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Unter allen die Giftigste

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Textdaten
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Autor: Alfred Brehm
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Titel: Unter allen die Giftigste
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aus: Die Gartenlaube, Heft 24, S. 400–403
Herausgeber: Ernst Keil
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Entstehungsdatum:
Erscheinungsdatum: 1871
Verlag: Verlag von Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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Quelle: Scans bei Commons
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Unter Allen die Giftigste.
Von Brehm.

Ein Theil des Fluches, welchen nach der morgenländischen Schöpfungssage der Schöpfer auf sein eigenes Geschöpf schleuderte, wirkt heute noch fort: die Feindschaft nämlich, welche gesetzt worden sein soll „zwischen der Schlange und dem Weibe und ihrem und des Weibes Samen“. Noch immer erregt „die Schlange“ im Herzen des Weibes Entsetzen oder Schaudern und in des Weibes Samen die Lust, ihr „den Kopf zu zertreten“, auch wenn sie vollkommen unfähig sein sollte, „in die Ferse zu stechen.“

Ich bin weit entfernt, den Unkundigen oder Aengstlichen deshalb verurtheilen zu wollen, weil er in jeder Schlange einen Feind sieht, welchen er seiner Meinung nach vernichten muß, denn ich weiß, daß die Aengstlichkeit eben nur in der Unkunde ihren Grund hat, und mag es demjenigen nicht verargen, welcher, um von sich und Anderen Angst und Schrecken abzuwenden, die unschuldige Natter wegen der schuldigen Viper leiden läßt; wohl aber verüble ich es den Lehrern und Denen, welche die Lehrer beeinflussen, daß sie nicht alljährlich einige Stunden daran wenden, um ihren Schülern die drei Vipern Europas oder wenigstens die einzige Giftschlange Deutschlands kennen zu lehren, selbst auf die Gefahr hin, daß diese Schüler einige Kernlieder weniger auswendig lernen. Denn unzweifelhaft würde man den Schülern mit einer genauen Einprägung der Merkmale besagter Schlangen mehr nützen, als mit gedachten Kernliedern: man würde sie dadurch am wirksamsten schützen vor der Gefahr, welche solche Schlangen bringen können; man würde auch den Schlangen mehr gerecht werden, als dies bisher geschieht.

Freilich trägt die Schlange die Last jenes Fluches ungefähr mit derselben Unempfindlichkeit, wie Ketzer meines Schlages die Verwünschungen aller Pfaffen des Erdenrundes. Sie geht zwar „auf dem Bauche“, sicherlich aber ohne alle und jede Beschwerde, hat sich auch bis heute noch nicht dazu bequemt, „Erde zu essen“, wie sie dies, laut der mosaischen Erzählung, thun soll „ihr Leben lang“, ist überhaupt ein ganz anderes Wesen, als die Ueberlieferer der morgenländischen Sage, welche überall Engel und Dämonen witterten, mit Göttern und Teufeln auf dem vertrautesten Fuße standen, darüber aber nicht selten die Thatsächlichkeit aus dem Auge ließen, schildern und beschreiben. Selbst die zwischen ihrem und des Weibes Samen gesetzte Feindschaft ist nicht unüberwindlich. Ganz abgesehen von den Indiern, welche keine Schlangen tödten, oder westafrikanischen Negerstämmen, welche einzelne Schlangen verehren, als ob sie mit Haut und Knochen vom Unfehlbaren heilig gesprochen worden wären, giebt es auch unter uns nicht Wenige, welche die Schlangen insgesammt durchaus nicht mit Feindschaft, sondern mit reger Theilnahme betrachten, weil – sie dieselben kennen gelernt haben.

