Unseres Aeltesten erster Schultag
Unseres Aeltesten erster Schulgang.
Große Ereignisse werfen ihren Schatten voraus. Seitdem der Tannenbaum geplündert ist und die neuen Weihnachtsspielsachen ihrer Natur nach entweder gleich entzwei gemacht worden sind oder sich zu treuen Spielkameraden entwickelt haben, leben wir im Schatten des großen Ereignisses. Unser Aeltester kommt Ostern zur Schule.
Es ist ein Vorrecht des ältesten Kindes, daß seine Eltern mit ihm und an ihm alle Elternsorgen und Elternfreuden zum erstenmal erleben, zum erstenmal, das will sagen, so frisch, so lebhaft wie kein zweitesmal wieder, denn auch hier stumpft die Gewohnheit ab. Noch sind wir es nicht gewohnt, ein Schulkind zu besitzen, wir sehen der Sache mit glühender Spannung entgegen.
Am gleichmütigsten benimmt sich entschieden die Hauptperson dabei. Auf die zahlreichen Anfragen seiner zahlreichen Tanten. „Freust du dich denn recht auf die Schule?“ pflegt unser Junge, die Hände in den Hosentaschen haltend, herablassend zu antworten. „Das kann ich doch jetzt nicht wissen, wie es da ist. Das muß ich mir doch erst ’mal ansehen.“
Diese zärtlichen Anfragen hört er zu Hause weniger, aber an Anklängen auf das kommende, unabwendbare Schicksal fehlt es ihm auch hier nicht. Der Vater pflegt einigemal am Tage loszudonnern. „Junge, wenn du erst zur Schule gehst, wird dir das schon ausgetrieben werden. Das Kindermädchen bemerkt öfters höhnisch. „An dir wird der Lehrer auch noch seine Freude erleben“. Und die Köchin ruft ihm energisch nach, wenn er vor ihr quer über den feuchten, frischgeseiften Fußboden rennt. „Gott sei Dank, wenn wir dich bald los sind.“ Der kleine Bruder stellt sich dunkel eine kommende, goldene Zeit der Freiheit vor und meint: „Und dann krieg’ ich alle Hans’ seine Spielsachen.“
Die Mutter ist die einzige, die ihn vermissen wird. Ja, ich werde ihn entbehren, trotzdem er mich mit seinem ewigen „Warum?“ und unausstehlichen „Was soll ich jetzt ’mal thun?“ – gründlich plagte, trotzdem ich einsehe, daß Pflicht und Arbeit in sein kleines Leben herein muß, ich werde ihn entbehren, trotzdem und alledem.
Der erste Schritt ist’s, den ich nicht mit dir thun kann, mein Junge! Eine unbekannte dritte Größe kommt in unser Leben herein, und wir werden wohl beide noch oft genug unzufrieden mit ihr sein, wenn auch jeder auf seine eigene Faust und Art. Wir können auch beide nicht viel dagegen ausrichten, und ich darf dir nicht einmal recht geben, mein Sohn, gegen diese fremde Schulmacht.
Auch in unser Haus und die süßen Gewohnheiten des Daseins, in die wir uns miteinander eingelebt haben, greift die Schule unbarmherzig ein. Ich sehe unseren schönen Morgenschlaf dahinschwinden, denn unerbittlich pünktlich fordert sie unser Schulkind reingewaschen und sattgegessen an jedem Morgen.
Und sind ’mal Ferien, so fallen die ja nach Ansicht aller Eltern immer in eine Zeit, wo man die Kinder wirklich schlecht zu Hause gebrauchen kann, und nie hübsch mit dem guten Wetter und der besten Zeit zur Sommerreise zusammen.
Und dann das schlimmste von allem, die Schularbeiten!
„Ach,“ sagte mir eine Mutter neulich seufzend, „nun sind Ihre guten Tage auch bald vorbei. Sie glauben nicht, wie dies Arbeiten mit den Kindern aufreibt! Ich sitze den ganzen Nachmittag bei unserm Max und die teueren Nachhilfestunden hat er außerdem, und doch ist’s sehr fraglich, ob er Ostern versetzt wird.
