Unverhofft

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Autor: Melchior Meyr
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Titel: Unverhofft
Untertitel:
aus: Die Gartenlaube, Heft 50-52, S. 785-788, 801-804, 817-820
Herausgeber: Ernst Keil
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Erscheinungsdatum: 1865
Verlag: Verlag von Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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[785]
Unverhofft.
Erzählung von Melchior Meyr.
1.

„Glaube mir, lieber Sohn, Du findest keine bessere Partie für Dich! Auguste ist hübsch, gut erzogen, gesund und wird Dir einen sehr stattlichen Mutterpfennig in’s Haus bringen. Der alte Bolzen ist reich, sie wird noch ebensoviel erben. Der eine Bruder wird Dein Nachbar, der andere ein einflußreicher Schwager am Hofe sein; kurz, Alles ist, wie man sich’s nur wünschen kann!“

Diese Worte richtete die Baronin von Hainsfeld an ihren Sohn Richard, der im Parterresaal des Schlosses allein mit ihr am Fenster stand.

Richard war ein blondhaariger, schöner, wohlgewachsener, junger Mann von etwa dreißig Jahren. Seine braunrothe Gesichtsfarbe deutete auf gesunde Thätigkeit und viel Aufenthalt im Freien. In der That war er nicht nur Eigenthümer des an Feld und Wald gegen tausend Acker umfassenden Gutes, sondern auch ein sehr eifriger Landwirth; es war das Glück seines Lebens, die Oekonomie selber zu leiten.

Auf die Rede der Mutter schwieg er einen Moment. Dann sagte er: „Im Grunde fehlt nichts, als eine Kleinigkeit: ich fühle keine Neigung zu ihr!“

Die ansehnliche Fünfzigerin lächelte mit dem etwas spöttischen Ausdruck einer Erfahrenen. „Die kommt schon,“ erwiderte sie, „wo sonst nichts fehlt!“

Der Sohn schüttelte den Kopf. „Sie hat nichts Einnehmendes,“ erwiderte er, „nichts Hingebendes, nichts Liebes!“

„Sie ist keine Schmeichlerin!“ versetzte die Mutter.

„Sie denkt nur an sich,“ replicirte der Sohn.

Die Frau zuckte die Achseln. „Wenn sie Deine Frau ist, wird sie an Dich denken!“

Richard stand mit halbgeschlossenem Auge und humoristisch ungläubigem Ausdruck. „Ich habe sie nun doch oft gesehen; wenn mir nur einmal in ihrer Nähe das Herz geklopft hätte!“

Die Mutter sah ihn an. „Für einen rationellen Landwirth,“ versetzte sie, „bist Du sehr sentimental!“

„Für eine Frau,“ entgegnete er, „denkst Du sehr unpoetisch! Ich bin denn doch noch etwas mehr als Landwirth. Ich schmeichle mir, ein gebildeter Mensch zu sein, und als solcher mach’ ich meine besonderen Ansprüche. Aber auch als Landwirth komm’ ich bei Deinem Vorschlage zu kurz. Auguste ist zwar die Tochter eines Gutsbesitzers, befindet sich aber am wohlsten in der Stadt und hat für die Oekonomie und das Landleben keine Liebe, kein Interesse, kein Herz!“

Die Mutter wurde ernst. „Mein lieber Freund,“ sagte sie, „das sind schwache Einwendungen gegen eine Partie, für welche alle Gründe sprechen. Du meinst, Auguste denkt nur an sich; ich kann Dir sagen, daß sie sehr ernstlich an Dich denkt! Sie ist ein junges Mädchen, sie liest, musicirt und leitet seit dem Tode ihrer Mutter das Haus. Daß sie eine Passion für die Landwirthschaft haben soll, wie Du, das kannst Du doch verständigerweise nicht verlangen!“

„Aber Theilnahme!“ erwiderte der Sohn. „Eine gewisse Aufmerksamkeit, wenn man davon spricht.“ Nach einem Moment setzte er hinzu: „Auch eine recht eigentliche Liebe dazu ist möglich. Sieh’ doch unsere Cousinen!“

Die Mutter sah ihn mit einem Seitenblick an. der einen Vorwurf ausdrückte. „Hast Du Dir wirklich noch nicht gesagt,“ rief sie, „was hinter diesem Eifer eigentlich steckt?“

„Nun, was denn?“

„Du bist sehr bescheiden!“ versetzte jene mit einem geringschätzigen Mundverziehen.

Richard lächelte. „Du meinst, sie wollen mir damit gefallen?“

„Und Dich erobern!“ fügte die Frau mit Nachdruck hinzu.

„Was? Alle Beide?“

„Die Absicht einer Jeden ist mir sonnenklar.“

„Die Eifersucht,“ entgegnete der Sohn mit Laune, „die Eifersucht im Namen Deiner Auguste verblendet Dich! Ihr Interesse ist lebhaft, auffallend, wenn Du willst; aber es sind eben geistreiche Mädchen, denen der Sinn aufgeschlossen ist für die Wichtigkeit, welche die Landwirthschaft heutzutage erlangt hat. Den Resultaten der naturwissenschaftlichen Forschungen können sich jetzt auch Damen nicht ganz verschließen; in der Stadt hören sie Vorträge darüber und lesen Bücher; daß sie also gewisse Kenntnisse besitzen, ist ganz natürlich. Du kannst nicht sagen, daß Bernhardine und Juliane ihr Interesse für die Landwirthschaft erst hier angenommen haben, sie sind schon damit gekommen!“

„Nun,“ entgegnete die Baronin, „Verstand spreche ich ihnen nicht ab, und da ihnen Deine Neigung bekannt war –“

„O!“ fiel Richard ein.

„Traue Du nur den Mädchen!“ rief jene. „Um einen Mann zu bekommen, wie sie sich just einen wünschen, sind sie im Stande, eine ganze Wissenschaft zu lernen!“

Der Sohn lachte. „Und wenn’s so wäre,“ versetzte er, „wenn die Liebe zur Oekonomie eine Folge wäre der Liebe zum Oekonomen, was könnte diesen abhalten, Diejenige von ihnen, die [786] ihm am besten gefiele, für ihre schmeichelhafte Neigung zu belohnen?“

„Sein Verstand!“ entgegnete die Mutter mit Ernst. „Sie haben Beide kein Vermögen, sind aber zu allen Ansprüchen erzogen!“

„Ich bin reich!“

„Für Dich. Aber wenn Du eine eitle Frau bekommst und dann möglicherweise – doch ich bin thöricht, daß ich gegen eine Drohung eifere, die Du mir nur zum Scherz entgegenhältst! Ich denke besser von Deinem Geiste, als daß ich glaube, Du könntest in eine solche Schlinge fallen! Da wär’ mir die kleine Marie noch lieber. Die ist wenigstens bescheiden.“

„Nur allzu bescheiden! Sie ist so scheu, so verlegen, und zuweilen macht sie ein Gesicht, als ob sie um Verzeihung bitten wollte, daß sie nur lebt!“

„Frau von Weiden,“ entgegnete die Mutter, „lebt von einer sehr kärglichen Rente, und das gute Kind ist offenbar von seiner Aussichtslosigkeit gedrückt. Ich denke an nichts weniger, als sie Dir zur Frau zu recommandiren, mein Lieber. Gott bewahre mich davor! Aber daß sie nicht auch nach Dir angelt, wie die Andern, das muß ich doch loben. Deine Frau, mein Sohn, ist gefunden. Ernsthaft und offen zu reden: ich habe bei Herrn von Bolzen angeklopft. Vater und Tochter sind Dir geneigt, ein Wort von Dir und Auguste ist Deine Braut!“

Mit einem Unmuth, der sich kaum noch in der Form des Humors halten konnte, rief Richard: „Daß Du doch das Commandiren und Arrangiren nicht lassen kannst! Ich verpflichte mich zu nichts, Herrin von Hainsfeld – zu gar nichts! Den Teufel auch! Soll ich nicht heirathen dürfen, wen ich will?“

„Heirathe! Nimm eine von den beiden Heuchlerinnen, die auf Dich speculiren!“

„Du verleumdest sie!“

„Ich will’s beweisen!“

„Das möcht’ ich doch – “ Richard hielt inne. Mit einem Blick in den Hof sagte er: „Bernhardine kommt mit ihrer Mama, vergessen wir nicht, daß sie unsere Gäste sind!“

Bernhardine war die Tochter eines Generals, groß, stattlich, eine blonde Juno. Sie betrat an der Seite ihrer würdevoll einherschreitenden Mutter den Saal mit allen Zeichen einer frohen Aufregung. Glänzenden Antlitzes grüßte sie und rief dem jungen Manne zu: „Nein, es giebt doch nichts Schöneres, als die Landwirthschaft!“

Während Richard freundlich nickte, sagte die Baronin: „Hainsfeld kann in der That stolz sein! Diesen schmeichelhaften Ausruf hat es Ihnen bis jetzt nun jeden Tag entrissen!“

„Der Genuß,“ versetzte Bernhardine, „nimmt kein Ende und die Freude muß reden. Wenn man herumgeht in den Ställen und auf den Feldern, Thierwelt und Pflanzenwelt betrachtet – es giebt immer etwas Neues zu sehen und etwas Schönes zu bewundern!“

„Ich meinerseits,“ entgegnete die Baronin, „muß bewundern, daß eine junge Dame aus der Residenz an Räumen Geschmack findet, die doch so manches Prosaische –“

„Wofür halten Sie mich, Frau Baronin?“ rief Bernhardine fast gekränkt. „Ich gehöre nicht zu den verzärtelten, schwachnervigen Personen, an die Sie zu denken scheinen! Ich liebe die Natur, ihre kraftvollen Aeußerungen erfrischen mein Herz. In Ihrer Schweizerei gehe ich lieber auf und ab, als in einem Tanzsaal. Ich fühle mich so wohl darin, so heimlich, und fast alle Ihre Milchkühe kann ich mit Namen nennen!“

„Da haben Sie sich ja erstaunlich vertraut gemacht! Sie rivalisiren mit dem Schweizer! Auch mein Sohn würde neben Ihnen nicht bestehen!“

„Er überschaut das Ganze,“ entgegnete Bernhardine mit einem Blick auf ihn. „Er ist das Haupt, welches die Specialitäten den untergeordneten Personen überläßt.“ Nach kurzem Schweigen, zu Richard gewendet, fuhr sie fort: „Es muß ein herrliches Gefühl sein, eine so große Besitzung von oben zu leiten, die schöpferische Kraft der Natur zu unterstützen, zu lenken, und immer schönere und reichere Früchte dafür zu ernten!“

„Das ist auch wirklich eine Freude, liebe Cousine.“

Bernhardine nickte bewundernd. Dann sagte sie: „Ich gestehe Ihnen, daß ich erst in Hainsfeld begreifen gelernt habe, was Landwirthschaft ist. Immer habe ich darin etwas Edles gesehen, denn ich wußte ja, daß die alten Römer sie ganz besonders hochgehalten haben und ihre größten Männer ebenso gute Oekonomen, wie Staatsmänner und Feldherren gewesen sind. Aber meine Vorstellungen davon waren doch nur sehr allgemeine; ich wußte nicht das Eigentliche, Nähere. Die Landwirthschaft ist von einer Complicirtheit, einer Mannigfaltigkeit –“

„Das will ich meinen!“ rief der junge Mann.