Dies gilt auch für diejenigen Arten, welche mit Recht gefürchtet werden, weil sie, wenn schon nicht vor, so doch von allem Vieh und von allen Thieren auf dem Felde verflucht sind: den Giftschlangen; es wäre sonst, meines Erachtens, undenkbar, daß man sie, welche bei Gelegenheit wirklich „in die Ferse stechen“, einfängt und in Gefangenschaft hält, anstatt ihnen ohne Weiteres „den Kopf zu zertreten“. Und zwar sind es keineswegs allein und ausschließlich die Naturforscher unserer Tage, welche sich mit dem „giftigen Gewürm“ abgeben, sondern auch Leute, welche in unserem Sinne nicht das geringste Verständnis für Naturwissenschaft haben, wie die indischen und ägyptischen Schlangenbeschwörer zur Genüge beweisen. Mit derselben Schlange, welche Moses zu seinen „Wundern“ vor Pharao benutzte, gaukelt der Haui Aegyptens oder der Psylle Ostindiens heute noch vor dem unverständigen Volk. Es liegt eben ein eigener Reiz in dem möglichst vertrauten Umgange mit den gefährlichen Thieren.

Im Berliner Aquarium sind den Schlangen eine Anzahl von zweckmäßig eingerichteten Käfigen eingeräumt und diese reich besetzt worden, mit giftigen wie mit harmlosen Arten. Die einen wie die anderen üben die vollste Anziehung auf die Besucher aus, sogar auf diejenigen unter ihnen, welche sich anfangs mit Abscheu von den gewohnheitsmäßig gehaßten Geschöpfen abwenden. Am meisten fesseln, wie leicht erklärlich, die größeren Arten, und unter ihnen in’s Besondere die giftigen. Die Kreuzotter, als einzige Giftschlange Deutschlands, und die Hornviper, als letzte Freundin der liebeskranken Kleopatra, erregen zwar auch eine gewisse Aufmerksamkeit; mehr aber wendet sich diese den Riesen unter den Giftschlangen zu: der berüchtigten Klapperschlange oder der erzleibigen Mokassinviper und vor allen der gewaltigen Puffotter, in welcher auch der Laie sofort das Urbild, gleichsam die Giftschlange in ihrer Vollendung sieht. Gerade sie ist im Aquarium durch zwei ausgezeichnete Stücke, ein Pärchen, vertreten, und verdient, ihrer keineswegs ansprechenden Eigenschaften ungeachtet, in weiteren Kreisen bekannt zu werden, schon weil sie unbedingt als die gefährlichste Schlange Afrikas und als eine der giftigsten, wenn nicht als die giftigste der Erde bezeichnet werden muß.

Ueber ihr Freileben ist wenig bekannt, vielleicht auch wenig zu berichten. Ich habe erst durch Gustav Fritsch, den Verfasser des trefflichen Werkes: „Drei Jahre in Südafrika“, ein Lebensbild der Schlange erhalten. „In Südafrika,“ so berichtet mein verehrter Freund, „ist die Puffotter am eigentlichen Cap selten, häufiger kommt sie in den östlichen Provinzen vor, am häufigsten in den Freistaaten und weiter im Innern. Sie zeichnet sich auch im Freien durch ihre Trägheit aus, bewegt sich äußerst langsam und schnellt sich nur beim Beißen blitzartig auf ihre Beute, wobei sie sich meist mehr oder weniger um ihre Achse zu drehen pflegt. Die Leute behaupten, daß sie so hoch vom Boden emporspringen könne, um einen Reiter zu Pferde noch zu erreichen. Bei Tage liegt sie gewöhnlich still in Büschen oder unter Grasbüscheln versteckt. Nachts kriecht sie umher und kommt dann, der Mäuse wegen, gern in die Nähe der Wohnungen, richtet hier auch nicht selten Unheil an. Eine Frau in Transvaal trat beim Verlassen ihres Hauses im Dunkeln auf eine vor der Thür liegende Puffotter, wurde gebissen und starb im Verlaufe des nächsten Tages. Noch gefährlicher wird die Schlange dem weidenden Kleinvieh oder den Jagdhunden, da sie sich, wenn ihr Sträucher Deckung gewähren, fest- und zur Wehre setzt. Ein Herr in Bloemfontein büßte durch sie gleichzeitig zwei seiner Hunde ein, und zwar starb der eine innerhalb zehn Minuten, der andere einige Stunden nach dem Bisse.

