Uralte Erbstücke

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Autor: Gustav von Buchwald
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Titel: Uralte Erbstücke
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aus: Die Gartenlaube, Heft 8, S. 250–252
Herausgeber: Adolf Kröner
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Erscheinungsdatum: 1890
Verlag: Ernst Keil’s Nachfolger in Leipzig
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Erscheinungsort: Leipzig
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Uralte Erbstücke.

Eine kulturwissenschaftliche Skizze von Dr. Gustav von Buchwald.


Wenn deutsche Kulturforschung ihre Hände in die weitesten Fernen der Erde ausstreckt, um den ärmlichen Haushalt des Wilden zu sammeln, wenn ihre Finger die Schollen der Erde durchwühlen, um spärliche Reste uralter Vorzeit zu ergreifen – was will sie uns Kinder hochentwickelter Kultur damit lehren? Wo ist der Berührungspunkt zwischen uns und den Menschen der Steinzeit oder den Wilden? Haben wir denn noch irgend etwas mit jenen gemein?

Das sind Fragen, die dem Forscher oft genug entgegen tönen, und sie sind nicht leicht zu beantworten. Gegenüber einer Betrachtungsweise, die den Menschen als vollkommenes Ebenbild des Schöpfers in vollendeter Herrlichkeit entstehen und dann immer tiefer und tiefer, körperlich wie sittlich, sinken läßt, hat die gesammte Kulturforschung die Thatsache bestätigt, daß die Entwicklung des Menschengeschlechtes den umgekehrten Weg eingeschlagen hat. Langsam, sehr langsam hat sich die Geisteskraft des Menschen durch Vererbung von Erfahrungen zu unserer Kulturhöhe gesteigert. Abschnitte auf diesem Wege sind es, die wir durch archäologische und ethnologische Forschung kennen lernen. Erst im Vergleich mit ihnen können wir die Wurzeln finden, aus denen unsere Sitten und Gebräuche, ja in letzter Linie auch unsere Anschauungen emporgewachsen sind. Da giebt es Erscheinungen in der Kultur, welche sichere Wegweiser aus dem Jetzt in das Einst sind. Manche Sitten erben sich aus einer Kulturepoche unverändert in die andere hinein, sie überleben ihre Zeit und bestehen als „Ueberlebsel“ weiter. Oft bleibt nur ihre kindliche Form als gemüthlicher Scherz oder als Poesie bestehen, mitunter aber gilt von ihnen das Goethesche Wort:

Vernunft wird Unsinn,
Wohlthat Plage.

Schon sehr niedere Kulturstufen haben ihre Ueberlebsel, aus denen sich der Weg von der Wildheit bis zur Gesittung der Steinzeit erschließen läßt. Ein niedliches Beispiel erzählt einer der feinsten Völkerpsychologen unter den deutschen Reisenden.

Dr. Karl von den Steinen weilte eine Zeitlang bei einem gutbeanlagten Indianerstamm am Schingù, einem Nebenflusse des Amazonenstroms. Zwei Tage hatte er von einer kleisterähnlichen Mehlmasse leben müssen, da brachte ihm der freundliche Dorfhäuptling ein Stück gerösteten Fisches. Es war recht stark geröstet, damit sich ein kräftiger Salzgeschmack entwickle – denn bis zur Salzgewinnung hatten es jene Indianer noch nicht gebracht. Froh, endlich eine Abwechslung in den faden Kleistergeschmack zu erhalten, biß Herr von den Steinen sofort wacker in den Fisch hinein. Aber was geschah? Tiefbeschämt ob dem Betragen dieses Europäers hielten die Indianer die Hände vor die Augen und wandten sich ab. Obwohl sie gemeinschaftlich schon hausartige Wohnungen benutzen, gebietet es doch der Anstand bei ihnen, daß jeder Speisende sich in einen stillen Winkel zurückzieht, wo keines Menschen Auge auf ihn fällt.

