Verlassen und Verloren

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Autor: Levin Schücking
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Titel: Verlassen und Verloren
Untertitel:
aus: Die Gartenlaube, Heft 27–39, S. 417–420, 433–436, 449–452, 465–468, 494–496, 503–506, 513–517, 529–533, 545–548, 561–564, 578–583, 593–598, 611–616
Herausgeber: Ernst Keil
Auflage:
Entstehungsdatum:
Erscheinungsdatum: 1869
Verlag: Verlag von Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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[417]
Verlassen und Verloren.
Historische Erzählung aus dem Spessart.
Von Levin Schücking.


1.

Es war am Ende des August im Jahre 1796.

Die Tage begannen kürzer zu werden und die sinkende Sonne warf lange Schatten in eine stille weltentlegene Schlucht des Waldgebirgs, das man den Spessart oder die „Speßhardt“ nennt, den „Wald der Spechte“, in dem bairischen Kreise Unterfranken und Aschaffenburg.

In dieser Schlucht, durch deren Tiefe ein schmaler und dürftiger Wasserfaden in einem tiefen, felsigen und mit Gerölle ausgepflasterten Bette niederschoß, standen unfern von einander zwei Siedelungen – eine Mühle und ein Forst- oder Waldwärterhaus.

Die Mühle lag ein wenig tiefer, zwischen einem Stück Gartenland und einer kleinen Wiese; das Forsthaus lag einen Steinwurf höher, ein altes, in Bruchsteinen aufgeführtes Gebäude, dessen Schieferdach in der Mitte eingesunken war, so daß der hohe Schornstein wie ein steifer Reiter im Sattel aussah. Vor dem Hause lag ein kleiner Garten, in dem einige abgeblühte Stockrosen und honigduftende Phloxbüsche sich über das verfallene und morsche Lattengitter erhoben, welches das Gärtchen umgab.

Die Eingangsthür zu diesem Gärtchen fehlte – die Zeit hatte sie mit fortgenommen – vielleicht auch Jemand, der sie besser gebrauchen konnte als die Zeit, dem die alten Latten eben recht geschienen, sein Heerdfeuer damit zu nähren. An der Stelle derselben aber zwischen den beiden schiefgesunkenen Holzständern, an welchen sie befestigt gewesen, saß ein anderes zerfallenes und morsches Etwas auf einem niedrigen Schemel, und ein abgenütztes Spinnrad neben sich … eine alte Frau.

Die Frau war jedoch weder mit ihrem Spinnrad, noch auch mit dem hübschen Knaben beschäftigt, der zwischen ihren Knieen stand und sich an ihre vorgebeugte Schulter zurücklehnte, um mit großen braunen Augen die zwei Männer anzuschauen, welche vor der Alten standen; der eine in einer weißbestäubten Jacke und der andere im abgeschabten grünen Rocke, eine weiße Filzmütze auf dem Kopfe und grüne Gamaschen an den Füßen … es bedurfte des Hirschfängers an seiner Seite nicht, um einen Waldwärter oder Forstläufer in ihm erkennen zu lassen.

„Ich kann Euch nicht sagen, wann der Herr Wilderich heimkommt,“ sagte die Alte, den Forstmann ansehend; „wenn Ihr auf ihn warten wollt, so geht in’s Haus; wollt Ihr’s nicht, so sagt mir’s, was Eure Botschaft ist …“

Der Mann mit dem Hirschfänger schüttelte den Kopf.

„Für Euch ist’s nicht, Muhme!“ rief er aus.

„Kann mir’s denken,“ fiel die alte Frau ein … „bin auch nicht begierig darauf, hab’ mir die Neugier längst abgewöhnt … Gott sei gedankt … es ist gar gut, daß ich’s habe – sonst wär’s ja nicht zum Aushalten hier bei dem Herrn Wilderich! Bei dem ist Alles ein Geheimniß; man weiß nicht, wohin er geht, noch woher er kommt, und am wenigsten was es mit diesem Jungen auf sich hat, und wenn er Morgens die Büchse überwirft, dann mein’ ich immer, der geht nicht in den Wald wie ein andrer ehrlicher Förster um der Bäume und um der Holzknechte und des andern wilden Gethiers wegen, sondern um ganz andrer Dinge willen; das steht ihm im Gesichte geschrieben!“

„Nun, und um welcher andern Dinge willen sollte er denn in den Wald gehen, alte Margareth?“ fiel lachend der mehlbestäubte Mann, der mit dem Forstläufer gekommen und diesem mit seinen pfiffigen Augen zublinzelte, ein – „welche andre Dinge als das wilde Gethier sollte er auf dem Korn haben?“

„Das weiß ich nicht, und Ihr, Gevatter Wölfle, werdet’s auch nicht wissen, wenn Ihr auch noch so schlau den da anblickt, als hättet Ihr’s Euch längst an den Stiefeln abgelaufen … was ich weiß, ist nur, daß es ein gar wunderlich Gethu’ und Wesen um ihn ist und ein Hin- und Hergehen mit allerlei Botschaften und ein Heimlichthun, und daß es nimmer viel Gutes zu bedeuten hat; wenn die Männer was treiben, was sie den Frauleuten verbergen, so hat’s nimmer viel Gutes auf sich, und das, Gevatter Wölfle, sagt Eure Frau auch, Ihr könnt’s hören von ihr: der Wölfle, sagt sie, der Schlaumichel, steckt auch mit unter der Decke!“

„Ich weiß, ich weiß,“ rief der Müller sie unterbrechend aus, „was meine Frau sagt, das höre ich schon von ihr selber, Muhme Margarethe, übergenug – das könnt Ihr mir glauben! Aber wenn ich auch mit unter der Decke stecke, wie Ihr Euch ausdrückt, dann meine ich, müßte ich schon davon wissen …“

„Davon wissen? Ihr werdet viel wissen, Euch wird man Alles auf die Nase binden … dem Wölfle! – Wenn Ihr’s wißt, so sagt mir’s einmal: woher ist denn der Herr Wilderich gekommen, und wo ist er daheim, und was will er im Walde hier? Eichkätzchen schießen? Danach sieht er aus! Und was hat’s auf sich mit dem Bamsen hier, dem armen lieben Burschen, der ausschaut, als wolle er jeden Christenmenschen fragen: Sag’s mir endlich einmal, was ist’s und weshalb bin ich hier im Wald, und wo ist meine Mutter, und weshalb bin ich nicht bei der, und wohinaus soll ich laufen, daß ich zu ihr komm’? …“

„Muhme Margareth, Ihr seid dümmer, als ich geglaubt hab’,“ antwortete der Müller Wölfle. „Der Herr Wilderich wird schon wissen, wer und wo die Mutter von seinem Jungen da ist, [418] und weshalb er ihn zu sich genommen hat und nicht sie. So etwas kann schon passiren, daß ein Mann sich vor den Leuten weniger daraus macht, solch’ ein saubres Pflänzlein bei sich zu haben, als ein armes Frauenzimmer …“

„Ich muß weiter,“ unterbrach der Forstläufer diesen Discurs der zwei Nachbarsleute hier; „ich habe noch ein tüchtig Stück Wegs abzulaufen, bis ich zur Ruhe komm’ heute. Gehabt Euch wohl, Alte, und sagt dem Herrn Wilderich nur, der Sepp sei dagewesen mit einem Gruß vom Philipp Witt und mit guten Nachrichten; der Franzose sei geschlagen und das Weitere solle der Herr Wilderich vom Müller erfahren.“

„Gute Nacht,“ versetzte die Alte mürrisch, „werd’s bestellen!“

Die beiden Männer gingen davon, der Müller, um bald nachher linksab in seine Mühle zu treten, der Sepp, um rasch die Schlucht weiter hinabzuschreiten.

Die Frau stand auf, nahm ihr Spinnrad unter den Arm und an der andern Seite das Kind, das etwa drei oder vier Jahre zählen mochte, an die Hand, und ging über eine alte schief zusammengesunkene Steintreppe, welche der Kleine mit seinen kurzen Beinchen mühsam zu erklettern hatte, in’s Haus.

„So, kleines Herrchen,“ sagte sie dabei, „jetzt gehen wir heim, der Abend ist da, und wir sollen das feine Püppchen ja vor der Nachtluft hüten, so will’s der Herr Wilderich … und dann wollen wir nach dem Süpplein und dem Bettlein schauen …“

„Ich mag nicht in’s Bett, Bruder Wilderich soll mich zu Bett bringen!“ sagte der Kleine sehr bestimmt.

„Ja, ja, Bruder Wilderich soll Dich zu Bett bringen, wie er’s alle Abend thut – komm nur, komm’!“

„Ich mag nicht in’s Haus, ich will auf der Treppe sitzen, bis Bruder Wilderich kommt.“

„Auf der Treppe? Auf den kalten Steinen willst Du sitzen – bist gescheidt?!“

„Ich will aber. Bruder Wilderich hat gesagt, Du sollst thun, was ich will, Muhme!“

„Nun schau’ Einer dieses Kräutlein an,“ sagte die Alte, die Arme in die Seite stemmend, nachdem der Kleine auf der obersten Stufe ihr seine Hand entrissen. „Ob’s D’ hergehst! Kommst gleich herein! Du Rebell, Du nichtsnutz’ger!“

Ich mag nicht. Ich bleib’ hier, bis Bruder Wilderich kommt!“

„So? Nun, dann bleib’ – wart’, ich hole Dir ein Kissen, damit Du nicht auf die Steine zu sitzen kommst, Du Prinz Du!“

Muhme Margareth ging in’s Haus und kehrte gleich darauf mit einem alten ledernen Stuhlkisten zurück, das sie, murrend und scheltend, auf die oberste Treppenstufe legte, um den „Prinzen“ darauf zu setzen. Dann legte sie ihre beiden Hände an seine Schläfe, so daß sie seinen Kopf sich zuwandte, und in die leuchtenden großen, sich auf sie heftenden Augen blickend, murmelte sie:

„Krot, willmuth’ges Du; aber ein lieb’s, lieb’s Geschöpf bist doch! Ach Gott, was wird aus Dir noch werden, in diesem traurigen alten Wald hier – und mit dem ‚Bruder Wilderich‘ da!“

Sie drückte den Kopf des Kleinen zärtlich an sich, und dann ging sie in’s Haus, ihm seine Abendsuppe zu kochen.

Der Kleine saß ruhig und still eine Weile aus seiner Steintreppe, den Blick die Schlacht hinunter gewendet. Die Schatten der Bergwände wurden dunkler und schwerer, die Dämmerung begann die Schlucht zu erfüllen, und Margareth erschien wieder auf der Hausschwelle.

„Komm’, Prinz, Du mußt aber jetzt hinein, Du mußt, es wird dunkel und kalt!“ sagte sie, das Kind an der Hand nehmend, um es in’s Haus zu führen.

„Kommt Bruder Wilderich nicht?“ fragte der Kleine wie ängstlich und dem Weinen nahe.

„Gewiß, gewiß, er kommt schon, komm’ nur herein, Dein Süppchen ist fertig; es wird Dir schmecken, und wenn Du hübsch Alles gegessen hast, dann wirst Du sehen, dann ist der Herr Wilderich da, mit einem Male, und bringt Dich zu Bett.“

Der Kleine ließ sich beruhigt abführen.

Nach einer Pause erschien wieder die Alte auf der Haustreppe. Die Arme in die Seiten gestemmt, blickte sie den Weg hinauf und hinab.

„Wo der heute bleibt!“ murmelte sie. „Es ist doch sonst seine Art nicht, im Walde zu bleiben, bis die Eulen zu Bett gehn. Wenn ihm etwas Böses zustieß, und nachher säß’ ich mit seinem Kinde da! Eine schöne Bescheerung wär’s … Aber nein – da kommt er herauf … ja, ist’s denn Er … der Herr Wilderich … und wen bringt denn der daher?“

Diesen Ausruf der Verwunderung entlockte Frau Margarethe eine Gestalt, welche neben ihrem Dienstherrn die Schlucht heraufgeschritten kam und allerdings eine auffallende Erscheinung in dieser Umgebung war.

Es war eine weibliche Gestalt, und diese Gestalt trug ein schwarzes Gewand und über ihm, breit zu den Füßen niederwallend, ein weißes Scapulier und über eine weiße Haube geworfen eine schwarze Kopfumhüllung, wie sie Klosterfrauen tragen.

„Eine Nonne!“ rief Frau Margarethe aus.

Und dann schossen in Frau Margarethens Kopf sofort die wunderlichsten Voraussetzungen und Unterstellungen zusammen. Der geheimnißvolle Herr Wilderich, und der kleine Prinz, den er vor der Welt sein „Brüderchen“ nannte, und eine Nonne, von dem Herrn Wilderich hier in der Waldeinsamkeit zu dem Forsthause geleitet … das war eine Dreifaltigkeit, welche die bedeutungsvollste Combination erwecken konnte … Muhme Margareth kannte den Weltlauf viel zu gut, die alte erfahrene Margarethe, um nicht sehr schnell diese Combination zu machen!