Ein sehr zuverlässiger Beobachter ging, wie er mir selbst erzählte, im Felde spazieren und bemerkte zu seiner Verwunderung, daß eine der großen südafrikanischen Feldmäuse wie festgewurzelt in geringer Entfernung vor ihm sitzen blieb. Als er sich verwundert nach der Ursache umschaute, welche das scheue Thier abhielt, vor ihm die Flucht zu ergreifen, erblickte er dicht vor sich eine große Puffotter, welche die Maus zu ihrer Beute ausersehen hatte und nicht aus dem Auge ließ. Einige Zeit später machte die Schlange plötzlich einen Sprung auf die Beute, ergriff sie und war mit ihr in einem dicht daneben befindlichen Loche verschwunden, ehe der überraschte Zuschauer im Stande war, seinen Stock mit Erfolg zu gebrauchen. Es scheint, daß die Schlange ihren Feind wohl gesehen hatte, aber nicht gewillt war, von ihrer Beute abzulassen, weshalb sie dieselbe mit sich wegnahm, anstatt zu beißen und den Tod nach dem Bisse abzuwarten. Der letzte Act des kleinen Trauerspiels spielte sich sehr schnell ab, und die sonst so träge Puffotter führte eine Reihe rascher Bewegungen aus, um zu ihrem Ziele zu gelangen.

Eine derartige Regsamkeit des Thieres gehört übrigens zu den seltenen Ausnahmen. Ich selbst habe einmal im Beschuanenlande neben einer halbwüchsigen Puffotter, welche sich unter hohem Grase zusammengerollt hatte, über eine halbe Stunde gelegen, ohne daß sie sich rührte. Als ich, um der Sonne zu entgehen, mich etwas weiterschieben wollte und gerade im Begriff war, den Ellenbogen auf sie zu stemmen, bemerkte ich sie. Ich erhob mich vorsichtig, um mich meines zolldicken Zjamboks zu bemächtigen, und auch jetzt noch blieb die Schlange regungslos liegen. Ein kräftig geführter Schlag mit dem umgekehrten Zjambok machte sie für immer unschädlich.“

So weit mein Gewährsmann.

Die beiden Puffottern des Berliner Aquariums erkaufte ich von einem eifrigen Schlangenliebhaber in Berlin, welcher sie schon seit geraumer Zeit gefangen gehalten und bis zu einem gewissen Grade gewöhnt hatte. Von einer eigentlichen Zähmung war natürlich nichts zu bemerken. Die blinde Wuth, welche so viele

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Die Puffotter und ihr Opfer.
Nach der Natur aufgenommen von Emil Schmidt.

[402] Giftschlangen an den Tag legen, äußerte sich, sobald man sich dem Käfig näherte, durch Pfauchen und Blasen, doch unterließen die Thiere es wenigstens, wie sie früher gethan, nach dem sich ihnen Nahenden zu beißen. Ihre Ueberführung in den für sie bestimmten Käfig des Schlangenganges war ein schweres Stück Arbeit. Mit eisernen Zangen konnten die riesigen Thiere nicht sicher genug gepackt werden. Netze anzuwenden, erschien zu gefährlich: es bliebe also nichts Anderes übrig, als sie von ihrem Kasten aus in den Käfig zu treiben. Dies aber erregte den höchstem Zorn der Schlangen und ihr entsetzliches Pfauchen wiederum nicht geringe Unbehaglichkeit im Herzen der beauftragten Wärter. Milde Maßregeln führten endlich zum Ziele: die Puffottern wurden so lange mit einem starken Drahte gekitzelt und mit einem Blasebalge so hartnäckig angeblasen, bis sie sich entschlossen, freiwillig den gewohnten Raum zu verlassen.

Ob sie jemals zu der Erkenntniß gekommen sind, daß sie sich durch Besitznahme des netten Käfigs wesentlich verbessert, lasse ich unentschieden, so viel aber scheint mir sicher zu sein, daß sie sich in dem ununterbrochen geheizten Raume bald behaglich und heimisch fühlten. Eine gewisse, allerdings sehr beschränkte Neugier machte sich bemerklich. Sie krochen auf dem Boden langsam hin und her, betasteten alle Ecken und Winkel mit der Zunge, entdeckten dabei das Wasserbecken, benutzten es sogleich, indem sie gierig tranken, setzten hierauf ihre Entdeckungsreise fort und nahmen endlich von einer sie bergenden Steingrotte Besitz. Im Verlaufe der ersten Nacht hatten sie sich mit allen Oertlichkeiten des Käfigs vertraut gemacht und damit eingerichtet.