Warum? Wenn der Hund einen Knochen findet, so verbirgt er sich mit seiner Mahlzeit, auf daß seine Mithunde sie ihm nicht abjagen. So war es einst auch bei den Menschen – und sobald die Kultur nicht vor schwerer Hungersnot schützt, ist es häufig auch noch so. Ehe der Indianer die niedere Höhe der Steinzeitkultur erreicht hatte, da war es ein nothwendiges Gebot der Selbsterhaltung, allein zu essen. Die Erinnerung an den Gebrauch überlebte diese Periode der Wildheit und hielt sich als Anstandssitte – als guter Ton.

Auch bei uns erfordert der Anstand viele Handlungen, deren innerer Werth auch nicht um Haares Breite höher steht als die Schingù-Indianersitte, allein zu essen. Der würdevolle Orientale hält es für höchst unschicklich, daß der Deutsche den Hut abnimmt, und zahlreiche Deutsche halten das ja jetzt auch für ungesund.

Der Hut selber ist ein Erzeugniß, das sehr alt in der Geschichte des Menschengeschlechtes ist, obwohl keines der ältesten. Bei der Sitte des Hutabnehmens, die in die früheste Zeit germanischer Kultur zurückreicht, kommt es übrigens nicht auf den Hut, sondern auf das Haar an. Die Könige, die Edlen und die Freien tragen den blonden Haarschmuck unverschnitten. Das Abscheeren des Haupthaares galt bei den Merowingern als Zeichen des Ausschlusses von der Thronfolge. Ein freier Mann mußte das Haar nur in einem einzigen Falle abscheeren, nämlich wenn er sich von einem anderen Freien als Sohn annehmen ließ. Er stellte sich dadurch sinnbildlich auf die Stufe des neugeborenen Kindes, das ja auch nur mit kurzem Haar das Licht der Welt erblickt. So geschah es mit Karl Martell, den sein Vater Pippin durch diesen Akt von dem Langobardenkönig Luitprand adoptiren ließ.

Das Abschneiden des Haares bedeutet seit der ältesten Zeit Verstoßung in den Stand der Knechtschaft. Noch der Sachsenspiegel I. 37. § 1 kennt die Bestimmung „die ir lif oder hut und har ledeget, die sint alle rechtlos“ – „die ihr Leben oder Haut und Haar ledigen (d. h. durch Erlegung der Buße den Strafvollzug abwenden), die sind alle rechtlos.“

Der deutsche Hutabnehmer sollte also den kurzgeschorenen Kopf als Zeichen der Unfreiheit zeigen. Die Sitte des Abscheerens der Haare war also selber wieder ein Sinnbild und gehört somit in eine Reihe mit allen anderen Verstümmelungen von Sklaven oder Religionsgenossen, welche das Recht eines Herren über Leben und Tod andeuten.

In jedem Falle, sei der Herr als Mensch oder als Gott gedacht, liegt in der Verstümmelung ein symbolisches Menschenopfer vor. Der Herr nimmt nur einen kleinen Theil des Opfers an und begnügt sich mit dem frommen Willen oder der Arbeitskraft des Geopferten.

Mit diesem Religions- oder Rechtsgedanken schreiten wir aber zurück in eine ganz barbarische Urzeit. Zum Begriff des Opfers gehört es, daß der Empfänger von dem Opfer körperlich genießt. Wir kommen also herunter zu einem Zeitalter menschenfressender Götter und Menschen, wenn wir der Sitte des Hutabnehmens bis auf die letzte Wurzel folgen.

