Ueber Reise- und Marschgeschwindigkeit im Mittelalter
[546] Ueber Reise- und Marschgeschwindigkeit im Mitttelalter. Wenn wir in den alten Chroniken lesen, daß jemand, der im 12. oder 13. Jahrhundert und später eine Reise von Nürnberg oder Augsburg nach Venedig oder gar nach Rom machen wollte, vorher seine Güter ordnete, sein Testament machte und Leib und Seele Gott empfahl, so lächeln wir und sehen von der Höhe unserer technischen Errungenschaften geringschätzend auf die weit hinter uns liegende Zeit herab. Und doch reisten auch unsere Altvordern für ihre Zeit und die Hilfsmittel, die ihnen zu Gebote standen, entweder auf dem Rücken der Pferde oder zu Wagen, recht schnell, und wie sehr würde uns das Lachen vergehen, wie bald würden wir den Strapazen unterliegen, sollten wir in gleicher Weise reisen wie sie!
Ein deutscher Gelehrter hat nämlich vor einiger Zeit auf Grund der alten Urkunden über die Romfahrten deutscher Kaiser und Könige und der Reisebücher einiger französischer Könige und einiger Päpste, der Bischöfe und anderer hoher geistlicher und weltlicher Herren, sowie aus eingehenden Berichten aus den Kreuzzügen und anderen großen Kriegszügen und Pilgerfahrten damaliger Zeit die Marschgeschwindigkeiten der Massen zu berechnen versucht. Dabei stellte sich nun heraus, daß die Reisegeschwindigkeit eine recht bedeutende war. Tagesleistungen von etwa 50 km waren ziemlich allgemein, und eine Steigerung bis zu 70 km ist häufig festzustellen. Wenn man nun bedenkt, daß, um 50 km zu Pferde zurückzulegen, ein Ritt von etwa 10 Stunden notwendig ist, bei 70 km also 14 Stunden, und daß dies Tempo viele Tage nacheinander innegehalten wurde, so muß man über die Ausdauer der damaligen Reisenden staunen. Die Strecke von Verona bis Brixen z. B. über Ala, Trient und Bozen war eine Viertagetour. Und auf was für Wegen mußten diese Strecken nicht zurückgelegt werden, vielfach eher Saumpfaden ähnlich als Heerstraßen!
Was aber den Kundigen noch mehr überraschen dürfte, ist, daß auch die Marschleistungen ganzer Heere und großer Abteilungen bei weitem nicht kleiner als die unserer heutigen Truppenkörper waren, sondern in vielen Fällen sogar größer, und daß diese hohen Marschgeschwindigkeiten auffallend lange eingehalten wurden, was nicht nur für die Berittenen, sondern auch für die Fußtruppen gilt.
Wir sehen also, daß wir allen Grund haben, auf unsere Altvordern auch in dieser Beziehung nicht geringschätzig herabzublicken, denn sie vermochten in der Ueberwindung von Schwierigkeiten und dem Ertragen von Strapazen viel, viel mehr zu leisten, als wir selbst unter Aufwendung unserer höchsten Energie imstande wären. – t.