Auf meinen freundlichen Vorschlag, ihn doch ruhig sitzen bleiben zu lassen, hatte die Dame nur einen sittlich entrüsteten Blick. „Würden Sie denn diese Schande an Ihrem Kinde erleben wollen?“
Ja, diese sogenannte Schande wäre mir entschieden lieber als solch ein künstliches, ungesundes Nachhelfen und Durchziehen, das die Kinder auf Kosten ihrer natürlichen Entwicklung treibt und hetzt und sie denkfaul und unselbständig macht.
Diese Treibhausresultate halten doch nicht im Leben, kaum in den höheren Schulklassen vor. Einem schwachbegabten Kinde werden wir natürlich zu Hause mit Vernunft und Geduld beistehen müssen, damit es den Ansprüchen der Schule möglichst folgen kann. Ich meine aber, für ein normal begabtes Kind müßte es genügen, wenn ihm im Elternhause die nötige Ruhe und eine bestimmte Zeit zum Arbeiten gegeben wird und nicht noch wer weiß welche Hilfsmannschaften aufgeboten werden. Wie sollen Pflichtgefühl und Ausdauer in unserm Kinde groß werden, wenn wir es nicht die Verantwortung für seine Arbeit selbst tragen lassen? Warum sollen wir es künstlich, nur um unsern eigenen Ehrgeiz zu befriedigen, vor allen Schulstrafen bewahren? Laß es doch hier schon lernen, daß Schuld und Strafe sich unerbittlich folgen.
Ja, mein Aeltester, wir wollen erst unsere Erfahrungen miteinander machen, aber ein Sklave deiner Schularbeiten will ich nicht werden. Aber ich will ein Anderes, ein Besseres: Ich will für dich und mich einen Segen von deiner Schulzeit, deinem Lernen haben. Wir jungen Frauen tragen so viel halbes Wissen mit uns herum und so viel Sehnsucht nach mehr Klarheit und echter Bildung!
Unsere Mütter vor uns haben das nicht oder doch nur dumpf gefühlt, die Generation nach uns findet vielleicht von vornherein einen besseren, gesünderen Bildungsweg als den, welchen wir als „höhere Töchter“ wanderten. Wir jungen Mütter fühlen demütig die Mängel der eigenen Erziehung. So groß ist die Verantwortung für die Seelen unserer Kinder; so ungenügend unsere Vorbildung, unsere Kraft.
[307] Da heißt es, die Hände demütig falten und um Weisheit beten wie Salomo. Es heißt aber auch, treu an sich arbeiten und nicht müde werden in dem Streben nach Selbsterziehung.
Und doch sind wir Mütter vor den anderen Frauen unserer Zeit zu beneiden um das köstliche Vorrecht, eine zweite Jugend und Lehrzeit mit unseren Kindern erleben, ein zweites Mal mit ihnen, für sie lernen zu dürfen.
Ein köstliches Vorrecht ist’s und eine ernste Pflicht zugleich für die Mütter, denn die Väter sind heutzutage leider meist so vielgeplagt und vielbeschäftigt in Amt und Beruf, daß ihnen wenig oder keine Zeit für die Beobachtung der Studien, der Entwicklung des einzelnen Kindes bleibt. Wir Mütter aber sollen Zeit für unsere Kinder haben, auch wenn wir Zeit für nichts anderes haben.
Das ist meine Sehnsucht und Hoffnung für mich, mein Sohn, so möchte ich deinen Weg durch die Schule mit dir wandern, nicht im buchstäblichen Mitlernen, „Mitochsen“, aber in inniger Gemeinschaft und Teilnahme an deinen Gedanken und Studien, an deiner ganzen Entwicklung. Nur so kann ich auch bleiben, was ich bisher gewesen bin, dein bester Kamerad.
