Um eines Knopfes Dicke

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Textdaten
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Autor: M. M. von Weber
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Titel: Um eines Knopfes Dicke
Untertitel:
aus: Die Gartenlaube, Heft 1, S. 8–11
Herausgeber: Ernst Keil
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Erscheinungsdatum: 1876
Verlag: Verlag von Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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Um eines Knopfes Dicke.


Skizze aus dem Eisenbahnleben von M. M. von Weber.


„Nun, da kommt Ihr endlich, Ihr alten Pudel- und Bärenhäuter; der Punsch hat schon zwei Atmosphären Dampfdruck,“ rief der alte pensionirte Locomotivführer Zimmermann, in einer mächtigen Punschbowle rudernd, einigen dunkeln, vierschrötigen Gestalten entgegen, die tief in dicke, nur rothe Nasen und lustige Augen freilassende Pelze eingeknöpft, schneegepudert, pustend und stampfend in das Locomotivführerzimmer zu Bürglitz traten. –

Heute, am Sylvestertage, ist ausnahmsweise der Tisch in der Führerstube sauber weiß gedeckt, und oben auf dem Tische, zunächst am Ofen, steht die mächtige Bowle, in der der alte Zimmermann kräftig arbeitet. Und die Dämpfe, die daraus steigen, und die leeren Rumflaschen, die dabei stehen, lassen nicht im Zweifel, daß sein Gebräu eins „mit Hochdruck“ für Kehlen „wie Siederöhren“ bestimmtes, ein „fester Führerpunsch“ sei.

„Pest! Vater Zimmermann, böser Dienst heute zum Sylvester!“ rufen die Eintretenden, den Schnee abschüttelnd und sich aus Pelzen, Jacken, Mützen und Ueberstiefeln schälend.

„Was wißt Ihr Zuckerpuppen denn von bösem Dienst! In Euren Glaspalästen,[1] die Euch jetzt die Directionen über Eure Trittbretter bauen lassen, auf Euren Maschinen, die Euch mit ihren sanften Federn wiegen, wie Eure alte Kindermuhme auf ihren Armen! Ihr hättet mit uns Anno neununddreißig und vierzig auf den kleinen Maschinen stehen sollen, die so hart und bockig gingen, daß Ihr jeden Schienenstoß von der Sohle bis unter die Mütze fühltet, und die nicht weiter wollten, wenn der Schnee eine Hand hoch auf den Schienen lag. Und darauf standen wir ganz frei, Tag und Nacht, ohne Fach und Dach, im Decembernachtsturme, in der Julihitze und im Gewitterhagel – ohne weiteren Schutz als unseren Rock und unser wettergegerbtes Fell. Das war harter Dienst! Was wißt Ihr davon! Und wahrlich, was ist Euer schlimmster Dienst gegen das, was sie heute unsern Hennig zum Jahresschluß haben durchmachen lassen, der sein Führerexamen mit Glanz abgelegt hat! Unter freiem Himmel auf der Maschine, da ist Gott bei uns, in der Schulstube aber der Gottseibeiuns. Und da ist er ja der Geprüfte, Gemarterte – Hurrah!“

„Hurrah!“ rief der Alte dem Eintretenden entgegen, kräftig secundirt von sechs rauhen Kehlen; sechs harte, feste Rechte streckten sich dem jungen Manne zu, der in schwarzer Sonntagskleidung, gerötheten, offenen Gesichts, und mit jenem klaren Fernblick in den blauen Augen, der, außer dem Matrosen, nur dem Locomotivführer eigen ist, unter sie trat, etwas verlegen und linkisch die huldigende Begrüßung erwidernd.

„Nun, wie war’s? Wie ging’s? Hast Du beim Examen geschwitzt? Hat Dich der Maschinenmeister Knoll tüchtig gezwickt?“ – „Platz nehmen! Punsch!“ tönte es von den ihn umringenden rußigen Cameraden auf ihn ein.

