Unter dem Glockenstuhl

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Autor: Gerhard Walter
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Titel: Unter dem Glockenstuhl
Untertitel:
aus: Die Gartenlaube, Heft 42–45, S. 719–723, 734–738, 751–755, 767–771
Herausgeber: Adolf Kröner
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Erscheinungsdatum: 1889
Verlag: Ernst Keil’s Nachfolger in Leipzig
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Erscheinungsort: Leipzig
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Kurzbeschreibung:
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[719]

Unter dem Glockenstuhl.

Novelle von Gerhard Walter.

Ich hatte so ziemlich ausstudiert und bereitete mich aufs große Examen vor. Ursprünglich Mediziner, war ich bei der Botanik hängen geblieben und hatte mit herzlicher Lust und Liebe mich in meine Wissenschaft vertieft. Da starb mein Vater, und bei mir zu Hause sah es traurig aus. Statt des mit gutem Wechsel ausgerüsteten Sohnes eines hohen Beamten war ich plötzlich ein gänzlich mittelloser, so gut wie blutarmer Student, der für sich selbst aus dem großen ungeahnten Schiffbruch des Hauses nichts retten konnte und wollte. Da sagte ich mir: „Gut, so lernst du schon jetzt auf eigenen Füßen stehen!“ und stellte mich zunächst jeden Morgen vor das „Schwarze Brett“ und las die Anschläge durch, ob nicht für mich etwas da wäre. Und die Botanik gab schließlich den Ausschlag. Ich entdeckte eines Tages eine Hauslehrerstelle bei dem Herrn von Mittelstein auf dem gleichnamigen Gut. Ziemlich gleichgültig las ich darüber hin, bis mir am Schluß der Anzeige, hinter dem Namen der Poststation, der Bezirk auffiel, in dem das Gut lag, nahe am Gebirge. Ich ging den ganzen Tag umher und sann vergeblich darüber nach, wo mir der Name dieser Landschaft schon einmal begegnet sein möchte, und zwar in einer für mich bedeutenden Sache. Mit einem Male fiel’s mir blitzschnell erleuchtend in die Seele: das war ja die einzige Gegend, in welcher der böse, gefährliche, aber für unsereins so hoch interessante Giftsumach, Rhus toxicodendron, wild in Deutschland wachsen sollte! Das packte mich. Außerdem schwanden meine letzten Mittel unangenehm schnell, wie sehr ich auch sparte – und kurz entschlossen, setzte ich mich hin, schrieb, bekam Antwort, wurde angenommen – man legte sogar Werth auf einen Naturwissenschaftler dort – und stieg an einem prachtvollen Septembernachmittag in den Wagen, der mich meinem sogenannten „neuen Bestimmungsort“ zuführen sollte, und mein Herz brannte ordentlich darauf, wenn ich nur erst einmal in den Wäldern und Sümpfen dort umherklettern könnte, um mein geliebtes Rhus von Angesicht zu sehen. Die Sonne schien hell durch die Pappeln am Wege; die Fäden des Altweibersommers lagen in der stillen, klaren Luft ausgespannt; munter trabten die Pferde. Auf hoher Bergeswarte rechts lag ein Schloß, weiß und glänzend, aber wir trabten vorbei, immer weiter ins Land hinein, bis wir zur Zeit der sinkenden Sonne mit letzter Anstrengung der anspringenden Pferde auf die Rampe von Schloß Mittelstein hinauffuhren. Ein altes feudales Schloß, mit Thürmen und Erkern und Zinnen und langen dunklen Gängen! Als ich aus dem Fenster meines Zimmers lehnte und hinblickte über das Land, wie’s herbstlich still und schön weithin vor mir lag, übergossen von goldigem, verklärendem Licht, da wurde das Herz mir weit und froh. Endlos schweifte mein Auge in [720] die Ferne bis dahin, wo im Abendglanze der Fluß blinkte; ganz drüben, den Horizont abschneidend, ragte im blauen Nebelduft, jetzt wie mit einem halb durchsichtigen Purpurmantel zugedeckt, ein Gebirgszug, und mir ward es so recht Eichendorffisch zu Muth, als plötzlich, ich ahnte nicht woher, sanfte ferne Glockenklänge an mein Ohr schlugen:

„Es redet trunken die Ferne
Wie von künftigem, großem Glück!“

Es sollte mir ja auch kommen! Und bald schon. Es verging kein Tag, daß ich nicht mit Spaten und Botanisiertrommel und in hohen Stiefeln hinauszog, sobald meine Arbeit gethan war, begleitet von zwei lieben, prächtigen Jungen, die voll Freude mit mir wanderten. Aber mein Rhus fand ich nicht, es wollte auch niemand etwas davon wissen, und ich fing schon an, innerlich weidlich auf die Herren Stubengelehrten und Federfuchser mit ihren unhaltbaren Angaben zu schelten.

Müde und hungrig waren wir eines Abends heimgekehrt. „Wieder nichts?“ fragte Herr von Mittelstein, von seiner Schreiberei aufstehend.

Ich verneinte.

„Wissen Sie,“ sagte er nach einer Weile, „so zwingen Sie’s nicht. Auf die Aussagen der Dienstleute können Sie nichts geben; die gehen zu stumpf an allem vorbei. Ich selbst bin kein Jäger und strolche nicht genug im Walde umher. Aber ich möchte Ihnen rathen, machen Sie Bekanntschaften rundumher und fragen Sie die aufgeweckteren Um- und Anwohner aus. Ich interessiere mich selbst für die Sache, nach dem, was Sie mir davon erzählen, und würde mich freuen, wenn Sie so oder anders zum Ziel kämen. Sagen Sie, können Sie reiten?“

Ich konnte reiten. Ich hatte als „Einjähriger“ bei der Kavallerie gestanden.

„Das ist gut!“ fuhr der treffliche Mann fort. „Denn die hiesigen Wege sind vielfach für Fußgänger zu weit. Vor allem rathe ich Ihnen, in Wulfshagen einen Besuch zu machen; der Pächter und seine Familie sind tüchtige Leute. Er selbst hat allerhand Kenntnisse und kann Ihnen vielleicht Auskunft geben. Dahin können Sie übrigens in einer starken Stunde auch zu Fuß kommen; der Erlenbach bildet die Grenze zwischen ihm und mir, ziemlich genau in der Mitte des Weges, da, wo das Tannenwäldchen beginnt.“

„Eine Frage, Herr Baron! Woher kommen die räthselhaften Glockentöne morgens und abends, die doch unmöglich aus Klein-Sülzach herüberklingen können? Ich wollte mich schon immer einmal erkundigen.“

Er lachte. „Ja, das wundert alle Fremden. Folgen Sie nur einmal dem Fußsteig, der dort am Bach entlang führt, bis zu dem Hügel nahe am Hellmühler Holz; er liegt ziemlich in der Mitte zwischen Wulfshagen und Mittelstein; da werden Sie schon sehen, woher das Läuten kommt. Im Winter muß nach uralter Bestimmung Herr Erhard, im Sommer ich den Läuter stellen. Die Leute wollen nicht gern hinüber. Es ist ein dummer Aberglaube damit verknüpft: sie behaupten, sie würden krank vom Läuten, und den Grund suchen sie natürlich in übernatürlichen Einwirkungen.“

„Sind denn einmal wirkliche Erkrankungen vorgekommen?“

„Eine Art Nesselfieber war hier einmal im Gang; sie hätten’s freilich hier im Stall so gut bekommen wie dort beim Glockenstuhl. Aber es giebt doch immer saure Gesichter, wenn die Reihe an uns kommt.“ –

Es war ein schöner, klarer Tag Ende September, da ritt ich hinüber nach Wulfshagen und bald sah ich das große Gehöft vor mir liegen – lauter neue Gebäude mit rothen Dächern; hinter dem Hause ein großer Garten mit einzelnen alten Bäumen. Als ich zwischen den beiden langen Scheunen hindurch auf den Hof ritt, sprang aus der Thür des niedrigen Wohnhauses ein weißer Spitz und kläffte aus Leibeskräften. Darauf erschien unter der Thür eine wahre Hünengestalt, ein Mann von mächtigen Schultern und mit langherabwallendem blonden Barte. Bequem und etwas breitspurig stand er da, die Hände auf dem Rücken. Ich grüßte.

„Willkommen, Herr Kandidat!“ schallte es tiefstimmig und freundlich mir entgegen; und der Klang, der in dieser Stimme lag, sprach warm zu meinem Herzen vom ersten Augenblick an.

Ich gab mein Pferd ab und trat ein. Seine ungeheure Hand hielt und schüttelte die meine.

„Recht von Ihnen, daß Sie gekommen sind; haben Sie schon erwartet, und wenn Sie sich hier ganz zu Hause fühlen, dann soll’s uns herzliche Freude sein.“

Die Thür that sich auf, eine hübsche, stattliche junge Frau sah aus munteren hellen Augen auf mich, und zwei kleine Mädchen von acht und zehn Jahren etwa reichten mir bescheiden knixend die Hand. Ich war keine Minute fremd da im Hause; vom ersten Augenblick an – ja, wirklich und wörtlich: vom ersten Blick der Augen an – war ich dort heimisch und wäre es gewesen und geblieben mein lebenlang auch ohne die Erscheinung des Fräuleins, die nach einer Weile in die Thür trat, das Kaffeebrett mit klirrenden Tassen in den Händen. War ich an dem Tage gerade besonders veranlagt für plötzlich durchschlagende Eindrücke, oder war’s die wenigstens für mich und meinen Geschmack überwältigende Macht ihrer reizenden Erscheinung: ich sprang auf aus meiner Sofaecke und blickte dem jungen Mädchen wie gebannt in die glänzenden Augen. Es hilft nichts, ich muß es eingestehen, ob ich will oder nicht: ich war verliebt, gründlich verliebt von Stund an in Gertrud, und wenn ihre junge Seele in dem Augenblick gleich ebenso gefangen gewesen wäre, dann hätt’ ich zur selben Stunde fragen können: „Willst Du mein ganzes Lebensglück sein?“ und sie hätte mir beide Hände gegeben und wir wären der Erde seligstes Brautpaar gewesen, so unklug eine solche Verlobung auch in den Augen bedächtiger Leute hätte scheinen mögen.

Ich sehe sie noch da am Tische stehen im einfachen dunkelgrauen Kleid, schlank und voll, eine Masse blonden Haares auf dem Kopfe; ein wunderbarer Glanz leuchtete aus den klugen Mädchenaugen, in denen sich eine ganze Welt von Frohsinn, Vertrauen und Herzensgüte spiegelte. Mit einem Wort: „den Mann hatte es!“

Und daß ich’s kurz mache: den Mann ließ es auch nicht wieder los. – –

Es war ein paar Wochen später. Ich bat wieder einmal um das Pferd, um hinüberzureiten zum Erntefest nach Wulfshagen.

„Na, hören Sie ’mal,“ lachte Herr von Mittelstein, „meine Empfehlung der Familie scheint bei Ihnen geholfen zu haben. Seien Sie ’mal aufrichtig: ist es mehr der Umgang mit Herrn und Frau Erhard, der Sie so anzieht, oder ist es die schöne Erzieherin, das blonde Fräulein Zorn? Ein Prachtmädel!“

Ich muß sehr roth geworden sein. Er klopfte mir leicht auf die Schulter.

„Na, sagen wir: sie ist der Thau in der Rose! Reiten Sie mit Gott und grüßen Sie mir die Erhards!“

Langsam ritt ich durch den trüben Oktobernachmittag dahin. In mir war eitel Sonnenschein. Ich war gefangen, gebunden, davongeführt, fertig! Ich war vollständig unfähig, mir mein weiteres Leben ohne Gertrud zu denken. Wir hatten uns einen Leseabend eingerichtet auf Wulfshagen, nur die Familie und ich. Er, Erhard, saß im Sofa und rauchte langsam und bedächtig aus seiner langen Pfeife; Frau Hedwig, Gertrud und ich lösten uns ab im Vorlesen. Frau Hedwig mit ihren klaren grauen Augen, ihrer wohlklingenden Stimme, ihrer frauenhaften Herzlichkeit und Heiterkeit war eine deutsche Hausfrau, die in einem feinen und reinen Herzen jeden Sonnenstrahl fing, der aus unserm Buch aufblitzte; Gertrud ein Modell für einen Maler, wie der Lichtschein auf ihrem Blondhaar und dem lebhaften, ausdrucksvollen Gesicht lag, dessen weiche feine Züge so leicht und klar jeglichen Eindruck wiederspiegelten, den ihre junge Seele empfand. – Aber es konnte nur immer eines lesen. Und damit die andern nicht allzu sehr in aufhorchende Trägheit versänken, sondern gleichzeitig auch bescheidenen Nutzen schaffen möchten, hatte die energische Frau Hedwig gleich am ersten Abend lachend einen großen Sack voll trockener unausgehülster Bohnen in die Stube getragen und neben den Tisch hingestellt, und nun war es Aufgabe der beiden Hörenden, die Bohnen auszubrechen.

Frau Hedwig, trefflichste und anmuthvollste der Frauen – und auch eine kluge, scharfblickende Frau warst du zugleich – aber das hättest du nicht thun sollen! Wußtest du nicht, daß es gefährlich sein mußte für zwei junge, feurige, ungepanzerte und unbewaffnete Herzen, wenn ihre Hände unter der deckenden Hülle des Sackleinens sich begegneten? – begegnen mußten, um zuerst scheu auseinander zu fahren, und um wieder zusammenzukommen, als wäre nichts geschehen; zwei junge, warme, feinfühlige Hände, zurückzuckend und wieder langsam sich vorwagend, behutsam tastend und gleichsam alles leugnend, wie mit eigenem, [722] selbständigem Leben begabt, wie von elektrischem Strom durchzogen!

Ja, der „Rattenfänger“ war wundervoll, und die Lieder hätte ich lieber singen als vorlesen mögen – aber noch schöner, tausendmal schöner war’s, wenn ich mich wieder an den Bohnensack setzen konnte. – Und allmählich, ganz allmählich, von Abend zu Abend wurde das süße, stets verleugnete Spiel ernsthafter, offener; ich hielt ihre Hand, die schmale, zarte Hand – eine dunkle Blutwelle schoß in Gertruds Gesicht; sie beugte sich tiefer über die Arbeit – und dann flogen die weißen Bohnen nur so hinaus aus den raschelnden Hülsen und rannen hinab auf den Grund. Und wieder haschte ich nach der reizenden Beute; schnellen Rucks entzog sie sie mir. Steht sie jetzt auf? Geht sie jetzt im Zorn? Mein Athem stockt vor Angst und Reue – nein, sie bleibt! Im heißen, lebenbringenden Strom rinnt das Blut durch meine Adern, und ich möchte den Sack umwerfen und sie an mich reißen und ihr zuflüstern: „Gertrud!“ – Man lebt nicht einmal, nein, wer so in Liebe glüht und glücklich ist, der lebt immer wieder ein neues Leben.

In solchen Gedanken ritt ich denn, wenn die Scheidensstunde gekommen und Abschied genommen war, heim durch den Nebel. Aber in mir war’s lichter Frühling und mein Herz jubelte.

Auf Wulfshagen gab es also einen Festtag: „der Schäfer schmückte sich zum Tanz“ und so weiter. Als ich auf den Hof ritt, trat Gertrud in die Thür und winkte mir zum Willkomm mit der Hand.

„Ich soll Sie empfangen,“ rief sie fröhlich; „Herr und Frau Erhard sind im Milchkeller, der Tanz hat schon angefangen; hören Sie nur!“

Ich sprang vom Gaul und haschte nach ihrer Hand. Sie erglühte wie eine Rose. Die Rose war überhaupt das beste Bild für sie. Sie ließ sie mir, ihre Hand; wie warm ich sie hielt!

„Bitte,“ flüsterte sie in süßer Verwirrung – „nicht heimlich – ich habe immer so schreckliche Angst!“

O des Geständnisses, das darin lag, – aber wie plötzlich zur Erkenntniß kommend, riß sie ihre Hand los und lief den langen Flurgang hinab.