„Und ich kenne jetzt keine Thätigkeit, die für den Edelmann schicklicher wäre! Die Gefälle hat man ihm genommen oder sehr beschnitten, und er ersetzt den Verlust durch wissenschaftliche Ausbeutung des Bodens, den man ihm hat lassen müssen. Er wird den Bauern in Benutzung desselben ein Vorbild, diese gewinnen noch einmal von ihm und er hat die Ehre, ihr Wohlthäter zu sein, während er die eigenen Einkünfte durch Verwerthung seiner Geisteskräfte steigert. Er kommt dem Spruch ‚Noblesse oblige‘ nach und bringt zugleich sich selber vorwärts, indem er die Aufgaben des Jahrhunderts erfüllt!“

„Vortrefflich!“ rief der adelige Landwirth.

Die beiden Mütter hatten beieinander gestanden und sich scheinbar um den Fortgang des Gesprächs nicht mehr gekümmert; aber die Rede der klugen Jungfrau wurde von ihnen nicht überhört, und während die Generalin einen flüchtigen Blick der Genugthuung auf die Tochter warf, konnte sich die Baronin nicht enthalten, zu sagen: „Sie sind geistreich, liebe Cousine, und sagen ausgezeichnet, was wir Landleute gerne hören. Aber es ist etwas Anderes, über Oekonomie gut zu reden, etwas Anderes, sie betreiben und sich auf dem Lande aufhalten! Wer an die Abwechselung des Lebens und an die Genüsse der Residenz gewöhnt ist, der, fürcht’ ich, würde den Aufenthalt hier gar bald lästig und langweilig finden.“

Frau von Hainsfeld hatte mit dieser Bemerkung von ihrem Standpunkt einen Fehler gemacht, den sie gleich erkennen sollte. Denn Bernhardine, mit dem ganzen Adel einer Verkannten, entgegnete: „Frau Baronin, ich bitte Sie, wollen Sie mir nicht ebenso unrecht thun, wie dem Landleben! Im Gegentheil: der Aufenthalt in der Residenz kann einem lästig und langweilig werden, und ich darf Ihnen sagen, daß er mir das schon sehr geworden ist. Genüsse! Die bloßen Genüsse sind es ja, woran man den Geschmack verliert! Nur eine schöne Thätigkeit und die Freuden, die aus ihr hervorwachsen, fesseln uns auf die Dauer. Wenn ich einen Wunsch frei hätte, dann würde ich nicht wünschen, in der Residenz meinen Aufenthalt und auf dem Lande einen kurzen Besuch, sondern umgekehrt. Theater, Concerte und Gesellschaften sind interessant, wenn man sie ein paar Wochen lang im Winter besucht; wer ihre Freuden aber dreiviertel Jahr zu kosten hat, der wird zuletzt völlig stumpf dagegen! Sogar das Gute widersteht uns: und wie oft bekommen wir Gutes zu hören! Dagegen das Leben auf dem Lande ist zu jeder Zeit köstlich. Wir sind jetzt im schönsten Monat, und Sie werden mir wohl erlassen, den Frühling zu loben. Aber die anderen Jahreszeiten wiegen ihn auf. Sommer und Herbst bringen die Ernten, die Sinne und Herz erfreuen, und bringen Vergnügungen, die nach der Arbeit wirklich erquickend sind. Und der Winter? Ihn stell’ ich mir auf dem Lande eben am heimlichsten vor. Was kann es Reizenderes geben, als eingeschneit zu werden und den Sturm sausen zu hören, während wir in der stillen, warmen Stube sitzen bei traulichem Gespräch oder ansprechender Lectüre? Den Männern ist die Jagd eine Lust, und die Frauen danken für die heimgebrachte Beute durch Lob und stärkenden Imbiß. Der Besuch der Residenz im Winter ist gar nicht einmal nöthig; auf dem Lande selber kann man behaglich die Zeit erwarten, wo der Schnee schmilzt, die Wiesen grün werden und die lieblichen kleinen Vögel den neuen Frühling einsingen!“

Sie schwieg. Dann, mit bescheidener Senkung des Hauptes, fügte sie hinzu: „Ich kann mir das Glück des Landlebens nur denken! Sie, verehrte Base, und Sie, Cousin Richard, leben es, und ich muß um Verzeihung bitten, daß ich Ihnen gesagt habe, was Sie besser wissen, als ich!“

Indem sie sich verneigte, trat sie zu ihrer Mutter, um für ihre gelungene Rede den gebührenden Lohn in einem zärtlichen Händedruck zu erhalten.

Richard trat zu der seinen und sagte flüsternd: „Das sollte Affectation sein?“

„Eine sehr geschickte!“ erwiderte die Frau mit einem Seufzer.

„Geh!“ rief der Cavalier mit edlem Unwillen.

Auf dem Gang ließen sich Tritte hören; die Thür that sich auf, [787] und es erschienen zwei Damen, die man ebenfalls augenblicklich als Mutter und Tochter zu erkennen vermochte. Sie waren Beide schlank, nicht zu groß und die Gesichtszüge von einer Feinheit, die an Schärfe grenzte. Die Tochter, Juliane, trat mit einer eigenthümlichen Gelassenheit auf und ließ alle Zeichen einer Denkerin an sich bemerken.

Man begrüßte sich. Richard sagte zu Juliane: „Wie haben Sie den Morgen verbracht, beste Cousine?“

Die Mutter, Geheimräthin von Sonnensels, erwiderte für die Tochter: „Wir haben einen Gang aufs Feld gemacht; dann hat Juliane gelesen!“

„Sie haben sich gewiß höchst nützlich beschäftigt, liebes Bäschen!“ sprach Frau von Hainsfeld. „Aber es ist doch schade, daß Sie nicht einige Minuten früher gekommen sind; Bernhardine hat eine Lobrede auf die Landwirthschaft gehalten, daß meinem Sohn und mir vor Vergnügen das Herz klopfte.“

Juliane konnte nicht umhin, die feinschmalen Lippen zu verziehen, als ob sie sagen wollte: das ist mir was Rechtes! Aber sie nahm schnell eine edlere Miene an und sagte: „Ich bedauere – es würde mir Freude gemacht haben! Ich habe mich aber,“ fuhr sie nach einer kleinen Pause fort, „auf meinem Zimmer ebenfalls mit Landwirthschaft beschäftigt. Mich begeistern die Fortschritte, die sie gegenwärtig macht, die Aussichten, die ihr gestellt sind! Stimmen Sie mir nicht bei, lieber Vetter, daß durch ihre Verbindung mit der Naturwissenschaft für die Landwirthschaft ein neuer Tag anbricht?“

„Ich hoffe sehr viel davon.“

„Es ist erstaunlich,“ fuhr Juliane fort, „was der menschliche Geist in unsern Tagen leistet! Er beherrscht die Natur, indem er die Bedingungen ihres Lebens ergründet; er klärt und vervollständigt die Erfahrung, indem er ihre Errungenschaften mit den Errungenschaften der Wissenschaft vermehrt!“

Während einer kurzen Pause, die hierauf eintrat, bemerkte die Baronin: „Das ist mir doch ein wenig zu allgemein gesagt! Könnten Sie’s uns nicht an einem Beispiel anschaulich machen?“

„Mit großem Vergnügen,“ erwiderte Juliane. Und indem sie sich angenehm in Positur setzte, fuhr sie fort: „Jeder weiß und von jeher hat man gewußt, daß die sorgfältige Bebauung den Acker fruchtbar macht. Warum? Das war die Frage. Auf diese hat nun die Wissenschaft antworten gelernt. Weil dadurch der Boden aufgeschlossen und die Aufnahme feiner Bestandtheile in den Organismus vorbereitet wird. Nun fragt die Wissenschaft aber, ob es nicht noch andere Mittel giebt, welche dieses bewirken; und sie findet, daß dem Boden denselben Dienst auch der gebrannte Kalk leistet. Sie empfiehlt also diesen den Oekonomen; und wenn man ihn auch früher schon angewendet hat, so kann man es doch jetzt erst rationell, mit wahrer wissenschaftlicher Einsicht thun. Auch den Dünger – ich brauche nur an Knochenmehl und künstlichen Guano zu erinnern – hat die Wissenschaft gemehrt; und sicherlich wird man auch noch jene andern Stoffe, die man bisher ihrem Schicksal überlassen hat, zum Gedeihen und Flor der Felder gewissenhaft nutzen lernen. Der Forschergeist ruht niemals, und vor Nichts schrickt er zurück! Wie herrlich ist nun der Gedanke, alle Ergebnisse der Forschung durch Studien sich anzueignen und sie verwerthen zu können zu immer größerer Vervollkommnung des menschlichen Daseins! Ich für meine Person kenne keinen größern Genuß, als den Weg, den die Wissenschaft nimmt, zu verfolgen und ihn theilnehmend nachzugehen.“

Bernhardine konnte die Ungeduld, die sie empfand, nicht mehr zurückhalten. „Das ist aber doch eigentlich kein Geschäft für Frauen!“ rief sie. „Die Männer mögen die Natur zergliedern und die Begriffe spalten, das ist ihre Sache, aber für Frauen ist es denn doch zu abstract!“

„Abstract!“ entgegnete Juliane mit geringschätzigem Lächeln. „Nimm mir’s nicht übel, meine liebe Bernhardine; aber wer heutzutag nichts lernen will, der pflegt Alles, was einige Anstrengung erfordert, abstract zu nennen.“

Bernhardine richtete sich zu ihrer ganzen Höhe auf und warf ihr den Blick einer Verletzten zu.