„Ruhe da!“ dröhnte Zimmermann’s rostige Stimme dazwischen. „Platz nehmen, ja; Punsch, nein! Hörnig und Franz fehlen noch, die mit dem Güterzug hereinkommen. Er ist um zwanzig Minuten verspätet, wie mir der Telegraphenfritz vorhin sagte, und muß gleich da sein. Gleiches Recht und gleiches Getränk für Alle – sonst holt der Teufel alles reguläre Reglement.“

„Nun ja,“ hub der junge Gefeierte an und trocknete sich den bei der Erinnerung wieder ausbrechenden Angstschweiß von der Stirn, „sie haben mich weidlich gedrillt. Ich wurde schon nach dem neuen Regulativ examinirt. Es saß wohl eine fünf Meter lange Reihe von Herren um mich herum, von denen ich, außer unseren Maschinenmeistern, noch keinen auf einer Locomotive oder in einer Werkstatt gesehen habe.

Und unsere Meister waren nicht die Schlimmsten. Sie fragten mich scharf durch, das ist wahr, bis auf die Knochen, aber man verstand sie und man konnte ihnen vernünftig antworten. Aber das, was die anderen Examinatoren – hochgestellte und gelehrte Herren waren es – von mir verlangten, verstand ich nur halb. Sie sprachen kein Eisenbahndeutsch mit mir, und was sie wissen wollten – nun ja, ich wußte es – das hatte ich, nur um es beantworten zu können, aus den Büchern gelernt, die mir der Herr Werkführer Herzel geliehen hatte. Vorgekommen war mir’s nie im Dienst; gebraucht hatte ich’s nie und werd’s wohl auch nicht brauchen mein Lebelang.“

„Und was war’s denn etwa?“ begann Camerad Böhmig zu fragen, seine Cigarre anzündend, als die Thür der Führerstube plötzlich aufgestoßen wurde. Eine Wolke von Schneestaub quoll herein; aus derselben entwickelten sich die dunkeln Gestalten zweier neuer Ankömmlinge, die der erwarteten Führer der beiden Maschinen, welche „vor dem verspäteten Güterzuge gelegen hatten“. – „Bravo! daß Ihr kommt,“ jubelte es ihnen entgegen, „jetzt den Punsch ausgetheilt, und nach dem Festessen in die Restauration geschickt!“

„Hier ist ein Braten dazu,“ rief einer der Ankömmlinge, und hob einen halbverbrannten Hasen, den er bei den Hinterläufen gefaßt hatte, in die Höhe.

„Wo hast Du das Vieh her, was soll’s damit?“

„Herr Lampe hat sich die Ehre geben wollen, sich selbst für Hennig’s Festmahl aufzutischen, aber ist wohl etwas zu hitzig gewesen und hat sich mit Haut und Haar zu braun gebraten,“ lachte der Besitzer des Hasen. „Die rothen Signallichter meines ‚Pluto‘ jagten ihn aus der Schneegrube auf, in der er auf der Böschung ganz behaglich geduckt saß, und er fing an, mit unserem Zuge um die Wette zu laufen. Wohl zwei bis drei Minuten lang sah ich den kleinen, dummen, schwarzen Kerl beim Scheine meines Feuers im zweiten Gleise neben der Maschine über den Schnee hinfliegen. Ich that einen kurzen Pfiff, da bekam er einen Schreck, prallte vorwärts, gewann Vorsprung, kam in das rothe Licht der Signallaternen – das mochte ihn blenden – er schlug einen Haken vor der Maschine wie vor einem Hunde – quer über das Gleis. Ich schaute aus, wo er drüben wieder zum Vorscheine kommen würde, aber er kam nicht. Ich dachte, er sei todt gefahren oder unter dem Zuge zurück gelaufen, und vergaß das Thier. Als aber in Seestadt der Rost meiner Maschine schlackenfrei gemacht werden soll, schreit der unterirdische Geist mit der Feuerkrücke aus der Aschengrube herauf: ‚Herr Hörnig, Herr Hörnig! Sie haben sich ja einen Braten mitgebracht.‘ Ich denke, dem Kerl hat das Feuer des ‚Pluto‘ das Hirn versengt, steige ab und sehe nach. Seht, so wahr ich hier sitze, liegt mein Hase vom Bielitzer Gehölz unten in meinem [9] Aschkasten, todt und halb geschmort. Der Aschkasten mochte ihn wohl im Sprunge gefangen haben.[2] Der hatte es eilig gehabt, gebraten zu werden.“ Lautes Gelächter folgte der Erzählung des jungen Führers.