Ja, im Milchkeller, da war’s aber schön! Die weißgetünchten Wände waren mit Tannengrün verdeckt, und von der Decke hing eine Art Kronleuchter mit sechs langen Talglichtern. Auf einem Holzgestell saßen die vier Musikanten und bliesen, fiedelten, flöteten und quinkelierten, daß es eine Lust und ein Jammer war; aber mir hing der ganze Himmel voll Geigen. Erhard hielt mir den großen, schäumenden Humpen entgegen, ich that einen mächtigen Trunk ihm zum Bescheid; da kam Gertrud die kleine Treppe zum Keller herunter; ich rief dem braven Weber Schmidt zu: „Die Wacht am Rhein!“

Und alsbald erklang sie als Schnellwalzer. „Juch!“ gellte es aus zwanzig Knechtskehlen – und hin flogen die Paare mit geraden und krummen Beinen – der Komponist der „Wacht am Rhein“ mochte sich mit hörbarem Ruck im Sarge umdrehen; der rothe Staub von den Fliesen wirbelte auf; die Füße scharrten, im stürmenden Takte flogen die Paare und mitten drin Gertrud und ich, dicht aneinander geschmiegt.

„Eine einzige Bitte, Fräulein Zorn!“

„Nun?“

„Die Rose von Ihrer Brust!“

„Was wollen Sie damit?“

„Aufheben!“

„Wozu?“

„Zum Andenken“

„Woran?“

„An diese Stunde!“

„Was hat sie denn Besonderes?“

„Ich tanze mit Ihnen!“

„Haben Sie noch nie getanzt?“

„Ja, aber so nicht!“

„Dann haben Sie Ihrer Dame jedenfalls auch mehr Luft gegönnt!“

„Bekomme ich die Rose?“

„Ja!“

„Wann?“

„Nachher!“

Der Tanz verklang. Hochathmend wanden sich die derben Tänzerinnen aus dem Arm ihrer stämmigen Tänzer. Gertrud sah mich an mit ihren leuchtenden Augen.

„Gertrud!“ sagte ich leise und hielt noch ihre Hand. Sie warf den schönen Kopf in den Nacken und sah mich zornig an.

„Wie kommen Sie dazu?“ fragte sie.

„Fräulein Zorn, die Rose!“ flehte ich.

„Nein, nun zur Strafe nicht!“

Und weg war sie. Und mein Himmel war zerschlagen. Ich setzte mich zu den Herren und trank, hastig, heftig. Ich wollte nicht hinsehen, wo Gertrud seit einiger Zeit die Schenke übernommen hatte, heiter mit den Herren scherzend. Ich sah nicht hin, als sie meinen Krug vor mir wegnahm, und nicht, als sie ihn wieder vor mich setzte; aber als ich ihn an den Mund führen wollte, da schwamm oben auf dem Schaum des halbgefüllten Kruges die Rose, die Rose von ihrer Brust! Und ich hob den Humpen und trank ihn ihr zu in stürmendem Jubel.

Und als ich spät, sehr spät nach Hause ritt, stand sie an der Hausthür und reichte mir die Hand mit herzlichem Druck, und ich küßte ihre Finger, leise, schnell – sie sah sich um, hastig, besorgt – und dann wehte mir der kühle, feuchte Nachtwind um die Stirn – o du Welt, was für Glück hast du doch zu vergeben! –

Ein anderer Abend. Ich stehe am Fenster und blicke hinaus. Dort drüben liegt der Hof, hinter dem Tannenwald. Da lehnt sie vielleicht auch hinaus und der Wind küßt ihr Gesicht und spielt mit ihren blonden Stirnlocken; vielleicht denkt sie jetzt auch an mich.

Vertraut und freundlich kommt sie mir entgegen, wo ich sie treffe. Aber nie bin ich mit ihr allein, wie ich es auch darauf anlege; die grauen, klaren Augen der Frau Hedwig liegen auf uns. „Ich behalte keine Erzieherin, die ein Verhältniß irgend welcher Art hat,“ sagte sie neulich scheinbar harmlos, als wir drei ohne Gertrud allein beisammen saßen und die Rede so darauf kam. „Ich habe zu traurige Erfahrungen damit gemacht, zweimal. Die erste wollte sich durchaus aus unglücklicher Liebe zu dem Hauslehrer auf Gelbersand ertränken und wurde gänzlich unbrauchbar, und meine vorige machte nichts als das heilloseste dumme Zeug, nachdem sie sich mit einem Theologen bei Pastor Lau verlobt hatte; die Kinder und der Unterricht zählten überhaupt nicht mehr mit. Nein, darauf laß ich mich nicht wieder ein!“ sagte sie sehr bestimmt; „und so lieb ich Fräulein Zorn habe, wenn sie den Kindern nicht ihre ganze Liebe und Aufmerksamkeit mehr widmen kann, dann muß sie fort!“

Und die niedliche Frau sah ganz entschlossen dabei aus und warf mir einen Seitenblick zu, als wollte sie sagen: „Du weißt nun, woran Du bist!“ Da mußte ich also vorsichtig sein. Und erst will ich wenigstens Doktor sein, ehe ich meine Hand nach ihr ausstrecke. – –

Ja, was hat man nicht für gute Vorsätze!

Also ich stand am Fenster und schaute hinaus in die Nacht. Draußen kein Stern, kein Schimmer – aber je länger ich hinausstarrte, desto lichter wurde es draußen; ordentlich, als wenn allmählich dort überm Walde Lichtschein aufleuchtete, Strahlen aufzuckten, Funken sprühten und wieder in Nacht versänken. Aber täusche ich mich denn wirklich? Wird’s nicht in der That glühend hell über den Bäumen, immer mehr und mehr?

„Feuer in Wulfshagen!“ durchfährt mich schreckhaft erkältend der Gedanke – ja, da höre ich ja auch schon verworrenes Stimmengewirr vom Hofe her durch die Pause des Sturms – ich hinunter, in den Stall, den Sattel auf meinen Schimmel – ich darf ihn jetzt benutzen, so oft ich will, ohne erst zu fragen, er steht für mich da – und ehe noch die Spritze aus der Scheune rasselt, reite ich so wie ich bin durch die Nacht und das Wetter. Das Pferd kennt den Weg; das Dunkel lichtet sich; die Feuersbrunst fängt an, wie eine ungeheure Laterne zu wirken und matten Schein auf den Weg zu werfen; nun biege ich um die Waldecke – lohend schlagen vor mir die Flammen aus der Nähe auf, daß der Himmel erglüht; taghell beleuchtet liegt Wulfshagen vor mir, wie die Hufe des Schimmels über die Brücke donnern. Aber jetzt sehe ich es: es ist nicht meine zweite Heimath hier ist der Fremde, auf deren Dach der rothe Hahn die Flügel schlägt; es ist der Hof von Finkenfelde, der gerade dahinter liegt, das große Gut, auf dem der Sternhagen sitzt, mir der unangenehmste [723] Mensch in der ganzen Umgegend, ein reicher, dicknäsiger Protz und ungehobelter Geselle, der neuerdings auch auf Wulfshagen verkehrt und da den liebenswürdigen Nachbar spielt, Erhards seine Feldbahn umsonst leiht und für die Benutzung seiner Dampfdreschmaschine nichts haben will als den Leutelohn, und der dabei Gertrud den Hof macht. Dem gönne ich’s! Wird ja wohl auch gut versichert haben.

Ich hole tief Athem und halte das Pferd an. „Konnte doch einmal nach Wulfshagen hinreiten und sehen, wie’s steht –“ und schon ist der Schimmel wieder in Trab gefallen. Wie am Tage hell ist es auf dem Wege. Jetzt bin ich schon da, bin verbotenerweise über den vorspringenden Acker geritten und reite von seitwärts auf den Hof. Alles still; alle Mannschaften sind zu Hilfe geeilt mit Spritze und Wassertonne und Leitern und Pferden. Die Hufe des Schimmels klingen plötzlich hell auf dem Pflaster vor der Hausthür – da fliegt sie auf und – Gertrud tritt heraus.

„Sie, Herr Frenzel?“ ruft sie erstaunt und steht da so schlank und lieblich im Schein der glühenden Lohe, als wär’s ein großer Heiligenschein, der sie umgiebt.

„Ich bin ganz allein,“ fuhr sie fort, „und mir ist’s ganz grausig bei dem furchtbaren Brande; es brennt ja wohl alles zugleich – sehen Sie die himmelhohen Flammen!“ Sie zitterte. „Aber wollen Sie nicht absteigen?“ Sie müssen freilich das Pferd selbst in den Stall führen.“

Ich trat zu ihr ins Wohnzimmer. „Wo ist Frau Erhard?“ fragte ich.

„In der Speisekammer; da bereiten sie ganze Waschkörbe voll Butterbröten; ich habe mir aber die Hand dabei zerschnitten.“

Sie hob die kleine, verbundene Hand hoch – es war die Linke. Der Mediziner in mir erwachte. „Lassen Sie sehen!“

Gehorsam reichte sie die Hand her. Es war ein tüchtiger Schnitt und schlecht verbunden. Ich machte es nach den Regeln der Kunst besser. Sie sah hochathmend vor sich nieder und schwieg.

„So!“

„Ich danke, Herr Frenzel!“ Wir sahen uns an, einen kleinen Augenblick. Die kranke Hand lag noch in meiner.

Sie wandte befangen, mit glühenden Wangen das Gesicht nach dem Fenster.

„Hier können wir nichts sehen!“ sagte sie leise; „besser im Saal –“

Wir standen im dunklen Saal am Fenster. Vor uns war lichter, brennender Tag.

„Sehen Sie, wie auf die Entfernung die dunklen Umrisse der Leute gegen das Feuer sich abheben?“

„Mögen Sie den Sternhagen, Fräulein?“

„Den? Abscheulich finde ich ihn, den aufgeblasenen, hohlen Gesellen!“

„Gertrud!“

Sie blickte ohne ein Wort der Erwiderung ins Feuer.

Ich sah ihr dicht in die Augen, in denen die Gluth von drüben sich spiegelte.

Sie lächelte ein klein wenig; ich hielt ihre gesunde Hand – ganz, ganz sanft; nun faßte ich sie fester; nun hob ich sie und legte zugleich meinen Arm um sie – sie neigte das Haupt – ich hob es empor – lichtbestrahlt, verklärt hatte ich ihr Gesicht vor mir und ihren rothen, weichen Mund. Was war das lodernde Feuer da draußen gegen die lohende Flamme, die in meinem Herzen brannte? Das war gemeiner irdischer Schein gegen himmlisches Licht – für mich! Und für sie!

Ich hielt sie mit beiden Armen umfangen. Ich hatte ihre Lippen, ihre Wangen, ihre Augen geküßt – wie in Andacht. Ihre Hände lagen um meinen Hals; wir sprachen kein Wort; im Hause war’s still, auf dem Hofe war’s still, und wir sahen uns still in die Augen.

„Fräulein Zorn! Wo sind Sie?“ klang da Frau Hedwigs helle Stimme im Flurgange. – Gertrnd schrak auf – ihre Lippen lagen weich und warm auf meinen, und wie vom bösen Gewissen getrieben, eilte sie davon, das schlanke, süße Geschöpf – und „mein! Bis ans Ende meiner Tage!“ – so dachte ich.

Ich riß das Fenster auf und sprang hinaus, schlich mich zu meinem Pferde und ritt sachte vom menschenleeren Hofe; und wie ein Traum war’s mir, als ich dahinritt durch die Nacht, durch die es mit gespenstischem, allmählich erblassendem Gluthschein zuckte, aufflammend und wieder verlöschend: – wie das Glück aufloht und in Nacht versinkt!

So war ich denn mit Gertrud verlobt. Nicht daß es ein feierliches, gehauchtes „Ja“ auf eben so feierlich gedrechselte Phrasen gegeben hätte – das hatten wir nicht nöthig. Es mußte so kommen, daß ich sie im Arm hielt, und es war so gekommen, ganz von selbst, ganz natürlich. Und nun mußte sie zu gegebener Zeit meine Frau werden, das war wieder ganz einfach, unumgänglich, selbstverständlich. Aber niemand durfte etwas davon ahnen, Frau Hedwig am wenigsten. Sie wollte ja keine verlobte Erzieherin, und Gertrud war auf ihre Stellung angewiesen! Da galt es Vorsicht!

Ganz heimlich steckte ich ihr am nächsten Leseabend unter den Bohnen ein Zettelchen in die Hand – manch verstohlener Händedruck ward so scheu, eilig, innig getauscht! – auf dem bat ich sie, ihren Nachmittagsspaziergang nach dem Tannenbusch bei den Steinen zu richten.

[734]
Am andern Tage saß ich, Gertruds harrend, auf moosbewachsenem Stein, unter den im Winde rauschenden dunklen Tannen. Eilige Wolken zogen, vom Winde getrieben, oben am Himmel hin, dem mißfarbigen, trüben; hier, wo ich auf sie wartete, war’s sicher und still. Das alte Heidengrab mußte uns Schutz geben. Wie’s finster unter den finsteren, starren Stämmen und Kronen sich rundete! Ich trat vor an den Waldrand und blickte den aufgeweichten Landweg hinab, der mit spärlichen jungen Obstbäumen bepflanzt war. Hoch schlug mein Herz auf: da kam sie her, windumweht, hochgeschürzt; jetzt war sie nah; ich sah, wie ihre Wangen glühten, wie die klaren, blitzenden Mädchenaugen spähend das Dunkel unter den Tannen zu durchdringen suchten; nun war sie selbst in ihrem Schatten vor dem Blick der Welt verborgen. Da trat ich vor.

„Konrad, da bin ich!“ rief sie und flog in meine Arme. Zum erstenmal waren wir allein, ganz allein, sicher, ungestört; sie als Braut an meinem Herzen; sie zwanzig, ich sechsundzwanzig Jahre alt; hier war die Welt; das Draußen gehörte zunächst nicht mehr dazu.

Sie saß neben mir auf dem Stein. Ihr blondes Haupt lehnte an meiner Schulter. Sie erzählte mir von zu Hause. Sie war eines Gymnasiallehrers Tochter, die älteste von sechsen, und die Sorge war oft der neunte Gast am Tisch daheim gewesen, und war’s wohl noch, und würde es wohl noch lange sein.

„Darf ich’s ihnen denn nicht schreiben?“ bat sie mit reizendem Aufblick.

„Laß es!“ bat ich, „wir wollen auch etwas für uns haben. Und zu Weihnachten mache ich meinen ‚Doktor‘, und im Frühherbst mein Examen – dann komme ich stolz und frei und werbe um Deines Vaters älteste Tochter! Es sieht besser aus. Und wenn ich erst hier fort bin – ich wäre sonst länger geblieben! – und sehe, wie ich uns das Nest baue, dann wird Frau Hedwig wohl auch nichts mehr dagegen haben, daß eine junge Braut ihre Kinder lehrt.“

„Ich thu’, was Du willst!“ sagte sie.

So saßen wir und bauten an unserm Nest – allerdings nur in Gedanken! Und wir wollten beide nicht viel vom Leben, nur uns selbst, eines das andere, und dazu ein bescheidenes Dach über uns, einerlei wo. Gelbpolirte Tannenmöbel fanden wir beide viel schöner in Farbe und wenigstens ebenso schön in der Maserung als Mahagoni, und wenn ich mit sechshundert Thalern nach dem Probejahr an einer Schule angestellt werden könnte und die Miethe durch Privatstunden dazu verdiente, was konnte uns dann fehlen?

Es waren unpraktische, aber köstliche Luftschlösser, die wir uns miteinander erbauten. Was wußten wir vom Leben und seiner harten Nothwendigkeit!

Und unser Geheimniß wahrten wir. Die Tannen waren stumm und die Steine verriethen nichts; und unsere Blicke hielten wir in Zucht, und wenn ich unterm Tisch meinen Fuß auf ihren setzte, dann lachte Gertrud so harmlos fröhlich, als wäre gar nichts geschehen – und es hieß doch: „Ich habe dich so rasend lieb!“

Das war unser Brautstand.

Und so ward es Frühling. Mit Macht zog er plötzlich ins Land, daß der Landmann bedenklich ob der warmen Sonne im April die Stirn in Falten legte. Aber die Lerchen waren glückselig darob in ihrer blauen Höhe, und wie der Mai noch nicht über die Schwelle getreten war, da sang schon die Nachtigall mit süßem Schall.

Aus den Tannen waren wir geflohen. Mit Mühe nur hatte ich eines Tages Gertrud hinter dem jungen Anwuchs eilig geborgen vor dem Jäger, der durchs Holz streifte und sich zum Glück durch lautes, vergnügtes Pfeifen verrieth. Ich stöberte anscheinend eifrig hinter und zwischen den Steinen umher.

„Was suchen Sie denn da, Herr Doktor?“ fragte er herantretend.

„Na, Sie wissen ja, immer nach Rhus toxicodendron!“ log ich frech.