Sie sah in äußerster Spannung dem nahenden Paare entgegen, das jetzt schon an der Mühle vorüber war … in äußerster Spannung auf die Scene, welche sich an dem Bettlein des eben zur Ruhe gebrachten „Prinzen“ entwickeln würde … Da, wie war das? Der Herr Wilderich wandte ach ja gar nicht seinem Hause zu … und die Nonne auch nicht … sie schenkte dem alten grauen Forsthause nicht einen einzigen Blick … und im Vorübergehen winkte der Herr Wilderich nur mit der Hand und rief:

„Ich komme später, Margareth!“

Die Nonne wandte jetzt ihr Gesicht ihr zu, und winkte so leise mit dem Kopf, daß es gar nicht zu unterscheiden war, ob es ein Gruß für Margareth sein solle oder nicht. Und was noch verdrießlicher, Muhme Margareth konnte nicht einmal mehr unterscheiden, ob die Nonne alt oder jung, schön oder häßlich sei … es war schon viel zu dunkel dazu … Doch jung mußte sie wohl sei; sie trat auf wie ein recht kräftiges junges Ding, und einen weiten Weg mußte sie doch gemacht haben – denn wo gab es ein Kloster hier in der Nähe? – das nächste war sicherlich fünf oder sechs Stunden weit.

Margarethe schaute den beiden Gestalten mit großen verwunderten Augen nach, so weit sie konnte. Herr Wilderich trug ein großes Bündel, die Nonne Nichts. Die Nonne ging nicht neben ihm, sie hielt sich an der anderen Seite des Weges. So schritten sie den Weg aufwärts, bis dieser sich hinter der waldigen Bergseite verlor. Wohin konnten sie in aller Welt da wollen? Jenseits der Höhe lag ein Thal, so abgelegen, so verborgen wie eines in der Welt; wer da wohnte, der konnte sich einbilden, er einsiedele auf einer noch unentdeckten Insel, oder in Amerika, oder in Afrika oder Asien; es wär’ Keiner gekommen, ihm deutlich zu machen, daß er im alten Spessartwalde sitze und nur eine kleine Stunde zu gehen habe, um an die Heerstraße von Würzburg gen Frankfurt und dann auf dieser zu richtig getauften Christenmenschen zu gelangen. Freilich, ein altes Castell lag in dem Thale, rechts auf einem Bergvorsprung; durch eine kurze Allee auf halber Berghöhe ging man darauf zu, rechts ab, wenn man in’s Thal niederstieg; aber das alte Castell war ja seit Jahren von der Herrschaft verlassen; wo die lebte und wie sie hieß, wußte Margareth gar nicht, und es wohnte nur ein närrischer alter Kauz, ein pensonirter Lieuteuant des Contingents des fränkischea Ritter-Cantons zur Reichsarmee darauf, als Verwalter oder Schösser, wie man’s nannte, und seine Knechte und Mägde, und sonst Niemand. Und zu dem bockbeinigen alten Herrn Schösser konnte doch die Nonne nicht wollen!

Das waren die Gedanken, die Fragen, die Veränderungen, mit denen Muhme Margarethe ihre schwere Last und Noth hatte, als sie endlich in’s Haus zurückging und sich dann in dem ersten Raume, der als Eingangshalle, Küche und Wohnzimmer diente, an’s Heerdfeuer setzte, um, die Hände im Schooß, murmelnd in die Holzstamme zu sehen, über der ein brodelnder Topf hing.

Enthielt der brodelnde Topf Herrn Wilderich’s Abendessen, so war dieser ein Mann von großer Anspruchlosigkeit; Margareth verwandte sehr wenig Aufmerksamkeit auf das, was sie braute.

[419] Freilich viel Dank hätte sie heute keinenfalls geerntet, wenn sie auch mehr Fleiß und Würze an den Hasenpfeffer gewendet. Herr Wilderich trat nach mehr als einer Stunde sehr rasch, fast stürmisch und höchst aufgeregt ein. Er stellte die Büchse in die Ecke, er warf die Waidtasche von sich, ohne zu sehen, wohin sie fiel. Er ging in’s Hinterzimmer zum Bette des Kleinen und drückte einen Kuß auf seine Stirn, daß das Kind sich erschrocken in seinem Schlummer umwarf. Er kam zurück und schritt in der Küche auf und ab, immer auf und ab; und daß Margarethe da war, mit all’ ihren Verwunderungen und Fragen im alten Gesicht, und daß ein sauber gedeckter Tisch da war, nahe am Feuer, und daß Margarethe eine dampfende Schüssel darauf stellte zu dem Brode und der Flasche Landweins und dem alten Kelchglase, die schon darauf standen, Alles das schien er gar nicht zu sehen, nicht zu ahnen; ebenso wenig, daß die alte Frau, nachdem sie sich wieder zu ihrem Spinnrad gesetzt, ihn mit Seitenblicken beobachtete, in denen nichts weniger lag, als die stumme Versicherung für den Mann, daß er’s mit all’ seinem Treiben und Gebühren der guten, aber etwas mürrischen alten Seele recht mache.

„Ich soll Euch sagen, der Sepp sei da gewesen, um Euch Nachrichten zu bringen, und das Weitere würdet Ihr vom Gevatter Wölfle, dem Müller, erfahren … Die Franzosen seien geschlagen …“

„Ich weiß, was der Sepp wollte,“ antwortete Wilderich zerstreut.

„Auch daß die Franzosen geschlagen sind?“

„Auch das, auch das!“

„Nun, wenn Ihr Euch nicht mehr d’raus macht – mir kann’s auch gleich sein.“

Der Förster antwortete nicht.

„Wollt Ihr nicht essen heute?“

„Gewiß, gewiß!“

Trotz dieser Versicherung setzte Wilderich seine Wanderung fort.

Margarethe folgte ihm mit ihren Blicken.

Nach einer Weile fielen Wilderich’s Blicke in diese ihm so gespannt folgenden.

Er blieb vor Margarethe stehen, und ein plötzliches heiteres Lächeln glitt über die schönen, ausdrucksvollen Züge des hochgewachsenen jungen Mannes.

„Alte Margareth, weißt Du, daß Du sehr komisch bist mit dem bösen Gesicht, das Du mir machst? Weshalb fragst Du nicht?“ rief er aus.

„Fragen? Wonach soll ich fragen? Wenn der Herr Wilderich sich nicht herabläßt, von irgend einer Sache anzufangen, wo man doch hier mutterseelenallein im Walde sitzt, daß Einem die Zunge gar noch eintrocken könnt’, und man nicht weiß, wo man das Bischen Sach’ und Zeug, an das man mindestens denken könnt’, hernehmen soll …“

Wilderich lachte.

„Und wenn wunderliche, unverhoffentliche Frauenspersonen,“ fuhr Margarethe fort, „daher gehen und es schon zeigen, daß sie mit der Margareth nicht zu thun haben wollen, sondern an der Thür still vorübergehen und in den Wald hinein, wo der Weg doch ein Ende hat und Niemand sie erwarten kann, und am wenigsten ein Kloster ist, wo solche Frauenspersonen hingehören, und wenn der Herr Wilderich als ihr Bote und Packträger nebenher zieht –“

„Nun hör’ auf, hör’ auf,“ fiel ihr Wilderich in’s Wort … „Was soll der ganze Psalm, statt daß Du mich ehrlich fragst, wie’s Dir doch das Herz abdrückt: wer war die Nonne?“

Margarethe stemmte ihre Arme in die Seite, und das Spinnrad mit dem Fuß von sich schiebend, rief sie laut und unverhohlen aus:

„Wissen möcht’ ich’s, so viel ist gewiß!“

„Nun, so geht’s Dir grad’ so wie mir!“ versetzte Wilderich.

„Ihr wißt es nicht? … Ihr wollt es nicht wissen?“

„Ich weiß es nicht, ich werde nicht klug daraus.“

„Ah … und Ihr tragt ihr doch ihr Bündel, und Ihr führt sie doch, und sie mußte Euch doch sagen, – woher sie kam, wohin sie wollte?“

„Wohin sie wollte, das hat sie mir allerdings gesagt …“

Margarethe schüttelte ungläubig und entrüstet den grauen Kopf und zog mit der Miene der Resignation wieder ihr Spinnrad an sich.

„Wohin wollte sie denn?“ sagte sie mit einem verbissenen Ton, den sie für geeignet hielt, um ihren völligen Unglauben an den Tag zu legen.

„Sie wollte nach Goschenwald drüben.“

„Zu dem rothen Herrn Schösser? Will der ein Kloster stiften?“

„Zu dem – oder vielmehr zu dem Hause, in dem der alte gestrenge Herr Lieutenant wohnt. Höre nur. Ich komme heute Nachmittag –“

„Aber wollt Ihr denn nicht essen, Herr Wilderich?“ unterbrach ihn die Alte – sie sagte es, als wolle sie andeuten, daß sich eine rechte Jagdgeschichte eben so gut über Tisch erzählen lasse.

„Nun ja, ich will endlich Deinem Ragout alle Ehre anthun,“ entgegnete Wilderich, sich an den gedeckten Tisch setzend – „aber hör’ zu. Also, ich komme heute Nachmittag durch die Kiefernbüsche oberhalb Rohrbrunn und von da auf die Würzburger Heerstraße, um so heim zu wandern; da begegnet mir der Weißkopf, der Waldmeister aus dem Siefengrund, weißt Du, und der ruft mir zu, ob ich’s schon gehört hätte, die Franzosen seien geschlagen am 24. bei Amberg in der Oberpfalz, der Erzherzog Karl habe sie gefaßt, ihr Obergeneral, der Jourdan, sei schon bis an die Wiesent zurück, Fürst Johann Lichtenstein mit seiner Cavallerie schon in Nürnberg … wenn die Franzosen sich auch noch einmal stellten, so würden sie doch gegen den Erzherzog nicht aufkommen können, so groß seien ihre Verluste. Auch flüchte sich schon Alles oben im Lande, was sich flüchten könne, vor ihren zurückfluthenden Heermassen; denn wenn der Franzose geschlagen heim marschirt, dann ist er wie ein wildes Thier und ärger als Kroat und Türke; und was dann unbeschützt auf dem Lande wohnt, was wohlhabende Leute sind, Beamte, Pfarrer und Ordensleute, die thun wohl, sich aus dem Staube zu machen, und das geschähe denn auch aufwärts am ganzen Main, erzählte der Weißkopf …“

„Wenn nur das schlechte Sansculottenvolk nicht hierher kommt!“ rief Margareth erschreckend aus … „Gott steh uns bei!“

„Sag’ lieber: Gott steh ihnen bei!“ fuhr Wilderich mit dem Ton der Drohung und des Zornes fort; „wir haben vor, ihnen an den Spessart ein Andenken mit auf den Weg zu geben, wenn sie kommen! Hab’ keine Angst. Du wirst schon sehen, was geschieht … und davon rede ich denn mit dem Waldmeister ein wenig, und dann gehn wir auseinander … er geht aufwärts und sagt im Fortgehen:

‚Seht Euch doch nach der Nonne um, die da unten an der Heerstraße sitzt – ich hab’ sie gefragt, wohin sie wolle, aber sie hat den Kopf abgewandt, ohne mir Antwort geben zu wollen – da bin ich meines Wegs gegangen; aber es ist doch seltsam, woher die Person so hierher in den Wald geschneit ist – und sie kann doch nicht allein in den Abend und die Nacht hinein laufen.‘

‚Will schon sehen,‘ sag’ ich, und gehe weiter und sehe nach einer Weile denn auch richtig eine Nonne dasitzen auf einem Stein, die Hände im Schooß und ihr Bündel neben sich; und ich gehe auf sie zu und sage:

‚Guten Abend, ehrwürdige Mutter, wie kommen Sie denn so allein, wenn man fragen darf …‘ aber damit stockt mir auch das Wort auf der Zunge, weil sie jetzt den Kopf aufhebt und mir das Gesicht zuwendet – ein Gesicht, – ich sage Dir, Margareth, so eins hast Du nie gesehen, und ich auch nicht, nie in meinem Leben; ein Gesicht so fein und schön und rührend blaß, mit großen glänzenden braunen Augen, glänzend und doch so weich, so sanft, so still, und das Gesicht dabei so fein und so rosig bleich –“

„So fein und so bleich – das habt Ihr schon mal gesagt!“ murmelte Margareth spöttisch.

„Ich sage Dir,“ fuhr Wilderich eifrig fort, „die heilige Genovefa muß so ausgesehen haben, als sie zwischen den Baumwurzeln unter der Eiche im Ardennenwald saß …“

„Nun ja, und den kleinen Schmerzenreich für die heilige Genovefa hätten wir ja auch zur Hand!“ hätte Margareth sagen mögen – aber sie verschluckte die Bosheit, denn Wilderich’s Blicke lagen so ehrlich auf ihr, er sprach mit solcher Aufrichtigkeit, daß sie irre zu werden begann an der Geschichte.

„Sie sah mich mit diesen Augen an, als wolle sie mir in der Seele lesen,“ erzählte Wilderich weiter; „und dann sagte sie leise, daß ich sie kaum verstand: ‚Ich komme von Oberzell. Ich bin sehr ermüdet. Wie weit ist noch bis zu dem Hause Goschenwald?’

[420] ,Goschenwald – das liegt in meinem Revier – ich bin der Revierförster von Rohrbrunn – wenn Sie nach Goschenwald wollen, so ist es just auch mein Weg – mein Forsthaus liegt in der Schlucht am Wege nach Goschenwald - so stotterte ich abgebrochen heraus … ,Wie weit es ist? Es wird zu weit sein, daß Sie es noch bei hellem Tage erreichen – wenn Sie ermüdet sind, heißt das, ehrwürdige …‘ ich verschluckte verlegen das Wort: ehrwürdige Mutter … solch ein junges Geschöpf? ich ward ganz roth dabei.