[251] Wie hier eine harmlose Sitte unserer Tage durch die Sklaverei zur Menschenfresserei zurückgeführt hat, so lassen sich umgekehrt auch vom Kannibalismus wieder Entwicklungsgänge bis zu uns herunterführen, die oft thöricht erscheinen, bisweilen aber geradezu grausig sind. Nicht der Hunger, sondern die mystische Vorstellung von der Seele hat den Wilden zu dieser schrecklichsten aller Verirrungen geführt. Der Wilde, der zwischen wachen Vorstellungen, Träumen und Einbildungen nicht zu unterscheiden vermag, denkt sich die ganze Welt mit Seelen bevölkert, die zwar nicht immer greifbar oder sichtbar, stets aber stofflicher Art sind. Die Seelen wohnen an der Begräbnißstätte und fordern Speise und Trank. Blut gehört zu ihrem Verlangen, wie denn auch der göttliche Dulder Odysseus die Seelen im Hades Opferblut trinken läßt. Ist der Erschlagene nicht bestattet, so irrt seine Seele blut- und rachedürstend in der Luft umher, sobald der Körper zerfällt. Sie wendet ihren Zorn gegen den Mörder. Wie kann dieser sich nun besser schützen, als wenn er den Erschlagenen verschlingt? Die blutdürstige Seele müßte dann ja von ihrem eigenen Blute trinken, wenn sie Rache nehmen wollte. Der Wilde bemerkt, daß die Nahrung kräftigt. Da er aber von den chemischen Gesetzen der Verdauung keinen Begriff hat, so glaubt er, die „Seele“ des Genossenen gehe auf ihn über. Stanley erzählt von einem Negerstamm, der sich das Herz eines gelieferten Ochsen zurückerbat in dem Glauben, er würde durch den Genuß des Herzens die Stärke und den Muth des Rindes erlangen, während Stanley und seine Leute durch das Essen des herzlosen Thieres muthlos und kraftlos werden müßten – beiläufig bemerkt, eine Anschauung, auf die unser sogenanntes „Jägerrecht“, welches dem Jäger, nicht dem Jagdherrn, die inneren Theile des erlegten Wildes zuerkennt, zurückzuführen ist. Das Herz galt oft als Sitz der Seele. Da sich aber die Seele nicht greifen ließ, so verallgemeinerte man ihren Sitz und schrieb mystisch jedem Theile des erschlagenen Menschen oder Thieres die Vollkraft der Seele zu, besonders aber dem Blute. Daher das mosaische Gebot, welches den Genuß des Thieres in seinem Blute, viehische Verwilderung befürchtend, untersagt.

Aus diesen Anschauungen heraus entwickelte sich der vielgestaltige Aberglaube und die Zauberei, die mit Theilen des menschlichen Körpers bei allen Völkern der Erde und auch bei uns noch heute getrieben wird. Gehalten und gekräftigt hat sich dieser Aberglaube durch die unleugbaren Beeinflussungen des einen Menschen durch den anderen, wie sie beim Massiren und Hypnotisiren zu beobachten sind und von Völkern sehr niederer Kultur beobachtet werden. Die „Seele“ muß das Unerklärte mystisch faßbar machen. Die Seele des Verstorbenen durchdringt mit dem Schweiß und der Ausdünstung ererbte Gegenstände, mit denen der Verstorbene in näherer Berührung stand, wie z. B. Erbbibel, Erbsieb, Erbschlüssel und Erbhemden. Sie ist es, die, richtig befragt, zukunftdeutende Antwort giebt. Vor allem aber lebt sie in dem Blute der Geopferten – und das sind ursprünglich die Menschenopfer und nach der roh religiösen Volksanschauung noch heute die hingerichteten Verbrecher. Als im Jahre 1770 die Mörderin Göttrichs zu Neubrandenburg hingerichtet und ihr Körper lange Zeit auf dem Rade liegen geblieben war, entdeckte man, daß ihr ein Fuß fehlte. Es ergab sich, daß er gestohlen war, um Pferde damit zu heilen. Die Hingerichtete sollte also nach ihrem Tode mystisch weiter wirken, sie war durch das Opfer geheiligt. Selbst bei Leuten, die auf Bildung Anspruch machten, herrschte die Vorstellung, daß eben die Hinrichtung ein Opfer sei. „Die Blutschuld ist von Land, von Stadt und von dem Hause, worin die Mordthat geschehen, abgewendet, der Fluch ist entwichen, der göttliche Zorn hat sich gelegt“ predigte damals der Pastor Jacobi genau in dem Sinne des alten Heidenthums, den Akt einer grausamen weltlichen Gerechtigkeit als Sühnopfer hinstellend. Also wird es erklärlich, daß in Hanau 1861 viele Menschen aufs Schaffot stürzten und von dem rauchenden Blute eines Raubmörders tranken, und daß 1864 die Scharfrichtergehilfen in Berlin ganze Massen von weißen Taschentüchern in das Blut eines Gerichteten tauchten und das Stück zu zwei Thalern verkaufen konnten. Eine Handlung wirklicher Menschenfresserei beging 1888 der Arbeiter Bliefernicht aus Sage in Oldenburg in dem Glauben, wer von dem Fleische junger unschuldiger Mädchen äße, könne ungestraft thun und lassen, was er wolle.