Wenn man diesen Schlangen menschliche Tugenden zusprechen will, muß man sagen, daß sie deren zwei im ausgeprägtesten Grade besitzen: Genügsamkeit und Enthaltsamkeit. Beide sind freilich in der hervorragendsten ihrer Eigenschaften, der für so hochstehende Wirbelthiere fast beispiellosen Trägheit, begründet.

Fast alle Giftschlangen – so viel mir bekannt, nur die Brillen- und Seeschlangen nicht – sind vollkommene Nachtthiere. Dies beweist ihr Auge mit dem gespaltenen Stern, dies ebenso ihre Trägheit während der Tages- und ihre verhältnißmäßige Regsamkeit während der Nachtstunden, dies beweist jede schärfere Beobachtung der Thiere überhaupt. Einige Naturforscher haben das Nachtleben der Giftschlangen mehr geahnt als erkannt, ich bin meines Wissens der Erste gewesen, welcher, Dank meiner in Afrika gesammelten Beobachtungen, dieses Nachtleben als unzweifelhaft hingestellt hat. Die nächtlichen Besuche der Hornvipern am Lagerfeuer oder im Innern der Wohnungen belehrten mich über die Zeit der Thätigkeit gedachter Schlangen zur Genüge, und die in Afrika gesammelten Erfahrungen wurden später entsprechend vermehrt. Das nächtliche Treiben der Vipern und Lochottern (Klapperschlangen und Verwandten) erklärt auch die im Verhältniß zur Häufigkeit der Giftschlange seltenen Unglücksfälle; die Thiere liegen eben während des Tages meist gut verborgen im Schlafe und kommen mit Menschen und anderen größeren Säugethieren nur dann in Berührung, wenn diese sich zufällig ihrem Schlafplatze nähern.

Unter allen mir bekannten Giftschlangen nun ist die Puffotter wohl die trägste. Ohne Veranlassung, um nicht zu sagen ohne Noth, verläßt sie den mit Anbruch des Tages gewählten Schlafplatz nicht. Unsere Gefangenen liegen oft vom Morgen bis zum Abend regungslos in irgend einer Lage auf einer und derselben Stelle. Nachts dagegen kriechen sie langsam in ihrem Käfige hin und her und zwar mit einer gewissen Ausdauer, wie wir unter Anderem daran erkennen können, daß sie frisch aufgeschütteten Sand schon in der ersten Nacht an allen Stellen glatt gedrückt haben. Um die Schlangen in den Nebenkäfigen, welche sie durch die Glaswände der letzteren sehen können, bekümmern sie sich nicht im Geringsten, lassen es sich ebenso gefallen, wenn man ihnen eine andersartige Schlange in ihren Käfig setzt und diese unmittelbar vor ihnen sich bewegt oder über sie wegkriecht, ohne auch nur Miene zu machen, die ihnen aufgedrungene Gesellschaft zu befehden. In gleicher Weise sind sie abgestumpft worden gegen die vor dem Käfige sich befindenden Beschauer, ja sogar gegen manche ihnen doch entschieden lästige Vornahmen der Wärter, beispielsweise gegen gewaltsame Nöthigungen vermittelst eines langen Stockes, um sie zum Verlassen eines bestimmten Platzes oder das Vertauschen ihres Käfigs mit dem zur Absperrung dienenden Nebenraume zu bewegen. Noch mehr: sie haben mit der Schlange Afrikas, „die jedes Thier ohn’ Ursach’ biß,“ nichts gemeint denn sie beißen die ihnen zur Nahrung gereichten Kaninchen, Meerschweinchen und Ratten blos dann, wenn sie wirklich hungrig sind. Nur ein oder zwei Mal haben wir das Gegentheil beobachtet, dann aber auch stets gesehen, daß sie sich unmittelbar nach erfolgtem Tode des gebissenen Opfers auf die Beute stürzten und sie gierig verschlangen. Gerade die Enthaltsamkeit, welche sie ihrem Opfer gegenüber an den Tag legen, macht ihre Fütterung zu einem ungemein anlegenden Schauspiele.