„Da lachen sie, die dummen Bengel, über das arme Vieh,“ murrte Zimmermann, die Gläser frisch füllend, dazwischen, „weil sie nicht wissen, wie verdammt es Einem so unter einem Asch- und Feuerkasten zu Muthe ist.“

„Und wissen Sie denn das, Vater Zimmermann?“ riefen mehrere Stimmen im Tone des starken Zweifels.“

„Ich weiß Alles, das wißt Ihr Burschen recht gut, und habe Alles durchgemacht, was zwischen der Unterkante der Schienen und der Oberkante eines Locomotivschornsteins vorgehen kann,“ erwiderte Zimmermann.

„Aber im Aschkasten haben Sie doch nicht gesteckt?“ lachte die übermüthige Gesellschaft.

„Nicht ganz,“ erwiderte der alte Führer sehr ernst, „aber darunter, und stückweis auch beinahe darin. Aber ich sage Euch, daß ich wohl dabei gewesen bin, wie aus einem stolzen Zuge von prächtigen Wagen, voll lustiger Menschen auf einen Ruck – ehe ihr die Hand nach der Pfeife erheben, oder eine Bremse anziehen könntet – ein Haufen von buntem Scheitholze, Schrauben- und Achsen- und Räderbruchstücken wurde, unter dem Stöhnen und Hülfegeschrei hervordrang und den verzweifelnde Menschen umjammerten, und wie Locomotiven, wie junge Katzen über das Dach, über die Böschung hinab sprangen und sich überkugelten, ein-, zwei-, dreimal, Räder oben, Schornstein unten, und Alles Dampf, Trümmer, Feuer, Zischen und Geschrei war – daß mir aber nie das Herz in fünfunddreißig Jahren Eisenbahndienst so still gestanden hat, wie unter dem Aschkasten –“

„Erzählen, Vater Zimmermann! Erzählen!“ riefen die rauhen Stimmen im Kreise, denen man es anhörte, daß sie gewöhnt sind, über das Klirren, Rasseln und Poltern der Maschine hinaus zu sprechen.

„Na, ich will’s wohl thun,“ erwiderte dieser, indem er langsam seinen Tabaksbeutel aufschnürte und seine kurze Pfeife zu stopfen begann, „obwohl ich nicht gern von der Geschichte spreche. Es dreht sich mir immer noch was hier unter der dritten Rippe herum, wenn ich daran denke.

Seht, Jungens, die Hände, die diesen Beutel damals stickten, wären beinahe dabei zu Wittwenhänden geworden, und mein Karl und mein Julchen wären gar nicht auf der Welt, wenn Ihr mich damals schon wie jetzt den ‚dicken Franz‘ hättet heißen dürfen.“

„Warum denn gerade deshalb, Vater Zimmermann?“ frug es wieder im Kreise.

„Nun, so brennt Euch denn in Gottes Namen wieder frische von Eueren verdammten modischen beizenden Glimmstengeln an – sie passen zu Euch Puppen in den Glaskästen, wie die kurze Pfeife zu uns Kraftkerlen unter Gottes freiem Himmel paßte – und gebt die Gläser her! Dann aber haltet die Mäuler, bis ich fertig bin! –