Sie blickte noch einmal zu mir auf – diesmal flüchtiger; dann, nach ihrem Bündel fassend, sagte sie:

‚So will ich weiter gehn, wenn Sie mir den Weg zeigen wollen.‘

Ich griff nach ihrem Bündel, es ihr zu tragen, und sie ließ es mir. Weiter zu reden wagte ich gar nicht, ich wußte nicht, wie ich sie anreden solle, aber sie selber begann nach einer Pause wieder:

‚Ich war Novize im Kloster Oberzell,‘ sagte sie. ,Es kam die Nachricht, daß die französische Armee geschlagen und im vollen Rückzuge sei; die ehrwürdige Mutter Aebtissin kündigte uns an, daß wir allesammt das Kloster verlassen und uns zu unseren Verwandten flüchten sollten. Ich habe keine Verwandte, und so gab mir die Aebtissin ein Schreiben an den Herrn Schösser von Goschenwald, weil dies Haus verborgen und abseits von der Heerstraße liege.‘

‚Und den Weg von Oberzell bis hierher haben Sie zu Fuß gemacht?’ fragte ich verwundert.

,Nicht ganz,‘ sagte sie; ,bis Heidenfeld fuhr ich mit zwei älteren Schwestern, die von da aus das Mainthal weiter hinauf reis’ten.’

,Dann blieb Ihnen doch eine gute Strecke zu Fuß zu machen übrig, bevor Sie bis hierher kamen,‘ versetzte ich.

‚Ich bin auch müde,‘ versetzte sie; ‚aber es wird ja gehen. Wenn man muß, geht Alles!’

„Ich war recht linkisch und einfältig,“ fuhr Wilderich zu erzählen fort, „ich wagte nicht, ihr meinen Arm anzubieten, als es nun in unsre Schlucht hinein und bergaufwärts ging; noch auch ihr von dem Wein zu bieten, den ich in meiner Waidtasche trug – ich ging ganz kleinlaut neben ihr her, wohl eine halbe Stunde lang. Ich weiß nicht, ob das vielleicht sie muthiger und mittheilsamer machte; denn sie begann nun zu sprechen. Sie fragte, in wessen Dienst ich stände, und ob ich Haus Goschenwald und die Menschen, welche dort wohnten, kenne, und dann, erzählte sie von dem Aufruhr und dem Schrecken der guten Nönnchen, als die Nachricht gekommen, die sie wie eine Schaar aufgeschreckter Tauben aus ihrer stillen Clausur fortgetrieben, wie die frommen Gottesbräute so hastig gepackt und kopflos durcheinander gelaufen und nach Fuhrwerk geschrieen, und wie die jüngeren sich ’s lachend gefallen lassen und die älteren geweint und gejammert – und das Alles, wie sie ’s schilderte, hatte so etwas, wie soll ich sagen, nichts Lächerliches, es war gar natürlich und selbstverständlich aber wie sie ’s erzählte, mußte ich doch ein paar Mal lachen, und es war mir, als ob das junge Mädchen trotz ihres Novizenthums und ihres schwarzen Habits doch vor dem Klosterwesen und Nonnenthum nicht den geringsten Respect habe!“

„Und dann?“ fragte Margarethe.

„Dann,“ versetzte Wilderich, „kamen wir hier am Hause vorüber und ich sagte ihr, daß ich hier wohne – allein mit Euch, Margarethe, des vorigen Revierförsters Muhme, die schon dem alten Manne lange, eine treue Pflegerin gewesen – das Haus sei alt, und das Revier groß – der Dienst sei schwer, wenn man aber dabei groß geworden und von Jugend auf dazu dressirt, so halte man’s schon aus … und da sagte sie: ‚wenn auch das Haus verfallen genug aussehe, so sei es doch mein Haus, und wenn der Wald, den ich zu hüten habe, auch weit und groß sei, so sei es doch der schöne, stille, freie Wald, in den keine Menschen mit ihrer Noth und ihrem Leid kämen, keine Menschen mit ihren bösen und verderblichen Leidenschaften – es sei doch Jeder glücklich, der ruhig und geachtet am eigenen Heerde leben könne und das Schicksal der Heimathlosen und Ausgestoßenen nicht kenne! Das sagte sie mit einem Tone, einem so traurigen und ergreifenden Tone, daß ich gar nicht wußte, was ich darauf antworten sollte – es hat mir seitdem gar nicht aus dem Kopfe herausgewollt, was für ein Schicksal es sein kann, das sie so jung in’s Kloster getrieben, daß sie jetzt sich eine Heimathlose und Ausgestoßene nannte. Ich war von dem Augenblick an so betroffen und kleinlaut, daß ich nicht mehr wagte, irgend eine Frage an sie zu stellen … Sag’ mir um Gotteswillen, Margareth, wer kann sie sein, was kann sie erlebt haben, daß sie mit so traurigen Augen in die Welt blickt, mit so traurigen Worten redet? Mein Gott, was muß ihr angethan sein, daß sie einem armen Teufel, der, wie ich, in der öden Einsamkeit dieser Waldschlucht in solch einem schiefgesunkenen Malepartus sitzt, beneidet … und dabei so jung, so schön, so bezaubernd schön? …“

Bezaubert hat sie Euch, so viel ist gewiß. Aber was kann ich davon wissen?“ rief Margarethe achselzuckend aus; „Ihr habt mir ja noch nicht einmal das Ende der Geschichte erzählt.“

„Meine Geschichte ist zu Ende – ich brachte sie bis nach Goschenwald. Erwartet war sie da nicht. Auf der Brüstung der, alten Steinbrücke vor dem Thorbau saß der alte Schösser in seiner rothen Lieutenantsuniform, die er nie ablegt; er saß steif und gerade da, der Zopf stand ihm hinten vom Kopfe ab, just so weit, wie vorn die irdene Tabakspfeife, die er im Munde hatte und aus der er blaue Dampfwolken blies, so beharrlich und still für sich hin, als ob er das Abenddunkel zurecht rauchen müsse und die Schatten der Nacht ohne seine blauen Wolken nicht fertig würden. Die Nonne trat an ihn heran, zog schüchtern und leise redend einen Brief hervor und gab ihn dem Alten, er sei von der hochwürdigen Frau Aebtissin von Oberzell. Der Schösser besah ihn von allen Seiten; dann steckte er ihn in die Tasche und sagte, es sei zu dunkel, um ihn zu lesen – dabei blieb er steif und reglos sitzen und sah uns an, bald den Einen, bald die Andere.

‚Aber es scheint,‘ sagte ich, ‚die Demoiselle rechnet darauf, in Goschenwald Aufnahme zu finden …‘

‚Die Aebtissin ließ es mich in der That hoffen,‘ fiel sie ein.

‚Bis anhero haben wir dieses ihr auch nicht verweigert!’ versetzte der Schösser, geradeaus in seine Dampfwolken blickend. ‚Trete die Demoiselle nur ein. Es soll für sie gesorgt werden.‘

Das junge Mädchen sah schweigend zu mir auf und gab mir die Hand – es war ein stummer Dank für meine Begleitung. Dann ging sie in’s Thor hinein – ich wandte mich heimwärts; der alte Schösser blickte uns Beiden nach, so gut es geschehen konnte, ohne den Kopf zu wenden, mit dem bloßen Hin- und Herwerfen der Augen. – Und damit hast Du das letzte Ende der Geschichte.“

„Das letzte Ende?“ sagte Margarethe. „Ihr seht nicht ganz danach aus, Herr Wilderich, als ob Ihr selber so dächtet – wenn diese wunderliche Nonne in Goschenwald bleiben sollte, so habt Ihr den Weg dahin wohl nicht zum letzten Mal gemacht!“

„Möglich,“ antwortete Wilderich lächelnd, „ich muß doch morgen sehen, ob der alte Lieutenant endlich auch hineingegangen, oder ob er noch immer wie versteinert auf der Brücke sitzt.“

[433]
2.

Wilderich ging in der That am andern Tage, als ob er danach sehen wolle. Er war am Morgen ungewöhnlich früh aufgestanden, aber zuerst war er in die Mühle gegangen, mit dem Gevatter Wölfle zu reden. – Margarethe hatte gesehen, daß mehrere fremde Männer die Schlucht heraufgekommen und sich ebenfalls in die Mühle begeben hatten – der Müller hatte seine Räder gestellt, als ob er Wichtigeres heute zu thun habe, als seine alten Steine sich umschwingen zu lassen – Margarethe schüttelte den Kopf über dies Treiben, aber sie war gewohnt, daß man ihr ein Hehl daraus machte, und so plauderte sie ihren Aerger nur gegen den kleinen Leopold aus, der ihr von der Wiese am Bach gelbe Blumen des Löwenzahns zutrug, aus dem sie ihm eine Kette um den Hals machen mußte. Als Wilderich aus der Mühle zurückkam, nahm er erregt, wie es schien, und hastig ein Frühstück ein, dann warf er die Büchse um, pfiff seinem Hunde und schritt davon, die Schlucht hinauf.

Eine halbe Stunde später sah er die Steinbrücke von Haus Goschenwald vor sich. Der alte Schösser saß zwar nicht mehr auf der Brustwehr, aber er lag in seiner rothen Uniform und mit einer hohen weißen Zipfelmütze auf dem gelbgrauen runzligen Haupte in einem offenen Fenster des Thorbaus, über dem Einfahrtsthor; so blickte er Wilderich entgegen, ohne sich zu rühren, nickte auch nicht mit dem Kopfe, als dieser die Hand grüßend an seine Mütze legte – wenn er auch nicht mehr starr und steif wie ein Steinbild auf der Brücke saß, versteinert schien der alte Mann doch.

Wenn man durch das gewölbte Thor im Vorbau auf den Hof von Goschenwald kam, so hatte man rechts das Haupthaus und vor sich einen im rechten Winkel vorspringenden Flügel; von diesem nach dem Vorbau hin schloß links eine niedrige gezinnte Mauer den Hof, über welche man fort in das enge waldbewachsene Thal und den Weiher im tiefsten Grunde blickte, in die stille, grüne, menschenleere Waldwelt.

Mitten im Hofe stand eine Linde und unfern ein Ziehbrunnen mit seinem Eisenrade zwischen zwei Steinpfeilern; der Brunnen mußte sehr tief sein, da Goschenwald auf halber Berghöhe lag und das ganze Thal beherrschte. Dicht unter der Linde, die weithin ihre niederhängenden Zweige ausbreitete und den Boden umher mit ihren grauen beflügelten Blüthen bedeckt hatte, stand eine Bank, und auf dieser Bank saß ein junges Mädchen in einem dunkelgrünen Kleide, unter dem nach der Mode der Zeit ein graues Unterkleid hervorblickte; ihre Brust war mit einem weißen geblümten Tuche umhüllt, das auf dem Rücken zu einem Knoten zusammengeschlungen war; um ihr Haupt wallten frei die dichten braunen Locken. So saß sie da, das Kinn auf die Hand gestützt und in das Thal vor ihr hinabschauend – ein grober grauer Strickstrumpf, mit dem sie beschäftigt gewesen sein mußte, lag in ihrem Schooße.

Wilderich fixirte sie überrascht, als er näher kam – war das in der That – ja, sie war es, dies schöne rosig-bleiche Antlitz konnte keinen Doppelgänger haben – es war die Nonne von gestern!

Ein eigenthümliches Gefühl von Befriedigung war es, womit Wilderich die Wandlung bemerkte, die aus der Nonne ein junges Mädchen, anscheinend des wohlhabenden Bürgerstandes, gemacht; – es war auffallend, daß sie so geeilt, das fromme kirchliche Gewand abzuthun; für den jungen Forstmann freilich konnte es ganz dasselbe sein, ob er sie nun so oder so sah; und doch flößte der Anblick ihm eine warme, wohlthuende Empfindung in’s Herz.

Als er auf sie zutrat, fühlte er sich tief erröthen, und dem Blicke, den sie groß und ruhig auf ihm haften ließ, ein wenig unsicher begegnend, aber mit der Verbeugung eines weltgewandten Mannes, sagte er:

„Ich hoffe, Demoiselle, Sie finden mich nicht zudringlich; meine Waldstreiferei führte mich in die Nähe und die Hoffnung, zu erfahren, daß Ihre Fußreise Sie nicht zu sehr ermüdet und angegriffen habe, bis hierher …“

„Ich danke Ihnen,“ versetzte sie freundlich, aber sehr ernst, „wie Sie sehen, bin ich wohl; ich danke Ihnen für die große Gefälligkeit, welche Sie mir gestern bewiesen, und die ich nicht hätte annehmen sollen, da Sie einen so weiten Weg bis zu Ihrem Hause zurückzumachen hatten. Aber ich wußte nicht, wie weit …“

„Sie kannten den Weg nicht, freilich, und es wäre ja unverzeihlich von mir gewesen, hätte ich es Ihnen überlassen, sich den Weg selber zu suchen. Darum reden wir nicht von Dank …“

Wilderich schwieg. Sein Auge haftete auf dem Antlitze des jungen Mädchens, das einen so unbeschreiblichen Zauber auf ihn ausübte; unter dem Einfluß dieses Zaubers, der ihm eigenthümlich die Gedanken verwirrte, wußte er nicht, wie er den abreißenden Faden des Gesprächs wieder anknüpfe.