„Was heißt abstrahiren?“ fuhr Juliane fort. „Denken! Und sollen wir Frauen nicht denken? Haben wir keinen Verstand? Können wir uns von der gemeinen Erfahrung nicht erheben zu Begriffen? Ich sollt’ es doch wohl meinen! Auch unser Kopf ist organisirt zur Wissenschaft. Wir können sie verstehen, wir können Theil nehmen an ihr. Es ist nichts nöthig als guter Wille und Ausdauer!“

„Es ist ganz erstaunlich,“ rief Bernhardine spottend, „wie Dir das auf einmal gekommen ist! Vor einem Jahr noch hat Dir nicht geträumt von solchen Dingen!“

„Alles muß einmal anfangen,“ entgegnete Juliane nach flüchtigem Erröthen. „Ich habe meine Einsichten zu erweitern gestrebt und gefunden, daß man ohne Kenntniß der Naturwissenschaft keinen Boden unter sich hat, worauf man sicher in seiner Bildung vorwärts gehen könnte. Ich habe getrachtet, mir vor allem diesen Boden zu gewinnen.“

„Ja wohl,“ sagte Bernhardine zu sich selber, „Grund und Boden willst Du gewinnen – und den Eigenthümer dazu!“

„Geist ist Macht,“ fuhr die Denkerin mit Bedeutung fort. „Die Stoffe sind dazu geschaffen, vom Geist regiert, verschönt und ausgebeutet zu werden; und sollte das weibliche Geschlecht sich selber von der Herrschaft darüber ausschließen? Wenn wir die Männer vorangehen lassen in der Wissenschaft, so ist das genug. Die Herren der Schöpfung erschließen unwegsame Pfade und brechen neue Bahnen, aber wir dürfen dabei nicht in Unthätigkeit verharren und haben uns jedenfalls an den Früchten zu betheiligen. Wenn wir uns das, was die Männer hervorgebracht, erforscht, aufgedeckt haben, nicht wenigstens aneignen, dann sind wir keine Frauen, die ihnen gleichstehen, sondern Dienerinnen, die unter ihnen stehen.“

„Es scheint fast,“ bemerkte die Rivalin, „als hätten Deine naturwissenschaftlichen Studien den Zweck gehabt, Dich zur würdigen Gemahlin eines Physikers oder Chemikers auszubilden!“

„Mich hat der reine Wissenstrieb geleitet,“ entgegnete Juliane mit Würde. „Die Erkenntniß trägt den Lohn in sich selber; sie bereichert den Geist und erhebt die Seele!“

„Gewiß,“ versetzte der junge Baron, der den Ausfall der Andern nicht hatte billigen können.

„Und sie lehrt uns,“ fuhr Juliane dadurch ermuthigt fort, „die Wirklichkeit und das Leben selber lieben und edler genießen. Ich bin immer gern auf dem Lande gewesen und die Oekonomie hat mir stets lebhaftes Interesse abgewonnen. Aber seitdem ich die Werke der großen Forscher gelesen, welche den Scharfsinn ihres Geistes und die Fülle ihrer Kenntnisse der Landwirthschaft zugewendet haben, seh’ ich die Thätigkeit des Oekonomen mit unvergleichlich größerer Befriedigung. Es ist schön, über Felder und Wiesen und Wälder und über Viehherden nach bloßer Anschauung poetisch zu schwärmen; aber es ist schöner, zugleich die Ursachen und Bedingungen des Wachsthums zu begreifen und sich an Blüthen und Früchten mit klarer Einsicht in das Wesen der hervorbringenden Kräfte zu erfreuen. Die Landwirthschaft ist gleichsam die Probe für die Richtigkeit der Untersuchung. Die Voraussetzungen, welche der Forscher zergliedert hat, treten in der Cultur zusammen und erzeugen ein Leben, das unser Herz erquickt. Der Gedanke verkörpert sich in ihr; die Wahrheit wird Schönheit, und das Häßlichste sogar muß zur Hervorbringung des Lieblichsten dienen!“

„Bravo!“ rief Richard, den diese Wendung wohlthuend berührt hatte.

Juliane, vor Vergnügen erröthend und ordentlich zu weiblicher Anmuth verschönt, bemerkte hierauf: „Ich hoffe, man wird mir vergeben, wenn ich mich einigermaßen auch um die Seite der Landwirthschaft bekümmert habe, welche von Andern trocken und langweilig gefunden wird. Ich glaube, daß sie es nicht ist und daß jene Unrecht haben.“

Ruhig und gemessen, mit dem schönen Selbstgefühl eines erreichten Zieles, trat sie zu ihrer Mutter, welche die Siegerin mit einem Blick der Liebe und der Hoffnung beglänzte.

Der Landwirth schien sich zu besinnen. Mit Artigkeit wendete er sich dann zu Juliane und sagte: „Ihre Geständnisse, liebe Cousine, ermuthigen mich, Ihnen einen Vorschlag zu machen. Sie haben die Maschinen gesehen, die gestern eingetroffen sind?“

„O freilich,“ rief Juliane. „Aber allerdings –“

„Wenn Sie’s interessirt,“ fuhr jener fort, „werde ich sie morgen Vormittag erklären und arbeiten lassen!“

„Das ist ja herrlich!“ rief die Glückliche.

[788] „Ich weiß nicht,“ sagte Richard mit einem Blick auf Bernhardine und die Generalin, „ob auch die andern Herrschaften –“

„Das versteht sich wohl von selbst!“ rief Bernhardine mit großer Lebhaftigkeit. „Ein Vortrug von Ihnen findet bei uns die gespannteste Aufmerksamkeit! Und wenn wir auch nicht so studirt sind, Ihre Auseinandersetzung wird uns Alles klar machen. Es ist eine Mähmaschine?“

„Und ein Räderwerk, das die sprödesten Schollen zermalmt.“

„Ich freue mich unendlich, sie über den Acker gehen zu sehen! Die Maschine ersetzt die Kräfte der Menschen und befreit diese zu würdigern Arbeiten. Eine humane Seele kann sie nur mit vollster Genugthuung betrachten!“

Die Geheimräthin und Juliane lächelten über diesen Eifer. Die Baronin schwieg. Sie schien in ihrem Kopf einen Gedanken zu wälzen.

In diesem Augenblick ging die Thüre aus und zwei neue Gestalten traten in den Saal.




2.

Wie man leicht sehen konnte, waren es gleichfalls Mutter und Tochter, gebildete Frauen, die aber durch ihre Erscheinung und ihr Benehmen mit den schon anwesenden auffallend contrastirten. Während diese in eleganter und immerhin auch kostbarer Kleidung dastanden, war der Anzug der Beiden von einer Einfachheit, die fast ärmlich ließ. Ebenso groß war der Unterschied im Ausdruck der Gesichter. Die Damen aus der Residenz zeigten großes Selbstgefühl und vollkommene Zuversicht. Man sah ihnen an, sie hatten dem Hause durch ihren Besuch eine Ehre erwiesen; die Absichten, die sie hergeführt, waren im Grunde für den Eigenthümer nur schmeichelhaft, aus allen Gründen rechneten sie auf eine achtungsvolle Gastfreundschaft. Die Mienen der neu Eingetretenen dagegen waren resignirt, und selbst aus der Freundlichkeit, womit sie grüßten, sprach ein Hauch von Kummer, eine unüberwindliche Gedrücktheit der Seele. Die Gesichter waren nicht nur wohlgebildet, sie hatten einen edlen Schnitt, aber Kleinmuth und ein gewisser Unmuth darüber, die sich beide in ihnen malten, ließen sie nicht zu ihrer Wirkung kommen.

Es waren arme Verwandte im Hause des Reichen: Frau von Weiden und ihre Tochter Marie. Sie waren nicht nur arm, sie waren reich gewesen und arm geworden. Noch vor wenigen Jahren durften sie glauben, sich in guten, behaglichen Verhältnissen zu befinden. Aber der plötzliche Tod des Vaters enthüllte ihnen, daß das Vermögen durch den Speculanten, dem es nicht genügt hatte, bis auf wenige Trümmer verschuldet war. So lastete die Armuth mit doppeltem Gewicht auf ihnen.

Die Wittwe, durch ihren verstorbenen Mann verwandt mit der Baronin, war von dieser eingeladen worden, in Hainsfeld sich aufzuhalten, bis für sie oder ihre Tochter eine angemessene Beschäftigung oder irgend eine passende Stellung auskäme. Seit vierzehn Tagen befanden sie sich hier, und zwar hatten sie zuerst eine Wohnung im Hauptgebäude, neben der Baronin, inne. Als aber die Damen aus der Residenz kamen, die sich gewissermaßen selbst eingeladen hatten, mußten sie ihre Zimmer abtreten und einen entfernteren Seitenflügel beziehen.

Marie war eine von den Gestalten, die auf den ersten Blick Antheil und Mitleid einflößen. Sie glich einer Blume, welche durch die Ungunst der Witterung in ihrer Entfaltung aufgehalten worden und nun eben da, wo sie am schönsten erblühen sollte, schon zu welken beginnt. Ihr bräunlicher Teint war gebleicht, ihr Gesichtsausdruck leidend. Sie war nicht mehr, was sie gewesen, sondern der Schatten ihrer selbst geworden und sie wußte es! Wenn übrigens die Baronin sie die „kleine Marie“ nannte, so durfte man das nicht eigentlich nehmen: sie war größer, als Juliane, und stand etwa zwischen dieser und Bernhardine. Aber durch ein eigenthümlich in sich gekehrtes Wesen, womit sie sich nach außen klein machte, schien der Ausdruck doch gerechtfertigt.

Charakteristisch war von Seiten der schon Anwesenden der Willkomm. Die Damen aus der Residenz dankten dem Gruß mit einer Herablassung, in der sie sich für eben so großmüthig wie höflich zu halten schienen. Die Freundlichkeit der Baronin und Richard’s war herzlicher, aber man sah doch, wie sich’s Beide mit ihnen recht leicht machten! Dem jungen Mann begegnete es, durch eine Handbewegung zu grüßen, in welcher der Vertraulichkeit so wenig Achtung beigegeben war, daß das Gesicht Marie’s in leises Beben gerieth und ihre Lippen auf einen Moment die Farbe verloren.

Juliane, die sich dermalen von Allen am sichersten fühlte, trat einen Schritt gegen sie vor und sagte mit auffallender Güte: „Wo kommen die Damen her? Sie sehen ein wenig angegriffen aus, liebe Marie!“

Die Angeredete zuckte, aber sie erwiderte geduldig: „Wir kommen vom Garten.“

„Und vorher,“ setzte Frau von Weiden hinzu, „sind wir auf dem Felsen gewesen, wo Marie das Schloß gezeichnet hat, um ein Aquarellbild davon zu machen. Droben war es heiß!“

„Sie zeichnen und malen?“ fragte die Gelehrte beifällig. „Das Erste, was ich höre.“

„Blos zu meinem Vergnügen,“ erwiderte Marie.

„Sieh, sich, eine Künstlerin! Und das erfährt man erst jetzt? Nun begreif’ ich übrigens Ihre Ausflüge, Ihr einsames, träumerisches Wesen und die geringe Aufmerksamkeit, welche Sie der Oekonomie zu schenken für gut finden!“

Der Zusatz war als eine Art von Scherz mit Leichtigkeit hingeworfen. Marie sah ihr betroffen forschend in’s Gesicht.

„Nun,“ fuhr jene fort, „das können Sie doch nicht leugnen! Sie waren nie dabei, wenn Herr von Hainsfeld uns herumführte und wenn es hier etwas zu sehen und zu lernen gab!“

Die Lippen der Kritisirten verzogen sich zu einem schüchternen Auedruck von Spott und sie sagte: „Das Interesse für die Landwirthschaft war durch die Herrschaften aus der Residenz so gut vertreten, daß ich nicht den Muth hatte, mit ihnen zu wetteifern!“ Mit einer Stimme, in welcher die Ironie sich gänzlich verlor, setzte sie hinzu: „Herr von Hainsfeld wird verzeihen!“

„O,“ rief dieser fast lachend, „ich mache durchaus keine Ansprüche!“

Das war in einem Tone gesagt, der auf das Mädchen keine gute Wirkung äußern konnte. Sie erröthete und warf einen Seitenblick auf ihn, der eine Klage enthielt.