Es war Sylvesterabend wie heute, Anno 1845, vor vollen, ausgeschlagenen dreißig Jahren, und ein Hundewetter, Schneetreiben und Regenschlacker durcheinander. Ich lag als blutjunger Führer auf dem Hauptbahnhofe in der Residenz in Station und hatte vorm Jahre geheirathet. Ihr wißt, die Station ist ein schändlicher Platz für den Dienst; mag der Sturm herblasen wo er will, über den Platz, der, wie ein Kuchenbrett auf dem Tische, in der Ebene liegt, fegt er immer hin. Nach der Stadt hinein geht’s durch einen kleinen Einschnitt mit zwei Gleisen, von denen das eine immer in der ersten Stunde jedes Schneetreibens zuweht. Gleich wenn man durch den Einschnitt durch war, im dritten Hause der Gärtnergasse, hinter der alten Oelmühle, die wir so oft verwünschten, weil wir immer beim Vorbeifahren den Dampf absperren mußten, um nicht durch die Funken aus dem Schornsteine ihr Schindeldach anzuzünden, wohnte ich mit meiner Louise und dem eben geborenen Franz, der jetzt Werkführer bei Rüdrich’s ist.

Also am Sylvesterabend 1845 kam ich mit einem schweren Güterzuge von Griesthal herauf nach der Residenzstation und hatte ganze vierzehn Stunden bei sechs Grad Kälte und Sturm auf der Maschine gestanden. Ich war steifgefroren wie ein Bock und freute mich auf den Sylvesterpunsch wie ein Affe. Es dunkelte schon, als ich einfuhr, und durch das Schneegeflimmer hindurch sah die Station mit ihren hundert und aber hundert Lichtern an Perrons und Weichen aus wie eine große Weihnachtsbescheerung. Schlechte Bescheerung für mich! – Da war von den Weihnachtsfeiertagen her eine wahre Wagenburg von so ungefähr fünfhundert Wagen auf der Station zusammengefahren – und die mußten rangirt werden, damit die Sachen nach dem Neujahrsfeste gleich fort konnten.

Und kaum steige ich von der Maschine im Heizhause, so kommt der Schirrmeister an mich heran und sagt: ‚Zimmermann, Hauser ist krank geworden. Ihr müßt für ihn die dritte Rangirmaschine übernehmen.‘ ‚Schockschwerenoth!‘ sage ich, ‚aber in Gottes Namen, wenn’s nur nicht bis Mitternacht dauert, Herr Schirrmeister – da muß ich zu Hause sein, sonst giebt’s nächstes Jahr ein Unglück.‘

‚Narrenspossen,‘ sagt der Schirrmeister, ‚haltet Euch nur d’ran, daß Ihr fertig werdet!‘ und hinaus ist er wieder in den Schneewirbel.

Mir war die Sache fataler, als sie werth war; ich schob das Gruseln, das mir über die Haut lief, auf das unheimliche Wetter, das mich anschnaubte, als ich mit der Maschine hinauskam. Die ganze Luft war voll Schneestaub und Kältenebel, und wenn die weißen Gespenster im Sturme quer über die Maschine jagten, sah ich den Schornstein kaum.

Von den Lichtsignalen erwischte man nur dann und wann einen rothen, weißen oder grünen Blick, von den Horn- und Pfeifensignalen hörte man, bei dem Heulen des Windes in den Wagen und Wagenrädern und dem Singen in den Telegraphendrähten und dem Rollen der Wagen und dem Maschinenpfeifen nur gerade so viel, daß man eben gewahr wurde, daß man sie nicht verstanden hatte. Von den Zurufen der Rangirer nahm man schier nichts wahr, als daß sie schrieen.

Dazu wurden ein paar hundert Wagen von drei Maschinen gleichzeitig in allen Richtungen verschoben, überall prallten sie wie große Schatten aus Nebel und Schneegestöber heraus und verschwanden gleich wieder darin, und Alles war dumpf vom dicken Schnee; man hörte sie nicht rollen, nicht kommen, nicht gehen. Die armen Weichensteller und Rangirer sprangen, naß bis auf die Haut, im knietiefen Schnee zwischen den rollenden Wagen hin und her. Ihr wißt ja, wie eine Rangirstation in einer Winternacht aussieht! Der liebe Gott thut dann das Beste dazu, daß wir nicht Alle dabei zu Brei gefahren werden, und ich habe mich mein Lebtag immer gewundert, wenn ich am andern Morgen nicht gehört habe, Der oder Jener sei auf dem Platze geblieben. Und wenn was geschieht, holen die gestrengen Herren am grünen Tische, in der warmen Stube, das Reglement aus der Tasche. Nun freilich, es kann nicht anders sein. Wenn sie’s aber nur ein einziges Mal in ihrem Leben draußen mit ansehen wollten! –

