Ein untergehendes Volk

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Titel: Ein untergehendes Volk
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aus: Die Gartenlaube, Heft 50, S. 788–791
Herausgeber: Ernst Keil
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Erscheinungsdatum: 1865
Verlag: Verlag von Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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Ein untergehendes Volk.

An der Nordküste Anatoliens, wo das Waldgebirg Aghatsch zu den Wogen des schwarzen Meeres hinabsteigt, befindet sich ein meilenweites Lager. Hier haben Dreißigtausend von jenen Tscherkessen einstweilige Unterkunft gefunden, die nicht länger unter dem Joche der „Ungläubigen“ leben mochten, sondern vorzogen auszuwandern und in muhammedanischem Lande sich eine neue Heimath zu gewinnen. Die Zeitungen haben uns von dem Elend dieser Auswanderer wiederholt berichtet, das allerdings furchtbarer nicht gedacht werden kann. Unter ärmlichen, unsauberen Filzzelten (Burkas), in düsteren und feuchten Erdgrubenhütten oder luftigen Zweigbaracken liegen hier diese Dreißigtausend. Auf plumpen Lodken (Segelfahrzeugen mit Rudern versehen) sind sie ausgefahren von den Ufern des Rion, aus Gelendschik, Anaklia, Ossurgeti, Poti, Redut-Kaleh, oder wo es ihnen

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Tscherkessen beim Überfall.
Nach der Natur gezeichnet von Theodor Horschelt.

[790] gelang, die Ufer des „Meeres der Gastfreundschaft“ zu erreichen; sie haben hinter sich gelassen den immergrünen Buschwald von Imeretien und Mingrelien, die düsteren Schluchten, durch welche der Terek rauscht, die schneeigen Gipfel des Kasbek und Elbrus; den Rücken wandten sie der väterlichen Isba (Hütte) und den Auls (Dörfern) der geliebten Heimath. Denn sie ist entweiht: der ketzerische Moskof legt seine schwere Hand darauf und verbietet das Stegreifthum, den lustigen Nachtritt nach feindlichen Heerden, die Blutrache und den Weiberhandel. Da hat denn das arme, freiheitliebende, zwar bewältigte, aber unbezähmbare Volk der Berge beschlossen, dem Vaterland Valet zu geben und Schutz und Hülfe zu suchen beim Herrn der hohen Pforte, dem Beschützer aller Gläubigen. Jene Dreißigtausend, welche in Anadoli lagern, sind nur die letzten Nachzügler; andere, früher ausgewanderte Tscherkessenschaaren liegen in der Dobrudscha, zwischen Varna und Kustendsche, auf der Halbinsel Gallipoli, im Waldgebirg der Dragodina und da und dort in der Provinz Rumili; die Gesammtzahl der Heimathlosen beläuft sich weit über Hunderttausend und sie ist ungeheuer im Verhältniß der dünnen Bevölkerung des Kaukasus. Die Russen legen der Auswanderung kein Hinderniß in den Weg, sie wissen wohl warum. Die Türkei jedoch ist durch sie in große Verlegenheit gekommen. Die Regierung darf die Glaubensgenossen, welche der Herrschaft des griechischen Kreuzes entfliehen, nicht zurückweisen und doch weiß sie durchaus nicht, was sie mit ihnen anfangen soll; von Tag zu Tag häufen sich die Schwierigkeiten. Einstweilen begnügt sie sich damit, den Flüchtigen bestimmte Gebiete anzuweisen und ihnen Lebensmittel zuführen zu lassen, aber dies kann nur in höchst unzureichender Weise geschehen, zumal in Gegenden, welche kaum das Nothwendige für die eigene Bevölkerung produciren. Daher ist unter den armen Kaukasiern die höchste Noth ausgebrochen, mehr noch, die Cholera; täglich sterben Hunderte dahin und das Elend unter ihnen wächst in unbeschreiblichem Maße.