Bernhardine fand sich nun bewogen, auch ein Wort zu sagen. „Von einem Wetteifer,“ bemerkte sie, „kann hier keine Rede sein; es handelt sich blos um einen Antheil, von dem ich in der That nicht begreife, wie er fehlen kann. Was sind Gedanken, die man sich macht, und einsame Phantasien gegen die Anschauung der Natur und der Einrichtungen, wodurch sie immer schöner und gedeihlicher wird! Nun, morgen,“ setzte sie mit Bedeutung hinzu, „werden Sie hoffentlich die Gelegenheit nicht vorbeigehen lassen! Baron Richard wird uns morgen theoretisch und praktisch in zwei Maschinen einweihen, die aus England gekommen sind.“

[801] Frau von Weiden machte eine Bewegung des Bedauerns. „Es thut mir leid,“ sagte sie mit einem Blick auf Richard, „aber wir werden dem Vortrage nicht beiwohnen können!“

„Wie!“ riefen Bernhardine und Juliane wie aus Einem Munde, „so Etwas könnten Sie versäumen?“

„Wir werden morgen früh Hainsfeld verlassen müssen,“ erwiderte jene. Und zu der Baronin gewendet fuhr sie fort: „Der Brief, den ich gestern Abend erhalten habe, war von meinem Onkel Troßbach. Er hat seine Wirthschafterin verloren und ladet mich ein, seinen Haushalt zu führen.“

Frau von Hainsfeld nickte, konnte dann aber nicht umhin, ein gewisses Bedenken zu verrathen. „Was ich von dem Manne gehört habe –“

„Kann mich nicht abhalten!“ versetzte die Wittwe. „Uns Beide hat die Welt in den letzten Jahren nicht verwöhnt; und wenn der alte Herr grillenhaft und jähzornig ist, so finden wir auf seinem einsamen Gütchen doch eine Unterkunft, die wir durch unsere Thätigkeit abverdienen. Wir sind Niemand zur Last und erleichtern Jemand das Leben.“

Die Baronin besann sich einen Augenblick, dann erwiderte sie: „Allerdings! Und vielleicht ist er nicht so schlimm, wie man ihn macht.“

„Er mag sein, wie er will,“ entgegnete Frau von Weiden mit einem resignirten Lächeln, „wir sind auf ihn gefaßt.“

Bernhardine, immer noch von einer dumpfen Empfindung gedrückt, als ob ihr Juliane in der Gunst des Landwirths einen Schritt vorausgekommen sei, rief jetzt: „Müssen Sie denn aber so schnell abreisen? Können Sie, um einem Vortrag und einem Schauspiel beizuwohnen, wie es uns in Aussicht steht, nicht noch einen Tag zugeben?“

„Das hab’ ich eben auch sagen wollen!“ bemerkte Juliane.

„Sie haben gehört, was mein Onkel für einen Humor hat. Er wünscht, daß wir sobald als möglich eintreffen, und ich möchte ihm keine Gelegenheit geben, uns gleich mit einer Probe seiner Fähigkeiten zu empfangen.“

Während die Baronin die beiden Eifrigen mit einem spöttischen Lächeln ansah, bemerkte Richard mit Ernst, fast unwillig: „Meine Damen, lassen wir doch jetzt diese Kleinigkeit!“ Er trat zu Frau von Weiden und Marie und sagte theilnehmend: „Ich hätte Ihnen Beiden ein besseres Loos gegönnt, als einen alten Murrkopf zu pflegen. Aber da Sie es annehmen und entschlossen sind, so können wir Sie nicht abhalten wollen. Unter allen Umständen haben Sie eine Aufgabe und können Gutes thun.“

„Entfernt von der Welt,“ fügte die Wittwe hinzu, „in der wir die letzten Jahre eine so wenig angenehme Rolle gespielt haben.“

„Es ist ein Glück,“ rief Marie bewegt, „ein wahres Glück!“

Dieser Ausruf hatte etwas eigen Rührendes, Richard betrachtete das Mädchen und sagte herzlich: „Sie sind sehr bescheiden, liebe Marie. Die Welt muß Ihnen wenig geboten haben, daß Sie in Ihrem Alter sich auf die Einsamkeit freuen. Aber,“ setzte er mit gutmüthigem Lächeln hinzu, „seien Sie getrost, es giebt eine Ausgleichung, und das Glück kommt oft plötzlich und da, wo man’s gar nicht vermuthet hat!“

Marie erröthete, fast glücklich. Aus ihren feuchten Augen ging ein Blick des Dankes.

Wer einen Zweck hat und Ausdauer und Muth besitzt, der wird jede Gelegenheit, Etwas dafür zu thun, zu benutzen suchen. Bernhardine war noch nicht fertig. Sie trat vor, so daß sie neben Juliane zu stehen kam, und sagte zu den Scheidenden: „Ich wünsche Ihnen Glück und alles Gute auf die Reise. Aber offen muß ich gestehen, ich wäre nicht im Stande, mich von Hainsfeld so rasch zu trennen, ich würde unter den gegenwärtigen Umständen bleiben, möchte daraus entstehen, was da wolle.“

Eine Röthe heroischer Entschlossenheit ging bei diesen Worten über ihre Wangen.

Die Baronin hatte nachdenklich dagestanden. Mit einem Mal wendete sie sich zu den jungen Damen und sagte: „Da Sie für Hainsdorf und meinen Sohn ein so freundliches Interesse zeigen, so darf ich Ihnen nicht länger eine Nachricht vorenthalten, die für die Welt noch ein Geheimniß ist, die es aber für Sie nicht mehr sein soll. Wir haben Etwas zu melden, was gütige, theilnehmende Seelen mit Freude vernehmen werden.“

Die Gesichter der Jungfrauen erhielten einen feierlichen Glanz der Erwartung.

„Haben Sie die Herrschaft in Böhmen gewonnen?“ rief Bernhardine zu Richard. „Sie besaßen Loose –“

Die Baronin schüttelte den Kopf.

„Haben Sie eine Entdeckung gemacht,“ rief Juliane, „die Ihrem Namen die Unsterblichkeit sichert?“

Erneuertes Kopfschütteln.

„Haben Sie den Kronorden erhalten? Hat man Ihnen das Doctordiplom zugeschickt?“ riefen die Damen durcheinander.

„Nichts von alledem,“ entgegnete die Baronin. „Aber das Ereigniß, das wir Ihnen mitzutheilen haben, ist nicht minder wichtig und freudenreich. Mein Sohn hat sich verlobt – er ist glücklicher Bräutigam!“

[802] Die Wirkung dieser Worte auf die Anwesenden ist schwer zu beschreiben.

Die Damen aus der Residenz, Mütter und Töchter, standen im ersten Moment, als wären sie in Bildsäulen des Schreckens verwandelt worden; starr, unbeweglich, mit einem steinernen Glanz der Gesichter. Aus den Zügen Marie’s war der letzte Schein von Farbe gewichen; dann überzog sich das Gesicht mit glühendem Roth und drückte Scham und eine peinliche Selbstanklage aus. Frau von Weiden hatte sogleich auf die Tochter geschaut, war erschrocken und hielt einen Blick des Kummers und der Mahnung auf sie gerichtet. Richard, der nach den ersten Andeutungen der Baronin umhergesehen, wie einer, der nicht begreift, war nach dem klaren Wort aufgefahren wie ein verwundeter Leu und rief nun mit seinem strengsten Gesicht: „Mutter, bist Du bei Troste? Was fällt Dir ein?“

„Lieber Sohn,“ entgegnete diese, „ich weiß, daß Du von mir verlangt hast, die Sache noch nicht bekannt werden zu lassen. Aber wenn wir es diesen lieben Freundinnen mittheilen, dann kommt’s ja nicht in die Oeffentlichkeit! Die Theilnahme, die sie Dir zuwenden, schien mir durchaus zu verlangen, daß wir mit ihnen eine Ausnahme machten.“

Die erste Statue, die sich wieder zu beleben anfing, war Bernhardine. „Es ist nicht möglich!“ rief sie mit würdevollem, beinahe entrüstetem Unglauben. „Eine Verlobung! Und Niemand soll Etwas davon erfahren, nicht einmal etwas geahnt haben! Sie treiben Ihren Scherz mit uns, Frau Baronin!“

„So sieht’s fast aus!“ rief Juliane. Und zu Richard gewendet sagte sie: „Herr Cousin, haben Sie die Güte zu reden. Ist’s wahr? Müssen wir Ihnen gratuliren?“

Der Baronin war es gelungen, dem Sohn einen mahnenden, bittenden Blick zuzuwerfen. Richard versetzte: „Ich – kann meine Mutter nicht Lügen strafen.“

„Bravo!“ dachte Frau von Hainsfeld und ihr Gesicht glänzte triumphirend.

Die Generalin erhob den Kopf, und ohne ihren Verdruß in Ton und Miene nur verbergen zu wollen, rief sie: „Aber wer ist sie denn, die Glückliche? Nennen Sie uns doch den Namen, liebe Baronin! Es ist gewiß einer der ersten des Landes und wir werden dann die Glückwünsche nicht länger zurückhalten –“

„Den Namen,“ versetzte Frau von Hainsfeld, „kann ich Ihnen noch nicht nennen. Ich habe schon sehr gegen die Abrede gehandelt, daß ich Ihnen nur die Thatsache mittheilte. Sehen Sie, wie mein Sohn immer noch zürnt? Genüge es jetzt Ihrer gütigen Theilnahme, daß die Braut nach dem Urtheil der Mutter ein in jeder Beziehung vorzügliches Mädchen ist.“

„Das genügt,“ erwiderte Frau von Weiden mit Ernst und freundlicher Theilnahme. „Wie hätte man’s auch anders erwarten können! Baron Richard,“ fuhr sie zu diesem fort, „ich freue mich herzlich, diese gute Nachricht noch gehört zu haben, und wünsche Ihnen von ganzer Seele Glück dazu. Verzeihen Sie, daß wir sie jetzt verlassen. Ich muß dem Boten einen Brief mitgeben. Komm’, meine Tochter!“

Marie hatte sich zuletzt gefaßt. Während ihre Mutter sprach, hielt sie den Blick auf den jungen Mann gerichtet und es schien, als ob sie Etwas hinzufügen wollte. Nach dem an sie ergangenen Zuruf aber verneigte sie sich stumm und ging mit der Mutter hinweg.