In jener Nacht also war es gar schlimm, und der Sylvesterpunsch mochte überdies den Leuten im Voraus im Kopfe spuken, denn das Rangiren ging in einem Tempo, als commandire es der Satan. Die Wagen flogen nur so hin und her, und die Lichter gingen vorbei wie Blitze, und man hörte überall das Dröhnen und Klingen der zusammenstoßenden Puffer, und die Leute krochen unter und zwischen den Wagen umher, als wären die Räder Pfefferkuchen und die Puffer Daunenbetten. Da war vor Allem ein kleiner, wüster Schirrmeistergehülfe – ich mochte den Kerl nicht leiden, denn er war mir einmal bei einem Mädchen sehr in die Quere gekommen – aber ich mußte staunen, wie ich überall seine Signallaternen: rundgeschwungen, quergeschwungen, kreuzweise, oben, unten, hinten und vorn sah, und seine grelle Stimme durch den Sturm hindurch hörte.

Und seht, den Mann hatte ich eben angerufen, als ich ihn wieder zwischen zwei Puffern durchschlüpfen sah. Er solle nicht [10] so teufelsmäßig wagehalsig sein bei dem Wetter, wo man nichts sehe und höre und überdies ausrutschen könne. Er hatte mich aber ausgelacht und mich angeschrieen: ‚Kümmert Euch um Euren Dienst, Zimmermann, und nicht um mich! Wir müssen fertig werden vor Mitternacht – vorwärts, vorwärts!‘ Und weg war er gewesen; ich hatte ihm von Herzen: ‚Hol’ Dich der Teufel!‘ nachgerufen – und das soll ich mein Lebtag nicht vergessen, und auf dem Sterbebette noch bereuen.“ – Hier machte der alte Locomotivführer eine Pause, trocknete sich die Stirn, that einen Zug aus dem Punschglase und fuhr dann fort:

„Ich hörte ihn noch ‚los‘ commandiren, drüben bei meinem Collegen, und die Wagenketten klirren und dann einen Ton – nun, wie denn gleich? Habt Ihr einmal einen Metzger mit einem Beile einen dicken Knochen durchhauen gehört? – und einen dumpfen Schrei, und dann nur wieder das Kling und Klang der zusammenstoßenden Puffer; mir fuhr’s kalt durch die Glieder; da bekam ich das Signal zum Vorrücken, und da war kein Zaudern. Vorwärts! Vorwärts! Ich war gleich weit weg von der Stelle, am anderen Ende des Bahnhofs, da konnte Niemand wissen, was geschehen war.

Aber ich that meinen Dienst nur noch wie im Traume, und als wir eine halbe Stunde darauf fertig waren, und ich wieder in die Remise fuhr, sagte nur der Vorstand: ‚Wißt Ihr schon, Zimmermann? Der Schirrmeistergehülfe Porges ist todtgefahren worden, todtgedrückt zwischen den Puffern.‘ Ich habe nicht viel gefragt – mir war’s gruslig zu Muthe, und ich weiß nicht, wie ich die Maschine besorgt habe und auf den Heimweg gekommen bin. Als ich am Perron vorbeikam, sah ich einen Trupp mit Laternen dort stehen, und etwas mit einem Mantel Zugedecktes auf dem Schnee liegen. Ich hatte dabei nichts zu suchen; es schüttelte mich, und ich kann Euch sagen, Jungen, ich hätte wer weiß was darum gegeben, wenn ich ihn nicht eine halbe Stunde vorher zum Teufel gewünscht hätte. Ich gab mir schwere Mühe, mir das aus dem Kopfe zu schlagen, es war ja nicht so schlimm gemeint gewesen, eine Redensart, wie sie unter uns bösen, groben Mäulern gang und gäbe war. Unter Euch jungen Kerls ist’s noch schlimmer, und es würde Euch curiren, wenn Ihr das Wurmen damals da drinnen in mir gefühlt hättet. Na, endlich kam ich dahin, mir die helle, warme Stube daheim, mit den Filzpantoffeln und der Louise und dem kleinen Jungen und dem Kater und dem singenden Wasserkessel auf dem Ofen und der Arakflasche und Zuckerbüchse und den Citronen auf dem Tische vorzustellen, so wurde es denn allgemach helle in mir.