„Ach, lassen Sie das doch laufen!“ sagte er breit und behaglich und setzte sich zu meinem Entsetzen auf den Stein, um seine Pfeife zu stopfen, und blieb da eine gute Viertelstunde hocken, um eine seiner Räubergeschichten zu erzählen.

„Wie spät ist’s denn?“ fragte er endlich. Ich gab drei viertel Stunden zu. Da sprang er auf und ging. Von Stund an mieden wir das Grab des Heidenhelden und trafen uns unterm Glockenstuhl auf dem kleinen Hügelkirchhof. Da meinten wir, sicher zu sein, denn von da konnten wir das umliegende Land beobachten.

Eng an einander geschmiegt, saßen wir da im jungen Frühlingslicht auf einem der Balken; über uns hing ernsthaft die große Glocke und um uns blühte und leuchtete und duftete es. – Solchen Frühling erlebt man nur einmal. Und auch dieser sollte verblühen, und der Sturm sollte die welken Blüthen zerstreuen und übers Feld jagen. Wir sahen keine Wolken am Himmel. Aber tief unterm Horizont ballten sie sich zusammen.


[735] Ich war hinübergeritten nach Wulfshagen. Es war eigentlich gegen meinen Plan, denn ursprünglich hatte ich mit dem Baron zur Stadt fahren sollen. Aber daraus war nichts geworden, weil der Kutscher krank geworden war, und zwar merkwürdigerweise, nachdem er gestern anstatt seines Vaters die Betglocke gezogen hatte auf jenem Kirchhof mit dem verschwiegenen Glockenstuhl.

Beinah wäre uns – Gertrud und mir – diese Abänderung verhängnißvoll geworden. Den Alten kannten wir zwei nach seiner Gewohnheit und kümmerten uns deshalb nicht arg viel um ihn; schlürfend kam er durch das Gitterthor gegangen, sah nicht rechts und nicht links, zog seine zwölf Mal am Glockenseil, ließ es fahren und ging ab, mit klirrendem Wurf das Gitter wieder hinter sich schließend.

Wir hatten uns diesmal ein wenig miteinander verspätet; der Frühlingsabend in seinem Goldlicht war gar zu herrlich und die Nachtigall fing schon an zu schlagen in dem blühenden Fliederbusch über uns, unter dessen Schirm wir auf einem Stein saßen. Gertrud war über die Maßen reizend und berückend und immer wieder hielt ich sie zurück, wie rührend auch ihre Bitte klang: „Laß mich los, Konrad, ich muß ja gehen, oder wir verrathen uns!“ Und doch ließ sie sich so gern halten, und schwach nur war ihr Widerstreben und Erschrecken gewesen, als ich den silbernen Pfeil aus ihrem Haar gezogen hatte und es nun in mächtiger Fülle gleich einem goldenen Schleier an ihr und um sie niederwallte.

Da klirrte die Pforte; wir blickten kaum hin durch die schwache Schutzdecke des Fliederbusches, der uns zur Noth nur verbarg – aber mit leisem, entsetztem Schrei fuhr Gertrud auf und aus meinem Arm und floh mit leichtem eiligen Fuß hinter eine schön gewachsene Balsamtanne. Es war nicht der Alte diesmal – es war sein Sohn, der langsam dahergeschlendert kam und gerade jetzt herüberschaute nach unserem Busch, wie die Nachtigall aufs neue anhub, noch gedämpft und abgebrochen, aber doch mit süßem Ton zu schlagen. Mich entdeckte er nicht, aber Gertruds helles Kleid und ihr goldiges Haar hätten ihm in die Augen fallen müssen. So standen wir da und wagten kaum zu athmen.

Aber unsere Angst wuchs, als er nach vollbrachtem Läuten nicht, während das Erz noch summte und der Glockenstrang noch hin und her pendelte, davonging, sondern, die Hände in den Hosentaschen, behaglich pfeifend, sich offenbar anschickte zu einem Rundgang durch den Kirchhof. Seine Mittel an Zeit erlaubten ihm das. Wir zitterten vor einer Entdeckung. Aber es ging gut. Nachdem er faul hier und da sich einen Leichenstein besehen und ebenso ein schief stehendes Kreuz auf dem verfallenen Grabhügel eines seiner Ahnen gerade gerückt hatte, stieg er zu unserer unendlichen Erleichterung mit seinen langen Beinen ziemlich fern von uns auf die niedrige Mauer. Dabei verlor er offenbar etwas; er stieg wieder herab, bückte sich und suchte längere Zeit in dem grünen Blattwerk längs der Mauer, bis er es gefunden hatte; dann schwang er sich hinüber und wandelte auf schmalem Fußsteig durch das grüne wogende Korn weiter.

Mit einem tiefen Seufzer der Entlastung trat Gertrud hinter ihrem Schirm hervor, eifrig an ihrem losen Haar mit den feinen Fingern arbeitend, das, immer nicht gehorsam genug, sich jetzt erst recht nicht bändigen lassen wollte.

„Konrad, das geht nicht; das darfst Du nicht wieder thun!“ klagte sie – aber der Blick entzückender, unbewußter bräutlicher Koketterie, der das Verbot begleitete!

„Gieb mir eine Locke!“ bat ich, „liebste Gertrud!“

Sie lachte mich mit ihren weißen, blitzenden Zähnen an, noch immer beide Hände gehoben in anmuthreicher Arbeit.

„Nein, Du hast wirklich schon genug; ich glaube, Du treibst Unfug damit und verschenkst sie selbst wieder als Haarlocken von Dir in Deiner Jugend –“

„Etwas gieb mir, zum Andenken an die Angst, die ich ausgestanden habe.“

Sie stieß mit dem zierlich schlanken Fuß an einen gelben, kantigen Flintstein und schob ihn mir mit übermüthigem Blick ein wenig hin.

„Hier; Du wünschtest Dir ja immer einen Briefbeschwerer –“

Sie hielt inne und sah mich an; dann legte sie mir schnell die beiden nun freien Hände auf die Schulter und neigte sich, ihren Blick in meinen senkend, mir zu, und schöner stiller Ernst lagerte sich um ihren Mund.

„Nein, verzeih, Du sollst Dich nicht vor mir bücken, es war unrecht von mir!“

Und sie bückte sich und reichte mir den Stein. „Nun bitte ich Dich, nimm ihn und lege ihn auf Deinen Schreibtisch; und jeden Morgen, an dem ich Deinen Tisch abstäube und ordne, wenn ich Deine Frau bin, wird er mir die Inschrift tragen: ‚Er soll Dein Herr sein!‘“

Am nächsten Morgen war, wie gesagt, der Kutscher krank zum tiefen Verdruß des Baron, der über die Stärkung entrüstet war, welche der Aberglaube der Leute daraus wieder ziehen würde. Der Kranke lag zu Bett an einer recht bedeutenden, rosenartigen Entzündung des Gesichts und der Hände.

Da hatte ich denn mein Rößlein gesattelt und war hinübergeritten nach Wulfshagen. Immer die alte Herzlichkeit und Freundlichkeit drüben, so oft ich kam; ein sehr offenbarer Händedruck außerdem von Gertrud, und dann und wann ein schneller, heimlicher Blick – so war’s ja stets, und mir war’s wieder so recht urbehaglich zu Muth. Ich hatte die Geschichte von dem Kutscher und dem merkwürdigen, scheinbar begründeten Widerwillen der Leute gegen das Glockenläuten erzählt, da bemerkte ich einen Reiter, der in scharfem Trab näher kam und auf den Hof einbog. Ein Gefühl körperlichen Unbehagens beschlich mich; ich erkannte Sternhagen von Finkenfelde. Aber was konnte ich machen?

Kurz darauf saß er breit und dick am Kaffeetisch und war die Liebenswürdigkeit selbst. Auch gegen mich.

„Sind Sie denn nicht mit Ihrem Herrn Baron zum Vortrag gefahren?“ fragte er verwundert; „das wäre doch etwas für Sie gewesen.“

Ich erklärte auch ihm den Fall. Er hörte aufmerksam zu.

„Hören Sie ’mal,“ sagte er plötzlich, „die Sache ist offenbar mehr als Aberglaube; da steckt etwas dahinter. Ich hatte im vorigen Jahre einen ganz ähnlichen Fall. Hinter meiner Kegelbahn tummelten sich die Kegeljungen gewöhnlich in ihren Freizeiten, und bei ihnen traten auch immer allerlei sonderbare Krankheitserscheinungen auf, so daß ich zuletzt kaum noch einen bekommen konnte; die Kegelbahn galt für verhext. Endlich kam ich darauf, den Platz zu untersuchen, und fand die Stelle hinter dem Bretterhaus dicht mit einem sehr hübschen Gewächs bestanden, mit Stauden etwa zwei bis drei Fuß hoch, die blanke grüne Blätter und weiße Blüthen trugen. Da hatte ich mit einem Male die Lösung des Räthsels: das infame Unkraut war so teufelsmäßig giftig, daß mein Tagelöhner, den ich mit der Ausrottung beauftragt hatte, vier Wochen lang krank lag mit Blasen und Geschwüren am ganzen Körper unter starker Lähmung der Hände –“

Da fuhr ich auf Sternhagen los und packte seine Schulter und jubelte: „Herr, das ist ja das leibhaftige Rhus toxicodendron!“

Er sah mich erstaunt an. „Na, Ihnen rappelt’s wohl ein bißchen, Herr Doktor, daß Sie so vergnügt aussehen darüber! Mir war die Geschichte ganz verdammt unangenehm, und ich hab’ mich den Henker drum gekümmert, wie das Zeug hieß.“

„Herr Sternhagen, haben Sie alles ausrotten lassen?“ fragte ich gespannt.

„Unkraut vergeht nicht!“ lachte er; „habe nicht wieder nachgeschaut, aber es sollte mich wundern, wenn nicht ein Stück Wurzel drin geblieben wäre beim Ausreißen. Der dicke weiße Saft quoll nur immer so heraus.“

„Und wurde bald schwarz an der Luft und an der Sonne?“

„Zu dienen; und nachher kratzten und pickten die Hühner in der frischgegrabenen Erde – es war Mitte Mai – und sämmtliche Hennen hielten sofort inne mit Eierlegen und – ich gebe Ihnen mein Ehrenwort darauf! – wir hatten bis Mitte August kein einziges Ei mehr; von da an aber so überaus reichlich bis zum Winter, wie noch nie sonst.“

„Giftsumach, Giftsumach!“ jubelte ich, ein entzückter Botaniker; „erlauben Sie, daß ich einmal in Ihrem Garten Nachsuchungen halte?“

Ich mußte ihm mit meiner Bitte einen großen Gefallen gethan haben, denn er sah mich sehr vergnügt an.

„Prächtig!“ sagte er schnell – und sich an Herrn Erhard wendend, setzte er hinzu: „Aber dann mache ich Ihnen einen Vorschlag: kommen Sie gleich einmal alle zu mir armem Junggesellen, auch die edlen Frauen,“ – er verneigte sich gegen Frau [736] Erhard – „und nehmen Sie einmal vorlieb in meiner zeitweiligen Scheunenwohnung.“

„O ja, ich möchte das Pflanzenungeheuer wohl ’mal sehen!“ sagte Frau Hedwig, offenbar von der Einladung keineswegs unangenehm berührt; „nicht wahr, Fräulein Zorn?“

Ich hielt meinen Kaffeelöffel aufrecht; das hieß bei uns „ja“. Ließen wir etwas auf dem Finger balanciren, dann bedeutete es „nein“. So wurde denn also durch Veranlassung des Giftsumachs für Sonntag nachmittag eine Fahrt nach Finkenfelde verabredet.

Es war ein herrlicher Tag, als wir hinüberfuhren. Die Lerchen hielten Massenübungen ab oben in der blauen Höhe, Licht und Glanz überall – und mir gegenüber saß Gertrud. Ich wollte, wir wären so weiter gefahren, immer zu, immer die Straßen der Welt entlang. Wenn mir an dem Tage einer gesagt hätte: „Es ist ein Unglück, geboren zu sein!“ – ich hätte mit ihm gerauft und über dem Geworfenen hingerufen: „Es ist ein herrlich, köstlich Ding, das Leben!“

Wir fanden ihn, den Giftsumach; er wuchs noch aus rankender Wurzel in einer Ecke des Gartens und mein fröhlich Herz klopfte vor Freude, als ich vor ihm stand. Nur wer das Entzücken des Forschers kennt, der ans Ziel gekommen ist, begreift es, daß ich mich nicht trennen konnte von dem fremdartigen, seltenen, furchtbaren Gaste; daß ich mir ruhig das gutmüthige Lachen der andern gefallen ließ, als sie gingen und ich allein zurückblieb bei der schönen Pflanze, um sie vorsichtig, aber mit innigem Behagen zu untersuchen und zu zeichnen. Leicht, ganz leicht hatte Gertruds Finger mich gestreift, als sie sich zu den andern wandte; zum erstenmal hing mein Blick nicht an ihrer schlanken Gestalt, wie sie davonging, sondern wie gebannt an der tückischen Giftpflanze allein.

Plötzlich – ich weiß nicht, wie lange Zeit schon vergangen – als ich mitten im Zeichnen war, fühlte ich mich von hinten umschlungen und meinen Kopf zurückgebogen; mit gerötheten Wangen stand das schöne Mädchen hinter mir und in ihren Augen blitzte es wie heiße schöne Leidenschaft – hastig warf sie die Arme um mich, stumm und hastig küßte sie mich – und wie ein gescheuchtes Reh eilte sie davon, den dunklen Lindengang hinab.

Was war das? Und hatte in ihren blauen Augen nicht gar etwas gefunkelt, was einer Thräne glich? Woher kam die Thräne? Was sollte sie? So dachte ich und griff wieder zum Stift und hörte nichts und sah nichts – als die Lebenzerstörerin vor mir, hier auf dem Grund und Boden des Mannes, den ich nicht leiden mochte, vor dem ich einen mir selbst unbegreiflichen Widerwillen hatte.

Da schrak ich auf. „Herr Doktor!“ schallte es vom Hause her, „Sie versäumen ja alles, Essen und Trinken und Freundschaft!“ So rief Herr Erhard im Näherkommen. „Wissen Sie auch, daß Sie sich schon beinah anderthalb Stunden dieser Pflanze gewidmet haben?“ – er faßte mich vertraut unter den Arm und sagte leise: „während ein anderer sich einem andern Pflänzlein widmet, das Sie unter die Familie der Rosen einreihen!“

Ich sah ihn verwirrt und fassungslos an.

„Nun, thun Sie nur nicht so! Diesmal bin ich schlauer gewesen als meine Frau – und es bleibt ganz unter uns! Aber, wenn Sie das Röslein brechen wollen, dann nutzen Sie die Zeit aus, es leuchtet so hell, daß auch andere Knaben es sehen und begehren möchten; und ich weiß ganz gut, weshalb der Herr Nachbar Gutsbesitzer so liebenswürdig geworden ist und uns heute sogar eingeladen hat; meiner schönen Augen wegen nicht! Merkwürdig, daß meine kluge Frau darin offenbar so blind ist!“ Und ehe ich noch in meiner namenlosen Verwirrung eine Antwort fand, zog er mich hinüber zu den andern.

Das Bier schäumte und die Kugeln rollten, die Speisen dufteten und der edle Wein funkelte in den Gläsern; alle andern Gäste – es waren noch mehrere dazu gekommen – waren munter und ihre Fröhlichkeit ging in hohen Wogen auf der Kegelbahn des Herrn von Finkenfelde; aber wenn unsere Augen – seine und meine – sich trafen, dann funkelte in ihnen etwas wie aufglimmender Haß, den wir beide tief innen spürten. Und das alles um das Mädchen, das mir bald wieder im heimrollenden Wagen gegenübersaß, hinaufschauend in den Glanz des Vollmondes, der in ihren Augen sich spiegelte.

In lieblichem Ernst saß sie da. Nun nahm sie den Hut ab; auf ihrem Haar lag der Mondschein und meine Blicke hingen voll süßer Sehnsucht an dem geliebten Angesicht.