In den Damen aus der Residenz war das Gefühl ihrer Bedeutung wieder herrschend geworden, und eine gerechte Indignation, ein edler Stolz trieb die letzten Schwächen aus ihren Seelen. Die Nebenbuhlerinnen und Gegnerinnen waren jetzt Verbündete, und wie von Einem Geiste gelenkt vollzogen sie nun harmonisch ein gemeinsames Werk.

Die Generalin begann: „Liebe Freundin – bester Baron, empfangen Sie unsre wärmsten Glückwünsche! Die Gefühle, die uns beseelen, brauche ich nicht zu schildern, Ihre Freundschaft wird sie sich denken können. Der Besitzung, die der ausgezeichnete Landwirth so musterhaft einzurichten verstand, hat nichts mehr gefehlt, als eine Herrin, wie sie nach dem Urtheil der Kennerin hier einziehen soll. Der Tag, an dem es geschieht, wird auch für uns ein Festtag sein, wenn wir ihn auch fern von Hainsfeld erleben werden.“

Die Geheimräthin betheuerte: „Damit sind meine Gefühle buchstäblich ausgedrückt!“

Auch Bernhardine und Juliane verneigten sich zustimmend.

Die Generalin fuhr fort: „Nun fürchte ich blos, daß ich mit dem, was ich jetzt zu sagen habe, meine Tochter betrüben werde. Mein liebes Kind,“ bemerkte sie zu Bernhardine, „weißt Du, was in zwei Tagen für ein Tag ist? Der sechzehnte!“

„Wahrhaftig!“ rief Bernhardine tief betroffen. „Der Geburtstag des Vaters!“

„In dem schwärmerischen Eifer, in welchen die herrliche Oekonomie Dich versetzte, hast Du’s vergessen.“

„In der That,“ erwiderte die Tochter, ihr Haupt in anmuthiger Reue senkend.

„Wir haben diesen Tag,“ fügte die Generalin mit einem feierlichen Blick auf die Baronin hinzu, „noch jedes Jahr mit ihm begangen. Er zählt darauf. Es würde ihn tief schmerzen, wenn er nicht alle seine Lieben um sich sähe. Wenn wir aber noch rechtzeitig eintreffen sollen, um Alles anzuordnen, dürfen wir unsre Koffer packen.“

Mutter und Tochter nickten sich zu.

Die Geheimräthin wendete sich hierauf zu Juliane und sagte: „Die Fassung, womit Bernhardine[WS 1] eine Nachricht erträgt, die ihr in einer Hinsicht unendlich leid thun muß, kann Dir zum Muster dienen. Ich habe Dir auch eine Mittheilung zu machen, auf die Du nicht vorbereitet sein wirst.“

„Nun?“ rief Juliane mit einer Sorge, welche den durchscheinenden Spott der Begreifenden beinahe verschleiert hätte.

„Nichte Bertha, Deine intimste Freundin, heirathet in drei Tagen ihren Regierungsrath. Ich erhielt den Brief, der es anzeigt, heute früh. Aber Du warst so in Deine Studien vertieft, so ganz davon hinweggenommen, daß ich nicht den Muth in mir finden konnte, Dich zu stören. Später ist’s mir aus dem Gedächtniß entfallen.“

„Aber, Mama,“ rief das Mädchen, „da müssen wir ja reisen! Nur die dringendste Angelegenheit könnte mich abhalten, bei diesem Feste zu sein. Aber so? Ich hätte wahrlich keine Entschuldigung.“

„Du siehst ein,“ bemerkte die Geheimräthin mit Ernst, „wir müssen scheiden. Und zwar ohne Aufschub!“

„Es geht nicht anders,“ erwiderte Juliane.

Frau von Hainsfeld hatte die Wirkungen ihrer Erfindung mit allen Wonnen einer Siegerin betrachtet. Die Freude über das gelungene Wagniß, die entzückende Aussicht, die ihr nun für das Glücken ihres Lieblingsplans geöffnet war, machte sie förmlich übermüthig; sie betrachtete die Damen und sagte: „Ich sehe, daß es vergeblich wäre, Sie noch längere Zeit in Hainsfeld halten zu wollen. Aber das glaube ich von Ihnen erbitten zu können, daß Sie uns nicht sogleich verlassen. Sie müssen wenigstens noch einen Tag bleiben! Erinnern Sie sich doch, daß mein Sohn morgen die Maschinen erklären und probiren wird!“

In wahrhaft bewundernswerther Uebereinstimmung verzogen sich hier die Lippen Bernhardine’s und Juliane’s mit so gleichmäßiger Elasticität, daß Niemand hätte sagen können, welche mehr Ironie und Spott ausdrückten.

„Allerdings,“ rief Bernhardine, „es würde unendlich interessant sein, im großen Style das Gras fallen und von den zerdrückten Schollen den Staub wirbeln zu sehen! Geist und Herz würden dabei in gleichem Maß ihre Rechnung finden! Ich fühle mit Schmerzen, welche innige Genugthuung und hochwichtige Belehrung mir dadurch entzogen wird; aber es ist nun einmal nicht zu ändern. Wir Frauen können nicht früh genug lernen, dem Theuersten zu entsagen, und so verzichte ich auf die mir gestattete Theilnahme, indem ich voraussetze, daß meine Freundin, der das Schauspiel ja zuerst auch allein zugedacht war, sich durch Nichts die Freude wird nehmen lassen, ihm beizuwohnen.“

„Unmöglich!“ rief Juliane höchst entschlossen. „Der Genuß wäre außerordentlich, und nur mit dem tiefsten Leidwesen entsag’ ich ihm. Aber ich bezwinge mich selbst und opfere meine Freude, um eine geliebte Verwandte zu erfreuen, die mich erwartet.“

Die Generalin sagte: „Sie verzeihen, wir müssen uns rüsten,“ grüßte mit der Hand und verließ mit Bernhardine den Saal.

Die Geheimräthin und Juliane folgten ihnen.

Als die Flügelthüren wieder geschlossen waren, blickte Frau von Hainsfeld mit einem um zwanzig Jahre verjüngten Gesicht auf den Sohn und brach dann in ein lautes, herzliches Gelächter aus. „Nein!“ rief sie, „das ist nicht zu bezahlen! Ich habe [803] viel von ihnen erwartet, aber sie haben’s bei Weitem übertroffen! Diese Entschlossenheit und diese Ungenirtheit! Wahrlich, der Muth, womit sie sich demaskirten, steht in gleicher Höhe mit der Schauspielkunst, mit der sie ihren landwirthschaftlichen Enthusiasmus durchführten, und die war doch bewundernswürdig! Mein Sohn, ich will schweigen und Dich nicht an Deinen Glauben erinnern; denn ich sehe, Du bist beschämt, mehr als genug.“

Richard stand mit einem hochrothen Gesicht voll des tiefsten Verdrusses. „Ja,“ rief er zornig, „ich schäme mich, und ich ärgere mich. Kaum zu glauben! Solch’ ein Manöver! Solch’ ein entwürdigendes Spiel!“

„O,“ rief die Mutter, „sei nicht zu hart, Richard! Der Zweck heiligt das Mittel, und was war der Zweck der geistreichen Mädchen? Dich zu gewinnen.“

Richard, unwillig, drehte sich weg und stieß einen leisen Fluch aus.

Die Thür war aufgegangen; vor der Mutter stand ein Dienstmädchen und sagte mit niedergeschlagenen Augen: „Frau Baronin haben nichts zu befehlen?“

Jene warf einen strengen Blick auf sie und entgegnete: „Nein! – Doch ja, Du kannst das Zimmer reinigen!“

Sie deutete auf die Thür zur Linken des Salons.

Das Mädchen trat einen Schritt näher und sagte, indem sie lauernd emporsah, mit traurig bittendem Tone: „Frau Baronin?“

„Es ist umsonst!“ rief diese. „Ich hab’ Dir’s gesagt und ich geh’ nicht davon ab. Eine Zwischenträgerin kann nicht bei mir bleiben!“

Die Abgewiesene öffnete die Seitenthür und schloß sie hinter sich zu.

Richard wendete sich wieder zur Mutter und sagte: „Jetzt haben aber wir ein Wort miteinander zu reden! Bildest Du Dir vielleicht ein, ich werde mich Dir nun fügen? Glaubst Du, weil Du mich für einen Bräutigam ausgegeben und mich gezwungen hast, Dir beizustimmen – ich werde nun auch gleich einer sein? Und zwar mit derjenigen, die Du mir aufnöthigen willst? Du irrst Dich, Frau Mama! Die Cousinen hast Du mit Deinem Märchen entlarvt; aber Deinem Ziel bist Du damit um keinen Schritt näher gekommen!“

Mit einer ernst ergebenen Miene versetzte die Baronin: „Mein Sohn, wenn ich Dich durch meinen Einfall von den beiden Heuchlerinnen befreit habe, so ist das immer schon Etwas! Du glaubst, ich will Dich zwingen, und Du sträubst Dich gegen den Zwang – dies ist in der Ordnung. Aber ich habe nur das Meinige gethan; ich habe Dir den Weg bereitet und überlasse von jetzt an Alles Dir, indem ich hoffe, daß, wo in der That kein Zwang ist, auch die Antipathie dagegen sich verlieren wird. Die Vorzüge, welche Auguste zieren, werden Deiner Seele sich darstellen, Dein Verstand und Dein Herz, ja auch Dein Herz, werden entscheiden! Auguste, von allem Andern abgesehen, ist ein aufrichtiges, wahrhaftiges Mädchen. Ich glaube, wenn sie durch ein einziges Wort, das ihr nicht von Herzen ginge, den Mann ihrer Wahl erringen könnte, sie würde es nicht sprechen. Sie wäre zu stolz dazu! Bezweifelst Du’s?“

„Nein,“ versetzte Richard, „für ehrlich halt’ ich sie. Aber keine Heuchlerin zu sein, das ist noch lange nicht Alles!“ Er lächelte, halb mit einer gewissen Befangenheit, halb mit Laune, und sagte: „Man will doch auch einigermaßen geliebt sein!“

„Auguste liebt Dich!“ versicherte die Baronin.