Freilich waren ihnen auch Ländereien und Saatgetreide zugetheilt worden, aber sie hatten das letztere verzehrt, ohne die ersteren zu bestellen; denn die freien Söhne der ewigen Berge erachten den Ackerbau für Schande und betreiben ihn nur vermittelst ihrer Sclaven. Als Soldaten wären sie wohl zu gebrauchen und der Regierung als solche willkommen, wenn sie nur lernen wollten sich der Disciplin fügen; das ist ihnen aber ganz unmöglich; selbst der Versuch, sie unter die Baschi-Bozuks (eine Art freiwillige Landwehr) zu bringen, ist gänzlich fehlgeschlagen. Einer ihrer Haufen hatte sich in den Dragodinawald (im Gebirge Tekir, das parallel mit den Dardanellen von Nordosten nach Südwesten läuft) geworfen, daselbst Verhaue errichtet und brandschatzte die Umgegend auf unerhörte Art; namentlich litt die Stadt Enos darunter. Der Gouverneur, Hakki-Pascha, beschloß dem Unwesen ein Ende zu machen und zog mit achtzig regulären Soldaten und ein paar Hundert Baschi-Bozuks vor das Räuberlager. Bei den ersten gewechselten Schüssen flohen die letzteren, aber die Regulären stürmten mannhaft, siegten und zersprengten, tödteten oder fingen die Meisten der ihnen an Zahl weit überlegenen Tscherkessenbande. Und doch war der Anführer der letzteren, welcher mit mehreren Getreuen zu Pferde entkam, ein berühmter Held des kaukasischen Krieges. Mohammed-Bey. Aus dieser und vielen ähnlichen Thatsachen geht sowohl die üble Lage der Pforte, als auch ihre immer größer werdende Gleichgülligkeit gegen die Leiden ihrer Gäste zur genügenden Erklärung hervor, und furchtbar sind ihre Leiden – und so sterben sie dahin, vergehen hier in der Fremde, wie dort in der Heimath, ein verlorenes, zum Untergange bestimmtes Volk. Umsonst bieten sie ihre Weiber, ihre Töchter, ihre Kinder zum Verkauf – der Sclavenhandel wird selbst in der Türkei nur geduldet, wo die Macht fern ist – umsonst geben sie selbst ihr Kostbarstes, ihre Waffen, hin für Reis und Fleisch; aber lieber verhungern sie, lieber fallen sie der Seuche zum Opfer, als daß sie den Arm heben zur Bebauung des Bodens! Sie sind verloren!

Diese Auswanderer sind so ziemlich die letzten Reste des besten Kerns jener unabhängigen Völkerstämme des Kaukasus, deren Kämpfe gegen die Bezwinger seit mehr als hundert Jahren die Aufmerksamkeit des Abendlandes auf sich gezogen haben, welches gern in ihrem bergigen Vaterland die Heimath seiner Völkerracen erblickt. Schon Peter der Große (1711), schon Potemkin (sprich Patjomkin) 1780 rüttelten an den Felsenthoren der kaukasischen Vesten, aber mit geringem Erfolg. Und längst nachdem Transkaukasien bis zum Araxes bezwungen und russischer Oberhoheit unterworfen war, hielten sich noch die kleinen, aber tapferen Stämme des Bergvolks gegen die gewaltigen Heere des Czaren, welche jeden Fußbreit eroberten Landes mit Strömen Blutes düngen, mit gebleichten Knochen übersäen mußten.

Die Nation, welche wir unter dem Namen „Tscherkessen (Cirkassier)“ begreifen, existirt nicht, oder vielmehr, wir fassen darunter eine ganze Reihe von verschiedenen Völkerstämmen zusammen. Im westlichen Kaukasus bilden die eigentlichen Tscherkessen, deren Wohnsitze sich vom Kuban bis zum Flusse Bu unweit Gagra erstrecken, den Kern der Bevölkerung, um welchen in geringer Zahl Stämme der Abchasen, Ubichen, Dshigeten, Kabarden und Tataren vom Elbrus (Karatschai) sich gruppiren. Im östlichen Kaukasus sind die Tschetschenzen das Hauptvolk; sie wohnen in dem Gebiet des Terekflusses; an sie reihen sich südöstlich vom Koisu die Lesghier in Daghestan, welche wiederum in viele kleinere Stämme zerfallen. Alle diese Völkerschaften, namentlich aber die letztgenannten, hatten sich seit Jahrhunderten mannhaft gegen Eroberer zu wehren; Ritter, der große Geograph, sagte von ihnen: „Die Kriege Timur’s, Peter’s des Großen und Nadir Schah’s gegen die Völker des östlichen Kaukasus haben bewiesen, daß die Localitäten von Daghestan und Lesghistan zu den großen isolirten Weltburgen für Völkerstämme gehören, welche ihre Besitzer und Vertheidiger vor jedem Andrange von Völkerwogen zu schützen vermögen, vor welchen selbst die Schaaren von Kriegsknechten der mächtigsten Gewalthaber zurückstieben, wie die wogenden Brandungen an den Küstenklippen oceanischer Eilande.“ – Er hat sich im Irrthum befunden; die force majeure der Kanonen und das diplomatische „Theile und herrsche“ kennen keine unbezwingbaren Vesten mehr. Und so ist auch nach dreißigjährigem hartnäckigem Kriege endlich ganz Kaukasien von den Russen erobert worden und wird ihnen schwerlich jemals wieder entrissen werden. Die Tscherkessen kämpften, bald in einzelnen Stämmen, bald verbunden, unverdrossen und mit bewundernswürdiger Tapferkeit unter ihren Feldherren und Propheten, deren größter Schamyl ist, der Imam (Prophet) und Häuptling der Tschetschenzen, mit den „Blitzen in den Augen und Blumen auf den Lippen“, wie der daghestanische Dichter sagt; der Achilles des Kaukasus, der, umringt von der heiligen Schaar seiner Müriden, unversehrbar im Streite schien; der das begeisternde Banner des Religionskrieges entfaltete und darauf schrieb: „Muhamed ist Allah’s erster Prophet, Schamyl der zweite!“ Diesen Tscherkessenhelden fochten die ausgezeichnetsten der russischen Generale gegenüber.