Der letzte Grund dieser schaurigen Entartungen geht auf eine rohe, ganz materialistische Anschauung von der Seele zurück. Aus den Tagen der Wildheit hat sie sich hinübergelebt durch das Mittelalter. In den Visionspoesieen dieser Zeit erblicken wir die „Seelen“ im Fegefeuer rein körperliche Strafen erduldend. Die Seele muß wandern und leiden und kann nach ihrer Rückkehr in den Körper ihre Erlebnisse erzählen. Um Eindruck zu machen, schildert sie oft mit einer entsetzenerregenden Phantasie. Diese materialistische Weltanschauung mußte zu einer gänzlichen Verkehrung des Gefühls hinleiten. Waren eben die körperlichen Leiden der „Seele“ im Fegefeuer so furchtbar, dann war es Gnade und Barmherzigkeit, nicht Grausamkeit, wenn man die armen Sünder mit dem Aufgebote allen Scharfsinnes recht lange folterte und langsam zu Tode peinigte, um sie womöglich noch zum Bekenntniß ihrer Schuld zu bringen. Hier litt der Körper nur Tage und Stunden, dort die Seele Ewigkeiten. Gab man ihr auf dem Schaffot unter Schmerzen Zeit zur Bekehrung, so schützte man sie vor Jahrtausenden von größeren Schmerzen. Schrecklicher ist vielleicht nie in Deutschland verfahren worden, als beim Hexenprozeß in Würzburg und doch war der Bischof Julius Echter von Mespelbrunn (1575 bis 1617), mit dem diese grausige Epoche begann, die vielen Tausenden den qualvollsten Tod brachte, ein Mensch, der ein Herz für Leidende hatte. Das berühmte Juliusspital, das er gestiftet hat, schafft noch heute Segen und Hilfe.

Die materialistische Form des Seelenglaubens bevölkerte die ganze Welt mit Wesen, die zum Theil zu Göttern emporwuchsen.

Die unheimliche Fluth ist es besonders, welche die Phantasie gereizt hat, schon Jahrtausende früher, ehe Poseidon den Dulder Odysseus auf ihr umhertrieb. Uralt ist die Sitte, daß man einen Menschen ins Wasser wirft, um die gefräßige See zu befriedigen. Man kennt die Geschichte von Jonas, und ein Walfisch, der den Unglücklichen etliche Tage in seinem Magen beherbergte und dann unverdaut und wohlbehalten dem Lande übergab, war leider nicht immer bei der Hand. Wir sprechen noch von der „gefräßigen“ See. Nach dem Glauben der Neuseeländer sind es gefräßige übernatürliche Ungeheuer, welche die Ertrinkenden verschlingen. Bei den Siamesen ziehen die „Pnük“, Wassergeister, die Badenden in ihre unterseeischen Wohnungen hinab wie bei den Slaven der Topielec. Im Mummelsee im Schwarzwald lebte nach der Sage ein Wassermann, der sich die Seelen der Ertrunkenen einfing und in Töpfen aufbewahrte, bis ein Bauer sie befreite. Ganz dieselbe Sage geht im Süden von Irland, wo der Meermann Coomeara die Töpfe voll Seelen dem Fischer Jack Dogherty als seine „curiosities“, seine „Merkwürdigkeiten“, zeigte. Der wackere Ire trank den Meermann unter den Tisch und „in he went and turned up the pots, but nothing did he see, only heard a sort of a little whistle or chirp as he raised each of them“, „er trat ein und drehte die Töpfe um, sah aber nichts, nur hörte er eine Art von leisem Pfeifen oder Zirpen bei jedem, den er aufhob.“ Also auch hier war die Seele zwar unsichtbar, aber greifbar und hörbar gedacht.