„Das wird so arg nicht sein! Sie wird mich heirathen – das glaub’ ich. Aber daß sie mich liebt, wirklich liebt, mit einer Liebe liebt, daß sie mich jedem Andern vorzöge –“

Die Frau nickte mit einem Blick des Vorwurfs. „So seid ihr Männer! Die ehrliche Neigung eines wackern Mädchens genügt euch nicht, ihr wollt geschmeichelt, gehätschelt, vergöttert sein – und fallt in die Netze der Betrügerinnen!“

Richard stand nachdenklich. „Lüge – und Prosa!“ erwiderte er. „Giebt’s nichts Anderes? Könnten nicht Ehrlichkeit und Gefühl und wahre, innige Liebe –“

Die Baronin erhob mahnend ihre Rechte. „Mein Sohn,“ rief sie, „ich warne Dich. Du jagst einem Phantom nach und versäumst darüber Dein Lebensglück! Ein außerdem so verständiger Mensch, der sich mit einem Roman-Ideal herumträgt! Ist’s zu glauben? Woher hast Du das nur? Wie ist Dir das gekommen?“

Mit einem Lächeln entgegnete Richard: „Es wird doch wohl ein Erbstück sein. Denn es sitzt ganz tief in meiner Seele und will durchaus nicht Unrecht haben.“

„Du behandelst die Angelegenheit selber mit Humor, das tröstet mich! Richard,“ fuhr sie mit ernster Güte fort, „ich wiederhol’ es, ich zwinge Dich nicht. Ich wünsche das, was ich aus allen Gründen für Dein höchstes Glück halten muß, aber ich will Dich nicht dazu drängen, in keiner Weise. Du bist von mir aus ganz frei! Ueberlege und entscheide Dich! Das muß ich Dir aber nochmals sagen: wenn Du Dich für Auguste entscheidest, so ist sie Dein. Adieu!“

Sie sah ihn nochmals an und ging dann in das Zimmer, worein sie das Mädchen gewiesen hatte. Nicht lange, so hört man eine entferntere Thür gehen.




3.

Richard, im Saal allein, schritt auf und ab. Dann blieb er stehen und versank in Gedanken. Er war in einer sonderbaren Stimmung.

Die lebhafte, enthusiastische Theilnahme, welche die Cousinen der Landwirthschaft – seiner Landwirthschaft und ihm selber zuwandten, hatten ihm in der Seele wohlgethan. Beide waren ihm damit vertrauenerweckend, liebenswürdig erschienen. Sein Herz hatte noch nicht gesprochen, weder für die Eine, noch für die Andere; aber er hatte sich doch gesagt: wenn eine von ihnen meine Neigung auf sich zöge, ich könnte mit Jeder glücklich leben. Die Genugthuung, die er empfand, machte ihn keineswegs blind für die Absicht der Mädchen, auf ihn einen angenehmen Eindruck machen zu wollen. Aber diese Absicht konnte ihn nicht nur nicht verletzen, im Gegentheil, sie mußte sein Vergnügen steigern. Daß ihr Eifer gemacht war, das glaubte er nicht. Giebt es denn in Wahrheit etwas Schöneres, als eine große, wohleingerichtete Oekonomie? Die Freude daran war natürlich. Daß man ihm aber die natürliche Freude zeigte, das war auch natürlich.

Nun hatte er sich gleichwohl getäuscht. Schimpflich getäuscht. Beiden war es nicht um die Landwirthschaft, nicht um den Landwirth, sogar nicht um ihn selber, sondern nur um eine gute Partie zu thun! Um ihn zu berücken und mit ihm seine Revenüen zu gewinnen, spielten sie die Begeisterten. Schmähliche Komödie.

Die Beraubung, welche das Verschwinden einer Illusion mit sich führt, pflegt nicht nur traurig zu machen, sondern auch muthlos. Man hat sich geirrt, man ist beschämt; hat man Ursache, hochgespannte Ansprüche zu erheben und auf ihre Erfüllung zu hoffen? Was Einem nun vorher nicht bedeutend, nicht kostbar genug vorkam, das steigt im Werthe. Es kann wünschenswerth, ja begehrenswerth, liebenswerth erscheinen und Zuneigung erwecken.

Richard, durch das falsche Spiel der Cousinen erzürnt, verwirrt, gedemüthigt, schaute umher nach einem Ersatz. Ungesucht trat das Bild Augustens vor seine Seele.

Es war nicht liebreizend, nicht bestrickend, aber es sprach ihn an. Es ließ ihn jetzt nicht mehr gleichgültig, sondern erweckte ein Gefühl in seinem Herzen. Er dachte: sie ist nicht so, wie ich mein Weib mir gewünscht habe, aber sie ist ein ehrenwerthes Mädchen, unfähig irgend welchen Betrugs, und das ist etwas werth, das ist viel, und das soll ihr gedankt sein. Woher weiß ich, daß ihr Herz nicht empfindet? Ich kann mich wieder irren! Ich habe sie zu streng beurtheilt, weil ich sie kenne und weil eben aus sie meine Augen gerichtet worden sind.

Er erwog den Gedanken, sich mit ihr zu verloben, und sagt zuletzt: es wird nicht anders gehen.

Wenn er dabei das Gefühl einer Auskunft, einer Rettung hatte, so schien ihm doch immer noch Etwas zu fehlen. Unmittelbar nach jenem Worte entschlüpfte ihm ein Seufzer. Aber das machte ihn ärgerlich auf sich selbst. „Thorheit!“ rief er. „Ich hab’ doch etwas Phantastisches in mir! Wir wollen aber jetzt ein Ende machen!“

Nach diesem Selbstzuruf wollte er den Saal verlassen. Als er in die Mitte gekommen war, klopfte es an die Flügelthür.

In einer gewissen Stimmung glaubt man an die Wunder des Zufalls. „Wenn sie’s wäre?“ dachte er. „Wenn sie uns besucht hätten?“

Unwillkürlich rief er „Herein!“ in einem einladenden, willkommenheißenden Tone.

[804] Die Thür ging auf und – Marie trat ein. Richard lächelte.

Marie, nicht ohne Befangenheit, aber mit der Miene eines gefaßten Entschlusses, mit einem gehobenen, edlen Ausdruck, näherte sich und sagte: „Lieber Vetter, meine Mama schickt Ihnen hier die Bücher zurück und läßt herzlich dafür danken.“

Sie legte zwei zierliche Bände auf den Tisch an der Seite.

Richard nickte freundlich. Marie sah ihn an. „Dann,“ fuhr sie fort, „möchte ich Sie um Verzeihung bitten. Ihre Mama hat uns Ihre Verlobung mitgetheilt und ich bin fortgegangen, ohne Ihnen Glück zu wünschen.“

Dem jungen Mann entriß das Bewußtsein des wirklichen Sachverhalts einen Laut, der ihn beinahe verrathen hätte. „Deswegen!“ rief er.

„Ich verlasse Sie,“ erwiderte das Mädchen, „und es wäre mir sehr unlieb, wenn in Ihnen eine falsche Meinung von mir zurückbliebe.“

„Gutes Bäschen, das hätte ich Ihnen nicht übel ausgelegt.“

„Sie hätten’s aber dürfen!“ entgegnete Marie. Mit einem Bedenken und zugleich mit Selbstgefühl in ihren Zügen fuhr sie fort: „Auch die Andern haben geschwiegen. Und als ich allein war, fiel mir ein, ich könnte Ihnen vorkommen wie sie.“

„Und das wollen Sie nicht?“

„Nein!“

Richard nickte beifällig und mit einem Lächeln, das ungefähr hieß: darin leitet Dich ein gutes Gefühl.

„Wenn ich geschwiegen habe,“ sprach Marie weiter, „so hat das einen anderen Grund. Ich habe nichts gemein mit jenen Damen. Gar nichts!“ Sie schaute ihn an, ihre Wangen rötheten sich, ihre Augen schimmerten von Empfindung. „Ich wünsche Ihnen wirklich und aus tiefster Seele alles Gute. Nichts in der Welt kann mir lieber sein, als zu wissen, daß Sie glücklich sind.“

„Ah!“ rief jener, und eine Ahnung überkam ihn von dem Zustande des Herzens, welches diese Worte eingegeben hatte.

Das Mädchen sah zu Boden. Dann erhob sie den Blick und sagte: „Glauben Sie nicht, daß ich deswegen, weil ich nicht davon sprach, kein Auge gehabt habe für die Schönheit Ihres Gutes, für Ihren Eifer als Landwirth und für Ihre vortreffliche Verwaltung. Ich habe das Alles recht gut gesehen und meine wahre Freude daran gehabt; aber ich habe es für mich behalten. Ich mochte auch nicht den Schein auf mich laden, als ob ich Ihnen damit schmeicheln wollte.“ Und mit einem Selbstgefühl, das ihre feuchten Augen glänzend machte, setzte sie hinzu: „Wir armen Leute haben unseren eigenen Stolz. Und das ist sehr nöthig!“

Richard schaute sie mit großen Augen an.

Sie, mit herzlicher Güte, fuhr fort: „Mich freut es, wenn es guten Menschen auch gut geht und wenn Alles zusammenpaßt. Ich habe mir gesagt: mein Vetter hat Alles, was ein Mann sich wünschen kann. Ein herrliches Gut, eine außerordentliche Freude daran, einen Trieb, es zu verbessern, zu verschönern, und die Mittel dazu. Seine übrigen Verhältnisse stimmen damit überein, und es fehlt ihm nichts, nichts als eine Frau, die ihn versteht und die mit ihm harmonirt. Wenn er diese findet, dann ist Alles beisammen und er ist ganz glücklich! Und nun habe ich vor meinem Abschiede noch die Freude gehabt, zu hören, daß sie gefunden ist.“

Richard war ernst geworden und erröthete. Nicht ohne Verwirrung sagte er: „Sie sind gut! Und – Sie wollen also fort?“

Marie schaute ihn verwundert an. „Ich bin gekommen,“ erwiderte sie, „den zu meiner Beschämung versäumten Glückwunsch nachzutragen und Abschied zu nehmen. Ich kann Ihnen betheuern, es ist mir nichts angenehmer, als Hainsfeld mit der Gewißheit verlassen zu können, daß hier das Glück zurückbleibt, so reich, so vollkommen, wie man es auf dieser Erde haben kann!“

„Freundlich, freundlich!“ rief jener erregt. „Aber gehen Sie denn gern, Marie?“

„Jetzt – ja!“

[817] „Werden denn aber Sie glücklich sein, Marie?“ fragte Richard nach einer Pause. „Sie ziehen zu einem alten Menschenfeind. Was können Sie dort finden?“

„Nicht viel,“ entgegnete sie. „Aber was ich brauche, das bringe ich mit.“ Und als er sie fragend anschaute, setzte sie hinzu: „Ein zufriedenes Herz.“

Richard betrachtete sie, wie um ihre Gedanken zu erforschen. „Wer zufrieden ist, hat, was er wünscht. Haben Sie das?“

[818] „Fast möcht’ ich sagen, ja! Denn ich bin dahin gekommen, zu wünschen, was ich habe. Allem, was mir versagt ist, habe ich entsagt, und was ich habe, ist mir nun Alles.“

Richard schüttelte den Kopf.