„Es freut mich,“ stotterte er endlich, „daß Sie hier wohl aufgehoben sind … der Herr Schösser hat sicherlich …“

[434] „Der Herr Schösser,“ fiel sie ein, „hat endlich den Brief der Aebtissin gelesen und mir die besten Zimmer dort oben“ – sie deutete auf den vorspringenden Flügel des Baus – „eingeräumt; er spricht zwar nur mit den Augen, der Herr Schösser, aber er scheint ein friedlicher, wohlmeinender Herr; auch ist er nicht so abgeneigt, auf eine Frage eine Antwort zu geben, wie es scheint. Man muß ihn nur dabei, die Haushälterin hat es mir verrathen, Eure Gestrengen nennen. Die Zimmer sind recht wohl erhalten, sie haben eine hübsche Aussicht, und ich bin durchaus nicht unzufrieden, sie mit meiner Zelle vertauscht zu haben …“

„Und diese Tracht, die so viel kleidsamer und, wenn ich es zu sagen mir herausnehmen darf, so viel passender für die Demoiselle ist, mit dem schwarzen Habit … in welchem ich mich gar nicht recht Sie anzureden getraute!“

Sie nickte lächelnd.

„Ich war nur Novize, oder auch das nicht einmal so recht im Kloster,“ sagte sie, „… ich trug das schwarze Habit wie eine Art Verhüllung, und ich habe es abgelegt, da es doch nur eine Entweihung desselben wäre, wenn ich es hier vor den Leuten beibehalten und so Parade mit einem frommen und sehr ernsten Berufe gemacht hätte, der meiner Seele ganz fremd ist, für den ich gar nicht würdig genug bin. Es ist sicherlich nicht Eitelkeit, wenn ich Ihnen heute so verwandelt und verweltlicht erscheine – nein, nur Ehrlichkeit!“

Sie sah ihn dabei mit Augen an, aus denen diese Ehrlichkeit hervorleuchtete.

Wilderich gerieth immer tiefer in den Zauberbann dieser Augen, er kam sich dabei, weil er nichts zu antworten, nichts Sinniges oder Kluges vorzubringen wußte und das Roth der Verlegenheit auf seinen Wangen brennen fühlte, entsetzlich hölzern und täppisch vor; er suchte nach einem Schluß der Unterredung und mochte sich doch auch von der Stelle, wo er stand, nicht losreißen.

„Die Kloster-Tracht,“ sagte er nach einer Weile, „würde Sie vielleicht doch besser geschützt haben, wenn der Sturm hier in unsern Waldbergen losbricht.“

„Der Sturm? Sie meinen?“

„Ich meine den Kampf, der sich hier in der Stille vorbereitet. Ich darf es Ihnen ja sagen. Sie wissen, daß die Franzosen oben im Lande zurückgeworfen sind; eine zweite Schlacht, vielleicht in der Gegend von Würzburg, wird hoffentlich ihre Macht völlig brechen und sie zwingen, sich durch die Wälder hier auf den Rhein zurückzuziehen. In diesen Wäldern aber werden sie alsdann vernichtet werden.“

„Mein Gott, Sie sprechen das so bestimmt aus – Sie glauben, der Erzherzog Karl wird sie hier auf dem Rückzuge angreifen …“

„Nicht das. Der Erzherzog Karl wird mit seiner Armee für die Waidmänner des Spessart der Treiber sein, der sie ihnen wie ein gehetztes Wild in den Schuß treibt! Wir sind bereit und gerüstet, sie zu empfangen. Es ist Alles vorbereitet. Wir haben im Stillen für Waffen gesorgt, die Männer im Gebrauch derselben geübt, die Anführer und Rotten aufgestellt, die Punkte, wo die Angriffe erfolgen sollen, bestimmt – warten Sie ein paar Tage, und Sie werden auch hier in Goschenwald hören können, wie’s drüben in den Thälern, wodurch die Straßen ziehen, knattern und knallen wird …“

„Mein Gott, was sagen Sie mir da!“ rief das junge Mädchen erschrocken, „und das soll hier unter meinen Augen vorgehn?“

„Hier – schwerlich! Seien Sie darüber beruhigt! Göschenwald liegt in gerader Linie fast eine Stunde von der Heerstraße entfernt. Sie werden höchstens die Jäger sehn, nichts von der – Jagd!“

„Das ist aber doch fürchterlich … und Sie, Sie selbst?“ versetzte sie, indem sie in das von dem Ausdrucke wilden Muthes und der Kampfeslust glühende Antlitz Wilderich’s blickte.

„Ich selbst – ich bin Waidmann – im Spessart angestellt; durch mein Revier zieht ein gutes Stück der Rückzugslinie des Feindes; möchten Sie da meine Büchse feiern sehn?“

Sie antwortete nicht. Ihre Züge waren bleich geworden.

„Schrecklich ist es aber doch,“ sagte sie dann, mit dem Ausdruck der Angst zu Wilderich aufblickend, „es hat mich so entsetzt, daß ich noch in dieser Stunde wieder aufbrechen und mich weiter flüchten möchte! – Aber wohin, wohin? Ich weiß keinen Winkel auf Erden, der mich aufnähme, wenn ich diesen hier verließe, keinen Winkel, keine Stätte! O mein Gott!“ setzte sie halb wie für sich und den Blick von Wilderich abwendend, um mit ihm in die Ferne hinaus zu schweifen, hinzu, „ich bin ja nun einmal verlassen von Allen, verlassen und verloren! So muß es denn über mich kommen, ich muß es überstehen, so gut es zu überstehen ist!“

„Es thut mir leid,“ versetzte Wilderich bewegt, „daß es Sie so erschreckt, so zittern macht. Hätt’ ich’s Ihnen lieber nicht verrathen, wie wir’s bis heute verborgen gehalten vor aller Welt, außer denen, die’s anging, die den nöthigen Haß im Herzen, die nöthige Kraft in den Muskeln und Sehnen haben, um zu helfen, mit einem heiligen Wetterschlage in das böse Volk, das unser Vaterland höhnt, beschimpft, ausraubt und zertritt, zu fahren! Doch ich dachte, Ihnen dürfte ich’s sagen; mir ist, als dürft’ ich eben Ihnen Alles sagen, Ihnen müßt’ ich Alles sagen … und dann, dann, dachte ich, seien Sie vorbereitet und ängstigten sich nicht, wenn Sie wüßten, daß Alles wohlgeordnet, Alles vorgesehen ist; daß nicht tollkühne Menschen sich um Sie her leichtsinnig in den Untergang stürzen, sondern daß ein überdachter Plan das entschieden eingreifende Handeln des Volkes regelt. Das Volk will zeigen, daß es auch die Waffe zu handhaben versteht und alte Schmach zu rächen weiß, und daß, so viel man auch gethan, seine Kraft, seinen Muth, sein Selbstbewußtsein in dem Modersumpf unsres Reichswesens zu ersticken, diese Kraft doch noch lebendig ist und zu siegen weiß, wenn man ihr nur Raum läßt, sich zu offenbaren. Um das an den Tag legen zu können, hat es sich aber vorgesehen, damit es nicht bei dieser Erhebung eine klägliche Rolle spiele und zum Spotte Derer werde, welche es verachten. Es hat seine Maßregeln dawider getroffen. Es wird kein Kinderspiel werden, sondern ein ernstes Stück Arbeit. Aber fürchten Sie Nichts … es wäre nicht wohlgethan, wenn Sie drum diesen Aufenthalt verlassen wollten, falls Sie so allein stehen in der Welt, wie Sie sagen –“

„Das thu’ ich,“ versetzte das junge Mädchen, zu Boden blickend, „allein, ganz allein!“

„Das ist ein hartes Loos,“ erwiderte Wilderich weich und mit gedämpfter Stimme. „Für ein junges Mädchen doppelt, obwohl es auch die Seele eines Mannes wunddrücken kann, wenn er sich sagen muß: Du bist allein in der Welt, die Deinen sind alle dahin, sind todt, du selbst bist wie ein loses Blatt in diese Thalschlucht, in diese Berge, in diese Welt hineingeweht, ohne daß du weißt, was dich eigentlich dahin bringt; ohne daß das Bewußtsein des Fremdseins in dieser Welt für dich aufhört; ohne daß sich Fäden spinnen zwischen ihr und deinem Gemüth, die dir endlich das Gefühl, eine Heimath zu haben, gäben; ohne daß die alte quälende Empfindung der Herzensleerheit ein Ende fände, und das ewige schmerzliche Träumen von einem Glück, das irgendwo jenseits der grünen Bergwaldkämme im Ost oder im West für dich existiren müsse, je aufhörte …“

„Und ist’s Ihnen so zu Muthe – Ihnen – hier?“ fragte lebhaft das junge Mädchen.

„So ist’s,“ sagte er. „Ich bin fremd hierhergekommen, seit wenigen Monden. Ich bin zu Hause in der Unterpfalz, aus der Gegend von Zweibrücken. Da ist nun Alles französisch drüben. Mein Vater war Forstmeister dort, ein alter Mann, gichtgelähmt, ich durfte ihn nicht verlassen – so hielt ich’s aus – ich sollte sein Nachfolger werden und versah den Dienst für ihn schon seit mehreren Jahren; ich hielt es aus trotz der neuen Wirthschaft dort; als aber mein Vater gestorben, da hielt mich nichts mehr zurück, ich gab meine Stellung und Aussicht auf, und der Kurfürst von Mainz, der jetzt in Aschaffenburg sitzt, gab mir ein vernachlässigtes Revier, sein entlegenstes – dieses hier!“

Das junge Mädchen sah ihn an, ohne zu antworten.

„Sie klagen mit Unrecht,“ sagte sie dann nach einer Weile, „über solch’ ein Lebensloos. – Es giebt härtere. Keine Heimath zu haben ist besser, als eine zu haben, die uns ausgestoßen hat; keinen Kreis verwandter und geliebter Menschen zu besitzen, besser, als in dem, der uns gehört, Hader, Feindschaft und tödtlichen Haß zu wissen!“

Wilderich nickte leise und sinnend auf die Sprechende vor ihm blickend. Ein unendliches Mitleiden mit ihrem Loose erfüllte ihn, da er sofort annahm, daß sie nur von ihrem eigenen reden könne.

[435] „Sie haben Recht, Demoiselle,“ entgegnete er dann. „Und … wenn … wenn …“

„Was wollten Sie sagen?“ fragte sie unbefangen, als er in’s Stottern gerieth.

„Nichts, als daß Unsereins ja auch den Trost hat, zuweilen zu etwas nütz sein zu können … vielleicht, wenn Sie irgend eines Schutzes, eines Dienstes bedürften, … aber das wäre vermessen von mir zu hoffen … doch wird es Ihnen erwünscht sein, Auskunft, Nachrichten über die Vorgänge, die wir zu erwarten haben, zu erhalten … ich brauche Ihnen nicht zu sagen, daß, wenn ich wiederkommen dürfte, wenn Sie mir vergönnten …“

Wilderich’s Erröthen und Stottern wurde peinlich, so daß sie einfiel:

„Ich danke Ihnen, ich danke Ihnen aufrichtig, ich würde sehr undankbar für den Schutz sein, den Sie mir bereits einmal haben angedeihen lassen, wenn ich nicht gern Ihre Gefälligkeit wieder in Anspruch nähme, sobald ich ihrer bedürfte, und ich wüßte, daß es Ihnen nicht wieder eine so große Mühe machte, wie ich sie Ihnen gestern gemacht habe.“

Ohne eine Sylbe zu antworten, machte er ihr mit noch tieferem Erröthen eine Verbeugung und ging. Sie nickte freundlich, freundlicher, als sie ihn empfangen, mit dem Kopfe, und blickte ihm eigenthümlich bewegt nach, unruhig, unsicher, ob sie in diesem Gespräch nicht auffallend offen und aufrichtig und über ihre Lage mittheilsam gewesen, und was er darüber denken müsse. Es ist nun einmal so schwer, wenn man durch die Ereignisse aus allem Gleichgewicht gebracht und so in eine völlig andre Umgebung geworfen, weit aus den täglichen Lebensgeleisen geschleudert ist, die strenge Haltung, wie die Sitte sie will, zu bewahren, nicht von dem, was das Herz erfüllt, mehr über die Lippen fließen zu lassen, als man sollte! Ach und ihre Scrupel, daß Wilderich sie mißdeuten und mißverstehen könne, waren so ungegründet! Er sagte sich nichts über sie, er grübelte nicht, er urtheilte nicht, er fühlte nur stärker das, was ihn die ganze schlaflose Nacht hindurch leise durchwogt: dieses sehnende Empfinden, dies Betroffen- und Ergriffensein von der fremden Erscheinung; es war ihm, als ob das zu einem wahren Sturm werden könne, was schon jetzt ihm durch alle Adern pochte; er fühlte es und sagte es sich schon mit bewußter Klarheit, daß dieses geheimnißvolle schöne junge Mädchen mit seinem seltsamen Schicksal ihm mehr am Herzen liege, als alles Andere, was ihm nahe stand in dieser stillen grünen Bergwelt und außerhalb derselben.