„Es war wirklich nett heute bei ihm,“ brach Frau Erhard das allgemeine Schweigen; „finden Sie nicht auch, Fräulein Zorn? Er ist ja ein bißchen plump, aber er hat so etwas Angenehmes.“

„Ja,“ fiel ihr Mann in seiner breiten, gemüthlichen Art ein – „wo der hinküßt, da spürt’s eine; kann sich selbst auf beiden Seiten zugleich etwas in die Ohren flüstern.“

Ach was,“ rief sie ärgerlich, „Ihr hackt auch immer auf ihm herum! Ich muß sagen, ich würde es für eine unverzeihliche Thorheit halten –“

Sie brach ihre etwas hastige Rede plötzlich ab, wohl durch einen gutgemeinten Stoß ihres Gatten gewarnt; und neben meinen Fuß stellte sich ein schlanker, schmaler Fuß mit leisem Druck; ich holte tief, tief Athem:

„Du bist meine, deß sollt’ Du gewiß sein –“

zog es mir tröstend durch den Sinn. Und auch ich blickte hinauf, wo in der lichtdurchglänzten Höhe Stern an Stern funkelte. Da löste sich einer aus der unendlichen, herrlichen Schar und zog in feurigem Bogen am Himmelsgewölbe dahin, aus Nacht in Nacht, verlöschend, vergehend, nur ein Himmelskörper, nur eine kleine, ganz kleine Welt, die da, kurz aufleuchtend, spurlos im Raum zerstob – wie manche Herzenswelt wird ebenso in Trümmer geschlagen und sinkt in finsterer Nacht zusammen! Ein gefallener Stern! Kleinigkeit! Ein Menschenleben! Nichts! –

Am nächsten Tage ging ich mit dem Baron auf den Kirchhof, dorthin, wo Johann, der Kutscher, über die Mauer gestiegen war und in dem Gestrüppe gesucht hatte. Ja, da war auch hier des Räthsels Lösung; dort stand es voll von dem schönen Gewächs mit den spitzen, zu dreien an einem Stengel sitzenden Blättern von glänzend dunkelgrüner Färbung.

Mit denkbarster Vorsicht wurde die Ausrottung vorgenommen; schon die Ausdünstung des Giftsumachs wirkt schädlich auf viele. Der Baron hatte viel Nachdenkliches in seinem Wesen. Als wir nach zwei Tagen wieder da standen, wo jetzt jede Spur der Giftträger verschwunden war, nahm er etwas von der Erde auf den Spaten. „Nun sehen Sie nur diese Erde, reiner, schwerer, schwarzer Humus! Und den gerade muß sich das Gift aussuchen, und könnte sonst so viel Gutes da wachsen, wo der Unhold widerstandslos seine Wurzeln einschlägt und üppige Nahrung zieht. Muß irgendwie von Finkenfelde hierher verschleppt worden sein, vielleicht bei einer Beerdigung – sie begraben auch hier von altersher – mit einer Blume, oder sonst irgendwie –“

Jawohl, Herr Baron, auf Finkenfelde war’s gediehen, das üppige Giftgewächs, und von daher kam es; und es suchte sich guten, reinen Boden aus, der nur leider eigentlich einem andern gehörte und andere Blüthen hätte tragen sollen! Rosen, für mich, und Myrthen, und junge, frische grünende Reislein – –!

So kam die Zeit des Examens heran.

„O, wenn Du erst fort bist!“ klagte Gertrud und schmiegte sich in meinen Arm, „wie werde ich es ertragen! Und zu Hause all das Leid; mein armer, kranker Vater, der sich mühsam durchs Amt und durchs Leben schleppt! Wie soll’s noch werden! Wäre ich nur erst Dein, unter Deinem Schutz und lieben Schirm!“

Immer inniger waren wir verwachsen; es war ein gottgesegneter heimlicher Brautstand. Ich glaub’, sie wußten’s alle, oder ahnten es doch, auch Frau Hedwig. Aber alle waren still, keiner rührte daran. Auch der von Finkenfelde nicht. Seit jenem Nachmittage hatte er sich merkwürdig ruhig verhalten. Ich sagte es einmal zu Gertrud. Sie wurde roth und sah mich an. „Freu’ Dich drüber, wie ich mich freue!“ sagte sie. –

Verbarg sie mir doch etwas? – Warum?

So kam der Tag des Abschieds.

Es war Hochsommer und auf den Feldern wurde das Korn gemäht. Die Lerchen waren still geworden. Wir standen Hand in Hand unter dem Glockenstuhl, aufrecht, lieblich, jungfräulich stand sie da und sagte leise:

„So zieh’ mit Gott, und hol’ mich bald!“ – Und wie ich sie zum letztenmal an meine Brust zog, die süße Gestalt, und wie sie den letzten, heißen Kuß auf meinen Mund drückte, da sah ich über ihre Schulter hinaus ins Feld und die Augen brannten mir; ich hob ihr Gesicht empor, und es kam über meine Lippen, [738] ohne daß ich’s wollte und wußte, ein einst gehörtes, lang schon in meinem Herzen verschollenes Dichterwort:

„Und so segne dich Gott, ob du mein vergißt;
Doch viel tausend Mal mehr, so du treu mir bist!“

„Ich Dein vergessen?“ fragte sie, und rein und stolz hob sie den Blick. Dann ging sie. Kein Jammern und Klagen; sie machte mich stark und freudig mitten im brennenden Leid. Ich sah ihr nach, als sie durchs gelb wogende Korn dahinschritt, bis sie am Waldsaum noch einmal sich wandte und mit ihrem Tuch mir winkte.

Als ich am nächsten Morgen in der Frühe von Mittelstein wegfuhr, gar herzlich verabschiedet, daß mir das Herz groß ward, da erklang, als ich kaum auf der Landstraße war, mit weichem hallenden Klang die Frühglocke! Und ich faltete die Hände, für sie – für mich!


Ich bestand ein ausgezeichnetes Examen, das beste, das seit Jahren gemacht worden war. Jubelnd schrieb ich an Gertrud; jauchzend tauchte ich wieder die Feder ein, um an ihren Vater zu schreiben, er solle mir seine holde Blume zu eigen geben, daß ich sie in meinen Garten pflanze, sie hege und pflege wie ein guter Gärtner, damit sie im Frühlingslicht bei mir Wurzel schlage.

Da klopfte es an meine Thür. In großer Aufregung trat der Geheimrath bei mir ein, der berühmte Direktor des botanischen Gartens. Ohne alle Einleitung rief er:

„Liebster Doktor, machen Sie sich reisefertig, Sie müssen heute über fünf Tage in Plymouth sein!“

Ich starrte ihn begriffs- und fassungslos an.

„Die Sache ist die,“ sprudelte er hervor, nach seiner Gewohnheit eilig im Zimmer auf- und abpendelnd und bei jeder Wendung mit der Hand durch das krause weiße Haar fahrend – ich sehe das ja alles noch so deutlich vor mir, als wäre es gestern geschehen – „die Sache ist die: Sie wissen, daß Doktor Sartori die Expedition des ‚Loki‘ als Botaniker begleiten sollte. Eben bekomme ich ein Telegramm von ihm, daß er seit gestern schwerkrank im Hospital zu Bremen am Typhus liegt und daß der ‚Loki‘ ohne ihn hinausgegangen ist. Ersatz für ihn hat über Calais-Dover sofort nachzureisen und sich am fünfundzwanzigsten in Plymouth an Bord zu melden. Sie müssen hinaus, Doktor, hören Sie? Ich bitte und beschwöre Sie! Sie leisten unschätzbare Dienste; Sie bereichern Ihre eigene Gelehrsamkeit in nie wieder möglicher Weise und sichern Ihre ganze Zukunft; ich verbürge mich persönlich dafür, daß Ihnen nach Verlauf der zwei Jahre eine besoldete außerordentliche Professur eröffnet wird!“

Ich hatte das Gesicht in die Hände gelegt. Da hatte ich eine Art von Traumbild oder Wahnvorstellung: ein lichtdurchstrahltes Gemach, viele Menschen; die Thür ging auf und es traten noch zwei ein: eine wunderschöne blonde Frau, die Gertruds Züge trug, an meinem Arme, demüthig stolz um sich schauend, und ich hörte ein Zischeln und Flüstern: „Sehen Sie, das ist also die jüngste Frau Professorin – ein entzückendes Weib; für die lohnt es sich schon, eine Fahrt um die Welt zu machen –“

Ich sprang auf und streckte dem greisen Freunde beide Hände hin. „Hier, Herr Geheimrath, nehmen Sie mich mit Haut und Haaren; ich reise!“

Er wäre mir beinahe um den Hals gefallen.

Und nun schrieb ich mit fliegender Hand eine Nachschrift hinter den Brief an Gertrud, und dann den an ihren Vater, siegesgewiß, des Gelingens sicher. Zwei Tage nachher, kurz ehe ich nach dem Bahnhof fuhr, bekam ich des Vaters Antwort: er fühle sich sehr geehrt, indessen kenne er mich nicht genügend, um die Zukunft seines Kindes schon jetzt in meine Hände zu legen und Gertruds Geschick an das eines noch nicht seßhaften Mannes unwiderruflich zu binden. Wenn meine Hoffnungen, die ich an die Reise knüpfte, in Erfüllung gingen, alsdann würde er seine Einwilligung nicht zurückhalten etc. „Mit großer Hochachtung Dr. Zorn.“

Ich warf den Brief in den Ofen und zündete das Papier an. – Das war anders, als ich’s mir gedacht hatte. Zerknirscht meldete ich in ein paar fliegenden Zeilen den Bescheid des Vaters an Gertrud; in Plymouth fand ich Antwort von ihr.

„Konrad, das ist ja ganz gleich, was in meines Vaters Brief gestanden hat. Deine Frau konnte ich doch noch nicht werden und Deine Braut bleibe ich mit ihm und ohne ihn. Dies Hochhinauswollen in allen Dingen ist meines armen, krankhaft reizbaren Vaters traurige Erdenmitgift von je gewesen und hat uns viel, viel Kummer gemacht im Leben und ist an manchem Unglück schuld. Wenn wir alle Grafen heiratheten, würde er es schwer empfinden, daß sich kein Fürst gemeldet habe.“

Und was sie sonst noch schrieb – ja – ich hatte den Brief auf meinem klopfenden Herzen und ging hinunter in die Offiziersmesse und lud mir den Stabsarzt zu einer Flasche Sekt ein.

„Donnerwetter, Ihnen scheint’s ja merkwürdig gut zu gehen!“ lachte er; „lassen Sie ’mal Ihren Puls fühlen; Ihre Augen leuchten ja ganz verdächtig! Na, prosit! Ich denke mir, es gilt dem bildsauberen klassischen Profil, das man in Ihrer Kammer beobachten kann.“ –

Der „Eddystone“ hatte uns Europens letzten Lichtgruß durch die sinkende Nacht zugeleuchtet; über uns Sternenglanz, um uns der Ocean. Ich lehnte über das Geländer des Hinterdecks; rauschende, spülende, überkämmende Seen rollten unter mir weg und im Heimweh zogen meine Gedanken hinüber nach Deutschland in jenes stille Haus im stillen Lande. – –

Und die Zeit ging dahin. In der Heimath waren Stadt und Dorf und Feld und Friedhof und Glockenstuhl weiß eingeschneit gewesen; und der Schnee war geschmolzen, und die ersten Frühlingsblumen waren zum Leben erwacht; aber meine Blume daheim stand in Leid und Trauer und schaute aus nach Sonnenschein. Immer trüber lauteten ihre Briefe; bei ihr zu Hause stand es schlimmer von Woche zu Woche – „Du weißt ja, Konrad, ich bin kein weinerliches Geschöpf; aber ich habe doch manche bittere Thräne in einsamer Stunde vergossen ob all dem Jammer – – ach, wärest Du hier!“

Es klang wie ein zurückgedrängter Aufschrei eines gequälten Herzens. Ich trank keinen Sekt mehr!

Wir lagen vor der westindischen Insel Dominika. Vor dem Fenster meiner Kammer zog sich in langem, schöngeschwungenem Bogen ein prachtvoller Palmenstrand hin, von weißer Brandung in gleichmäßigem Rauschen bespült, drüber erhoben sich tiefeingeklüftete, hohe, mit dunklem Wald bestandene Berge; wenn ich gerade hinausschaute, fiel mein Blick zwischen den Palmen auf ein malerisches, unter tropischem Grün fast verborgenes Negerdorf, über dem ein Kirchthurm hoch aufragte. Drüben setzte unser Kutter vom Land ab; er mußte uns die Post bringen. Mein Herz klopfte. Ich gab mir Mühe, ruhig zu sein. Ich präparirte gerade ein Exemplar des wunderlichen Bryophyllum Calycinum[WS 1], das aus jedem in der Luft aufgehängten Blatt eine ganze Anzahl neuer Pflänzchen treibt, für mein Herbarium. Nun klopfte es an und die Ordonnanz trat ein und legte meine Postsachen auf den Tisch. Eilig suchte meine Hand nach einem Brief von Gertrud – es überlief mich: keiner da! Aber ein offener Brief von unbekannter Hand adressirt war dabei und ein Brief aus Wulfshagen von Frau Hedwigs Hand. Das offene, zusammengefaltete Blatt zog mich an; das sah ja beinahe wie eine Todesanzeige aus; meine Hand griff danach, mir war’s, als ob meine Haare sich ein wenig sträubten – – nein, eine Todesanzeige war’s nicht, sondern eine Verlobungsanzeige; aber was war das für ein wunderliches Ding – was stand da? – Unsinn – sie ist ja mit mir verlobt – das ist ihre Schwester – aber heißt die denn auch „Gertrud“ –? Ich hielt das Blatt dicht ans offene Fenster und las und las – ja, da stand: „Die Verlobung unserer ältesten“ – also ausdrücklich ältesten! – „Tochter Gertrud mit dem Herrn Rittergutsbesitzer Sternhagen auf Finkenfelde und Kleinwulkow beehren sich ergebenst anzuzeigen Gymnasiallehrer Dr. Zorn und Frau.“

Sonderbar! – Und da, auf der andern Seite, stand:

Gertrud Zorn,
Oskar Sternhagen,
 Verlobte.

Ich legte das Blatt auf den Tisch und sah es in einem fort an. Allmählich bekamen die Buchstaben Leben und fingen an sich zu bewegen, zu tanzen; der Tisch auch, schließlich die ganze Kammer; sie feierten alle Verlobung, nun drehte ich mich auch mit, ich fing an zu taumeln; ich hatte zu viel Sekt auf das Wohl der schönen Braut getrunken – ich war gänzlich betrunken, mein Kopf brannte und es donnerte mir wie brausende Brandung vor den Ohren – ich griff mit den Händen um mich und schlug zu Boden, ohne Bewußtsein. –

[751]
Im Stadthospital zu Roseau kam ich zu mir, nach manchen Wochen. Der „Loki“ war längst ankerauf gegangen. Ich fühlte mich unsäglich matt. Kaum, daß ich die Hand rühren konnte. Als man mir einen Spiegel vorhielt, mußte ich lachen: das sollte ich sein? Aber ich konnte also doch noch lachen. Und ich wurde auch wieder gesund, sogar für die Tropen recht schnell. Nur eine Lässigkeit, eine innere Bewegungslosigkeit war über mich gekommen, die ich nicht bekämpfen konnte noch wollte. Ich mochte nicht denken; ich fürchtete mich davor. So saß ich stundenlang im Garten des Gouverneurs und blickte hinaus auf das unendliche, blaufunkelnde Karibische Meer, und über mir rauschten die Palmen in der Passatbrise.

Eines Tages gab man mir die unerbrochenen Briefe, die ich damals zu lesen keine Zeit gefunden hatte. Jetzt durfte ich wieder lesen. Frau Hedwig schrieb am Schluß eines unendlich herzlichen Briefes:

„Mit einigem Erstaunen werden Sie wohl gehört haben, daß unser Fräulein Zorn sich mit dem ihr einst scheinbar so wenig sympathischen Herrn Sternhagen verlobt hat; es geschah zu Hause bei ihren Eltern, als sie auf Besuch in den Osterferien dort war. Sie wissen, daß ich keine verlobte Erzieherin haben will; ich habe darum sofort unser Verhältniß gelöst und werde auch wohl nichts mehr von ihr hören, da das junge Paar – die Hochzeit soll zu Johanni sein – auf Kleinwulkow seinen Wohnsitz aufschlagen wird. Es ist mir auch lieber so.“

Der Diener brachte mir eine Erfrischung. „Was für ein Tag ist heute?“ fragte ich ihn.

„Der 24. Juni!“ gab er zurück. „St. John’s Day.“

„Also Sankt Johannistag! So!“ sagte ich leise und sah wieder übers Meer hin. Und allmählich wurden mir die Augen naß – da packte es mich, schüttelnd, übermächtig, ich schlug die Hände vors Gesicht und weinte, wie ich nimmer geweint hatte, seitdem ich ein kleines Kind war an meiner Mutter Herzen.