Wir haben erfahrungsmäßig festgestellt, daß ein halbwüchsiges Kaninchen wöchentlich zur Ernährung einer vollkommen ausgewachsenen, sechs Fuß langen und fast mannsschenkeldicken Puffotter ausreicht. Nicht selten vergehen zwei bis drei Wochen, ohne daß eine unserer Schlangen frißt; zuweilen nimmt sie zwei Kaninchen nacheinander. Früher fand die Fütterung nach Schluß des Aquariums statt, auf allgemein angesprochenen Wunsch lasse ich jetzt jeden Mittwoch Nachmittags vor den Augen der Besucher Nahrung reichen. Das zum Opfer bestimmte Kaninchen wird in einem Netzsacke, sogenanntem Kätscher, von oben herab in den Käfig gebracht und hier freigelassen. Ein oder zwei Mal ist es bis jetzt vorgekommen, daß die Schlange nach ihrer Beute biß, noch bevor sie den Boden des Käfigs erreicht hatte; in der Regel benimmt sie sich anders. Ihre Trägheit scheint auch jetzt noch nicht sogleich überwunden werden zu können.

Das Kaninchen hat von der ihm drohenden Gefahr keine Ahnung. Besäße es „Instinct“, ein nicht zum Bewußtsein kommendes Vorgefühl von seinem Schicksale, wie es nach Versicherung gewisser Naturerklärer ja doch besitzen soll: es würde sich anders benehmen. Die „höhere Kraft“, die „Einwirkung von außen“ müßte sich jetzt bemerklich machen, müßte dem unschuldigen Nager es eingeben, daß von jetzt an sein Leben ungleich mehr bedroht ist, als angesichts des vierfüßigen Raubthieres, vor welchem es flüchtet. Wahrhaftig, jetzt wäre Gelegenheit für den Instinct, sich zu äußern. Er soll ja doch dem Thiere anstatt des Verstandes, der Vernunft des Menschen verliehen worden sein um ihm die rechten Wege für sein Leben zu zeigen, es vor Gefahren zu behüten. Jetzt droht Gefahr, die äußerste, furchtbarste. Es handelt sich um ein fußweites Vorschnellen des Kopfes der Schlange, um ein linientiefes Einhauen der Gifthaken: und der Lebensfaden ist durchschnitten. Das Opfer hat von all’ dem keine Ahnung, sein „Instinct“ läßt es unverantwortlicher Weise vollständig im Stiche.

Es nähert sich neugierig der Schlange. Niemals hat es eine solche gesehen; die Neugier ist erklärlich, ist zu entschuldigen. Es beschnuppert seinen Feind. Noch weiß es nicht, daß es mit einem solchen zu thun hat. Die Schlange erhebt den dreieckigen Kopf, beugt den Hals zurück, nimmt eine schauerlich schöne Angriffsstellung an: das Kaninchen ahnt nichts. Es wird höchste Zeit für die „höhere Kraft“, vermittelnd einzuschreiten. Nichts von alledem. Das Kaninchen schnuppert nochmals, erschnuppert nichts, wird dreister, nähert sich dem Schlangenkopfe. Die Schlange züngelt tastend. Ihre Zunge und die Schnurrhaare berühren sich. Das Kaninchen, ein Bild der Arglosigkeit, steht noch immer ahnungslos vor dem entsetzlichen Räuber. Die Schlange wird mehr und mehr erregt. Sie athmet in tiefen Zügen, so daß sich der Leib bebt und senkt, weitet und verengert; sie pfaucht zwar nicht eigentlich, aber sie schnauft, hörbar genug für das Kaninchen, gleichsam als wollte sie es warnen. Aber auch diese Drohung ist vergeblich; der Nager achtet ihrer nicht.