„Ich habe wenig,“ fuhr sie fort, „es ist wahr. Fast gar nichts! Dafür habe ich aber eine Seele, die in sich selber glücklich zu sein vermag. Und diese findet ihre Rechnung gerade in der Einsamkeit.“

„Wird sich dort Ihr Glück nicht erschöpfen?“ entgegnete der junge Mann, dessen Mienen immer mehr eine Absicht auszudrücken schienen. „Wir können viel für uns allein, glücklich sind wir aber nur, wenn ein Andres mit uns glücklich ist.“

Eine Röthe ging über die Wangen des Mädchens, ein wehmüthiges Lächeln über ihre Lippen. Aber sie faßte sich und erwiderte mit Güte: „Das muß Ihre Empfindung sein, lieber Vetter. Aber für jeden Verlust, für jeden Mangel giebt es in diesem Leben einen Ersatz, und darum ist nicht nur das Eine möglich, sondern auch das Andre. Sie haben einen leidenschaftlichen Trieb zur Thätigkeit – und den Boden dazu. Sie lieben – und sind geliebt. Ihnen muß es wohl so vorkommen, als ob man nicht glücklich sein könnte ohne einen schönen eigenen Wirkungskreis und – ohne Gegenliebe. Aber doch kann man’s. Was uns die Welt versagt, das ersteht in unserm Innern, das giebt sich unsere Seele. Etwas giebt uns doch auch die Welt – und wir hängen um so treuer an dem Wenigen, wir beuten es um so liebevoller aus. Der Arme findet sein Glück, indem er seine Pflicht erfüllt. Und – wer nicht geliebt wird, der findet sein Glück, indem er liebt.“

Richard sah für sich hin. „Kann man lieben ohne Gegenliebe?“ sagte er dann.

Marie schaute ihn mit einem Blick des Vorwurfs an.

„Ich will besser fragen,“ sagte er. „Kann man fortfahren zu lieben – kann man ausdauern in der Liebe ohne Gegenliebe?“

Sie nickte mit einer Miene, die nicht ohne Bitterkeit war.

„Sie reden wie ein Mann. Kennen Sie keine Beispiele? Nicht nur Frauen, auch Männer haben so geliebt!“

„Dann will ich Ihnen auch das zugeben,“ erwiderte er. „Aber Sie lassen die Liebe glücklich sein ohne Gegenliebe. Glücklich! Ist das möglich?“

„Wenn man wahrhaft liebt,“ entgegnete Marie mit einem Eifer, der sie erröthen machte, „ja. Was ist die Liebe denn anders, als das tiefste und schönste Gefühl, die seligste Empfindung? Was ist sie anders, als Glück? Wenn sie aber nach Erwiderung trachtet und der Mangel daran ihr Herzeleid schaffen muß, so ist der wahren Liebe dieses Herzeleid süß und theuer, und sie würde es nicht lassen um alle Güter der Erde. Die Liebe, die nicht geliebt wird, giebt das Edelste hin, ohne Etwas dafür zu empfangen, sie ist großmüthig, hochherzig, und das ist ein stolzes, trostreiches Gefühl. Nein,“ fuhr sie mit wachsender Erregung fort, „die wahre Liebe kann nicht unglücklich werden durch Mangel an Gegenliebe. Sie ist zu reich, zu groß, zu uneigennützig, zu göttlich dazu. Sie wünscht dem Geliebten alle Genugthuung, alle Freuden des Lebens. Sie sorgt für ihn, sie lebt in ihm, und wenn sie alle seine Wünsche erfüllt sieht, dann hat sie selber Alles, was sie begehrt, und sie ist glücklich – ganz glücklich!“

Mit dem Mädchen, indem es so sprach, war eine Verwandlung vor sich gegangen. Die in sich gekehrte, verzehrte, verzagte, schüchterne Marie war verschwunden, eine Andere war an ihre Stelle getreten. Die Entsagung, die sie sich abgerungen, der Sieg über sich selbst, die Aufregung des Moments, der Gang des Gesprächs hatten die ganze Schönheit ihres Gemüths, den ganzen Adel ihres Charakters entbunden. Die innerste Kraft ihrer Seele war einer Flamme gleich in ihr emporgestiegen, hatte die Gestalt aufgerichtet und durchglänzte, durchglühte ihr Angesicht. Die Geister der Jugend, die Geister der Liebe siegten in ihr, die Welkende stand als eine Blühende da.

Richard betrachtete sie mit Staunen. Ernste Bewegung, Hochachtung sprach aus seinem Blick. Sein Herz begann zu klopfen und eine schauer-süße Empfindung bebte darin. Allein er hielt an sich. „Wer so liebt,“ entgegnete er, „der kann es aber nicht ungeliebt. Es ist unmöglich. Zu solcher Liebe kommt die Gegenliebe und mit ihr doch erst das wahre Glück.“

Marie lächelte mit Ueberlegenheit, nachsichtig. „Sie können von Ihrem Gedanken nicht abkommen. Und am Ende haben Sie Recht. Liebe und Gegenliebe zusammen sind doch erst das Beste, das ganze Glück, das Vollkommene. Ihnen, ich muß es annehmen, ist dies geworden. So freuen Sie sich denn und genießen Sie Ihr Glück. Ihre Freunde, glauben Sie das, freuen sich mit Ihnen.“

Richard betrachtete sie mit unwiderstehlichem Entzücken. „Sie ist ein Engel!“ rief es in ihm. „Und sie liebt mich. Ja, sie liebt mich! Das Unerwartetste – ein Wunder ist für mich geschehen.“

Auch er war ein Anderer geworden. Die tiefsten, zartesten Gefühle hatten sich erschlossen in seinem Herzen und wurden herrschend in ihm. Geist, Güte, Glück verschönten, verklärten sein Angesicht.

Marie war einen Schritt näher getreten. Mit einem eigenen Lächeln, bittend, fast schmeichelnd sagte sie: „Mein lieber Freund, ich scheide. Ich ziehe mich von hier aus in ein Asyl zurück, das so gut ist wie ein Kloster. Ich komme mit Niemand in Verkehr – und ich kann schweigen. Sagen Sie mir, zum Abschied, den Namen Ihrer Braut. Vertrauen Sie mir und thun Sie mir auch Etwas zu Liebe. Wer ist sie?“

„Wer sie ist?“ wiederholte er, während sein Herz mächtig pochte, zögernd.

„Sagen Sie mir’s!“ rief sie. „Sie zaudern. Muß es denn ein Geheimniß bleiben?“

„Nein!“ rief Richard entschlossen, mit leuchtenden Augen. „Für Sie nicht, für Niemand mehr. Alle Welt soll Diejenige kennen, die ich liebe und ewig lieben werde.“

Marie, mit bebender Lippe, rief: „Der Name?“

Richard ging auf sie zu, faßte ihre beiden Hände und rief: „Du bist’s, Marie! Du, und keine Andere. Das liebste, edelste, beste Geschöpf. Du, ja Du, wenn Du mich nicht verschmähst!“

Das Mädchen war erschrocken und jäh erbleichend zurückgefahren. Aber der Blick Richard’s und der Ton seiner Stimme hatten etwas unwiderstehlich Ueberzeugendes. Die Röthe kehrte wieder. Sie stand wie eine Rose, selig glühend, alle Wonnen der Liebe strahlten aus ihren Augen. Dennoch entgegnete sie: „Richard, um’s Himmelswillen, das Wort Ihrer Mutter –!“

„War eine Erfindung, um die Heuchlerinnen zu entlarven, die gekommen waren, ihren Sohn zu betrügen. Eine Täuschung, die ich segne, denn ich danke ihr das höchste Glück meines Lebens.“ Er schaute sie an, lächelnd, strahlend, und rief: „Liebst Du mich aber auch, Marie? Liebst Du mich wirklich?“

„O,“ rief die Ueberglückliche, „namenlos!“

Und Richard umfaßte, küßte sie und sagte feierlich: „So bist Du meine Braut.“

Im Saal war es stille. Eine Weile dauerte das Schweigen. Plötzlich, vom Gange, ließen sich Tritte hören.

„Die Mutter! Deine Mutter!“ flüsterte Marie. „Was wird sie sagen?“

Der Liebende lächelte stolz. „Du bist mein,“ sagte er, „alles Uebrige ist meine Sache.“

„Es sind Mehrere,“ versetzte das Mädchen horchend.

„Ah!“ rief er, „man wird Abschied nehmen. Tritt ein wenig auf die Seite. Es gilt vorerst noch eine kleine Komödie, spielen wir sie.“

Marie entfernte sich von ihm. In ihrer Haltung lag bei dem tiefsten innern Glück eine Bescheidenheit, eine Ergebung, die Niemand hätte spielen können.




4.

Die Thüre ging auf. Frau von Hainsfeld, vom Gange hereinsehend, sagte: „Er ist da, haben Sie die Güte.“

Und es erschienen und traten herein die Generalin und Bernhardine, die Geheimräthin und Juliane. Die Baronin folgte ihnen und ging auf ihren Sohn zu.

„Richard,“ begann sie, „wir sind in einer schlimmen Lage. Die Herrschaften kommen zu mir und machen mir die größten Vorwürfe. Ich hätte mir einen frevelhaften Scherz mit ihnen erlaubt; ich hätte sie getäuscht, beleidigt. Keine Rede davon, daß Du verlobt wärest. Das hätten wir nur erfunden, um sie irre zu führen und zu verhöhnen.“

Juliane, feierlich, mit dem Ansehen einer erwählten Sprecherin, trat vor und sagte zu Richard: „Ja, Herr von Hainsfeld, das [819] haben wir gesagt und mit Recht. Die Braut, das ,in jeder Hinsicht vorzügliche Mädchen’, wie sie uns geschildert worden ist, existirt nicht. Sie haben mit uns Komödie gespielt, Sie haben unsere heiligsten Gefühle mißleitet, geäfft. Wie konnten Sie uns das thun? Womit haben wir eine solche Behandlung verdient? Wir sind von Ihnen und Frau von Hainsfeld unverzeihlich gekränkt.“

„Es ist neu,“ versetzte Bernhardine, „daß man von der Residenz auf’s Land kommt, um sich hier zum Besten haben zu lassen.“

„Es ist ein Affront!“ rief die Generalin.

„Es ist ein gänzliches Verkennen der Rücksichten,“ fügte die Geheimräthin hinzu, „die man uns schuldig gewesen wäre.“

Die Baronin stand mit entschlossener Miene. „Meine Damen,“ versetzte sie. „Sie sind im Irrthum. Ich werde es Ihnen beweisen und Sie überzeugen. Mein Sohn,“ fuhr sie zu Richard gewendet fort, „Du siehst, das Geheimniß ist nicht länger zu bewahren. Du mußt Dich entschließen, den Namen Deiner Braut zu nennen, damit jeder Zweifel in den Herzen unserer werthen Verwandten getilgt werde. Du mußt. Es geht nicht mehr anders.“

Mit einem Blick, welcher die Andern um Erlaubniß bat, nahm sie Richard bei der Hand und führte ihn an’s Fenster. Hier, flüsternd, sagte sie: „Mein Freund, mach’ kurzen Proceß. Die Susanne, die kleine Kröte, muß etwas erhorcht und uns verrathen haben. Betrachten wir’s als eine Schickung und benutzen wir sie. Sag’ ihnen: meine Braut ist Auguste von Bolzen. Ich sende dem alten Herrn sofort einen Brief, heute noch machen wir unsern Besuch, und Deine Bräutigamschaft ist eine Wahrheit. Sei ein Mann, handle kühn und rasch.