Volles Vertrauen und allseitige Hochachtung wird gewiß nur die Mutter bei ihrem Sohne finden, die in treuer geistiger Gemeinschaft mit ihm durch seine Schuljahre wandert und der ihr Kind nicht fremd geworden ist, wenn die Jahre der Versuchung an es herankommen. Dann lassen wir Mütter uns viel zu leicht aus dem Felde schlagen und sollten doch gerade dann unsern klaren Mutterblick und Einfluß nicht aufgeben, sollten gerüstet sein, auch dann unseres Sohnes Vertraute und bester Freund zu bleiben. Mir hat immer der Rat eines Vaters an seinen Sohn beim Abschied aus dem Elternhause so gut gefallen: „Thue nichts, was deine Mutter nicht sehen darf.“ Glückliche Mutter, deren Sohn so durch das Leben geht! Er besitzt das eine Köstliche, das viel besser ist als alle Gelehrsamkeit und jede Carriere: ein reines Herz. Ein alter Pädagoge hat mir einmal gesagt: „Die Schulzeit giebt uns nicht immer Aufschluß über die Begabung eines Kindes, die Entwicklung ist oft zu langsam, zu unberechenbar, aber ganz klar zeigt sich schon in der Schule der Charakter jedes Kindes.“
Ich habe gefunden, daß der Mann recht hat. Wir Eltern legen alle viel zu viel Wert auf die sogenannte Begabung unserer Kinder und achten nicht genug auf ihre Charakter- und Herzensbildung. Und zu welch einem Elend werden doch reiche Gaben und Kenntnisse ohne den festen Untergrund und sicheren Halt eines sittlichen Willens!
Und so will ich zufrieden sein, wenn du dich wahr und gut zeigst, mein Junge. Dann sei immerhin keiner von den vielgepriesenen „Besten und Ersten“, dann will ich dich sogar nicht als Familienschandfleck betrachten, wie das jetzt so Sitte ist, wenn du einmal sitzen bleibst.
Nicht, als ob ich das für möglich oder wahrscheinlich hielte! –
Welche von den Tausenden von Müttern, die heute einen Sohn zur Schule geben, hielte so etwas nicht für einfach unmöglich bei ihrem „aufgeweckten, begabten Kinde“? – O, wir thörichten Mütter! – Der Dichter hat uns doch erkannt, wenn er uns an der Wiege des Sohnes träumen läßt:
„Wachset, ihr Lorbeern im Wald,
Sprießet und grünet, wie bald
Werden die Fürsten euch winden zu Kränzen,
Auf meines Lieblinges Scheitel zu glänzen.
Sänger und Schreiber, merkt auf
Mein Held vollbringt seinen Lauf,
Spannt Pergament und schneidet euch Kiele,
Stimmet die Psalter, die Harfen zum Spiele,
Deinem Ruhm wird die Erde zu klein,
Schlafe, mein Söhnchen, schlaf ein.
Ja, so sind wir, und das eine wünschen und träumen wir, wenn wir mit dem ersten Jugendtraum fertig sind und unser Liebes- und Lebensschicksal gefunden haben: einen guten, einen großen Sohn. Ein Köstliches ist es doch um diese stolze Mutterliebe, das Köstlichste vielleicht, daß sie eben so rein und heiß bleibt, auch wenn sie all ihren Stolz, ihre Selbstsucht mit tausend Thränen begraben muß, wenn ihr Held nur ein armes schwaches Menschenkind oder gar ein verlorener Sohn wird. Und vielleicht ist dann erst diese Liebe am gewaltigsten, am göttlichsten.
Ja, auch ich träume manchmal von einer goldenen Zukunft für dich, mein Sohn aber meine wachen Augen sehen das weite, wilde Leben um uns her und seine Opfer und ich will Gott danken, wenn du nicht ein großer, aber ein guter Mensch wirst.
Wie weit meine Gedanken hinauswandern in die dunkle, kommende Zeit, weit weg von unserm blonden Jungen – der heute zum erstenmal zur Schule ging! Der Vater hat ihn natürlich hingebracht. Das Vaterrecht scheint überhaupt mit diesem Tage kräftig einzusetzen. Ich wäre gern mitgegangen und fühlte mich vollberechtigt, ihn dem Lehrer selbst zu übergeben – aber das wurde nicht geduldet, diese Männer machen das alles unter sich allein ab.