Es war wieder einmal Herbst geworden. Da kam eines Tages ein Brief von Frau Hedwig, die auch nach dem inzwischen erfolgten Tode ihres Mannes mir die unentwegt treue Freundin geblieben war, und die mich immer gar wohl unterrichtet hielt über alles, was auf Wulfshagen vorging. Nur von Gertrud hatte sie mir nie wieder eine Silbe geschrieben und auf versteckte und offene ihre einstige Erzieherin betreffende Anfragen nie geantwortet.

Es lag also wieder einmal ein Brief von ihr auf meinem Tisch, in dem es hieß:

„Nun möchte ich Ihnen noch einen Vorschlag machen, Professorchen. Sie blasen mir zu viel Trübsal und hocken mir zu viel hinterm Ofen. Das ist alles nichts für einen jungen Mann. Nun legen Sie endlich ’mal die Trauer um Ihren ungetreuen Schatz ab – ja, ich kann’s Ihnen jetzt ja gestehen, ich wußte damals schließlich ganz gut, wie der Hase lief, aber ich drückte ein Auge zu, weil ich Sie und das Fräulein gleich gern, ja lieb hatte. – Daß sie – aus welchen Gründen, weiß ich nicht und ist mir auch ganz gleichgültig – damals Sie ließ und den andern nahm, das habe ich ihr nie verziehen, und es wird viel dazu gehören, daß ich’s thue. Aber, wissen Sie, wenn ich ein Mann gewesen wäre wie Sie, dann hätte ich mit der Faust auf den Tisch geschlagen und gesagt: ‚Basta, es giebt Mädel genug in der Welt!‘ Und ein Mann wie Sie, der hat eine an jedem Finger hängen, wenn er die Hand ausstreckt. Brauchen nicht zu glauben, daß ich für meine Frieda, die nun auch schon achtzehn Jahre alt ist, bei Ihnen Stimmung machen will, die ist denn doch ein bißchen zu jung und niedlich für solchen alten melancholischen Junggesellen!

Mit einem Wort: werden Sie nun ’mal wieder ein verständiger Mensch und machen Sie den Anfang dazu, indem Sie uns zum Erntefest heute über vierzehn Tage besuchen. Ich lasse schon Filzsocken vor Ihr Bett stellen, das ist ja ’was für alte Herren, und Sie dürfen sie den ganzen Tag bei uns im Zimmer tragen; bloß in den bekannten Milchkeller bringen Sie [752] sie nicht mit herein: da sollen Sie mit mir und meinen Töchtern und einer ganzen Menge niedlicher Mädchen und Frauen tanzen, die ich eigens für Sie und auf Sie einlade. Aber daß Sie mir nicht Nein sagen! Was denken Sie – ich will auch einmal etwas davon haben und damit renommiren können, daß ich einen wirklichen und wahrhaftigen Professor zum Freunde habe.“

Was blieb mir da übrig, als zu gehorchen. Und ihre Worte hatten mir das Herz erfrischt. Sie hatte recht. Ich fing an, mich auf die Reise in das traute, treue Haus zu freuen, und so fuhr ich denn an einem schönen, klaren Oktobertage nach reichlich acht Jahren wieder den altbekannten Weg. Ich kannte ja noch alles. Hier die Pflaumenbäume in der Allee waren wenig gewachsen; dort im Wassergraben lag noch der sonderbar geformte und durchlöcherte Stein, in den ich jedesmal beim Vorbeigehen meinen Stock gestoßen hatte. Nun fuhr ich durch den Tannenbusch – da lagen die Steine des Hünengrabes um den Hügel herum. Es war lichter unter den Tannen geworden, ich erkannte deutlich den Stein, auf dem wir an jenem köstlichen Tage unseres Glückes gesessen hatten; dort drüben, halb von dünnem Nebelschleier verhüllt, ragte mit seinen hohen Bäumen der Friedhof; und nun hob auch gerade die Glocke an, mit vollem tönenden Klang über die kahlen Felder zu läuten – aber ich hörte Frau Hedwigs mannhaftes – oder soll ich sagen: frauenhaftes – Wort: „Wenn ich ein Mann wäre, ich schlüge auf den Tisch mit der Faust: Basta!“ Und ich drückte den Hut in die Stirn. Ich wollte gesund werden. –

Nun fuhren wir auf den Hof – nun vor das Haus; da stand die ganze Familie, nur einer fehlte.

„Tausendmal willkommen!“ klang mir Frau Hedwigs frische Stimme entgegen; „na, Sie sehen ja noch ganz menschlich aus; nun kommen Sie nur schnell herein!“

Frau Hedwig war noch immer eine hübsche Frau und gesund an Leib und Seele; ein klein bißchen mehr Rundung hatte sie bekommen; die beiden Mädels waren allerliebst, und Lust und Leben in ihnen, aber den Schalk hatten sie im Nacken. Und der alte gute Geist wehte auch noch immer durchs Haus und packte mich, er wehte durch mein Herz und blies allen Moder hinaus – ja, ich konnte noch lachen, konnte mich noch herzlich freuen, wie ich da an dem alten lederbezogenen Sofa saß und Frau Hedwigs Hand in meiner hielt und sie mit ihren klaren grauen Augen mich ansah. Als die beiden Mädchen zu Bett gegangen waren – sie sagten dem „Onkel Professor“ ganz standesgemäß Gutenacht mit einem Knix, den sie jedenfalls nicht zu Hause gelernt hatten, aber einen Kuß wollten sie mir nicht geben; „Sie sind noch viel zu jung dazu!“ sagte Klara, die mit den braunen lachenden Augen – als die Mädel also zur Ruhe gegangen waren, da mischte mir Frau Hedwig noch eigenhändig ein duftendes, dampfendes Glas Grog, setzte sich wieder neben mich und sah mir ein Weilchen forschend in die Augen; dann sagte sie:

„Um Sie ist mir nicht angst; Sie werden noch einmal wieder ein ganz vernünftiger Mensch!“

Ich versuchte das Gespräch auf die alten Tage zu bringen, um etwas über Gertrud zu erfahren; aber Frau Hedwig lehnte sich zurück und sagte lustig:

„Ach was, lassen Sie nun endlich die Todten ruhen! Ich weiß überhaupt so gut wie nichts; sollen ja ganz glücklich leben und haben zwei prächtige kleine Buben; er trinkt zuweilen etwas über den Durst, ist aber sonst gar nicht so übel, Sie wissen ja, daß ich immer ein bißchen für ihn geschwärmt habe. So, nun zu etwas anderem!“

Frau Hedwig, du warst eine kluge Frau und wußtest, wie solche Kranke zu behandeln sind. Als ich mich am selbigen Abend zu Bett legte, da war mir gar leicht und wohl ums Herz, wie seit Jahren nicht mehr.

Und von Tag zu Tag ward’s mir noch leichter. Aber wie wurde auch für mich gesorgt! Es war herrlich, wie man alles bedachte, was mir wohlthun konnte. Die Mädchen waren prächtig. Fast täglich ritt ich mit ihnen aus – der Wohlstand auf Wulfshagen hatte zugenommen. Die trefflichen Hannoveraner, die Wagenpferde, gingen gut unterm Sattel, und für mich war ein flotter Gänger zum Reiten vorhanden.

So ritten wir eines Morgens vergnügt und guter Dinge dahin auf dem Wege nach Mittelstein, wo die Herrschaften verreist waren. Aber vom Berge kam uns ein Vierspänner im schlanken Trabe entgegen. Ich deutete darauf hin: „Wer ist denn das?“ fragte ich.

Da warf Frieda plötzlich ihr Pferd herum. „Ein Hase, ein Hase!“ rief sie mit heller Stimme; „den hetzen wir ein bißchen!“ – und hin stürmte sie, wir ihr nach. Der Wagen fuhr hinter uns zu Thal, und Meister Lampe verschwand in einem tiefen Wassergraben. Wir hielten die Pferde an.

„Eingegangen!“ lachte Klara; „ein andermal!“

Vergnügt ritten wir auf weitem Umwege nach Hause.

Und der große Tag des Erntefestes kam. Einst alles wie heute, heute alles wie einst! Und doch war’s um so viel anders, als ich älter geworden war, als aus zwei kleinen niedlichen Mädchen, die damals einem überall unter die Füße kamen hier im Milchkeller, zwei allerliebste vollberechtigte Tänzerinnen geworden waren, mit denen man vorzüglich walzte.

Ich hatte Klara eben losgelassen und stand neben ihr seitwärts von den tutenden und quietschenden Musikanten; da fiel mir wieder die „Wacht am Rhein“ ein. Schnell warf ich dem alten Weber Schmidt einen Thaler zu. „Wie damals!“ rief ich. Er nickte verständnißinnig mit aufgeblasenen Backen über seinem Klapphorn. Kaum war die kurze Pause um, da hub die Melodie an: „Es braust ein Ruf wie Donnerhall“.

„Wollen wir ’mal?“ sagte ich lustig zu Frieda – da wurde meine Schulter leicht berührt. Ich fuhr herum – Frau Hedwigs Hand war es, sie lag noch auf meinem Arm. Mit eigenthümlichem Ausdruck ruhte ihr Blick auf mir.

„Herr Professor – zwei alte Bekannte!“

Ich wandte mich um; „wie Schwertgeklirr und Wogenprall“ stürmte es plötzlich auf mich ein: vor mir stand Gertrud neben ihrem Manne, schön, stattlich, etwas frauenhaft – aber jetzt blaß wie der Kalk an der Wand.

„Na, das ist schön, daß Sie uns hier ’mal wieder besucht haben!“ rief Sternhagen gemüthlich und reichte mir die Hand; „wir sind auch herübergekommen von Kleinwulkow, um mit unseren Leuten auf Finkenfelde übermorgen einen Erntetrunk zu thun, und da hat uns Ihre liebenswürdige Wirthin auf heute eingeladen; famose Ueberraschung! Meine Frau kennen Sie doch noch?“

Ja, ich kannte sie. Nun reichte auch sie mir die Hand.

„Ja, wir kennen uns!“ sagte sie leise. Das waren dieselben Augen, derselbe Mund, nur ein Zug wie von wehmüthiger Ergebung lag um ihn, und die Lippen waren fester geschlossen als einst. Kühl lag ihre Hand in meiner, die kleine, mir einst so unsäglich liebe Hand.

Aber in mir bäumte sich plötzlich etwas auf. War’s Trotz, Stolz, oder das Gefühl vergangener Qual um diese Frau? Ich richtete mich hoch und kalt auf und ließ ihre Hand los.

„Gnädige Frau, ich bin glücklich, Sie wieder zu sehen!“ – mehr konnte ich nicht sagen. Da trat Frieda neben mich und stieß mich ein klein wenig an. Schnell verneigte ich mich. „Verzeihung – ich bin gleich wieder bei Ihnen!“

Ich sah, wie ihr das Blut in die Wangen schoß, und etwas wie trotzige Freude durchzuckte mich. Den Arm um Frieda legend, tanzte ich mit ihr hin.

„Bitte, halten Sie mich nicht so furchtbar fest,“ bat das Mädchen; „ich kann ja gar keine Luft bekommen!“

In mir stürmte es; unvermuthet war meine Seele aufgerührt worden bis auf den tiefsten Grund; wie gellender Hohn schallte die Musik in meinen auflodernden Schmerz hinein.

„So geht’s schön!“ sagte Frieda, „Sie tanzen famos, aber sehen Sie doch nicht so bös aus; mögen Sie nicht mit mir tanzen und war’s Ihnen unlieb, daß ich Sie ein bißchen mahnte?“

Ich faßte sie wieder fester. „Nein, Frieda, ich tanze riesig gern mit Ihnen!“

Was für ein dummer Gedanke zuckte mir plötzlich durchs Gehirn? Warm und weich und schmiegsam ruhte das hübsche, frische Kind in meinem Arm – war ich denn wirklich zu alt? Nein – vierunddreißig Jahre ist doch noch nicht alt – da verhallte quietschend der letzte Takt der „Wacht am Rhein“, und ich setzte mich mit Frieda in eine Ecke auf die harte Holzbank. Sie war eigentlich sehr hübsch, ein blühendes, lebenskräftiges Mädchen von gutem Stamme – ein bißchen übermüthig frei – ich sah sie an; ein kleiner, niedlicher Seitenblick streifte mich; ich sah nicht hinauf nach der Gruppe an der Thür, wo die schlanke Frau im kirschrothen Kleide stand, ich redete auf Frieda ein, die mit munterem Geist Antwort gab. „Nein, es ist doch zu nett, daß Sie gekommen sind,“ sagte sie, „Ihnen werden noch oft die Ohren klingen, wenn Sie wieder fort sind und hier wieder alles [754] still und einsam im Schnee liegt! Aber kommen Sie!“ – sie sprang auf – „ich bin so schrecklich durstig!“

Ich gab ihr den Arm. Wir mußten an der Gruppe neben der Thür vorbei, wo Gertrud angelehnt stand mit müdem Gesicht. Sie sah mich nicht an. Aber sie athmete heftig. Das sah ich.

Da gellte ein schriller Trompetenstoß durch den Keller: „Damenwahl!“ – Und plötzlich, wie ich an ihr vorbeiging, drehte die junge Frau sich um und wandte sich gegen mich.

„Herr Professor,“ sagte sie gepreßt, mit sichtlicher Anstrengung, „darf ich Sie bitten – –“ Ihr Auge blickte geisterhaft kalt, aber ihr Mund versuchte zu lächeln.

Und wenn neben mir der Blitz eingeschlagen hätte – es hätte mich nicht so erschüttert wie dies Wort, aber auch nicht so geblendet, und es hätte nicht so gezündet: aus der Asche mächtig lohend brannte die Flamme auf! Mein Arm lag um ihre Hüfte. Was sollte das? Was sollte das werden? Hin wirbelten wir wie einst, hinein in den drängenden Haufen. – „Frau Gertrud!“ sagte ich leise. Sie sah mit gebrochenem Blick zu mir auf – sie war noch blässer geworden. Droben schmetterte das Horn gräulich falsche Töne und die Violine weinte kreischend im rasenden Tempo – „Juch! – Juch!“ schallte es um uns, Stiefel trampelten, Schuhe scharrten – immer ging’s im tollen Wirbel rundum; – „lassen Sie mich, – ich kann nicht mehr!“ flüsterte sie – sie wankte; ich drängte hinaus aus der quirlenden Menge und zog sie nieder auf die Holzbank, dann ließ ich sie los. Sie sagte kein Wort und lehnte das schöne, bleiche Gesicht zurück, den Kopf an die Wand stützend. Sie holte schwer Athem. Ihre Hand lag auf der Bank; ich legte meine Hand auf die ihre; aber sie entzog sie mir langsam.

„Mein Mann wird Sie einladen,“ sagte sie leise und abgebrochen – „werden Sie kommen?“

„Laden auch Sie mich?“

„Ja – Sie sollten kommen!“

„Wußten Sie, daß ich hier war?“

Sie nickte. „Ich habe Sie mit den Mädchen reiten sehen, als wir ankamen. Wir wären auch ohne Einladung gekommen; ich!

„Gertrud!“ kam es flüsternd in wahnsinnigem Herzensjubel über meine Lippen. Um uns toste der Tanz, eine lebendige Mauer vor uns aufbauend in dem engen Raum.

Da hob sie das Haupt und sah mich an wie im zornigen Schmerz und schüttelte ernst den Kopf.

Dann kommen Sie nicht,“ sagte sie und stand auf. Ich stand neben ihr. Heiß ging mein Athem.

„Darf ich?“ fragte ich. Sie sah zu Boden.

„Ja! Sie sollen meine lieben, prächtigen beiden Kinder kennen lernen – und – ich – ich will, ich muß eine Stunde mit Ihnen sprechen!“ Aus großen tiefernsten Augen sah sie mich an. Da hatte ich mich wiedergefunden. Die Musik brach ab; ich reichte Gertrud den Arm, sie legte ihren hinein. So führte ich sie ihrem Manne zu.