Daß ich nun, bei dem Hin- und Hersinniren nicht viel auf Wetter, Wind und Weg und Steg geachtet hatte, könnt Ihr denken, und ich merkte nur eben, daß es noch wirbelte und heulte in der Luft, als ich in den Einschnitt bei der alten Oelmühle eingetreten war, durch den hindurch man die Fenster meines Hauses gesehen hätte, wenn man überhaupt zehn Schritte weit hätte schauen können. Ich ging im rechten von den beiden Gleisen im Einschnitte fort, weil es für meinen Weg schneefrei war, und ich von ihm aus das Haus zuerst sehen konnte.

Und zwar ging ich ganz ruhig, denn ich kam vom Bahnhofe, und Ihr wißt, es ist das Einfahrtgleis, also konnte mir kein Zug von rückwärts nachkommen und von vorn war keiner zu erwarten. Auch hätte ich ihn kommen hören müssen.

Als ich nun mitten in dem Einschnitte war, der, wie Euch bekannt ist, in der Curve liegt und in dem man an jenem Abende nicht eine Wagenlänge weit sehen konnte, hör’ ich hinter mir pfeifen und gleich darauf das Klipp und Klapp der Räder auf den Schienenstößen eines langsam herankommenden Zuges. Ich hörte auch, daß die Maschine den Zug vor sich herschob, denn der Maschinenschlag war viel weiter hinten, als das Räderrollen. Ich dachte: Aha! Das ist der Reservezug von ungefähr zwanzig Achsen, der vorhin auf dem Gleise drüben stand und den sie nach dem Güterbahnhofe hinüberdrücken. Alles das ging mir aber nur ganz dunkel durch den Sinn, wie man immer mechanisch an den Dienst denkt, auch wenn man Kopf und Herz von anderen Dingen voll hat. Ich sage: ganz dunkel; im Grunde ging’s mich ja nichts an, denn der Zug mußte gleich auf dem linken Gleise an mir vorbeikommen. Als aber das Ping und Pang der Räder auf dem hartgefrorenen Gleise ganz nahe heran gekommen war und ich schon hörte, wie die Nothkette an dem vordersten Packwagen hin- und herklirrte, und sah, wie das Licht seiner Signallaterne neben mir auf dem Schnee hinzugleiten begann, drehte ich den Kopf zur Seite, um den Kerls drüben auf dem Zuge ein ‚Prosit Neujahr!‘ zuzurufen –

Aber da war kein Zug auf dem Gleise drüben – und in demselben Augenblicke nun – da bekomme ich einen gewaltigen Stoß in den Rücken. Feuer sprühte mir aus den Augen – puff, liege ich flach im Gleise, auf denn Gesicht, und pung – pung – beginnen die Wagen über mich wegzugehen.“

Der alte Locomotivführer machte hier wieder eine Pause. Es war todtenstill im Führerzimmer; weitgeöffneten Auges, vorgebeugt, bleich, umgaben die kräftigen Gesichter der jungen Führer den Tisch. – Er füllte die Gläser wieder, drückte den Tabak in die Pfeife fest und fuhr fort:

„Seht, Kinder, wenn wir so hier um den Tisch sitzen, oder auf der Maschine stehen, oder selbst auch, wenn wir, wie heute der arme Hennig, das Malheur eines Examens durchmachen, da kommen die Gedanken aus unseren dicken Schädeln immer einer nach dem andern – langsam ‚orndlich‘ und instructionsmäßig gegangen, man kann jeden einzelnen anschauen, jedem guten Tag und guten Weg wünschen; ja, die Herren Maschinenmeister sagen sogar manchmal, wir Führer dächten langsamer als andere Menschenkinder, weil alles Schnelle aus uns heraus, in unsere Maschinen gefahren sei. – Aber, Kinder, in dem Augenblicke, der zwischen dem Stoße und meinem Flach-auf-der-Erde-liegen inne war, habe ich so viel gedacht, wie sonst zwischen Ostern und Pfingsten nicht.