Eine Weile, nachdem Wilderich gegangen, erschien eine zweite Person auf dem Hof von Goschenwald. Diesmal war es der gestrenge Herr Schösser; der Herr Schösser in der abgetragenen rothen, auf den Nähten ein wenig weiß gewordenen Uniform, in welcher einst der ritterschaftliche Canton von Oberfranken seine grausam tapfere und erschreckliche Heeresmacht zu der römisch-kaiserlichen Armada hatte stoßen lassen[WS 1], wenn es galt, den Reichsboden wider Türken oder Franzosen zu vertheidigen. Roth war diese Uniform – ob die grüne Sergeweste mit Messingknöpfen und die gelben Beinkleider und die schwarzen Gamaschen, in denen der Herr Lieutenant außer Dienst stolzirte, vorschriftsmäßig dazu gehörten, finden wir in den Büchern der Geschichte nicht verzeichnet; vielleicht hing diese Farbenwahl mit dem persönlichen Geschmack Seiner Gestrengen zusammen; gewiß aber gehörte dazu der Degen, der an der steifgraden dünnen Gestalt des Mannes hing wie eine Raa an einem Mastbaum, so daß man den Lehrsatz von der Gleichheit der Scheitelwinkel daran beweisen konnte; und sicherer noch die schöne Convolvulusblume des Zopfes!

Der Schösser kam aus dem Thorbogen heraus, dann stelzte er in dem ganzen Hof herum mit einem gewichtigen Schritt, nicht rechts noch links blickend … es sah aus, als ob der alte Mann dienstmäßig eine Ronde, eine Patrouille, ein schattenhaftes Corps seiner Tapferen, das nur er sah, führte; und in der letzten Ecke, da mußte er sie wohl entlassen haben und der Dienst zu Ende sein; die linke Hand auf den Rücken gelegt, die rechte in die grünsergene Weste geschoben, nahm er das Mädchen unter der Linde als Richtpunkt, auf den er jetzt zustelzte.

„Wünsche guten Morgen, Demoiselle Benedicte!“ sagte er, die Hand an seinen dreieckigen Hut mit der rothen Plümage legend.

„Guten Morgen, Gestrengen!“ antwortete sie.

„Thun verhoffen,“ fuhren die Gestrengen fort, „daß die Demoiselle Benedicte eine wohlschlafende Nacht genossen!“

„Ich danke Ihnen, Gestrengen, ich habe nach meiner ermüdenden Wanderung sehr tief und sehr lange geschlafen.“

„Auch, daß Wohlderselben die Ziegenmilch noch hinreichend warm servirt worden. Habe sie selber gemolken und der Beschließerin Afra zu schleuniger Ueberbringung anrecommandirt …“

„Ei, Sie melken die Ziegen selbst, Herr Schösser?“

„Jawohl, Demoiselle, melke sie selbst – dem Dienstvolk kann man so etwas nicht überlassen – melke sie selbst … mache auch den Käse – sehr guten Käse – werde die Ehre haben, bei Tisch mit einem kleinen Pröblein aufzuwarten was ich jedoch vermelden wollte, Demoiselle Benedicte, da Wohldieselbe mir anitzo von der Frau Aebtissin brieflich anempfohlen ist, so möchte es angemessen erscheinen, daß ich Hochderselben mittels eines Antwortsschreibens zu erwidern mich beflisse, wie ich solchem Ansinnen nachzuleben mit besonderer Dienstergebenheit erbötig sei!“

Benedicte, wie er unsere Novize genannt, nickte mit dem Kopf, doch schien ihr in dem Ton des Mannes eine Andeutung zu liegen, die sie nicht gleich verstand, und so sah sie ihn fragend an. Sie bemerkte, daß ihre schweigende Zustimmung zu seiner Aeußerung seine Miene nicht erhellte, während er fortfuhr:

„Wobei nur zu bedenken anheimgebe, daß auch noch dem Herrn Reichshofrath, dem Bruder der Frau Aebtissin, für den ich Goschenwald zu administriren die Ehre habe, anderweits noch Meldung zu machen haben dürfte.“

„Sie wollen, daß Sie mich hier aufgenommen haben, an den eigentlichen Eigenthümer dieses Hauses nach Wien melden?“

Der gestrenge Herr runzelte schwermüthig die Brauen.

„Das möchte allerdings für geziemlich erachtet werden – obwohl sonst nur alle Vierteljahre einen submissen Bericht dahin instradire.“

Die Demoiselle Benedicte hatte jetzt den gestrengen Herrn und den leisen Ton von Wehmuth und Klage, der in seiner Rede lag, verstanden.

„Ich glaube,“ sagte sie lebhaft, „Eure Gestrengen muthen sich da eine Mühwaltung zu, welcher ich Sie gern überheben möchte. Ich selbst werde der Aebtissin danken, ihr berichten, mit welcher Güte und Zuvorkommenheit Sie mich in Haus Goschenwald aufgenommen haben, und zugleich bitten, daß die Frau Aebtissin dem Herrn Bruder in Wien Nachricht von den Umständen giebt, unter welchen sie mir in seinem Eigenthum ein Asyl angewiesen hat.“

„Dieses wäre charmant, Demoiselle Benedicte!“ sagte der Krieger außer Dienst, höchst erfreut, die ihn beunruhigende Arbeitslast von seinen Schultern genommen zu sehen. „So will ich es dabei bewenden lassen … um so mehr, als die Posten nach Wien bei diesen Kriegsläuften so unsicher sind!“

„Sie haben Recht, Gestrengen, die Posten sind unsicher!“

Der Schösser ging, nachdem er über diesen Punkt beruhigt, zu einem anderen Gegenstand über.

„Ist wohl,“ fragte er, „ein alter Bekannter – der Herr, der eben ging – der Revierförster – von der Demoiselle Benedicte?“

„Durchaus nicht … woraus schließen Sie das?“

„Dachte so, weil er Sie herbrachte. Nun, dann desto besser. Wollte Sie nur gewarnt haben vor dem! Gefährlicher Mensch das! Staatsgefährlicher Mensch!“

Die Demoiselle Benedicte sah verwundert in das alte runzlige Gesicht vor ihr.

„Staatsgefährlich? … und weshalb?“

„Weil er hetzt; weil er die Bauern aufhetzt; und weil man nicht weiß bei ihm, woher und wohin!“

„Woher er kommt, hat er mir soeben gesagt.“

„Was hat er gesagt?“

„Er stammt von drüben her, aus …“

„Ja, von drüben, von drüben, von da her, wo sie jetzt die Franzosen, die Republik haben, und“ – der Herr Schösser dämpfte hier die Stimme zum Flüstern – „ist auch solch Einer; ein Jakobiner, ein Republikaner, ein Clubbist und Emissär; soll hier wühlen! Die fränkischen Bauern sind alle Hallunken; das will nicht mehr Schoß und Beden und Steuern zahlen; das will nicht mehr roboten … das will nicht mehr in Zucht und Zagen der Kirche dienen und in Furcht und Zittern vor der gestrengen Obrigkeit stehen; das läßt sich Reden von der Freiheit halten und unterweisen, wie man’s Kraut auf die Pfanne schüttet … na, wir werden erleben, was d’raus wird …“

[436] „Sie thun ihm Unrecht,“ versetzte Demoiselle Benedicte warm, „er hat so offen mit mir geredet … allerdings, er hat mir gestanden, daß sich das Volk rüstet, dem Heere des Kaisers beizustehen, und daß er selbst …“

„Einer der Haupträdelsführer ist … freilich, freilich, wer weiß es nicht – aber dem Heere des Kaisers beizustehen? Glauben Sie ’s nicht, Demoiselle, glauben Sie ’s nicht … es ist Alles Lüge, Lüge, Komödie. Sie sind nicht besser als die Jakobiner auch, sind alle Sansculotten, und sie wollen nur die Waffen in den Händen haben, und hernacher, wenn sie gerüstet und in der Macht sind, dann werden wir’s erleben.“

„Ich weiß von diesen Sachen nichts,“ antwortete Benedicte betroffen; „ich habe nur gehört, daß ein Theil der Landbevölkerung sowohl wie der Bewohner der Städte den Franzosen als Befreiern und Verbreitern freierer und menschlicherer Staatseinrichtungen mit Freude entgegengesehen; daß aber jetzt ein furchtbarer Umschwung in dieser Gesinnung eingetreten; daß die Art, wie die Franzosen ihren Verheißungen durch ihr Auftreten Hohn gesprochen, wie sie geplündert, die Menschen mißhandelt und das Vieh gemartert, aus Frevelmuth der Leute Eigenthum zernichtet und die Altäre geschändet haben, eine tiefe Empörung hervorgerufen hat und daß, wenn die Franzosen geschlagen sind –“

„Geschlagen sind – die Franzosen geschlagen sind!“ fiel hier der Schösser ein, während die Runzeln seines gelben Gesichts in wunderlich zuckende Bewegung geriethen – „als ob die Franzosen geschlagen würden! Die werden nicht geschlagen, ich sag’s der Demoiselle, ich, der dabei war …“

„Bei den Franzosen?“

„Nein, dabei, wenn sie nicht geschlagen wurden; zehn Mal … ein Dutzend Mal …“

„Aber mein Gott, bei Amberg hat doch der Erzherzog …“

„Lügen, Lügen, Possen! Alles nur Vorwand des Rebellenpacks, das losschlagen will. Bin auch Soldat; war bei den Reichstruppen, bei den Ritterschaftlichen, bei den Erzstift-Mainzischen; auf Ehre, wir haben unsre Schuldigkeit gethan; aber geschlagen? geschlagen haben sie uns – immer sie uns! Das läßt sich nicht schlagen! Aber darin hat die Demoiselle Recht – die Empörung, die Rebellion, die Republik, die werden wir haben, sehr bald haben – und den Herrn da drüben, den Herrn Wilderich werden wir an der Spitze sehen … sie mag mir’s glauben!“

„Ich glaube,“ versetzte die Demoiselle Benedicte erregt, „es ist unrecht von Ihnen, so von einem Manne zu reden, dem Sie nichts Bestimmtes vorwerfen können, als daß er eben ein Fremder in dieser Gegend ist.“

„Ein Fremder – ein Wildfremder,“ rief der Schösser aus – „wildfremd mitsammt seinem Kinde!“

„Sammt seinem Kinde? War er verheirathet?“

„Verheirathet? Der? Nichts davon … es ist nichts davon bekannt … aber ein Kind hat er … hat’s bei sich … Jedermann kann’s sehen.“ …

Benedicte wandte ihr Gesicht ab von dem Zucken der Runzeln in des Gestrengen Antlitz und den Blicken voll häßlicher Bedeutung, die auf ihm lagen.

„Was geht’s uns an!“ sagte sie. „Ich glaube, Eurer Gestrengen Ziegen meckern!“

„Ja, ja,“ sagte der Ritterschaftliche, „ich will gehn und ihnen einen Arm voll Laub bringen.“




3.

Während der Schösser davonstelzend dieser friedlichen Beschäftigung nachging und das junge Mädchen sich über ihre Arbeit bückte, und den Hof von Haus Goschenwald der Frieden und die Stille seiner Weltentrücktheit umfing, spielten sich jenseits der Berge, welche seinen Horizont schlossen, desto stürmischere Scenen, desto gewaltsamere Ereignisse ab.

Schon seit dem Morgengrauen war die Heerstraße, die sich durch diese Bergwelt zog, eigenthümlich belebt worden von allerlei kriegerischem Transport. Von Zeit zu Zeit war ein bewaffneter Reiter in der Richtung nach Westen dahergesprengt. Es waren einzelne Fuhrwerke gekommen, belastet mit verwundeten Menschen; andere schienen allerlei geplünderte Habe zu enthalten, große Koffer und Kisten, gefüllt mit weiß Gott welchen Gegenständen, die man eilte, auf der Rückzugslinie des Heeres in Sicherheit zu bringen. Von kleinen Abtheilungen umgeben marschirten Haufen entwaffneter Soldaten in weißen Röcken oder grauen Mänteln; eine starke Abtheilung von Reitern escortirte drei sich folgende Bauernwagen, auf deren jedem eine große eisenbeschlagene Kiste stand – war es die Kriegscasse, die man in Sicherheit brachte? Die solche Transporte escortirende Mannschaft verrieth wenig von dem lustigen Uebermuth französischer Truppen auf dem Marsche; sie sahen abgerissen, müde, verdrossen aus, sie fluchten und wetterten; die Bauern, welche die requirirten Wagen führten, erhielten flache Säbelhiebe, die Thiere auch wohl scharfe, mehrere von ihnen bluteten. Die Republik hatte ihre Heere im Jahre 1796 uniformirt in’s Feld gesandt, es waren nicht mehr die wilden bunten Schaaren, die in den vorhergehenden Jahren das linke Rheinufer überschwemmt; und doch sahen auch diese Truppen bunt genug aus – manch geplündertes Stück hatte zum Ersatz der zerrissenen Montur gedient, neben dem alten Troupier, der im Mantel und in den hohen Stiefeln eines ehrwürdigen Landpfarrers aus der Gegend von Schweinfurt marschirte, wandelte ein junger Sergeant unter dem dreieckigen Federhut eines würzburgischen Cavaliers oder hinkte ein Verwundeter, drapirt in den schwarzen Ordensmantel mit dem weißen Kreuz darauf, der in irgend einer Commende des deutschen Ritterordens erbeutet sein mußte.

Das Gerücht von dem Schauspiel, das die Heerstraße von Würzburg nach Frankfurt darbot, war die Waldthäler rechts und links hinaufgedrungen, auch bis zur Mühle in der Schlucht; die Frau und die Schwiegermutter des Gevatters Wölfle standen eben vor dem Forsthause und redeten auf Muhme Margareth ein … sie solle sie hinab begleiten, sie wollten sehen, was da vorginge … Muhme Margareth schwankte … wo sollte sie den kleinen Leopold lassen unterdeß … bei des Müllers Kindern, das hatte Wilderich verboten – aber der Herr Wilderich war ja nicht daheim … er war um diese Zeit nie daheim, sondern ging seinen Geschäften nach … Muhme Margareth konnte der Versuchung nicht widerstehen, sie nahm den kleinen Burschen, der an ihre Röcke sich schmiegend neben ihr stand und verwundert über alles das, was die Müllerfrauen erzählten, sie mit seinen großen braunen Augen anblickte, bei der Hand, ihn hinüberzuführen – da riß das Kind sich los und lief mit dem Ausruf: „Bruder Wilderich!“ die Schlucht hinauf.