„Kommen Sie!“ rief er, „wir wollen einen Schoppen zusammen trinken!“ Er faßte mich unter und zog mich den Gang entlang. Hinter uns her hörte ich ein leises, wie warnendes „Oskar!“

Ich stieß mit ihm an und sah ihm ins Gesicht. Er war nicht schöner geworden; sein Gesicht war etwas aufgedunsen und geröthet. „Er trinkt zuweilen etwas über den Durst!“ hatte Frau Hedwig gesagt. Aber wie ging es nur zu? Ich spürte nichts von Haß in mir; mein Herz schlug plötzlich ruhig, die wirren, stürmenden Gedanken meiner Seele hatten sich geglättet. Gertrud hatte mit zarter, fester Hand die alte, kaum vernarbte und jetzt frisch aufgebrochene Wunde verbunden. Ich fühlte etwas von stolzer Kraft in mir aufleben in dem Gedanken, daß sie sich selbst in meinen Schutz gestellt hatte. Ich wußte es, daß sie ferner wie ein heller Stern über meinem Leben stehen würde – aber: „die Sterne, die begehrt man nicht!“

Ich hob meinen Humpen. „Auf das Glück Ihres Hauses!“ rief ich Sternhagen zu und trank den Krug in tiefen Zügen leer; und es war ein ehrlicher Trunk; damals, vor Tisch.

Gertrud und Frau Hedwig kamen herein und setzten sich zu uns. Frau Erhard sah sehr vergnügt aus. „So, nun geben Sie uns auch ein Glas Bier!“ rief sie. Ich griff hinter mich nach den Gläsern.

„Darf ich das Amt der Schänkin einmal wieder übernehmen?“ fragte Gertrud, „ich habe es früher hier gethan an den Erntefesten. Bitte, Herr Professor, tauschen wir den Platz!“

Das Zimmer füllte sich mit jüngeren und älteren Herren und Damen aus der Nachbarschaft; das Gespräch wurde immer lauter und belebter, und Gertrud, deren Wangen jetzt glühten, hatte genug zu thun. Sie wies lachend alle Hilfe ab. „Ich will’s aber!“ sagte sie – „oder schmeckt’s Ihnen nicht, wenn ich Ihnen den Krug fülle? Wenn Sie mich durchaus belohnen wollen, Herr Inspektor, dann ersetzen Sie mir die Rose, die ich im Wagen verloren habe auf Ihren schlechten Wegen; blüht Ihr dunkelrother Hochstamm noch immer so schön, der hier früher neben der Veranda stand?“

Statt aller Antwort stürzte der junge Mann fort, das Verlangen der schönen Frau eiligst zu erfüllen. Tiefe ahnungsvolle Freude durchzitterte mein Herz. Gertrud nahm die Rose mit flüchtigem Dank in Empfang und steckte sie lose an die Brust.

„Herr Professor, ist das Ihr Krug?“ Ich reichte ihn ihr und wagte nicht, ihr in die Augen zu sehen.

Es lag ein gedämpfter Strahl des alten süßen Lichtes in ihren Augen, als sie mir den Krug reichte. Wir hatten beide nicht vergessen! –

Frau Hedwig saß bei aller Heiterkeit still beobachtend da. Als mein Blick dem ihren begegnete, hob sie scherzend ihr Glas. „Wie hieß doch damals Ihre Giftpflanze? Ob sie wohl ganz ausgerottet ist? Ich hoffe es; man muß nichts Ungesundes im Leben dulden!“ Sie nickte mir über den Rand des Glases mit den Augen zu.

„Aber nun tanzen die Herrschaften gefälligst!“ rief sie schnell aufstehend.

Ich bot Gertrud den Arm. Sie schüttelte mit sanftem Blick den Kopf. „Ich tanze heut’ nicht mehr; es bekommt mir nicht; ich muß mich frisch halten für übermorgen; dann wieder, wenn Sie wollen.“

Köstliche Verheißung! –

Wir gingen zum Abendessen. Ich mußte Gertrud führen. Frau Hedwig war ein kühner und energischer Arzt. „Führen Sie nur Ihren alten Schatz!“ lachte sie, als ich ihr kurz vorher auf dem Gang begegnete, „es geht ja ganz gut mit Ihnen beiden; ich nehme Ihren dicken Feind, meinen Liebling. Nicht wahr, ich habe recht,“ fügte sie, sich nochmals zu mir wendend, hinzu; „dem Feind und dem Geschick die Zähne weisen ist besser, als sich hinter Büchergestellen und Pflanzensammlungen vor ihm verschanzen und mit ihm Versteck spielen im Dunkeln?“

Aber wie ich dann am Tisch neben ihr saß, da kam mir das Wagestück doch mit einem Male furchtbar gefährlich vor. In vornehmer, liebenswürdiger Ruhe fand sich Gertrud in ihre Rolle, mir aber fuhr der Gedanke durchs Herz: „Was wird nachher aus dir, wenn du wieder von ihr ziehst?“

Sternhagen hob sein Glas mit blitzendem, goldigem Wein gegen mich. „Sie machen uns die Freude, unser Gast zu sein übermorgen; und dann bleiben Sie ein paar Tage bei uns, nicht wahr? Frau Erhard erlaubt es!“

Es ging nicht – es ging nicht! Es war Wahnsinn und Frevel. Besser heute scheiden, als alles aufs Spiel setzen. All’ die gräßlichen Entweder und Oder; das sündige Locken meines Herzens; das Blut, das brausend hinter der Schleuse des Willens tobte; das Gewissen, das mahnend warnte mit leiser Stimme – das alles drängte sich zusammen in diesen einen Augenblick, in dem ich mein Glas faßte.

„Ich kann wirklich nicht!“ wollte ich antworten; da fiel mein Blick auf Gertrud, die scheinbar theilnahmlos dabei saß. Sie hielt ihr Messer wie im unbeabsichtigten Spiel aufrecht – „Ich komme!“ rief ich, und mein Glas flog gegen seines, daß es in seiner Hand zersplitterte und der goldige Wein auf den Tisch floß.

„Gut gemeint!“ rief er; „Frau, stoß mit an für mich!“

Leise klirrten die grünen Kelche zusammen. „Sie sind uns herzlich willkommen!“ sagte sie freundlich.

Frau Hedwig, Frau Hedwig, heißt das löschen, wenn man Hobelspäne ins Feuer wirft? Ich fühlte es, es war doch nur eine falsche Ruhe, die über mich gekommen war. Ja, wäre ich vor einer Stunde in die Nacht hinausgegangen – ja, wer weiß! Aber mit jedem Tropfen Wein, den ich trank, goß ich mir neues Feuer ins Blut, wurde mein Auge geschärft für Gertruds berückenden Liebreiz, tauchte neues und immer begehrlicheres Erinnern aus der Reihe der alten Tage in mir auf. Alle Saiten meines Herzens waren gespannt, alle Gedanken, alle Sinne geweckt – hätte sie mir damals zugeflüstert: „Fliehen wir!“ – ich würde sie in die Arme genommen und die ganze Welt dafür herausgefordert [755] haben! Was war der armselige Händedruck nach Tisch, während ich sie hätte an meine Brust reißen und in meinen Armen ersticken mögen – und nun: „Gesegnete Mahlzeit!“

„Famoser Kerl!“ sagte Sternhagen und zerarbeitete meine Hand. „Kommen Sie, wir trinken noch eine Flasche von dem guten Rauenthaler zusammen, ehe ich fahre; meine Frau klagt über Kopfschmerzen. Ist reizend von Ihnen, daß Sie die kleine Eifersüchtelei vergessen haben, die damals zwischen uns spielte; ich hab’ damals gewonnen – Sie hätten’s ja auch können – einerlei, was kann das schlechte Leben helfen! Prosit, Professorchen, die Weiber sollen leben!“

Widerwillig stieß ich langsam mit ihm an. Da hob ich das Auge, wie von einem geheimen Bann getrieben; nein, nicht auf seinem immer röther erglühenden Gesicht konnte mein Blick ruhen, mit magnetischer Gewalt zog es ihn hin, dort in die Ecke, wo der Spiegel hing – da sah ich ein Bild: Gertrud, im halbdunklen Nebenzimmer am Tisch sitzend; nur ein schräger Schein seinen Lampenlichtes fiel auf ihren Scheitel, wie sie, die gerungenen Hände vor sich über den Tisch gestreckt, gesenkten Angesichts starr vor sich hinschaute, unbeweglich. Da wallte mein Herz auf in stolzem Jubel und Jauchzen: du blöder, trunkener Narr du, meinst du, sie sei um dich solch Bild der Seelennoth? Meinst du, du habest theil an dem herrlichen Gebilde, das du mit roher Faust in dein Haus geschleppt hast? Ich weiß es besser: ihre Seele ist bei mir, ist mein, und du, du lebst von Almosen – ja, nicht einmal das, denn Almosen spendet das Erbarmen, und Erbarmen kommt aus liebendem, theilnehmendem Herzen: du solltest nur sehen, wie sie reich machen kann, wenn sie die Hände aufthut und ihr Blick in Gluth aufflammt! – –

Sie fuhren ab. Sternhagen führte selbst die Zügel.

„Willst Du Siegbert nicht fahren lassen?“ bat sie leise beim Aufsteigen.

„Ach was!“ fuhr er sie rauh an. „Prr!“ Die jungen, feurigen Pferde stampften unruhig vor dem Wagen. „Also auf übermorgen, Herr Professor!“ rief er. Sie neigte dazu das Haupt in dem weißen Baschlik; das Licht vom Flur fiel auf ihr Gesicht; ein bittender Blick, ein Blick voll Trauer traf mich – da zogen die Pferde hastig an und Wagen und Menschen verschwanden im Dunkel.

Als alle Gäste fort waren, saß ich noch mit Frau Hedwig allein am Tisch.

„Habe ich nicht recht,“ sagte sie und verschränkte behaglich die Arme unter der Brust, „daß das Leben selbst alle seine Schäden heilt? Hier, nehmen Sie noch ein wenig kalten Braten, und dann zu Bett!“

Die beiden Mädchen kamen, Gutenacht zu sagen. Sie sahen bildhübsch aus in der Erregung des Abends und ihre glänzenden Augen lachten mich an. Aber mein Herz empfand nichts davon. Was gingen mich alle Frauen und Mädchen der Welt an? Uebermorgen! Nein, morgen! – Und hätte es mein Leben gekostet, ich wäre hinübergefahren! –

Ein Erntefest wie das andere, auch auf Finkenfelde! Gertrud war eine reizende, gehaltene Wirthin, die mit Blick und Lächeln die rauhe Schar in Schranken hielt, die sich von weit her an ihrem reichen Tisch gesammelt hatte. Mit warmem Händedrucke hatte sie mich bewillkommnet – in ihrem Hause! Mir lief’s doch kalt über den Rücken: – das hatte anderswo stehen sollen! Aber auch ich war nur der zuvorkommend aufgenommene Gast, kein Blick, kein Wort deutete mehr an.

Es fand sich während des ganzen Nachmittags und Abends kein einziger Augenblick, an dem ich ein unbelauschtes Wort hätte mit Gertrud sprechen können. Auch nicht während des Tanzens; denn sie tanzte überhaupt nicht heute. „Verzeihen Sie,“ bat sie, als ich sie aufforderte, „wenn ich meine Zusage von neulich nicht halten kann; aber es würde mich tödten, wenn ich mit allen erschienenen Gästen tanzen wollte, und so darf ich’s mit keinem thun, will ich nicht all die anderen verletzen.“ Sie sagte es unbefangen und mit gleichgültiger Freundlichkeit. „Aber Sie tanzen recht viel? Nicht wahr?“ fügte sie mit herzlicherem Ton hinzu.

Ich hatte gar kein Verlangen danach; aber ich that’s, um mich zu betäuben in dem dumpfen Schmerzgefühl, unter dem ich litt, und um dem allmählich immer wüsteren Treiben zu entgehen, das sich im Herrenzimmer um Bierfaß und Bowle herum entwickelte. Sternhagen ermunterte seine willigen Gäste unaufhörlich, so daß schon bei Tisch eine recht laute Fröhlichkeit herrschte, in die ich nicht einstimmen konnte und mochte. Ich saß einsilbig neben meiner Nachbarin, und immer wieder irrte wein Blick hinüber, wo Gertrud unbewegten Angesichtes neben dem jungen Oberförster saß, der sie mit Artigkeiten überschüttete.

„Es war mir wirklich unmöglich, die Erlaubniß zu geben,“ hörte ich ihn betheuern, „Sie kennen die Unerbittlichkeit unseres Grafen in solchen Dingen!“

„Warum bist du gekommen? Warum hast du dich in diese hoffnungslose Qual hineingestürzt, noch tiefer, als du schon drin warst?“ fragte ich mich.

„Prosit, Professorchen!“ schrie Sternhagen über die Länge der Tafel mir zu; „Sie sind heute gar nicht recht auf dem Damm, was fehlt Ihnen? Trinken Sie ’mal einen festen Schluck!“

Wieder flog, während ich ihm Bescheid that, mein Blick hinüber zu Gertrud, und heißer als die Gluth des Weines durchströmte mich das Gefühl des Glücks, als ich sah, wie sie die Augen voll aufschlug und, mich anschauend, ihr Glas an die Lippen führte. Hätte ich nur lesen können, welche Bitte in diesem Blick lag! Denn eine Bitte war darin verborgen, das fühlte ich. Und während ich wieder hinüberschaute, verstand ich sie; sie sprach wieder in ihrer gemessen verbindlichen Weise mit ihrem Nachbar, aber ließ dabei auf ihrem feinen Finger das Obstmesser balancieren. „Nein!“ hieß das. Jetzt also: „Sieh mich nicht an!“ Neues Leben rann mir durch die Adern: ich stand wieder in geistiger Verbindung mit ihr. –

„Na, der Sternhagen, der trinkt sich heute noch sternhagelvoll!“ bemerkte ein Nachbarspächter ziemlich laut, so daß ich’s hören konnte. Er glühte allerdings wie ein illuminirter Kürbis. Tiefes Erbarmen zog durch mein Herz. Arme, arme Gertrud!

Mir flog ein Schauder über den Rücken, als ich zusehen mußte, wie der trunkene Sternhagen nach Tisch mit roher Zärtlichkeit Gertrud in die Arme zwängte und sie mit gräßlichem Behagen küßte; ihre Arme hingen schlaff herab; wie mochte es in ihrem Herzen aussehen!

Als die letzten Gäste fortgefahren waren, schob er, unsicher auftretend und mit schwerer Zunge redend, seinen Arm unter den meinen und zog mich in sein Zimmer, wo Gertrud zurückgelehnt in dem Sofa saß und still in das Licht des Kronleuchters blickte.

„Nun wollen wir noch eine Flasche Sekt trinken, wir drei Niedlichen!“ schrie er mit Lachen – „zum Abgewöhnen, was, Professorchen?“ Und klatschend schlug er mich aufs Bein. Gertrud saß noch immer still und unbeweglich.

„Nein, nein!“ bat ich, „wir haben genug getrunken!“ Da sprang sie schnell auf. „Nein, mein Mann hat recht; wir wollen noch etwas Besonderes für uns haben!“ – und hinaus eilte sie.

Ich verstand das nicht.

Sie kam wieder und stellte selbst die Flasche und drei Kelchgläser auf das Rauchtischchen. Zu ihrem sonst so ruhigen Wesen stand in merkwürdigem Gegensatz die Hast, mit der sie die Gläser füllte und herumreichte. Sie klangen mit bleiernem Ton zusammen. Sternhagen goß mit einem Zuge den süßen Trank hinunter.

„Pfui Teufel! Das reine Spülwasser!“ rief er und schüttelte sich. – „Selbst holen, Du findest die rechte Sorte nicht –“ mit diesen Worten wies er Gertrud ab und ging schweren, unsicheren Schrittes hinaus.

Sie lehnte wieder zurück; ihre Hand spielte mit der Quaste.

„Sind Sie sehr müde?“ fragte sie.

„Nein, gar nicht! Aber Sie –?“

„Ich bliebe noch gern stundenlang auf – ich kann doch nicht schlafen!“ Sie sprach es in gedämpftem, müdem Ton, in gleichmäßigem Silbenfall.

Da tönte im dunklen Nebenzimmer ein Poltern, ein Fluch und ein Fall.

Wie der Blitz sprang Gertrud auf; mir abwinkend, eilte sie hinein in das Nebengemach und schlug die Thür hinter sich zu. Ich stand in tödlicher Verlegenheit da. Ich hörte Gertruds leise beschwichtigende Stimme, dazwischen grobe, abgebrochene Töne, bittendes Sprechen, dann das Oeffnen einer Thür und verhallende taumelnde Schritte. –

Nach kurzer Weile trat Gertrud wieder ein mit gelassenem Gesichtsausdruck. „Mein Mann läßt sich entschuldigen!“ sagte sie ruhig, ohne irgend einen Versuch der Erklärung. Sie füllte mein Glas, ließ sich wieder auf das Sosa nieder und sah hinauf ins Licht, das ihr Angesicht, das ernste, weiche, wunderschöne Frauenantlitz, röthlich übergoß.