Hin und her schwankte die Woge des Kampfs; die Russen führten ihn mit zäher Ausdauer, indem sie einen Streifen Landes nach dem andern eroberten und sofort mit kleinen Festungen bepflanzten; in offener Feldschlacht blieben sie gewöhnlich Sieger. Allein zu dieser kam es selten. Die Bergvölker kämpfen in berittenen Horden, deren Anprall furchtbar, oft unwiderstehlich ist; wird derselbe aber ruhig empfangen, tapfer geworfen, dann ist auch sofort das Loos des Tages entschieden, die Tscherkessen wenden sich zur Flucht, während welcher sie, gleich den Arabern, die Gewehre laden und gegen die Verfolger brauchen. Der Artillerie vermochten sie niemals Stand zu halten, freilich war anfangs deren Gebrauch in ihren Bergschluchten sehr beschränkt. Seitdem aber verbesserte Berggeschütze und Raketenbatterieen bei den Russen eingeführt worden waren, verdoppelten sich ihre Erfolge. Des Sieges im Voraus gewiß, mit furchtbarem Geschrei, stürmten in rasendem Galopp die gepanzerten Murtosigaten (Elitecorps) oder die bunten Stämme der Aule auf die langsam in Schlachtordnung heranrückende russische Infanteriecolonne. Aber ehe die Tscherkessen nahe genug sind, um ihre langen Flinten im Galopp abzudrücken, auf den Rücken zu werfen und den furchtbaren Schaschka (Säbel) schwingend in die Colonne einzubrechen, öffnet sich diese, und eine maskirte Batterie schleudert den tollkühnen Reitern einen schweren Eisenhagel entgegen. Mit gellem Aufschrei der Wuth und der Verzweiflung – denn viele ihrer Brüder sind gestürzt – pariren sie auf dem Fleck ihre hageren, unschönen, doch flüchtigen Rosse und stieben in regelloser Flucht durch den hohen Burian (Unkraut, Ried) der Berghalden, bis sie sich wiederum sammeln, um einen neuen Angriff zu wagen oder günstigere Gelegenheit abzupassen.

Eine derartige Scene veranschaulicht das lebhaft bewegte [791] Bild – es ist gezeichnet nach der Natur von dem Maler Theodor Horschelt (geboren 1829 in München), welcher, nachdem er schon vorher in Spanien und in Algier seine Mappe gefüllt, im Jahre 1858 in den Kaukasus ging und alle Feldzüge gegen die Lesghier in der Tschetschnia und dem Daghestan bis zur Beendigung des Krieges mitmachte. Ueberhaupt war der Kaukasus eine Schule für Soldaten, Touristen und Künstler; wir nennen die Deutschen Prinz Alexander von Hessen, den tapfern Feldmarschall; Emil von Wittgenstein (der sich auch als Dichter bekannt gemacht hat); von Gersdorf (Commandirender der Freicorps in Schleswig-Holstein 1848); Bodenstedt, Moritz Wagner; die Briten Longworth, Bell, Urqhuart etc. Durch die Sympathieen, welche der hartnäckige Kampf um ihre Freiheit den Bergvölkern von allen Seiten zutrug und Furcht und Haß gegen Rußland nährten, wurden diese Bergvölker mit einem poetischen Nimbus umgeben, den sie in der Wirklichkeit wahrlich nicht verdienen. Man rühmte, beschrieb und besang ihre körperliche Schönheit, ihre adelige Ritterlichkeit, ihre Freiheitsliebe; besonders die englischen Touristen konnten kaum Worte genug des Lobes finden für die „Hüter des indischen Reichs“! Wahrheitstreue deutsche Beobachter haben das Bild jener interessanten Völker auch von der anderen Seite gezeigt. Es ist wahr, sie sind ein schöner, trotziger, tapferer Menschenschlag; wohl dessen fähig, was einst ihr Führer Hamsad Bey erklärte: „Wenn uns die ganze Welt verläßt, wenn all unsere Widerstandskräfte erschöpft sind, dann werden wir unsere Häuser, unser gesammtes Eigenthum verbrennen, unsere Weiber und Kinder erwürgen und aus unsere Felsen uns zurückziehen, um dort fechtend zu sterben bis auf den letzten Mann!“