Wilderich war es in der That, der von Goschenwald zurückkehrend eben daherkam und, als er durch den kleinen Garten vor seinem Hause schritt, mit sehr ernstem Gesicht den Frauen einen Gruß zunickte und zu Margareth sagte:

„Komm mit hinein, Margareth, ich habe mit Dir zu reden!“

„Wahrhaftig,“ flüsterte Margareth zu den Frauen gewendet ihm nach, „der lebt nicht lange mehr, wenn er endlich einmal zu reden beginnt.“

Sie trat ihm nach über die Treppenstufen in die Küche, wo Wilderich seine Waidtasche vom Pflock nahm und sie mit allerlei Gegenständen zu füllen begann, die er aus seinem Zimmer herbeiholte.

„So,“ sagte er dann, „nun braucht nur noch der Sepp zu kommen … bereit wären wir … und bis er kommt, höre fein zu, Margareth, was ich Dir zu sagen habe.“

„Ich hör’ schon zu, Herr Wilderich,“ antwortete Margareth … „Ihr seid Keiner von denen, die so viel sprechen, daß man nicht darauf hört; und wenn Ihr nun endlich sagen wollt, was Ihr eigentlich vorhabt … ich denk’, zu früh ist’s nicht mehr!“

„Just die rechte Stunde, alte Muhme. Und nun sollst Du Alles wissen. Du weißt, wir haben Krieg mit den Franzosen, hier in Franken, in Schwaben und jenseits der Berge, wo der Bonaparte … hast Du von dem gehört?“

„Bonaparte?“ wiederholte Muhme Margareth und schüttelte dann den Kopf. „Nein, von dem hab ich nicht gehört; und was ist mit dem?“

Wilderich ging und holte ein Stück Kreide herbei. Damit machte er einen langen Strich auf dem Anrichtetisch.

„Schau,“ sagte er, „das hier ist der Rhein, der fließt an der Westseite des Reichs. Und hier oben gen Süden, wo ich diesen zweiten Strich mache, da sind die Alpen. Und hier links, diesseits der Alpen, da ist Wien … begreifst Du?“

„In Wien, da ist der Kaiser, das begreif’ ich schon!“ rief Margareth aus.

[449] „Und hier,“ fuhr Wilderich, Striche machend, fort, „ist der Main, und hier – hier ist der Spessart –“ er begann einen länglichen Bogen an der Nordseite der Linie, die den Main darstellte, zu zeichnen, als Leopold, der sich gespannt an den Tisch gedrängt hatte, ihm die Kreide aus den Fingern nahm und ausrief:

„Laß mich den Spessart machen, laß mich, Bruder Wilderich!“

„Nur zu, mein Junge, mach’ Du den Spessart,“ erwiderte Wilderich, ihm lächelnd die Hand auf den lockigen Kopf legend, „aber mach’s hübsch und deutlich, sonst wird Muhme Margareth aus der Sache nicht klug. Gieb Acht, Muhme: sieh, hier unten vom Rhein, von Düsseldorf und Köln her, ist uns die Sambre- und Maas-Armee, befehligt vom Obergeneral Jourdan, und stark etwa achtundsiebenzigtausend Mann, in’s Reich eingebrochen, um über die Lahn und hier den Main und so weiter durch Franken und Oberpfalz auf Wien zu ziehen.

Hier, vom Oberrhein von Straßburg her, ist der französische Obergeneral Moreau mit der Rhein- und Mosel-Armee, achtzigtausend Mann stark, in Schwaben eingefallen, um in gerader Richtung ostwärts weiter auf Wien zu marschiren.

Drüben aber, jenseits der Alpen, da dringt die Alpen-Armee, unter Bonaparte, etwa vierzigtausend Mann stark, wider die Kaiserlichen vor und hat des Kaisers General, Wurmser, bereits zurück und in’s Tirol hineingeworfen, um durch die Alpenthäler von Süden her auf Wien zu rücken.

Du siehst also, Margareth, daß es diesmal darauf angelegt ist, das alte Reich ganz und gar unter die Füße zu bringen und die römisch-kaiserliche Majestät in Wien einzufangen wie einen armen Vogel auf dem Nest.“

Margarethe nickte.

„Ja, ja, das begreift sich schon!“ sagte sie.

„Aber der Mensch denkt und Gott lenkt!“ fuhr Wilderich fort, „und diesmal hilft ihm zu unserem Glück bei dem Lenken ein blutjunger Mensch, mit dem wir ein wenig besser vom Fleck kommen, als wenn der liebe Gott, wie in den vorigen Zeitläuften, sich mit den alten Graubärten von Feldmarschällen und Feldzeugmeistern zusammenthut … wo’s selten viel Gescheidtes gegeben hat. Der junge Mensch ist der Prinz Karl; der hat sich mit des Kaisers und des Reichs Armee zuerst dort unten in den Lahngegenden dem Heere Jourdan’s entgegengestellt und es bei Wetzlar gründlich zusammengeschlagen … Die Sambre- und Maas-Armee hat sich eilig auf den Rückzug begeben müssen.

Drauf ist der Erzherzog Karl nach Ober-Deutschland geeilt, um dem Moreau die Stirn zu bieten. Das hat da ein langes Raufen gegeben, der Erzherzog hat erleben müssen, daß ihn die Truppen aus Sachsen im Stich gelassen haben und heimgegangen sind; die Truppen des schwäbischen Kreises, der auf eigene Faust Frieden mit den Franzosen geschlossen, hat er gar entwaffnen lassen müssen … und so hat er sich zurückziehen müssen bis in’s Donauthal.

Hier aber hat er sich plötzlich gewendet; denn während er so im Schwarzwald und in Schwaben sich mit Moreau herumgeschlagen, ist da unten die Sambre- und Maas-Armee wieder vorgerückt, hat den Feldzeugmeister Wartensleben, der ihr gegenüber aufgestellt geblieben, zurückgeworfen, hat Frankfurt bombardirt, Würzburg genommen und die Österreicher bis nach Amberg geworfen. Das hast Du gehört, wir haben sie auf ihrem siegreichen Marsch ja auch hier gehabt, die Franzosen …“

„Ja, ja,“ unterbrach ihn Margarethe, „nur weiter, Herr Wilderich!“

„Der Erzherzog also hat sich von Moreau abgewendet, hat ein starkes Corps wie einen Schirm vor ihm aufgestellt, damit er nicht sehe, was dahinter geschehe, und ist rasch von der Donau in die Oberpfalz gerückt, hat sich mit Wartensleben vereinigt, die Franzosen bei Teining und Neumarkt überfallen, bei Amberg geschlagen – und die Sambre- und Maas- Armee ist auf dem Rückzuge; sie wird noch einmal Widerstand leisten, so glaubt man; dann aber wird sie in unsere Thäler hier, in den Spessart, den der Leopold da so schon hingezeichnet hat, als ob’s eine Katze wäre, die einen Buckel macht, geworfen werden … und dann eben wollen wir dem lieben Gott, der die Deutschen nicht verläßt, und unsrem jungen Kriegshelden aus Leibeskräften helfen … wir Mannen im Spessart hier! – Nun weißt Du Alles, Margareth!“

„Ihr wollt ihm helfen,“ rief Margarethe aus, „ihr wollt auch Soldaten spielen und …“

„Soldaten spielen, nein; wir wollen nur zeigen, daß die deutschen Bauern, dies Volk halbverhungerter und von ihren Herren zu Grunde regierter Leibeigener, sich noch nicht von den Fremden mit Füßen treten lassen … wir wollen ihnen beweisen, daß deutsche Fäuste immer noch eine Schmach zu rächen wissen …“

„Aber der liebe Heiland und die Mutter Gottes von Rengersbrunn stehen mir bei, das giebt ja nur noch mehr Blutvergießen und Elend …“

[450] „Ein wenig Blutvergießen schon … ohne das wird’s freilich nicht abgehn …“

Muhme Margarethe war zu entsetzt, um ihn ausreden zu lassen.

„Und wenn sie Euch dabei todtschießen, Herr Wilderich – Euch … ich bitt’ Euch, was soll dann werden … ich bitt’ Euch darum … was soll dann aus mir und was aus dem Jungen da werden?“

„Darüber eben wollt’ ich mit Dir reden, Margareth. Hör’ zu. Für den Fall, daß mir etwas Menschliches begegnet, hab’ ich ein Papier in die oberste Lade meiner Kommode gelegt. Darauf steht geschrieben, daß der Leopold mein Erbe ist und daß Du für ihn sorgen sollst, bis er zu einem Förster gethan werden kann, um ein fermer Waidmann zu werden, wie ich bin. Ich habe nicht viel zu vermachen, aber ich denk’, bis dahin wird’s schon reichen. Du mußt eben damit auskommen!“

„Heilige Mutter Gottes von Rengersbrunn!“ ächzte Margarethe, die Hände faltend … „und steht denn in dem Papier auch, was es auf sich hat mit dem Jungen, wessen Kind …“

Wilderich nahm den kleinen Leopold bei der Hand und führte ihn vor das Haus.

„Komm’, Brüderlein, da setze Dich auf die Treppe,“ sagte er, „gieb hübsch Obacht, mein Kind, ob Du den Sepp nicht kommen siehst … und dann sag’ mir’s gleich – willst Du?“

Der Kleine nickte und nahm gehorsam den ihm angewiesenen Platz ein. Wilderich kehrte in die Küchenhalle zurück, und sich in seinen Stuhl am Heerde niederlassend, sprach er zu der alten Muhme, deren weit aufgerissene Augen ihn nicht mehr verlassen hatten, weiter.

„Das Nöthigste davon,“ sagte er, „steht in dem Papier. Aber da es mit dem Lesen ein wenig bei Dir hapert, Margareth, will ich Dir, damit Du Alles weißt, erzählen, wie es zugegangen, daß ich der Pflegevater meines guten Jungen geworden … wenn er dann zu seinen Jahren gekommen, kannst Du’s ihm mittheilen … es ist dann an ihm, ob er Schritte thun will, nach dem Seinigen zu forschen! Ich hoffe, der Sepp läßt uns Zeit, daß ich Dir die ganze wunderliche Geschichte haarklein berichten kann.

Sieh’, ehe ich meine Stelle in diesem Revier antrat, war ich Forstbeamter in der Nähe von Zweibrücken, Adjunct meines Vaters … durch unser Revier zog sich die große Heerstraße von Mainz nach Paris. Es war im vorigen Herbst; in einer mondhellen, warmen Nacht hatte ich Wildschützen nachgespürt und kam sehr spät – es mochte fast Mitternacht sein – auf jene Heerstraße, um sie eine Strecke weit zu verfolgen und dann rechts ab zu biegen und auf einem kurzen Waldwege zu unserem Forsthause zu gelangen. Unfern der Stelle, wo dieser Waldweg sich abzweigte, sah ich von fern schon eine Kalesche halten … ein Mann schritt neben derselben auf und nieder … als ich näher kam, nahm ich wahr, daß vor diese Kalesche nur ein Pferd gespannt war, und dieses Pferd lag regungslos am Boden. Der Fremde, der, in einem Mantelkragen sich gegen die Nachtluft schützend, auf der Heerstraße auf und ab ging, blieb, als ich ihn erreicht hatte, stehen und redete mich in französischer Sprache an – er fragte, ob ich wisse, wie spät es sei und wie weit bis Pirmasens. Ich gab ihm Auskunft – er fuhr fort:

‚Ich bin in großer Verlegenheit, ich bin auf der Reise, wie Sie sehen, von Mainz und weiter her, will nach Paris – in Zweibrücken gab man mir für meine Postchaise zwei ganz elende abgetriebene Pferde – vor ein paar Stunden ist mir das eine gestürzt und nicht wieder aufzubringen gewesen, das andere hat der Postillon abgespannt und ist darauf heimgeritten, um, wie er sagte, frische Pferde von der Station zu holen; aber der niederträchtige Mensch kommt und kommt nicht zurück, er läßt mich hier allein die Nacht zubringen, es ist zum Verzweifeln …‘

‚Allerdings,‘ versetzte ich, ‚wenn Sie auf diesen Postillon warten, so ist sehr wahrscheinlich, daß Sie die Nacht hier zubringen müssen. Er wird sich in Zweibrücken auf’s Ohr gelegt haben und schwerlich vor Morgen erscheinen und dann sich damit entschuldigen, daß keine frischen Pferde vorhanden gewesen. Man kennt das, und …‘

‚Es ist empörend, man sollte das Gesindel hängen!‘ rief der Franzose aus; ‚hätte ich nur nicht den kleinen Burschen da bei mir,‘ – er deutete auf die Kalesche – ‚so würde ich nicht warten, sondern zu Fuße nach Pirmasens gehen, da Sie sagen, daß es kaum eine Meile entfernt ist!‘

‚Welchen Burschen?‘ fragte ich.

‚Das Kind dort im Wagen.‘

Ich bemerkte jetzt erst ein im Hintergrunde des Wagens geborgenes und in Decken und Tücher gehülltes Etwas, das, wenn es ein Kind war, sehr ruhig da zu schlafen schien.