[767]
Gertrud und ich waren allein. Sie holte schwer Athem. Ich war wie gebannt. Ich wußte, was jetzt kam.

„Lassen wir den Schleier fallen!“ begann sie mit leisem Ton; „es ist mein heißester Wunsch gewesen, daß diese Stunde kommen möchte in meinem Leben. Ich konnte mit der ungesühnten, unverziehenen Schuld gegen Sie nicht leben und hätte nicht sterben können.“

Sie hielt inne. „Tick – tack, tick – tack“, ging langsam die große Wanduhr.

„Ich habe furchtbare Zeiten der Herzensqual durchgemacht,“ fuhr sie fort, „und ich begreife es noch nicht, daß ich das alles überlebt habe. Ich brauche auf alles nicht einzugehen, nur eins muß ich erwähnen, daß Sternhagen schon an dem Nachmittage, an dem Sie hier im Garten die Giftpflanze zeichneten, um mich angehalten hat.“

Ich fuhr auf.

„Ruhig!“ bat sie, ohne Blick und Haltung zu ändern; „hören Sie mich still an, lieber Freund!“

Ich stützte den Kopf in die Hand und sah in den Champagnerkelch hinein, wie da die Schaumperlchen, eines nach dem andern, sich ablösten und dann schnell nach oben stiegen.

„Sie sollen alles wissen. Die Stunde, die uns jetzt geboten ist, kommt nie wieder, und sie muß über zwei Menschenleben beruhigendes Licht breiten. Mir soll sie etwas Frieden bringen, und Ihnen, daß Sie mich nicht hassen und nicht – lieben! Beides ist mir zu schwer!“

Sie senkte das Haupt, aber bald hob sie es entschlossen wieder, und fortan sah sie mich an und ich sie. So, Blick in Blick gesenkt, saßen wir, nur durch das Tischchen getrennt, uns gegenüber. Schaurig süße Stunde! Draußen war’s Nacht, dunkle, tiefe, einsame Herbstnacht.

„Wir gingen auseinander damals unterm Glockenstuhl,“ fuhr sie fort, „und meine Hoffnung – waren Sie! Sie sollen’s, Sie müssen’s mir glauben“ – ihre Stimme nahm tieferen Klang an – „ich habe Sie aus allen Kräften meiner jungen leidenschaftlichen Seele geliebt! – Glauben Sie das?“ fragte sie wie in großer Herzensangst und neigte sich ein wenig vor.

Ich nickte. Ich konnte nichts sagen.

„Und Sie fragen, wie ein Mädchen, deren Herz und Leben so gefangen ist, dem Manne, den sie liebt, untreu werden kann; ohne ein Wort des Abschieds sich von ihm abwenden und zu einem anderen Ja sagen kann, ohne vor Scham und Schande und unendlichem Herzensjammer vor dem Altar zusammenzubrechen? Wie aber, wenn dies Mädchen Mächten unterthan ist, denen sie willenlos gehorchen muß, wenn sie über Scham und Schande und Jammer den Mantel breiten kann, daß sie einem Gottesgebot gehorcht hat, gehorchen mußte, ob sie dabei auch hätte aufkreischen und aufschreien mögen, wie die gefolterten Weiber, wenn ihnen die Gelenke zerbrochen wurden?

Sie wissen, wie es bei mir zu Hause stand. Mein Vater in hochgradiger Weise nervenkrank – er wurde später vollständig irr, an Größenwahn, ein halbes Jahr, ehe er starb – und die Verhältnisse so trostlos, daß der Zusammenbruch unvermeidlich schien! Ich war in den Osterferien zu Hause. Da wurde in all den Jammer hinein eine Hypothek auf unser Häuschen gekündigt: der Ruin war gekommen! Da, an demselben Tage, an dem die Forderung fällig war, kam ein Brief von Sternhagen an meinen Vater, – wie manchen von demselben Absender an mich gerichteten Brief hatte ich von Wulfshagen aus zurückgeschickt! – Und jetzt kam freudestrahlend, zitternd vor Glück der Vater auf meine Stube gestürzt, und die Mutter weinend hinterher. ‚Rettung, Rettung!‘ schrie der alte Mann; ‚Mädchen, Du bist uns zum Segen ins Haus geboren; hier, lies!‘ Ich gab ihm den Brief zurück, bebenden Herzens. ‚Ich kann nicht, will nicht!‘ rief ich, ‚ich bin verlobt!‘“

Ihre Wangen glühten, ihre Hand legte sich auf meine – ihr Gesicht war nah vor meinen Augen.

„Da,“ sprach sie weiter, und es lief ein fröstelndes Zittern durch ihre Hand, „da lag der alte Mann vor mir auf den Knieen und weinte wie ein Kind. ‚Gertrud, Gertrud, rette mich! Um Gottes Barmherzigkeit willen – er ist reich, sehr reich – er kann, er wird uns alle, alle aus der schrecklichen Noth erlösen! Soll ich betteln gehen mit grauen Haaren?‘ Und dahinter stand die Mutter, die gerungenen Hände zu mir aufgehoben, mit ihrem thränenüberströmten abgehärmten Gesicht. Und der Vater umfaßte meine Kniee. ‚Gertrud,‘ rief er, ‚Du bist nicht verlobt, ich habe meine Einwilligung nicht gegeben, zum Glück nicht gegeben; Du bist frei! Oder willst Du über die Leiber von Vater und Mutter weg in Dein neues Haus einziehen – dann thu’s –!‘ Er schluchzte – Konrad, sag mir, verdammst Du mich, daß ich ihn aufhob und ihn küßte und ihn rettete vom Untergang?“

Ich hatte meine andere Hand über die ihre gelegt. Auge brannte in Auge.

[768] „Meine Welt war zerschlagen!“ fuhr sie fort. „Aber ärger war mir der Gedanke an Dich, an Deine Qual!“

Sie wußte es nicht, daß sie „Du“ sagte, und ich hörte es nicht.

„Ich wollte, ich konnte nicht schreiben, das ging über meine Kraft; dem, den meine Seele liebte, jetzt noch heißer, glühender – dem selbst den Dolch ins Herz stoßen – das war nicht möglich! Nicht wahr, Konrad? – Da ließ ich dem gräßlichen Geschick seinen Lauf und schloß die Augen vor all’ dem Entsetzlichen hüben und drüben, wie man die Augen wohl zumacht in verstummender Qual, wenn man sein Liebstes in den Abgrund stürzen sieht, ohne es retten zu können.“

Sie sah eine kurze Zeit still vor sich nieder; ich hörte ihre und meine Athemzüge.

„Alles andere hat keine Bedeutung,“ hub sie wieder an; „ich bin ehrlich gewesen ihm gegenüber, ich habe ihm gesagt, was ich ihm nicht mit in die Ehe brächte: keine Liebe, keine Spur; daß ich das Andenken an einen anderen ihm als Mitgift brächte – er lachte darüber. ‚Findet sich alles!‘ mochten seine Gedanken sein. – Es hat sich nicht gefunden!“ sagte sie mit vollem Augenaufschlag; „aber wie Gott mir die beiden Kinder in den Arm legte, von der Stunde an habe ich ihn als den Vater meiner Trostbringer angesehen und bin ihm eine ehrliche Frau gewesen – und –“ sie sah mir ernst ins Gesicht, vornüber geneigt – „und will es bleiben!“

„Und was wird aus mir? Sie haben mich einen Blick in mein verlorenes Paradies thun lassen – was bleibt mir davon, als unendliches Sehnen?“ fragte ich und faßte ihre Hand fester.

„Dasselbe, was mir bleibt von dieser Stunde: das Gefühl, daß wir unser Herz bezwungen haben! Nun bitte ich Sie um eines: morgen noch bleiben Sie bei uns; ja? und fahren mit uns nach Breitenfelde; wir sind eingeladen zu einer Geburtstagsfeier. Wir wollen noch einen Tag lang beisammen sein als die, welche sich in Frieden gefunden haben; aber dann reisen Sie! Wir wollen unsere Kraft nicht gar zu sehr auf die Probe stellen!“

Es lag ein schmerzliches Lächeln um ihren Mund. „Ich habe Sie gar zu tief in meine Seele schauen lassen müssen. Und eben darum gehen Sie von mir und kommen Sie nicht wieder! Ihr Wort darauf!“

Sie reichte mir auch die andere Hand und stand auf. Langsam, wie in schmerzlicher Andacht, zog ich erst ihre rechte, dann ihre linke Hand an meine Lippen und ich fühlte den warmen Druck ihrer Finger.

„Gertrud!“ rang es sich los aus meiner Seele, und – ich wußte kaum, was ich that – meine Arme breiteten sich nach ihr aus.

Sie wich einen Schritt zurück und sah mich mit unendlich traurigem Blick an, langsam den Kopf schüttelnd.

„Nein!“ sagte sie leise, „nein! Gute Nacht!“

Sie war gegangen. Das Feuer im Kamin brannte nieder, die Lichter flackerten verlöschend auf, und noch immer knieete ich auf dem Bärenfell, auf dem ihre Füße gestanden hatten, und hatte das Gesicht in die Kissen gedrückt, wo sie gesessen; so blieb ich, – lange, lange!


Es war spät am nächsten Morgen, als die Hausglocke zum Frühstück rief. Bei meinem Eintritt ins Speisezimmer stand Gertrud am Tisch und bereitete den Thee; mit aufgestütztem Kopf saß Sternhagen daneben. Sie grüßte mich mit einem Blick. „Kann Ihnen keine Hand geben!“ sagte sie lächelnd, aber es war ein müdes Lächeln. Um ihre Augen lag ein dunkler Kreis; er machte sie vielleicht noch schöner, aber er zeugte von einer durchwachten Nacht, und der Glanz ihres Blicks war verschleiert.

Stöhnend richtete Sternhagen sich auf und reichte mir nachlässig seine heiße Hand; er sah sehr schlecht aus. „Infamen Kater!“ knurrte er; „Skandal, daß ich so abfiel; haben sich wohl noch ganz gut unterhalten? Na, werd’ nur nicht so roth, Trude!“

Sie erglühte bis in die Haarwurzeln, aber sie richtete sich fest auf. „Ich bitte, Oskar!“ flüsterte sie; aber es lag ein Befehl darin.

„Na ja, meinetwegen!“ gab er zurück. „Wissen Sie ’was, Herr Professor, ich will Ihnen einen doppelten Rath geben: heirathen Sie nie und trinken Sie statt Thee jetzt ein Glas Sherry mit mir; bekommt Ihnen besser; oder haben Sie keinen Jammer? Sie sehen mir doch so’n bißchen bleich aus!“

Gertrud hatte schnellen Schrittes das Zimmer verlassen. Er warf ihr einen beinah feindseligen Blick nach. Ich kochte innerlich. Da kam ein schwerer Schritt näher, und der Verwalter trat ein.

„Nun? Was will Er?“ fuhr Sternhagen ihn an.

„Herr, ich wollte nur sagen, daß Siegbert heut’ nicht fahren kann; er ist krank!“

Sternhagen schlug mit der Faust auf den Tisch. „Was fehlt dem Kerl?“ schrie er; „faules Thier, will seinen Rausch ausschlafen; ’raus mit ihm aus dem Bett!“

„Nein, Herr, er sieht ganz bös aus. Sein Arm, der rechte, ist ganz dick und roth und steif, daß er ihn nicht rühren kann, und unter den Augen und im Gesicht hat er lauter Blasen.“

„Gut!“ schrie Sternhagen. – „geh’ Er an die Arbeit! – Muß nur ’mal hin; wollen Sie mit?“ fragte er. Mit einem Male schlug er sich vor die Stirn; sein Blick klärte sich etwas. „Das ist wieder ’was für Sie!“ rief er; „da spukt der verdammte Giftsumach wieder! Das Zeug muß wieder gewachsen sein!“

Gertrud war inzwischen wieder an die Theemaschine getreten und sah scheu zu ihrem Manne hinüber.

„Das ist ja die infame Wirthschaft hier zu Lande!“ polterte er und ließ sich wieder schwer in seinen Stuhl fallen; „erlaubt mir dieser hochnasige Bengel von Graf nicht einmal mehr, in seinem Wald Tannengrün für das Erntefest schlagen zu lassen, und Siegbert kommt vorgestern mit leerem Wagen zurück. Da hab’ ich ihn im Garten soviel schneiden lassen müssen, wie anging, und dabei ist der dumme Kerl wahrscheinlich über den Sumach mit seinen blanken Blättern gekommen. Hab’ mich nie wieder um das Zeug gekümmert. Nun haben wir den Salat!“

„Wir können ja auch zu Hause bleiben!“ sagte Gertrud sanft; „ich glaube, wir sind alle etwas angegriffen von gestern her.“

„Nein, wir fahren!“ schrie er unwirsch. „Der Professor und ich jedenfalls! Bleib’ Du zu Hause, wenn Du keine Lust hast! Ich kutschire selbst!“

„Ich werde mitfahren!“ sagte sie leise und reichte mir ohne aufzusehen die Tasse.

Mit dem Giftsumach hatte es seine Richtigkeit; hinter den Tannen bei der Kegelbahn, von denen Siegbert die Zweige geschnitten hatte, war unbeachtet aus den rankenden Wurzeln wieder allmählich eine ganze Kolonie des Giftstrauchs aufgewachsen, und der arme Kerl von Kutscher lag fiebernd in seinem schlechten Bett und war sehr krank.

Bald nach Tisch – die Laune des Hausherrn schien etwas besser geworden zu sein – sollten wir fahren. „Muß erst eine Stunde schlafen!“ sagte er kurz beim Aufstehen vom Mahl; „wollt Ihr nicht auch?“

„Ich kann ja nach Tisch nicht ruhen, es bekommt mir nicht,“ gab Gertrud zurück; „aber Sie, Herr Professor, Ihnen wird’s gut thun!“

„Es ist gegen meine Gewohnheit –“

„Na, dann vertreibt Euch die Zeit ein bißchen miteinander; um drei Uhr geht’s los; der Weg ist weit!“

Er ging.

Lange blieb es still zwischen uns. Gertrud blickte hinaus, wo der Herbstwind die Blätter von den Bäumen riß. Ich sah sie an, in Leid und Liebe versunken. Endlich öffnete sie die Lippen.

„Das ist eine Welt! Das ist deine Welt!“ sagte sie halblaut. Sie lehnte sich zurück und schloß die Augen. „Ich bin doch müde!“ flüsterte sie; „gehen Sie, Konrad!“

Ich stand auf und wandte mich nach der Thür. Da hörte ich wieder meinen Namen. „Geben Sie mir noch einmal Ihre Hände!“ sagte sie leise; „wir müssen Abschied nehmen jetzt –; aber kurz – für lange Zeit!“

Da knieete ich vor ihr und drückte ihre Hände an mein Gesicht. Sie lag noch immer mit geschlossenen Augen zurückgelehnt.

„Bin ich Ihnen noch nicht unglücklich genug?“ kam es kaum hörbar über ihre Lippen.

Ich richtete mich auf und ging; ihr Blick folgte mir – so nahmen wir Abschied!


Der leichte gelbe Jagdwagen hielt vor der Thür, mit zwei muthigen Apfelschimmeln bespannt, die ungarisches Geschirr trugen.

„Willst Du mit den unruhigen Thieren fahren?“ fragte Gertrud besorgt, als sie in die Hausthür trat.

[770] „Wie Du siehst; die Pferde müssen gerührt werden, sie werden mir ja sonst steif und lahm. Sie wissen, daß ich ihr Meister bin. Nun bitte, hinauf!“

Da kamen, in schwarzen Sammetkittelchen mit breiten, weißen Spitzenkragen, die beiden prächtigen kleinen Jungen Sternhagens angelaufen. „Papa, Du hast uns gar nicht Adieu gesagt!“ riefen sie schon von weitem.

Jetzt gefiel er mir wieder! Er bückte sich und nahm auf jeden Arm einen der Zwillinge. Sein ganzes Gesicht lachte. „Ja, ihr seid Kerlchen!“ sagte er glücklich; „nicht wahr, Herr Professor, ist das nicht ein Staat?“ Und er küßte die Kinder zärtlich.

Er reichte sie Gertrud. „Adieu, Mama, adieu, adieu!“ Mit mütterlichem Stolz blickte sie zurück auf die kleine Gesellschaft, die noch oben auf der Freitreppe stand und in einem fort rief und winkte, als der Wagen aus dem Hofthor bog.