Allein den wenigen guten Eigenschaften der Kaukasier steht eine weit größere Zahl von schlechten gegenüber. Sie sind Räuber, und zwar unverbesserliche, jeder Arbeit feind, dabei jedoch habgierig, grausam, treulos, roh bis zum Exceß. Ihr Fanatismus kennt keine Grenzen, ist weit eingefleischter, als derjenige der europäischen Mohammedaner. Von Liebe zu den Ihrigen, von Familienglück, von des Hauses wirklicher Ehre wissen sie nichts; fühllos setzen sie die gebrechlichen Kinder aus; der Handel mit ihren Weibern und Töchtern, den sie nach Constantinopel trieben, bildete ihre ganze Verkehrsthätigkeit mit dem Ausland, und als Fürst Woronzoff im Jahre 1846 das Verbot desselben zeitweilig wieder aufhob, erreichte er dadurch die Unterwerfung aller daghestanischen Provinzen, selbst des gebirgigen, für unbezwingbar gehaltenen Tabasseran. Zwar herrscht, wie bei allen gewaltthätigen, wilden Völkern, auch unter den Kaukasiern die Blutrache, allein in der schimpflichsten Weise, ganz anders, als bei den Corsen; denn bei den Ersteren kann jeder Mord, und sei es der des Vaters oder Sohnes, durch ein Blutgeld gesühnt werden, welches niemals zurückgewiesen wird. Die Ritterlichkeit der Tscherkessen beschränkt sich auf ihre imponirende Erscheinung hoch zu Roß, auf ihr Achtung gebietendes Aeußere und auf ihren stolzen Kastengeist. Der Pschi (Fürst) und der Usden (Edelmann) sondern sich streng ab von den Tschfokotls (Freigelassenen) und Pschilts (Leibeigenen), die sie mit Verachtung und despotischer Härte betrachten oder knechten; niemals findet eine Vermischung der Kasten statt. Was von der ritterlichen Behandlung ihrer Gefangenen hier und da erzählt worden ist, beruht Alles auf poetischer Licenz; im Gegentheil wurden dieselben ohne Ausnahme geradezu scheußlich gequält, zu den niedrigsten Verrichtungen gezwungen, mußten Hunger und Durst leiden; Tausende sind auf diese Weise elend hingemartert worden. Es ist bekannt, daß den meisten Gefangenen der Tscherkessen kurze Pferdehaare in die Fersen eingebohrt wurden, um sie am Entlaufen zu hindern. Die Sclavenhalterei war im Kaukasus ganz allgemein; die Sclaven wurden geraubt und mußten für die Räuber den Acker bauen. Völker mit dergleichen Institutionen aber, die Geschichte lehrt es, gehen rasch unter, sobald die Civilisation an sie herantritt. Auch die Tscherkessen sind ein im Aussterben begriffenes Volk; was von ihnen nicht in die Türkei, nach Persien und Turkmanien ausgewandert ist, das wird allmählich erlöschen und verschwinden unter dem Hauche der nachrückenden Sittlichung – ein so curioses Kosakengewand dieselbe im Anfang auch tragen mag – wie ein Binsenlicht, dem die Nahrung ausgeht.