Die Schlange läßt das Haupt wieder sinken, um eine andere Stellung einzunehmen. Ihre Rippen stemmen sich gegen den Boden, diese, Hunderte von Fußpaaren, arbeiten sie gleitet langsam über den Boden weg. Das Kaninchen wird stutzig, springt zur Seite, richtet die Augen scharf auf den ihm unbekannten Gegenstand, spitzt die Ohren und stellt sie nach vorn, schnuppert, dreht die Schnurrhaare nach allen Richtungen und – beruhigt sich wieder. Sein unerfahrenes Hirn ist nicht im Stande, die ersprießliche Gedankenreihe zu bilden. Wiederum liegt die Schlange regungslos, wiederum nähert sich das neugierige Opfer, wiederum erhebt jene angriffsfertig das Haupt, züngelt, droht, wiederum verläuft die Begegnung wie früher. Jetzt findet der Nager das Wasserbecken und trinkt; hierauf macht er es sich behaglich, streckt sich auf dem warmem Sande, frißt wohl auch ein wenig von einer ihm zugeworfenen Rübe. Es scheint ihm in dem Käfig zu gefallen: er wird übermüthig, springt auf und nieder, über die [403] Schlange weg, ihr auf den Rücken. Sie, über die Dreistigkeit entrüstet, schnellt wüthend auf und pfaucht mit voller Lunge. Das Kaninchen stutzt von Neuem, setzt alle Sinneswerkzeuge in Bewegung, ahnt noch immer nichts und beginnt seine gefährlichen Untersuchungen nochmals.

So kann es stundenlang währen, und je länger es dauert, um so dreister wird das Kaninchen, um so lebhafter die Schlange, um so erregter der Zuschauer. Ich vernehme die verschiedensten Äußerungen. „Höchst interessant und spannend!“ sagt ein Naturforscher, welcher beobachtend vor dem Käfig steht. „Aufregend im höchsten Grade!“ versichert ein übersättigter Lebemann. „Entsetzlich und grausam!“ läßt sich mit der Geberde des tiefsten Abscheues eine Dame vernehmen; „daß der Thierschutzverein auch so etwas dulden kann!“ Sie bleibt aber ebensogut stehen als alle übrigen Zuschauer.

Das Trauerspiel nähert sich seinem Ende. Die schwerfällige Schlange hat sich besonnen, daß sie hungrig ist, und kriecht auf ihre Beute zu. Das Kaninchen erwartet sie wie früher, geht ihr entgegen. Hoch hebt sie den Kopf, der Hals dahinter scheint sich zusammenzuschnüren, die Giftdrüse zu jeder Seite des Kopfes ihre Hülle sprengen zu wollen, die gespaltene Zunge tastet noch einmal und – blitzartig schnellt der Kopf zurück und wieder vor, im Vorwerfen öffnet sich der Rachen, richten sich die bisher in ihrer Muskelscheide zurückgelegten zolllangen Gifthaken auf, dringen tief ein in den Leib des Opfers – ein Schrei aus dem Maule des Kaninchens, ein anderer kaum eine Secunde später aus dem Munde einiger Zuschauerinnen, und der Todesstreich ist gefallen. Ebenso schnell, als die Schlange vorgeschnellt war, ist sie wieder zurückgezuckt; legt ruhig das Haupt auf den Boden, faßt ihr Opfer scharf in’s Auge und erwartet dessen Verenden. Das leichte Bewegen der Schwanzspitze nur verräth, wie lebhaft sie den sicheren Ausgang verfolgt.

Einen einzigen Schrei hat das Kaninchen ausgestoßen, einen oder einige Sätze gemacht, dann aber still sich hingesetzt. Die Ohren werden schlaff, die Augenlider fallen herab, es schüttelt ein-, zweimal mit dem Kopfe, dann hat es das Bewußtsein verloren. Langsam neigt es sich auf die Seite, bewegungslos liegt es zehn, zwanzig, hundert Secunden lang, plötzlich schnellt es noch einmal zuckend auf, und eine Leiche fällt zurück. Der höllische Tropfen hat seine Wirkung gethan.