Sternhagen hatte nicht zuviel gesagt; die Pferde fühlten wirklich ihren Meister. Stattlich und fest saß er da vor uns mit breitem Rücken, die Zügel machtvoll fassend und mit kräftiger Männerfaust die Hitze der edlen Thiere mäßigend und in seinem Dienst behaltend.

Wir fuhren über das herbstliche Feld, dem Walde zu.

„Hier ist mein Gebiet zu Ende, leider,“ sagte Gertruds Mann; „hier fängt der hochgräfliche Grund und Boden an. Da sollen Sie gleich ’mal ’was Hübsches sehen. Zunächst achten Sie auf den Weg; ist der nicht sehr schön geharkt an den Seiten?“

„Was soll das?“ fragte ich.

„Muß jeden Abend geeggt werden, damit am Morgen genau zu erkennen ist, wie viel und welche Sorten Wild ausgetreten sind. Er sieht’s nicht gern, wenn man hier fährt, kann’s aber nicht wehren! – Aber nun sehen Sie ’mal da vorne an der Wegkrümmung den Pfahl mit der Tafel, wofür halten Sie das?“

„Ein Wegweiser vielleicht?“

„Nein; ich will da halten; lesen Sie die Inschrift mit Andacht!“ Er hielt an der Biegung; die Pferde schäumten ins Gebiß und scharrten den Boden mit den Hufen auf. Ich las, was da mit weißen Buchstaben auf grünen Grund geschrieben oder vielmehr gemalt war: „Hier erlegte am 27. August 1885 Graf Eberhard von Aller eine grobe Bache.“

„Nicht wahr? Ein feines Monument!“ lachte Sternhagen und knallte über die Köpfe der Pferde weg, daß sie mit einem Satz anzogen und den ziemlich langen, steilen, holprigen Abhang im schlanken Trab hinaufliefen, als wär’s ebener Boden; „wenn einer halt weiß, daß andere ihm kein Denkmal setzen, dann muß er selbst dafür sorgen, so gut er’s versteht. Drinnen im Forst steht’s voll von solchen Dingern.“

„Der 27. August – das ist ja Dein Geburtstag!“ warf Gertrud ein.

„Stimmt!“ gab er lachend zurück; „in jeder Weise ein bedeutender Tag.“

Wir fuhren jetzt durch finsteren Hochwald mit großen starken Stämmen, aber wir fuhren still, ohne viel zu reden. Jedes von uns hatte genug zu thun mit seinen eigenen Gedanken.

Auf Breitenfelde wurden wir herzlich begrüßt und aufs gastlichste bewirthet. Nach Tisch näherte ich mich Gertrud. Sie hatte ein paar Mal in offenbarer Unruhe zu mir hinübergeblickt und mir über den Tisch hin das alte Signal gemacht: „Ich muß Dich sprechen!“ indem sie wie zufällig und in Gedanken Messer und Gabel kreuzweis vor sich hielt.

„Achten Sie auf meinen Mann,“ raunte sie mir zu, „daß er nicht zuviel trinkt!“

Ich setzte mich in Sternhagens Nähe. Er klopfte mir lachend auf die Schulter.

„Nun, Professorchen, hat meine Frau Sie vielleicht vertrauensvoll beauftragt, ein bißchen auf meinen Durst zu achten? Ich glaube beinahe! Seien Sie unbesorgt, den Weg finde ich mit verbundenen Augen; ich werde Sie nicht in den Graben werfen aus Bosheit. Prosit! Sie sind ein Prachtsprofessor und so etwas von einem kleinen Schwerenöther; aber mich lassen Sie nur gewähren!“

Was sollte ich machen? –

Einmal trat sie hinter seinen Stuhl und flüsterte ihm etwas zu. Er schüttelte ärgerlich den Kopf und traurig ging sie zurück.

Als wir zur Abfahrt bereit waren, da war er wieder ziemlich arg im Sturm.

„Bitte schnell aufzusteigen!“ rief er uns zu. Kaum daß ich Gertrud hinaufgeholfen hatte und selbst nachgesprungen war und noch ehe ich die Decken und das Schutzleder recht hatte über uns breiten können, ließ der Stallknecht die Köpfe der unruhigen Pferde los, und im selbigen Nu sprungen sie auch schon ins Geschirr und stoben galoppirend vom Hof. Mit einem Fluche riß Sternhagen sie zusammen, daß sie beide, hochsteigend an der Deichsel, ihren Lauf mäßigten.

„Wartet, ihr Racker, ich werde euch lehren!“ rief er ingrimmig mit zusammengebissenen Zähnen, holte hoch aus und legte ihnen mit sausendem Hieb die Peitsche zweimal über den Rücken, riesenkräftig sie dabei mit der Linken im Zügel haltend. Es war nicht sehr dunkel, soweit der Weg über freies Feld führte.

Gertrud hatte, als die Pferde stiegen, mit beiden Händen meinen Arm gefaßt – aber ich hörte keinen Ruf, keinen Ton von ihren Lippen. Jetzt ließ sie mich los, und der Hauch eines Seufzers streifte mein Gesicht. Wir fuhren weiter, sehr schnell; der Schein der Laternen huschte hin über die Hecken und Gräben und über die weißen Prellsteine am Wege – jetzt fiel er in eine Wasserlache, die quer über das ausgefahrene Geleise lief; das Handpferd drückte sich aufscheuend weit zur Seite gegen das Sattelpferd; wieder sauste die Peitsche nieder, zweimal, dreimal; in stürmendem Lauf rannten die Thiere vorwärts in die Nacht hinein. Lautlos hielt er mit beiden Händen die straffen Zügel – so ging’s in rasender Fahrt weiter. Gertrud saß vornübergeneigt; angstvoll umklammerten ihre kleinen, kalten Finger meine Hand; nun schlug das eine Pferd im Rennen hoch aus, daß ein Regen von Wasser und Koth über uns hinflog – wieder hob Sternhagen die Peitsche.

„Um Gotteswillen!“ rief Gertrud, „schlage sie nicht, Oskar!“

„Ich will euch lehren, euch aneinander klemmen und nach mir ausschlagen –“ klang es vom Vordersitz – und Hieb auf Hieb hagelte nieder auf die verstörten Pferde, und fort ging die wilde Jagd. Gertrud hatte sich zagend enger an mich gedrängt. „O der Wald, der Wald!“ hörte ich sie leise sagen; „es giebt ein Unglück!“

„Darf ich Ihnen helfen, die Zügel zu halten?“ fragte ich Sternhagen, mich vorbeugend.

„Danke schön!“ sagte er ingrimmig, ohne den Kopf zu wenden; „lassen Sie sich nicht stören!“ – und im Laternenschein tauchte Stamm um Stamm auf, eilig wieder hinter uns versinkend in Nacht. Da huschte etwas über den Weg – was war’s? vermuthlich ein Stück Wild – und kerzensteil stiegen die beiden nun vollständig wild gewordenen verhetzten Thiere –; mit einem kurzen harten Ruck hielt der Wagen – aufs neue sauste die Peitschenschnur durch wie Luft – furchtbar ausgreifend sprangen die Pferde wieder an, hoch ausschlagend; nun schlug das Sattelpferd über den Strang und toste so weiter, noch toller gemacht.

So näherten wir uns in fliegender Fahrt dem Abhang.

„Oskar, halte die Pferde an!“ schrie jetzt Gertrud gellend, in Todesangst zitternd.

„Ach was, anhalten!“ grollte er – „mehr wie ein Genick kann man nicht brechen!“

Aber ich sah doch, wie er mit aller Kraft seines Riesenleibes sich in die Zügel warf, die Leinen fassend, daß sie straff standen wie gespannte Drahtseile – nun fingen die Pferde an zu gehorchen – da – Herrgott, was war das? Plötzlich schoß er hintenüber, hart gegen die Rückenlehne des Vorderstuhls anprallend, und seine Hände fuhren umher in der Luft, der Wagen flog aufs neue im rasenden, ungehemmten Lauf in kurzen Stößen von links nach rechts, aus dem Rennen der Pferde wurde Carriere: die Zügel waren gerissen!

Sternhagen lachte kurz und hart auf. „Nun giebt’s Kleinholz!“ hörte ich ihn sagen. Dann saß er, die Arme verschränkt, unbeweglich auf seinem Sitze, und herren- und zügellos rasten die Thiere dem Thalweg zu.

Gertrud lag halbtodt vor Entsetzen in meinen Arm geschmiegt. Wir wußten es alle drei – jetzt mußte etwas Furchtbares kommen: das ganze Drama unseres Lebens mußte sich hier im letzten Akte auflösen – jetzt sausten wir bergab – hoch sprang der Wagen über die Steine, die im Geleise lagen, rasselnd, donnernd, klirrend ging es hinunter – vor uns wurde es licht, da lag die Landstraße – aber um die scharfe Biegung konnten wir nicht – ich neigte mich über Gertrud. „Adieu, Gertrud!“ flüsterte ich – sie hob das Gesicht zu mir auf – da – ein donnernder [771] Krach, ein Ruck, ein Knistern, Brechen, Prasseln, alles auf einmal – unter uns wich der feste Boden, wir flogen durch die Luft – noch hielt ich Gertrud im Arm – dann ein harter Fall; nachher war’s, als wären wir in feuchtem, tiefem Laub begraben. Neben uns ein wüster, verzweifelter Kampf von Pferdebeinen, die in Trümmern arbeiteten, und das stöhnende Keuchen der zu Fall gekommenen Thiere.

Ich hob halbbetäubt den Kopf; dicht neben mir brannte noch schwälend eine losgeschlagene Wagenlaterne; ich griff danach und leuchtete Gertrud ins Gesicht; neben mir lag sie im tiefen welken Laub des Grabens; die schützende Hülle war ihr von Kopf und Nacken geglitten, das schöne, blonde Haar lag in wirren Strähnen um ihr marmorbleiches, von welken Blättern fast bedecktes Gesicht – ich neigte mich in namenloser Angst zu ihrem Munde, athmete sie? Ich horchte lange: endlich – ja! und ihre Augenlider zuckten ein wenig – Gott sei Dank!

Ich schob den schmerzenden Arm unter ihren Kopf und hob die Laterne, um weiter um mich zu schauen. Da sah ich Sternhagen drei Schritt von mir auf dem Gesicht liegen, die Hände weit vorgestreckt, die Füße im Laub des Grabens; sein Kopf lag hart an der blutbespritzten scharfen Kante des Pfahls, der die Tafel trug: „Hier erlegte am 27. August 1885 Graf Eberhard von Aller eine grobe Bache“ – am Geburtstag des Hingestreckten. Hier hatte ein anderer Schütze jetzt in furchtbarer Stunde ein edler Wild erlegt! Sternhagen starb in derselben Nacht, ohne zur Besinnung gekommen zu sein. –

Ohne Thränen stand Gertrud mit mir an seinem Todtenbett. Seit dem Augenblick, da sie erwacht war aus schwerer Ohnmacht, hatte sie kein Wort zu mir gesprochen. Jetzt sank sie am Sterbelager in die Kniee und verhüllte das Gesicht mit den Händen. Ich ging. Und ehe noch der Tag graute, klopfte ich an im Pächterhause zu Wulfshagen.


Die Glocke auf dem Friedhof hatte ausgeläutet. Sie hing, noch summend, unter ihrem Schutzdach im Stuhl, und der Glockenstrang schwankte hin und her im Winde. Der Herr von Finkenfelde und Kleinwulkow war mit großen Ehren zur Ruhe bestattet worden. Alle Leidtragenden waren vom Kirchhof gegangen. Nur ein Wagen hielt noch vor der Pforte, die wir so oft hatten klirren hören in den Tagen der Seligkeit, Gertrud und ich. Nur eine schlanke, blonde, schöne Frau, in tiefe Trauer gehüllt, stand noch am Grabe und schaute stumm und starr hinab auf den Sarg, an der Hand zwei blondlockige kleine Jungen, die noch nichts vom Leid des Lebens wußten. Und unter der Glocke stand ein einzelner Mann mit verbundenem Arm: das war ich.

Sie hob das blasse, liebe Gesicht und sah mich. Da warf sie einen letzten Blick ins Grab und kam langsam mit den Kindern auf mich zu. Sie reichte mir mit traurigem Lächeln die Hand. „Wann reisen Sie?“

„Heute abend!“

„Dann geleite Sie Gott in Ihr Heim!“

Unsere Hände lagen fest ineinander; wir tauschten einen langen, stummen Blick.

„Darf ich Dir schreiben, Gertrud?“ fragte ich.

„Ja!“

„Willst Du mir antworten?“

„Ja, Konrad!“

„Leb’ wohl!“

.„Gott segne und behüte Dich!“


Es war wieder Herbst. Ein wunderschöner Sommer war vergangen und wir hatten uns fleißig geschrieben, ganze Hefte und Bücher; immer länger wurden unsere Briefe – und es wehte durch sie hin der duftige, herzstärkende Hauch unseres zweiten Liebesfrühlings. Sehr kurz war nur mein letzter Brief: „Gertrud, darf ich kommen?“ Noch kürzer ihre Antwort: „Ja!“

Da waren wir wieder verlobt, und ich hob in stummer, übermächtiger Freude die Hände. Ich stand am Fenster und sah hinaus von meiner hohen Warte über das Meer, das im rothen Abendglanz weinfarben funkelte – und ich nahm Abschied von ihm: der einsame Vogel, der sein Nest unters Dach gebaut hatte, weil’s ihm unten zu laut und zu eng war – jetzt zog er zu Thal, jetzt hob er die Schwingen: hin zu ihr!

Zum drittenmal fuhr ich die altbekannte Straße entlang. Aber diesmal war der Herbsttag am stillsten, die Luft am duftigsten, die Sonne am hellsten!

Neben mir lag ein großer, prächtiger Todtenkranz – für Sternhagens Grab. Ich ließ den Wagen auf der Brücke am Grenzbach halten und wanderte langsam in Gedanken den schmalen Weg hinauf zum Friedhofshügel. Ich hatte nicht geschrieben, wann ich kommen würde. Wozu? Sie wartete mein – das war genug! Klirrend und kreischend ging die Thür; ich wanderte längs der Grabreihen bis dahin, wo jetzt ein dunkler Granitstein ragte auf dem Grabe dessen, der einst mir mein Glück gestohlen, geraubt – aber der es mir hatte wiedergeben müssen. Der Tod ist der große Schlichter im Streit, und es giebt keine Berufung gegen den Entscheid, den er gefällt hat, der große, allgewaltige Löser aller Fragen, an denen unser Herz und Verstand sich zermartert. Aber er hat nicht nur Trauerkränze, auch Kränze des Lebens in seiner Hand; und für den Kranz, den ich hier niederlege, senkt sich ein anderer Kranz von jungen Rosen auf Gertruds blonden Scheitel.

So dachte ich und legte das Blumengewinde nieder auf den Stein und hob das Auge; da saß sie auf der niedrigen Mauer, lichtumstrahlt, den Hut in der Hand, und sah mit wundersamem Lächeln auf mich. Ich that die Arme weit, weit auf – da kam sie eilend mit fliegendem Fuß den Gang herab – „Konrad, Konrad!“ Ich fing sie auf – stürmisch warf sie sich an mein Herz; die blauen Augen leuchteten, die rothen Lippen lachten und sie küßten mich: neun Jahre lagen zwischen unserm letzten Kuß und diesem! Und als sie hochathmend, ein seliges Weib, im Arm des seligen Mannes lehnte, der sie umfing, da sagte sie mit holdem Klang: „Wir haben doch einen gnädigen Gott gehabt!“

Ueber uns hing die Glocke. Wieder saßen wir auf dem Fußbalken – wie lange, das weiß ich nicht. Mein Kutscher war jedenfalls drüber eingeschlafen.

„Konrad, willst Du meine Kinder lieb haben?“ fragte sie leise.

„Wie mein eigen Blut!“

„Konrad, willst Du mich immer lieb haben, wie Du’s jetzt hast?“

„Nein; mehr, immer mehr; von Jahr zu Jahr wachsen wir mehr zusammen; nicht das erste Jahr ist das beste: die Flamme wächst, die Liebe wird vertieft; der Glaube an einander wird Erfahrung –“ und wieder küßte sie mich mit der Gluth der Jugend.

Die Kirchhofpforte klirrte; ein alter Mann kam herein; es war der mit dem Läuten Beauftragte. Wir gingen den Hügel hinab; Gertrud lehnte sich auf meinen Arm; hinter uns her hallten feierlich, friedlich die tiefen Glockenklänge, überm Feld verfliegend. – –



Anmerkungen (Wikisource)

  1. Vorlage: Calyunum