Zuerst an Daheim, die warme Stube und Alles darin und an das Neujahrsgeläut und den Neujahrskirchgang morgen – na, davon sprechen wir nicht –, dann an den Schirrmeistergehülfen, der im Bahnhof unter dem Mantel auf dem Schnee lag, und dann calculirte ich so deutlich, als hätte ich sein Rangiren zu commandiren, über den Zug, der über mich weg ging. Warum kam er denn auf dem unrechten, dem Gleise, in dem ich gegangen war, dem Einfahrtsgleise herauswärts? Und da hatte ich es gleich, was ich vorhin bei meinem Grübeln vergessen hatte. Das Ausfahrtsgleis hatte ich ja am Mittag noch tief im Schnee verweht gesehen, und deswegen fuhren sie auf dem Einfahrtsgleise hinaus. Dann sah ich den Zug deutlich stehen; es konnten nicht mehr als zwanzig bis zweiundzwanzig Achsen Güterwagen sein, alles unsere eigenen Wagen; die gingen alle hoch über den Schienen; die thaten mir nichts – ich lag flach genug zwischen den Gleisen. Aber die Maschinen, die Aschkasten der Maschinen! Ich kannte die drei Maschinen, die noch auf der Station im Feuer standen, wie meine Tabaksdose. Der ‚Wittekind‘ ginge harmlos über mich weg, auch wenn ich beleibter gewesen wäre, als ich damals war; der ‚Hermann‘ konnte mir allenfalls auch noch gnädig sein, wenn er wenig Wasser und Feuer im Kessel hatte, und die Kiesfüllung, auf der ich lag, nicht dick war, aber unter dem ‚Sirius‘, einem von den neuen niedrigen Elephanten, war ich ein todter Mann. Ja, ein gleich Todter, das wäre nicht das Schlimmste gewesen, aber ein langsam in Stücke zerrissener und zerdrückter Mann. Welche Maschine war es nun, die da kam?

Alles das, seht Ihr Kinder, hatte ich eigentlich zwischen Stoß und Liegen gedacht, aber als ich einmal lag, hörte alles Calculiren auf und nur ganz instinctmäßig streckte ich mich und zog den Athem an und machte mich dünn wie der Marder, der aus der Falle will, und zählte die Achsen, die über mich weg gingen. Da sprach deutlich jedes Ping und Pang Silben aus, die lauteten: Ein schlech-ter Tod – ein schlech-ter Tod. Und jetzt greift mich etwas Schweres an, nein, es ist noch nichts; es gleitet und streift nur klirrend der Länge nach über mich hin, und schlägt mich kalt in’s Genick, es ist eine herabhängende Zugkette. Aber jetzt kommt’s, der Boden beginnt, leise erst, dann stärker und stärker unter mir zu zittern, ganz langsam kommt’s, dann sah ich von der Seite, obwohl ich den Kopf in ein Taggerinne drückte, daß die Schiene und der Schnee und die rollenden Räderschatten über mir immer heller und heller roth beleuchtet wurden; das war das Maschinenfeuer, das aus dem Aschekasten schien. – Jetzt fühlte ich es heiß werden, am bloßen Kopfe und Genick. Die Schwellen drückten sich nieder; das Gleis dröhnte und bog sich; der Boden bebte gewaltig unter mir, da – ist’s. – Und zugleich packte es mich auch mächtig im Rücken, drückte [11] vorwärts – Gott sei mir gnädig! – da, Ritz und Ratz riß etwas an mir entzwei und – pang – pang – wälzend, donnernd und stampfend war die Maschine über mir hinweg. Der Boden zitterte nur noch nach. Vom freien Himmel herab stürzte das Schneewehen wieder auf mich herab.