‚Ich möchte Ihnen gern helfen,‘ sagte ich, ‚und vielleicht kann ich es. Meine Wohnung liegt nicht weiter als zwanzig Minuten von hier – dort drüben im Walde, das Haus des Forstmeisters Buchrodt. Ich will den Knaben dahin mitnehmen und ihn für die Nacht so unterbringen; Sie können dann vorauf nach der nächsten Station gehen und von dort Postpferde senden, um Ihre Kalesche zu holen, und den Postillon beauftragen, zuerst bei unserm Hause vorzufahren, Ihren Knaben abzuholen.‘

Der Fremde schien sich eine Weile zu besinnen.

‚Wie Sie wollen,‘ fuhr ich deshalb fort; ‚vielleicht ziehen Sie vor, mich erst nach meinem Hause zu begleiten und sich selbst zu überzeugen, daß das Kind wohl untergebracht wird. Ich würde Sie selbst einladen, die Nacht bei uns zuzubringen, wenn nicht die späte Störung meinen sehr alten kränklichen Vater …‘

‚O nein, nein,‘ fiel der Fremde ein, dem ich den wahren Grund, meines Vaters Abneigung gegen Alles, was Franzose war, lieber verschwieg, ‚nein, nein, ich vertraue Ihnen das Kind gern an, machen wir es so, es ist das Beste, und ich bin Ihnen sehr dankbar! – Aber,‘ fuhr er fort, ‚Sie machen sich eine große Last, mein Herr, mit Ihrem Edelmuth, Sie müssen das Kind tragen, es ist erst dritthalb Jahr alt.‘

‚Nun,‘ versetzte ich lachend, ‚man muß die Folgen seines Edelmuths gelassen hinnehmen, sonst wäre kein Verdienst dabei; geben Sie ihn nur her, ich habe manches Reh auf den Schultern nach Hause getragen, und das ist schwerer.‘

Der Franzose hatte den Kleinen aus dem Wagen gehoben und mir übergeben; er nahm vom Vordersitz auch noch ein Bündel, das er mir übergab.

‚Hier ist sein Nachtzeug,‘ sagte er dabei, ‚bitte, nehmen Sie es auch; der Kleine – er heißt Leopold – ist daran gewöhnt …‘

Ich schob das Bündel über den Lauf meiner Büchse und nahm den Knaben auf den Arm. Der Fremde aber nahm ein Pistol aus der Seitentasche seines Wagens, steckte es in die Brusttasche, reichte mir die Hand, sagte mir tausend Dank für meine Gefälligkeit und ging dann eilig in der Richtung nach der nächsten Station davon.

Ich machte mich mit meiner Last auf den Weg heimwärts … weckte, als ich zu Hause war, die Haushälterin, und ließ sie für das Kind, einen hübschen und sehr wohlgekleideten Knaben, Sorge tragen – ich war zu ermüdet, um nicht für mich selbst vor allen Dingen die Ruhe zu suchen. Am andern Morgen berichtete mir, als ich ziemlich spät mein Schlafzimmer verlassen, die Haushälterin, der Knabe liege noch in seinen Federn – noch sei die Kalesche nicht gekommen, ihn abzuholen. Das war seltsam – und räthselhaft wurde es, daß sie auch in der folgenden Stunde, daß sie im ganzen Laufe des Vormittags nicht erschien. Schon vor Mittag machte ich mich auf den Weg nach der Heerstraße – der Wagen war verschwunden … das gefallene Pferd lag mit abgezogenem Geschirr im Weggraben. Es blieb mir nichts übrig, als meinen Weg bis nach der nächsten Station fortzusetzen, um Erkundigungen einzuziehn; als ich am Nachmittage in Pirmasens ankam, hörte ich im Posthause, daß allerdings ein französischer Herr in der Nacht zu Fuße angekommen, daß er Pferde absenden lassen, seinen auf der Heerstraße stehenden Wagen zu holen, daß dieser zwischen zwei und drei Uhr angekommen, und daß der Fremde darin sofort weiter gefahren, in der Richtung nach der französischen Grenze zu … von einem Kinde war keine Rede gewesen!

Ich war natürlich in hohem Grade empört über den ruchlosen Menschen, der meine Güte so schmählich mißbraucht hatte, ich stellte alle möglichen Nachforschungen an, ich erkundigte mich in Zweibrücken so gut wie in Pirmasens nach dem Fremden, aber weder die Postmeister noch die Postillone wußten über ihn etwas zu sagen – er war ein noch ziemlich junger, sorgfältig gekleideter Mann mit vornehmen Manieren, ziemlich laut und herrisch in seinem Auftreten und nicht karg mit den Trinkgeldern gewesen – das war Alles, was ich erfuhr; seinen Namen hatte er in Zweibrücken angegeben, aber der Postmeister hatte ihn vergessen, er [451] wußte nur noch, daß es ein Doppelname gewesen, und er habe wie ‚Bataille‘ geklungen; in Pirmasens hatte man ihn gar nicht darnach gefragt.

„Da blieb denn,“ fuhr Wilderich zu erzählen fort, „für mich weiter nichts zu thun übrig, als mich in mein Loos zu finden und den mir bescheerten Kleinen als mein Pflegekind anzunehmen, für das ich von dem Augenblicke an, wo es das Schicksal in meine Arme gelegt, verantwortlich war; und das war mir nach wenig Tagen keine Aufgabe mehr, sondern nur noch eine Freude. Der kleine Bursche war gar zu hübsch, zu artig, zu zuthunlich, und wenn ich ihn auf den Arm nahm und dachte, wie verlassen er sei und nur mich auf der weiten Gotteswelt als Vater, Mutter und Geschwister habe, so überkam mich eine Rührung und so … nun, was brauch’ ich weiter davon zu reden? Du weißt, wie lieb ich ihn habe …“

„Gewiß, gewiß, wer sollte es nicht sehen,“ fiel Muhme Margareth ganz gerührt ein; „Ihr seid ein braver Mensch, Herr Wilderich – und der Leopold, wenn man auch seine Last mit dem Unrast hat … aber habt Ihr denn gar nichts weiter von dem verfluchten Franzosen, der Euch den Streich spielte, gehört?“

„O doch, schon nach acht Tagen. Es kam ein Brief von ihm an, von Paris aus geschrieben.“

„Ach, er schrieb Euch? Und was stand in dem Briefe?“

„Redensarten – recht höfliche übrigens; ‚ich bitte Sie um Verzeihung, mein Herr,‘ so lautete es ungefähr, ‚wenn mein Mitleid mit dem armen Kinde, das ich Ihnen zurückließ, mich verführte, so grenzenlos Ihre Güte zu mißbrauchen. Das Kind ist nicht meines, es ist mir übergeben worden, aber es ist unendlich viel besser aufgehoben unter Ihrem friedlichen und stillen Dache, in der Pflege einer ruhigen Häuslichkeit, als bei mir, einem jungen Manne, der eine solche Häuslichkeit nicht besitzt und ein bewegtes Leben bald in der Hauptstadt, bald auf Reisen führt. Seien Sie sicher, daß man Ihnen die Last abnehmen wird, sobald es die Umstände erlauben, mit jeder Entschädigung, welche Sie bestimmen werden – und bis dahin erlauben Sie mir, mein Herr, mich zu nennen Ihren u. s. w. 0G. de B.‘“

„G. de B., was heißt das?“

„Ja, was heißt es? Ich weiß es nicht,“ versetzte Wilderich.

„Solch’ ein frecher Franzose!“ sagte Muhme Margareth.

„Im Grunde hatte er Recht!“ bemerkte Wilderich gutmüthig, … „ich denke, das Kind ist besser bei uns aufgehoben, als es bei ihm gewesen wäre – und das ist die Hauptsache doch!“

Muhme Margareth widersprach nicht. Sie blickte nachdenklich in’s Feuer … eine lange Pause hindurch.

„Ach Gott … es ist wohl so!“ sagte sie dann, ihre Haube über den Kopf ziehend … und setzte mit einem Seufzer hinzu: „Wir sind Alle Sünder!“

„Weshalb?“ fragte Wilderich. „Wir thun, was wir können.“

„Aber wir versündigen uns oft in Gedanken …“

„Die schaden Niemand!“

„Aber die Worte …“

„Du meinst, weil Du zuweilen …“

Muhme Margareth nickte heftig mit dem Kopfe und zog die Haube noch weiter in die Stirn …

„Na,“ lachte Wilderich, „laß es gut sein, ich hab’ Dir’s weiter nicht übel genommen; und …“

Er wurde unterbrochen durch den kleinen Leopold, der mit dem Rufe: „der Sepp, der Sepp!“ in die Küche gelaufen kam.

Wilderich sprang auf und ging dem Angekündigten hastig entgegen. Draußen sah er, daß der Forstläufer sehr eilig die Schlucht heraufkam und im Vorübergehen an der Mühle dem Gevatter Wölfle, der eben mit seinem runden Gesichte ein Guckfensterchen in der weißgepuderten Bretterwand seines alten Bauwerks füllte, mit der Hand winkte.

„Die Leute ziehen sich zu Hauf, Förster Buchrodt,“ schrie der Sepp ihm dann entgegen, „bei Rohrbrunn ziehen sie zu Hauf … der Tanz kann anfangen; der Erzherzog hat sie bei Würzburg gestellt und schwarzgelb ist Trumpf geblieben; der Philipp Witt läßt Euch sagen, Ihr sollt hier nach dem Rechten sehn, denn er selbst kann nicht dabei sein hier …“

„Er kann nicht dabei sein? Und weshalb nicht?“ sagte Wilderich.

„Weil er anderswo sein muß. … Die Hauptmasse der Franzosen wälzt sich nordwärts, auf Hammelburg und Brückenau zu; die hat der Witt sich auf’s Korn genommen, in den Wäldern zwischen Hammelburg und Schlüchtern hat er dreitausend Bauern stehen und da will er selbst dabei sein.“ …

„Zum Teufel, und wir hier …“

„Wir hier haben auch keinen schlechten Stand … ein gut Theil strömt über Lengfurt und Heidenfeld in den Spessart herein, der Straße da unten nach … es wird immer lebendiger da … also kommt und vergeßt Euer Pulver nicht … Gevatter Wölfle,“ rief der Sepp dem herankommenden Müller entgegen, „geht und holt Eure Büchse. … Die Jagd kann losgehn – vorwärts, vorwärts, schwarzgelb ist Trumpf, und die Vivelanations soll heut bis auf den Letzten der Teufel holen!“

Der Sepp eilte fort, die Schlucht wieder hinab, und nach wenigen Minuten folgten ihm hastig Wilderich und der Müller, Beide im grünen Jagdkittel, mit ihren Büchsen, und die schweren Waidtaschen über der Achsel.

Margarethe betete ein Ave nach dem andern zur Spessartheiligen, der Mutter Gottes von Rengersbrunn, als sie auf der Schwelle des Forsthauses stehend ihrem Herrn nachblickte, wie er so eifrig davon und der Gefahr entgegeneilte. –




4.

Es war am Mittag dieses Tages; der gestrenge Lieutenant hatte eben die Eßglocke für das Gesinde läuten lassen, aber die zwei Knechte, die unter seinem Befehle standen, waren nicht gekommen; nur Frau Afra, die Beschließerin, und ein Paar erschrockene Mägde drängten sich jetzt um ihn – die Mägde wollten gehört haben, daß man es in südöstlicher Richtung brennen sehe, über Heidenfeld hinaus – einer der Knechte, der am Vormittag oben auf der nächsten hohen Bergkuppe war, sollte es gesehen haben.

„Und wo ist der Caspar, der Schlingel?“ rief der Schösser aus, „weßhalb kommen die Bursche nicht –“

„Sie sind davongelaufen, ihre Büchsen zu holen, die sie im Walde versteckt hatten … die verwegenen Mannen,“ rief Frau Afra.

„Der Tod stand darauf!“ fiel eine der Mägde ein – „die Franzosen hatten den Tod darauf gesetzt, wenn Einer ein Feuergewehr habe … und doch hatte der Caspar wie der Jobst eine Büchse, Gott weiß woher … damit sind sie fortgelaufen, es gehe los, sagten sie, der Förster Buchrodt führe sie an …“

„Und man hört schon die Kanonenschläge … der Botenfritz, der von Lindenfurth kam, hat sie selber gehört,“ rief eine andre aus …

„Und ich sag’ Euch, der Botenfritz ist ein Lügner!“ schrie im zornigsten Discant der gestrenge Schösser von der Höhe seines strack aufgerichteten Kopfes auf die erschrockene Gruppe hinab – „wenn da irgendwo eine Hütte brennt, so brennt eine Hütte – was soll’s? Und Kanonenschläge? Dummheit! Es müßt’ denn sein, die Franzosen schössen Victoria von der Marienburg herab, daß man’s bis hier hören könnte! Sonst nicht! Ich sag’ Euch, die stehen heut’ näher bei Wien als bei uns! Werden sich haben zurückwerfen lassen, daß man’s in Goschenwald hören könnte, wie sie sich mit den Kaiserlichen herumschießen. … Dummheit noch einmal … könnt Gift darauf nehmen, Ihr Weibsbilder, geht zum Essen! Aber wer kommt denn da? Ich glaub’ der Herr Förster ist’s – macht sich seit einiger Zeit nicht just rar, der Herr Förster Buchrodt!“

In der That war es Wilderich, der rasch, erregt und mit geröthetem Gesicht durch das Thorhaus schritt.