Unfreundlicher gestaltet sich die Vorstellung, sobald sich der Begriff des Opfers einmischt. „Es rast der See und will sein Opfer haben“, folglich ist es unrecht, ihm dasselbe zu entreißen. So wagten nach einem Berichte aus dem Jahre 1864 böhmische Fischer nicht, einen Ertrinkenden zu retten, aus Furcht, der Wassergeist entzöge ihnen dann das Glück beim Fischen.

Wie tief dieser Glaube auch noch heute in Deutschland haftet, mag ein Beispiel aus dem Jahre 1884 beweisen. Auf dem Zierker See bei Neustrelitz brach ein allgemein beliebter junger Offizier im Eise ein und ertrank. Sein schlichtes und außergewöhnlich liebenswürdiges Wesen hatte ihm die Liebe auch der unteren Kreise gewonnen. In diesen verbreitete sich das Gerücht, Leute aus der Feldmark Lindenberg hätten seine Hilferufe gehört, aber in dem Aberglauben, Ertrinkenden dürfe man nicht helfen, keine Hand gerührt. Das Gerücht stellte sich allerdings als unwahr heraus, aber die Thatsache, daß es plötzlich aufgetaucht war, beweist, welcher Gedanke sich hinter der jährlich wiederkehrenden Redensart „der Zierker See will sein Opfer haben“ verbirgt.

Wie das Wasser, so forderte auch bis in die Tage unserer Kultur das Land „sein Opfer“, wenn ein Schiff strandete oder einem Frachtwagen die Räder brachen, so daß er den Boden berührte. Das Strandrecht, „die Grundruhr“, welches sich aus dieser religiösen Vorstellung entwickelte, galt nicht nur an der West- und Ostsee, sondern auch in Mittel- und Süddeutschland.

Auch das Feuer wird als gefräßiges Ungeheuer gedacht. In Tirol und in der Schweiz wird das Herdfeuer an bestimmten Tagen mit Kuchen und Broten gefüttert, damit es nicht in Zorneswuth [252] ausbreche. Sehr bezeichnend ist der Ausdruck, den am Ende des 15. Jahrhunderts der Rostocker Humanist Nikolaus Marschalk von den Juden gebrauchte, welche religiöser Fanatismus wegen wirklicher oder angeblicher Marterung einer Hostie auf den Scheiterhaufen brachte. „Sie sind,“ schreibt er, „dem Vulkan (dem Gott der Feuers) geopfert.“

Daß die ältere Zeit sich die Pest als altes Weib oder den Tod als einen Knochenmann versinnlichte, ist bekannt. Neuerdings ist diese überlebte Vorstellung in Korfu wieder aufgewacht. Ein Schiffer wollte absegeln, als sich ein skelettartig mageres altes Weib, vor dem jedem grauste, an Bord drängte. Auf hoher See aber trat plötzlich ein Mönch, dessen Kommen niemand bemerkt hatte, mit erhobenem Kruzifix bannend auf die Megäre hinzu. Scheu entsetzt wich die häßliche Alte zurück und weiter zurück, bis sie über Bord stürzte. Als die Fluth sich über ihr geschlossen hatte, war der Mönch verschwunden. Seine Züge aber hatten sich dem frommen Kapitän deutlich eingeprägt. Im Hafen von Korfu angelangt, erkannte er beim nächsten Kirchgang seinen Mönch wieder im Bilde des heiligen Spiridion – das gebannte Weib aber war niemand anders – als die Influenza. Jede Krankheit ist nach der Auffassung niederer Kultur in letzter Linie die Wirkung eines bösen Geistes oder bei höher entwickelten Völkern der Quintessenz aller bösen Geister, des Teufels.