Wie ich auf die Beine gekommen, weiß ich nicht. Ich stand da und schüttelte mich und sah die rothen Lichter der Maschine in der Curve verschwinden, die mir aussahen, wie die Augen des leibhaftigen Todes.

Dann fühlte ich mich an, was mir denn die Maschine vom Leibe gerissen habe, und seht, da fehlten nur die ordnungsmäßigen Knöpfe hinten am Dienstmantel. Ich ging zum nächsten Weichenwärter, ließ mir eine Laterne geben und suchte die Knöpfe im Schnee. Als wir aber zu Hause um die Bowle saßen, in die ich bald zu viel Arrak, bald zu viel Zucker that, daß die Louise mich verwundert fragte: ‚Mann, was hast Du denn heut? Du zitterst ja und sprichst gar nicht,‘ da kam mir erst Verstand und Sprache wieder, und ich zeigte Louise die Knöpfe und erzählte ihr die Geschichte und sagte, die Knöpfe zwischen den Fingern haltend: ‚Siehst Du, um so viel nur war Dein Männchen heute Abend vom schlechten Tode entfernt.‘ Seht, hier habe ich die Knöpfe und werde sie tragen, bis der Tod einmal wirklich kommt.“

Der alte Führer öffnete den Rock und zog zwei Knöpfe mit dem königlichen Wappen hervor, die er an einer Schnur auf seiner rauhen Brust trug.

„Und nun wißt Ihr auch, warum ich vorhin die arme Creatur im Aschkasten bedauerte. Ich habe Euch die Geschichte erzählt, weil nun einmal die Rede darauf kam, sonst spreche ich nicht gern davon, weil Todesangst dabei war, und an die erinnert sich kein Christenmensch gern. Laßt Euch dadurch die Courage nicht schwächen! Ihr braucht sie im neuen, wie im alten Jahre. Hört! es schlägt gerade Zwölf. Prosit Kinder, Prosit und Wohlfahrt noch auf hunderttausend Locomotivmeilen!“

Wien, 22. November 1875



  1. Auf den Locomotiven befinden sich jetzt fast überall eine Art von Cabinen mit Glasfenstern über den Standplätzen des Maschinenpersonals, die diesem Schutz gegen Wind und Wetter gewähren. Vor dem Jahre 1860 war dies fast nirgends der Fall, und es haben die Erörterungen des Verfassers über Mortalität und Morbilität des Betriebspersonals der Eisenbahnen (publicirt unter dem Titel: „Gefährdung des Personals beim Maschinen- und Fahrdienst der Eisenbahnen“, Leipzig, Teubner 1862), denen die königlich preußische Regierung in den Jahren 1862 bis 1866 umfassende, in derselben Richtung gehende Ermittelungen folgen ließ, manches zur Verbreitung dieser in Amerika längst durchgeführten humanen Einrichtung beigetragen.
  2. Unter dem Feuerroste jeder Locomotive befindet sich in der ganzen Breite desselben ein Kasten von starkem Eisenbleche, dessen Hauptzweck es ist, zu verhindern, daß die häufig durch den Rost fallenden glühenden Kohlen und Schlacken nicht in das Freie gelangen und Gefahren erzeugen. Der Kasten ist meist nach vorn und hinten offen, und die beiden Oeffnungen sind durch Klappen verschließbar, wenn es gilt, das Feuer zu dämpfen oder vor dem Eindringen des Schnees von unten beim Durchfahren von Wehen zu schützen. Diese „Aschkasten“ sind diejenigen Theile des Fahrparkes der Eisenbahnen, welche, fast in der ganzen Breite des Geleises, am tiefsten nach der Schienenoberfläche hinabreichen. Dies ist zum Verständnisse des nachfolgenden im Sinne zu behalten.