Als der Krimkrieg entbrannte, entflammten sich auch die Hoffnungen der Tscherkessen auf die Bewahrung ihrer Unabhängigkeit noch einmal zu voller Höhe. Schon vorher hatte Schamyl von dem Sultan Abdul-Medschid die Zusicherung des Schutzes erhalten; als die Verbündeten auf den Steppen bei Balaklava und Sebastopol lagen, ihre Flotte das Asow’sche Meer befuhr und Kertsch zerstörte, da brachen auch die Bergvölker hervor aus ihren Schlupfwinkeln, fielen in die abchasische Küstenebene und in die Kabardei, nahmen und zerstörten viele russische Vesten. Seser Bey, der berüchtigte tscherkessische Räuberhäuptling, ward nach zwanzigjähriger Gefangenschaft in Adrianopel zu seinem Volke entlassen, um es aufzuwiegeln; Murschid Pascha (Guyon) bemühte sich im Vereine mit Schamyl, eine geordnete Heeresorganisation einzuführen. Aber umsonst, alle berechtigten Neuerungen scheiterten an der unbezwingbaren Ungebundenheit der Tscherkessen, welche, sobald ein glücklicher Schlag geschehen war, dem Feldherrn den Rücken wandten, um die gemachte Beute in ihren Aulen in Sicherheit zu bringen. Als daher nach beendigtem Krimkriege erprobte russische Truppen in den Kaukasus geworfen wurden, da siegten die Künste der Strategie im Verein mit den „Pistolen des Kaisers“ (so, oder auch „tausend Mann“, nennen die Tscherkessen die Kanonen) bald auf allen Punkten und zogen das eiserne Netz um die unglücklichen Völker immer enger und enger zusammen. Unter dem Oberbefehl des Fürsten Bariatinsky, durch die Generale Jeffdokimoff, Miliutin, Tarchanow, Mirski, Wrangel, Keßler, Nicolai etc. wurden die Tscherkessen überall zurückgedrängt, so daß im Juli des Jahres 1859 schon Deputationen sämmtlicher Stämme ohne Ausnahme die Unterwerfung erklärt hatten. Nur Schamyl mit dem Reste der Müriden hielt sich noch in unzugänglichen Verstecken; so lange er aber lebte und wirkte, hatte keine Unterwerfung Werth. Allein auch er ward endlich aufgefunden, umstellt und nach verzweiflungsvollem Kampfe am Gunil-Dagh in Daghestan gefangen genommen. Maler Horschelt hat als Augenzeuge auch den Moment dieser Entscheidung, die Begegnung zwischen dem gefangenen Imam und seinem Besieger, dem Fürsten Bariatinsky, in einem großen, portraitreichen Bilde verewigt. (Verfasser dieses fuhr in der Nacht vom 2. zum 3. September 1859 mit dem russischen Oberst, der die Gefangennahme Schamyl’s nach Petersburg meldete und aus Tiflis kam, im Perekladnoi (Bauernwagen ohne Federn) von der Station Malachoff hinter Tula bis nach Serbuchow an der Oka; er hofft, von dieser Fahrt später erzählen zu können.)

Mit der Gefangennahme Schamyl’s – welcher im Gouvernement Tula internirt wurde – war die Unterjochung des Kaukasus beendigt und die Mauer zwischen den russischen Besitzungen vom Kuban bis zum Kur thatsächlich gebrochen. Rasch begann die Colonisation – in die Geleise der Kanonen trat der Pflug. Die Russen haben unleugbar Geschick dazu, namentlich weiß die Regierung das fremde Element dabei gehörig zu unterstützen und zu fördern. Bekanntlich sind die deutschen Colonien im südlichen Rußland überaus zahlreich und ihre Bevölkerung wächst in Folge der trefflichen Lage, in der sie sich befinden, dermaßen, daß es ihr in ihren Sitzen schon eng zu werden beginnt. Von Norden und Süden, aus den Thälern der Wolga und des Kur, von Saratow, Sarepta, von Elisabethopol und Tiflis her wandern die „Schwaben“ und Menonniten in den Fußstapfen der Kosaken ein in die fruchtbaren Hochebenen des Kaukasusgebirges. Schon haben seit fünfzig Jahren die „verpflanzten“ Saporoger die Küstenstriche der Abchasen besiedelt, in weitern fünfzig Jahren wird die deutsche Sprache widerklingen an den Felswänden des Kasbek und Elbrus. In die wehmüthige Betrachtung, der sich Niemand erwehren wird, welcher den unvermeidlichen Untergang eines Volkes vor Augen hat, mischt sich dann der tröstende Gedanke von der Nothwendigkeit der Entwickelung der Menschheit, welche gebieterisch im Kampf um das Dasein fordert, daß der schwächere, nicht entwickelungsfähige Stamm dem stärkeren, entwickelten und zur Höhe strebenden weiche. Und so geht auch dort im Kaukasus jener Proceß vor sich, welcher, schon längst begonnen, die Aufgabe der Zeit und Zukunft ist – die Rückwanderung der Cultur von Westen nach Osten. Denn, wie Rückert schon sagt: „Die Geschichte ist nur ein Wandel über des Daseins schwankende Brücke – hin und zurücke!“