„Ich suche Zuflucht bei Allah vor Satan dem Verfluchten,“ muß der Mohammedaner sagen, wenn er gähnt, wobei er die linke Hand mit ihrem Rücken vor den Mund hält, denn durch diesen pflegt der Teufel einzuschlüpfen. Daß dieser Glaube auch in Deutschland einst herrschte, beweist die lange Litteratur über Hexen und Besessene. Der äußerliche Rest dieser Sitte hat sich in dem Gebrauche, beim Gähnen die Hand vor den Mund zu halten, noch aufbewahrt. Daß das Anstandsgefühl nicht das Schöpferische in der Sitte war, beweist, daß ganz dieselbe Sitte bei den Zulukaffern besteht, die doch Knigges „Umgang mit Menschen“ gewiß nicht gelesen haben.

Das Bezeichnende aller dieser Vorstellungen liegt in der stofflichen, körperlichen Auffassung von der Seele und deren mystischer Uebertragung auf unbelebte Wesen. Ganz zu der niedrigen Anschauungsstufe der Steinzeit kehrt der neue und alte Spiritismus zurück. Die „Spirits“ klopfen, werfen, lesen und schreiben. Johannes Trojan hat in seinen Scherzgedichten humorvoll geschildert, wie er sich den dritten Mann zum Skat aus der vierten Dimension herbeiruft:

  „Und die Karten flogen
  Unsichtbar im Bogen
Auf den Tisch und Spiel folgt nun auf Spiel.
  Doch im Lauf des Spieles
  Zeigte sich gar vieles,
Was uns als Theilhabern nicht gefiel.

  ‚Grand mit Viern‘ gewinnt er,
  Als wir zwei dahinter
Kommen, daß nicht alles richtig war.
  Nicht mit rechten Dingen
  Konnt’ ihm das gelingen,
Daß der Spirit mogelt, ward uns klar.“

Wir haben hier im Scherze das Gebiet der Poesie betreten: hier liegt das Feld, wo sich die traurige Wirklichkeit der Ueberlebsel verklärt zu Sage und Dichtung. Haben wir die finstere Seite nicht vergessen, auf welche der Rückfall in überlebte Weltanschauungen führt, so sei hier zum Schlusse auf sie als Urquell unserer schönsten Poesien hingewiesen. Unvergleichlich schön sind die Wanderungen in die Unterwelt im Homer und ergreifen uns noch heute in Jordans edlem Epos, in „Hildebrants Heimkehr“. Erst nachdem Goethes Mephistopheles unter jubelndem Beifall über die Schaubühne geschritten, war die Gefahr des Hexenprozesses, der noch zu Goethes Lebzeiten Opfer forderte, endgültig beseitigt. Verklärt und gereinigt, hat die Seelenübertragung vom Menschen auf leblose Gegenstände unsterbliche Lieder wie das „Heidenröslein“ und den „Fichtenbaum“ geschaffen. Denn viele Wanderungen mußte der kindlich suchende Menschengeist durchlaufen und fand sich weit vom Ziele. Er suchte nach Wahrheit, er suchte nach Licht. Unzählige haben die Irrwege in Qual und Tod geführt, bis die Zeit herankam, wo man das Wort verstehen lernte: „Gott ist ein Geist, und die ihn anbeten, sollen ihn im Geist und in der Wahrheit anbeten.“