Richard erwiderte: „Ich werde handeln!“

„Gott Lob!“ hauchte die Baronin, indem das Roth der Freude sich über ihre Wangen goß.

Mit edlem Anstand vortretend begann Richard: „Meine verehrten Damen! Sie wissen als Leserinnen der Journale, es giebt ,verfrühte Nachrichten’. In dem Geiste derjenigen, die sie verkünden, ist eine Ahnung von dem erstanden, was sein soll und kommen wird. Ergriffen von der Schönheit des Gedankens, sehen die Lebhaften ihn schon erfüllt, obwohl die Erfüllung erst vorbereitet oder nur angebahnt ist, und sie melden in ihrem Eifer ein fait accompli! Zu diesen lebhaften, prophetischen Geistern gehört meine liebe Mama. Und so ist es ihr begegnet, Ihnen zu sagen, ich sei Bräutigam. Ich widersprach nicht. Ich stand hart an dem Moment, wo ich Bräutigam sein sollte, mich leitete das überwältigende Gefühl der nächsten Zukunft. Und siehe da, ihr prophetisches Wort – in der Spanne Zeit, in der wir uns nicht mehr gesehen haben – ist schon Thatsache geworden. Ich bin Bräutigam, glücklicher Bräutigam! Die Gratulationen, die Sie mir gegönnt haben, sind mit nichten profanirt, sie ehren ein wirkliches, ein Ihrer freundlichen Sympathie vollkommen würdiges Verhältniß.“

„Den Namen, Herr Cousin!“ rief Bernhardine mit nicht mehr zu haltender Ungeduld. „Nennen Sie uns den Namen!“

„Es ist ein Name,“ versetzte Richard, „den Sie kennen. Und die Trägerin ist in Wahrheit ,ein in jeder Hinsicht vorzügliches Mädchen’, an Schönheit und Tugend so reich, wie nur jemals –“

„Das versteht sich von selbst,“ fiel Juliane ein. „Aber so nennen Sie doch den Namen!“ rief sie, indem ihre Gefühle dem Gesicht fast ein böses Gepräge gaben.

Die Baronin weidete sich an dieser leidenschaftlichen Ungeduld. Sie freute sich des Humors, womit der Sohn die selbstsüchtigen Schönen hinzuhalten und zappeln zu lassen schien. Sie war ein Weib, sie schwelgte im Bewußtsein ihrer Erfolge und ließ sich, nachdem die Dinge nun einmal soweit gekommen waren, das auch ohne allen Zwang ansehen.

„Der Name,“ entgegnete Richard, „soll Ihnen genannt werden.“ Mit ernstem, beinahe feierlichem Ausdruck setzte er hinzu: „Nicht nur den Namen sollen Sie hören, Sie sollen die Verlobte selber kennen lernen.“ Und indem er auf sie, die völlig unbeachtet bei Seite gestanden halte, zuging, sagte er: „Hier ist sie, Marie von Weiden, meine über Alles geliebte Braut, in wenigen Wochen, so Gott will, meine Frau!“

Er faßte die Rechte der demüthig Erröthenden, Wonnebangen und stand neben ihr.

Nun war die Reihe, fassungslos zu erschrecken, an Frau von Hainsfeld. Sie hatte sich auf den Moment, wo der Name „Auguste von Bolzen“ ihr einen köstlichen Ohrenschmaus bereiten sollte, man kann beinahe sagen, kindisch gefreut. Und nun hörte sie, unglaublich, undenkbar, „Marie von Weiden“! Sie sah den Mannesernst des Sohnes, die vollkommene Entschlossenheit, womit er neben ihr stand, sie mußte es glauben. Mit einem Gesicht, dessen schönes Roth sich in fahles Blau verwandelt hatte, starrte sie auf das Paar. Jedes Begriffes, jedes Entschlusses beraubt, schwieg sie; das vernehmliche Athmen und das Wogen ihrer Brust verriethen einen kaum zu bändigenden Tumult ihres Herzens.

Die Damen aus der Residenz waren durch diese Wendung zuerst nicht viel weniger betroffen. Aber bald – und auch diesmal in wundersamer Harmonie – erschien ein spöttisches Licht in den vornehmen Gesichtern und aus den Augen gingen überlegene Blicke. Sie sahen die Bestürzung, die Pein derjenigen, in welcher sie doch ihre eigentliche Gegnerin erkennen mußten, und der Honig der Rache labte die Verlangenden. Der Ausgang hatte in seiner unglaublichen Unmotivirtheit, in dem Mangel alles Glanzes hinsichtlich der Erwählten für sie etwas Humoristisches, um nicht zu sagen Komisches. Die Seelen der Hochgestellten erinnerten sich ihres Werthes, sie fühlten sich fähig, das Ereigniß von oben zu betrachten, und nicht nur die uranfängliche Würde, sondern fast Genugthuung kehrte in ihre Mienen zurück. Die Töchter lächelten, die Mütter lächelten, und den wirklichen Hergang ahnend, betrachteten sie ebenfalls ohne allen Zwang die gestrafte „Intrigantin“ mit inniger Schadenfreude.

Aber schon streckte sich vor diese der Schild, der sie gegen die zu erwartenden Pfeile decken sollte.

Richard, mit der Geliebten, trat vor die mit sich selbst Ringende und sagte: „Liebe Mama, wir bitten Dich nun um Deine gütige Zustimmung. Die gepriesene Jungfrau, die Du angekündigt – hier ist sie. Du hast mir heute früh noch Marie von Weiden als diejenige genannt, die Du für mich andern, gleichfalls ausgezeichneten jungen Damen vorzögest, ich habe sie gewählt und ich erwarte von Deiner Liebe die freudige Bestätigung, die meiner Wahl erst die Weihe giebt.“

„Verehrte, liebe Base,“ rief Marie bittend mit ihrem süßesten Ton, mit dem holdesten Aufblick ihrer braunen Augen.

Die Baronin erkannte, daß die Zustimmung das Einzige sei, was ihr übrig blieb. Sie war im Grunde eine gute Frau, und blinde Hartnäckigkeit lag weder in ihrem Temperament, noch in ihrem Charakter. Die schöne, rührende Leidenschaft des jungen Paares machte Eindruck auf sie und nebenbei war ihr der Gedanke höchst erfreulich, die Damen, deren boshafte Blicke sie wohl bemerkt und schmerzlich gefühlt hatte, nun ihrerseits recht schmerzlich beschämen zu können. Auguste war unmöglich, Marie unumgänglich, in Gottes Namen!

Würdevoll ergriff sie die Holdselige bei der Hand, zog sie an ihr Herz, umarmte, küßte sie auf die Stirn und rief gerührt: „Du bist meine liebe Tochter.“

„Mutter!“ rief der Sohn mit leuchtendem Danke.

„Mutter!“ wiederholte Marie, indem Thränen in ihre Augen drangen.

Die Damen waren in Folge dieser Scene ernster geworden, hatten sich aber nicht dadurch täuschen lassen. Sie wußten, daß die Frau nur gute Miene machte, und die Genugthuung ihrer Seelen konnte ihnen daher nicht ganz entrissen werden. Die Generalin, mit einem Gesicht, das hinter seiner Artigkeit unvertilglichen Unglauben ausdrückte, näherte sich der Gruppe und sagte: „Nehmen Sie denn unsere Glückwünsche auf’s Neue und glauben Sie an unser erhöhtes Mitgefühl. Sie werden glücklich sein, Richard von Hainsfeld. Denn immer sind es diejenigen gewesen, die sich mit ihren Ansprüchen in bescheidenen Grenzen gehalten haben.“

Das glückliche Paar, der Verletzten die Genugthuung dieses Wortes gönnend, dankte erheitert.

Jene wandte sich hierauf zur Mutter und sagte: „Erlauben Sie mir noch eine kleine Bitte. Sie kennen die Gründe, die uns zwingen, Hainsfeld heute noch zu verlassen. Ich wünsche nun aber ein Andenken an unsern Aufenthalt zu besitzen und möchte darum von hier Etwas mitnehmen.“

„Befehlen Sie,“ rief die Baronin. „Was ist es?“

„Ihr Stubenmädchen Susanne,“ versetzte die Generalin. „Die Kleine gefällt mir, und wenn Sie die Freundlichkeit hätten –“

„Gern,“ erwiderte Frau von Hainsfeld mit beinahe durchbrechender Schelmerei, „obwohl ihre Dienstzeit erst in vierzehn Tagen aus ist, so will ich sie doch, Ihnen zu Liebe, sogleich ziehen [820] lassen. Das Mädchen hat Fähigkeiten, aber sie passen weniger für das Land, als für die Residenz, und ich bewundere den Scharfblick, womit Sie das augenblicklich erkannt zu haben scheinen.“

Man bedankte, beglückwünschte sich noch einmal, und die Damen empfahlen sich.

Die Drei standen zusammen und drückten sich die Hände und lächelten glücklich. Die Bitte der Generalin hatte dem Humor der Mutter nicht geschadet.

Die Thür ging wieder, und es erschien Frau von Weiden. Mit einem Blick auf die Tochter rief sie: „Du bist noch hier, Marie? Ich suchte Dich. Der Brief an den Onkel ist geschrieben, und ich wünsche, daß Du selbst einige Zeilen hinzufügtest.“

Man kam ihr entgegen. Die strahlenden Gesichter mußten ihr auffallen.

„Liebste Base,“ sagte Richard, „zerreißen Sie den Brief wieder. Wir schaffen dem alten Herrn so schnell als möglich eine ausgezeichnete Wirthschafterin. Aber Sie und Marie bleiben hier, wenn Ihre Güte den Bitten der Liebe sich fügen will. Marie als Herrin von Hainsfeld, Sie als meine höchstverehrte Schwiegermutter.“

Die Frau starrte ihn an. Das war ein Glück, zu groß, um es gleich fassen zu können.

Die Tochter ging auf sie zu, umarmte sie und rief, an ihrem Halse zugleich jubelnd und weinend: „Ich bin seine Braut. Glaub’ es und gieb uns Deinen Segen.“

Thränen im Auge umarmte die Gute die Kinder, wünschte alles Heil auf ihre Häupter herab und fiel der gerührten Freundin um den Hals. Dann, sich sammelnd, rief sie: „Aber wie ist das möglich gewesen? Wie ist’s gekommen?“

„Unverhofft,“ entgegnete Marie, „sehr unverhofft.“

„Unverhofft,“ wiederholte Richard, „wie uns eben die höchsten Geschenke des Himmels zu kommen pflegen. Unverhofft, aber nicht unvorbereitet. Wenn Zwei sich verbinden, die auf’s Innigste fühlen, daß sie ohne einander nicht zu leben vermöchten, dann ist die Ehe im Himmel geschlossen und hat kommen sollen, kommen müssen. Gott sei Dank, der’s uns zu rechter Zeit erkennen ließ!“



Anmerkungen (Wikisource)

  1. Vorlage: Berhardine