermüdet, die Kinder diese Uebung allein richtig ausführen lernen. Dann können sie dieselbe auch in lockeren Kleidern machen und sollen bloß von Zeit zu Zeit sich mit bloßem Oberkörper vor ihren Mentor hinstellen, damit dieser sich überzeuge, daß sich nicht wieder Fehler eingeschlichen haben.
Ich lasse die Uebung gewöhnlich Morgens und Abends je zwanzigmal machen. Mit der Zeit bringen es die Kinder so weit, daß sie auch bei hängenden Armen, also ohne die Hände zu schließen, die Schultern in der angegebenen Weise zurücknehmen können; dann sollen sie das recht fleißig Tags über thun, die Uebung aber des Morgens und Abends doch nicht ganz weglassen.
In Schreber’s „Zimmergymnastik“ ist diese Uebung als die siebente unter dem Namen „Hände hinten geschlossen“ angegeben. Aus dieser hochverdienstvollen Schrift kann man noch viele andere Uebungen entnehmen, welche nützlich gegen die hockige Haltung wirken, von welchen wir die folgenden im Bild wiedergeben. „Armkreisen“; „Armstoßen nach außen“ und „Auseinanderschlagen der Arme“. Auf diese Weise kann man in das langweilige Ueben ohne Gesellschaft etwas Abwechslung bringen; man möge aber die Hauptübung, das „Hände hinten geschlossen“, nie ganz weglassen.
In einer der nächsten Nummern werden wir einige Winke ertheilen, wie man einige Formen der entstehenden seitlichen Rückgratsverkrümmung gleichfalls durch Turnübungen bekämpfen kann und sollte.