Ich habe auch den großen Wunsch, Herrn Müller kennenzulernen, das ist nämlich der Mann, der unserm Sohne der Weisheit Pforten aufschließen soll. Es beruhigt mich sehr, daß er das Ideal aller Mütter ist und diese vielen kleinen Männer in Kniehosen und Schnürstiefeln merkwürdig richtig verstehen und behandeln soll. Ich habe den festen Vorsatz, irgendwie demnächst Herrn Müllers Bekanntschaft zu machen. Von ihm hören werden wir ja von jetzt an genug, da unser Aeltester ihn nach Kinderart gewiß zum wichtigsten Gesprächsthema bei Tisch machen wird.
Einige von unseres Jungen Schul- und Schicksalsgefährten kenne ich schon, da ich mir eine Auswahl derselben aus bekannten Familien – es ist nämlich ein recht gesegneter Jahrgang – in seinem Interesse zu uns einlud, zum gegenseitigen „Kennenlernen“.
Dies bestand in der Hauptsache aus einer großen Toberei und allgemeinen Prügelei, gesprochen wurde nicht viel, am wenigsten von der Schule.
Die Vorbereitungen für den heutigen Tag waren überhaupt in umfassender Weise getroffen. Der Vater hatte selbst den „Tornister“ ausgesucht und mit viel Vergnügen bezahlt. Ich vermute, daß dies der Reiz der Neuheit von derartigen Anschaffungen war und dieser Enthusiasmus bei dem unausbleiblichen häufigen Fordern von Tafeln, Griffeln und Schulbüchern sich sehr bald legen wird. Er hatte sodann seinen Sohn zur unwürdigen Vorbereitung ganz kahl scheren lassen und ihn entschieden damit nicht verschönert. Das ganze Haus war natürlich heute zu ungewöhnlich früher Stunde schon in Bewegung.
Der Junge hatte den Ranzen eine volle Stunde vorher schon umgeschnallt und konnte den Abmarsch gar nicht erwarten. Von Rührung bei ihm keine Spur, es ist ja „was Neues“!
Wir waren zum Abschiednehmen alle am Flur um ihn versammelt. Er ist zur Feier des Tages so gründlich gewaschen, daß er ganz unheimlich glänzt. Lustig leuchtet ihm die weiße Kopfhaut durch das kurzgeschorene, helle Haar. Ich streiche ihm den Matrosenkragen glatt und binde noch einen Schlips über den „geschonten“ Schulanzug.
„Mach’ keinen Affen aus dem Jungen,“ sagt unser Hausherr und Vater. „Er muß von jetzt an männlicher angezogen werden, ich werde mich in Zukunft um die Sache bekümmern.“
Vor mir steigt eine traurige Vision auf. Im grauen, vertragenen Anzuge, mit viel zu kurzen Aermeln und Hosen aller Anmut bar, sehe ich meinen Jungen mit seinesgleichen hordenweise zur Schule wandern, in den Jahren, wo kein Junge lieblich anzusehen ist – oder ist jeder es auch dann noch für seine Mutter?
Köchin und Kindermädchen kommen voll Teilnahme zum Abschiednehmen. Die kleinen Geschwister stehen in stummer Bewunderung umher. „Nun voran!“ sagt der Vater.
Ich küsse unseren Jungen auf die Stirn und lege meine Hand auf seinen runden blonden Kopf. Wir Eltern tauschen Blick und Händedruck.
Dann geht unser Aeltester fort an seines Vaters Hannd, so voller Erwartung, Leben und Freude. Mir kommt‘s vor, als ginge er weit, weit weg von mir – und leise ziehen mir die Eichendorffschen Worte in der wundervollen Schumannschen Melodie durch den Sinn.
„Es singen und klingen die Wellen
Des Frühlings wohl über mir,
Und seh’ ich so kecke Gesellen,
Die Thränen im Auge mir schwellen –
Ach Gott, führ’ uns liebreich zu Dir!“