„Ich möchte die fremde junge Dame sprechen!“ rief er schon von Weitem.

„Dacht’s mir!“ antwortete der Schösser trocken. „Kann ich’s nicht bestellen?“

„Nein, es ist nicht für Euch, sondern für sie, was ich ihr mitzutheilen habe.“

„Doch nicht, daß es in der Ferne brennt und daß man Kanonenschläge hört?“ sagte der Schösser ironisch … „das wissen meine Mägde allbereits!“

„Es hängt ein wenig damit zusammen,“ erwiderte Wilderich; „ich bitte, zeigt mir den Weg, ich habe Eile.“ …

„Die Demoiselle kommt just,“ rief Frau Afra aus, auf das Portal des Hauses deutend, aus dem die Demoiselle Benedicte in diesem Augenblick hervortrat.

[452] Wilderich wandte sich rasch ihr zu; er reichte ihr ohne Weiteres wie einer alten Bekannten die Hand und sie abseits führend, so daß seine Worte von den Uebrigen nicht verstanden werden konnten, sagte er: „Demoiselle, ich komme mit einer Nachricht, die nicht gar erfreulicher Art für die Bewohner von Haus Goschenwald ist. Meine Leute da unten haben eine Art von Kriegsrath gehalten, ich komme eben daher; es ist beschlossen worden, eine Strecke weit unterhalb der Mündung meiner Thalschlucht auf der Heerstraße einen Verhau anzulegen und da einen Hauptangriff zu machen; die Folge ist, daß sich das Franzosenvolk davor in Masse aufstauen wird, daß sie Seitenwege, den Verhau zu umgehen, suchen werden, daß sie also die Schlucht empordringen werden und dann sich in dies Thal ergießen. Ich fürchte deshalb sehr, daß sie Goschenwald nicht unberührt lassen werden. Ich werde es von einem Theil meiner Leute besetzen lassen … aber Sie, mein Gott, welcher Schrecken, welche Gefahren für Sie … ich möchte Alles drum geben, Sie dem entziehen zu können, – wollen Sie ein andres Asyl aufsuchen – ich bin bereit, alles Andre bei Seite zu setzen, um Sie zu einem solchen zu führen.“ …

„Ich habe Ihnen gesagt,“ versetzte das junge Mädchen erschrocken über diese Mittheilung, „daß ich kein andres Asyl auf Erden habe, als dieses … und hätte ich eines, so … Sie begreifen …“

Benedicte wandte den Blick leicht erröthend zu Boden und vollendete nicht.

„Ich begreife, ich begreife,“ fiel Wilderich tief aufathmend ein – „gewiß, Sie würden nicht glauben, daß Sie sich von mir dürften dahin führen lassen … o mein Gott, ich begreife Alles, auch wie aufdringlich Ihnen meine Sorge um Sie vorkommen muß, wie unschicklich, wie unzart vielleicht – aber in Stunden der furchtbarsten Erregung, wie sie dieser Tag uns bringt, vergißt man die Rücksichten und das fieberbaft schlagende Herz sprengt die Fesseln der kühlen, von der Sitte gebotenen Zurückhaltung, die es in ruhigerer Zeit vielleicht lange ertragen hätte. Ihre Ruhe, Ihre Sicherheit ist mir nun einmal, seit ich Sie gesehen, der Angelpunkt meiner Gedanken gewesen; alles Andere ist für mich dahinter zurückgetreten; der Gedanke an Sie, an das, was Sie mir gesagt, an Ihr Loos, von dem Sie mit dem Tone einer Klage, die mein Herz bluten machte, gesprochen – der Gedanke daran verläßt mich nicht, er hat mich umgewandelt, er hat mich zu einem anderen, all’ seinem früheren Wesen und Leben, allen seinen früheren Interessen entfremdeten Menschen gemacht! – Ihr Schicksal und … meines – nur über das Eine noch kann ich sinnen und denken und grübeln … Ihr Schicksal und meines, sie stehen vor mir so verschwistert, so ähnlich, so aufeinander hingewiesen, so vom Himmel zusammengeführt, um sich zu verketten … o mein Gott, was sage, was gestehe ich Ihnen da Alles! welche Thorheit, so mein innerstes Herz Ihnen zu enthüllen und Sie zu erzürnen, zu empören, mir vielleicht auf ewig zu entfremden – um des Himmels Willen, Benedicte, vergeben Sie es mir – ich kann in dieser Stunde, wo die Erregung, die Leidenschaft, der Gedanke an den blutigen Kampf, der beginnen soll, in mir stürmen wie ein Meer mit seinen Wogen, ich kann nicht anders reden – ich will ja auch keine Antwort, keine, keine – nein, nicht jetzt – lassen Sie mir nur, ich flehe Sie darum an, die Gelegenheit, Ihnen zu zeigen, was ich bereit bin für Sie zu thun – und wäre es für Sie zu sterben!“

Benedicte stand vor ihm wie ein wachsbleiches Bild bei diesen leidenschaftlich hervorgesprudelten Worten … sie öffnete ein paar Mal die Lippen, wie um ihn zu unterbrechen, aber wie hätten ihre leisen Worte dem stürmischen Redestrom des aufgeregten Mannes Einhalt thun können – sie vermochten nichts dawider, sie mußte ihn enden lassen und dann schien es, als ob sie selber den Muth verloren, noch eine Silbe zu sprechen. Sie hob nur beide Arme, wie um angstvoll etwas furchtbar Erschreckendes, das vor ihr plötzlich aus dem Boden aufgestiegen wäre, abzuwehren.…

Er ergriff diese beiden Hände, die sich vor ihm erhoben, und drückte sie stürmisch an seine Brust.

„So ist’s recht,“ rief er heftig aus, „sagen Sie mir nichts, kein Wort, keine Silbe – ein Wort, das mich glücklicher machte, als je ein Mensch gewesen, können Sie mir nicht sagen, noch ist es unmöglich – und eines, das mich unselig machte, das mich in den Tod treiben würde – ich will, ich mag es nicht hören, es wäre zu entsetzlich, zu furchtbar, wenn ich es anhören müßte … jetzt … heute!“

„Und doch, doch – Sie müssen es anhören!“ rief Benedicte wie all’ ihren Muth zusammenraffend mit halb von ihrer Bewegung erstickter Stimme – „unglücklicher Mensch – der so an sich, an seinem Leben, seinem Glück, seiner Ehre frevelt … wie ist es möglich … wie können Sie in der ersten Stunde sich fortwerfen an die Fremde, die Flüchtige, die Verbannte – an eine Verlorene –“

„Was ist es mir, ob Sie fremd, flüchtig, verbannt und verloren sind! Sie sind mir tausend Mal theurer, liebenswerther, kostbarer, höher darum –“

„Halten Sie ein, Sie wissen nicht, was Sie sagen – wenn ich nun fremd, flüchtig und verbannt wäre um der eigenen Schuld willen, weil ich verdiente ausgestoßen zu werden von den Meinen, weil ich eine Verbrecherin bin …“

„Sie … Sie … Sie eine Verbrecherin?! Und das sollte ich glauben?“ Wilderich zwang sich aufzulachen.

Sie faltete wie in tiefstem Schmerz ihre Hände zusammen, und ein Strom von Thränen schoß ihre Wangen nieder.

„Mein Gott, mein Gott, was ist Ihnen … was kann die arge Welt Ihnen zugefügt haben, welche Bosheit, welche teuflischen Schlingen können Sie umgarnt haben, daß Sie sich so anklagen, daß Ihr Schicksal Ihnen diese Thränen erpreßt, diese Perlen, von denen ich jede einzeln wie einen Himmelsthau trinken möchte – o mein Gott, die Welt ist böse, ist teuflisch … o sprechen Sie, jetzt, jetzt will ich, daß Sie sprechen, daß Sie dies Räthsel erklären – was verführt Sie, sich anzuklagen, sich eine Schuldige, eine Verbrecherin zu nennen?“

„Soll ich Ihnen noch mehr gestehen? Ist es nicht genug, Ihnen zu zeigen, wohin Sie sich verirrt haben? Nein, gehen Sie, gehen Sie, um nie wieder ein solches Elend über mich zu bringen, wie es Ihre Worte von eben thaten.“

„Ein Elend … ich, ich bringe ein Elend über Sie? Welch’ ein Wort das ist … ein Elend!“

„Nun ja, ist es das nicht, gezwungen zu sein, so reden zu müssen, solche Geständnisse machen zu müssen, wie Sie sie mir abzwingen?“

„Und,“ fiel Wilderich erschüttert ein, „ist es für mich kein Elend, so nur räthselhafte unverständliche Selbstanklagen zur Antwort zur erhalten, wo mein ganzes Herz mit all’ seiner Fülle sich Ihnen offen legt … während ich doch weiß, während ich doch jeden Augenblick diese Hand emporstrecken will zum Schwure, daß Sie nichts Unwürdiges, nichts Schlechtes, daß Sie nichts, nichts gethan haben können, um das Schicksal zu verdienen, welches Sie verfolgt …“

[465] „Doch, doch,“ fiel Benedicte ein, „ich habe dies Schicksal, wenn nicht verdient, doch mir selbst zugezogen; ich bin schuldig, ja, ich bin es; und wäre ich es auch nicht – würde ich daran denken dürfen, ein andres Leben, würde ich Sie hineinziehen dürfen in das Unglück einer solchen Lage, wie die meine?“

„Ob Sie das dürfen … mein Gott, was fragen Sie … da, wo ich ja will, nichts anderes will, wo es mir wie eine Seligkeit erscheint, mich Ihretwegen in jedes Unglück, in jeden verzweifelten Kampf, in jeden Abgrund zu stürzen!“

„O wie thöricht Sie reden! Ich soll zugeben, daß Sie sich in Kämpfe und Abgründe stürzen! Würden Sie denn dulden, daß ich so etwas thäte, daß ich so mich in’s Verderben stürzte, wenn Sie der Unglückliche, Verbannte wären, wenn auf Ihnen der Verdacht eines Verbrechens ruhte, wenn Sie sich verbergen müßten, wie ich es muß? Würden Sie denn um ein Herz werben, würden Sie zugeben, daß ein andres, ein harmloses und zu allen Ansprüchen auf Glück berechtigtes Wesen käme und sein Schicksal an das Ihre kettete, und sich mit Ihnen in einen ‚Abgrund‘ stürzte? Nie, niemals würden Sie es!“

Wilderich verstummte bei diesen Worten Benedictens; er sah betroffen und verwirrt zu Boden.

„Ich höre aus dem Allen nur heraus,“ sagte er dann, langsam sein verstörtes Gesicht wieder zu ihr erhebend, „wie edel und groß Sie denken; wie furchtbar groß also auch das Unrecht sein muß, welches man an Ihnen begangen hat; und wie erbärmlich ich sein müßte, wie gründlich verächtlich, wenn ich, weil irgend ein abscheulicher Verdacht auf Ihnen lastet, je von Ihnen ablassen könnte …“

„O genug, genug,“ unterbrach ihn Benedicte fast heftig, „Sie sind ein Mann, und über Alles muß Ihnen die Ehre stehen. Ich habe genug gesagt, um Sie fühlen zu lassen, daß es wider Ihre Ehre wäre, je wieder so zu mir zu sprechen!“

„Gerechter Himmel!“ lachte Wilderich gezwungen auf – „wenn man Sie so reden hört, sollte man denken, Sie hätten einen Hochverrath oder einen Mord –“

„Einen Mord?“ sagte sie flüchtig zu ihm aufsehend … „wenn es nun so etwas wäre, dessen man mich beschuldigen kann …“

„Unmöglich – unmöglich!“ rief Wilderich.

„Das Einzige, was unmöglich,“ versetzte sie nach Athem ringend, „das ist, daß wir uns je wiedersehen! Gehen Sie mit Gott, Gott schütze und beschirme Sie!“

Dabei reichte sie ihm ihre Rechte, entzog sie ihm wieder, als er kaum die Fingerspitzen berührt, und wandte sich, um wankenden Schrittes davon zu eilen.

„Räthselhaftes Geschöpf!“ murmelte Wilderich in tiefer Bestürzung ihr nachblickend – „Dich nicht wiedersehen? Lieber den Tag, die Sonne nie wieder sehen, als darauf verzichten, Dich wieder zu sehen und Klarheit zu erhalten über diese entsetzlichen Worte … diese Worte von Verbrechen … von Niewiedersehen … über diesen ganzen teuflischen Waffensegen für Jemand, der in einen grimmen Kampf gehen will, in die blutige Todesgefahr!“

Er stand noch eine Weile wie erstarrt, wie in sich verloren – dann rief er, heftig seine Büchse auf den Boden stoßend:

„Fort damit, fort, fort mit all’ diesen Gedanken! Ein Mann hält seine Hoffnungen, seine Entschlüsse fest bis zum Aeußersten – und nun auf und dem Kommenden entgegen!“

Er wandte sich, um fort zu eilen, als er plötzlich dem Herrn Schösser, der während des Gesprächs unbemerkt an ihn herangetreten sein mußte, in sein graugelbes Gesicht blickte.

„Na,“ sagte der Ritterschaftliche ironisch – „haben ja einen sehr eifrigen Discours mit der Demoiselle gehalten … der Herr Revierförster kennen wohl die Demoiselle schon länger?“ …

„Nein!“ versetzte Wilderich, „ich sah sie früher nie.“

„So, so! Wär’ mir sonst lieb gewesen etwas über sie zu erfahren. … Die Frau Aebtissin von Oberzell sind in ihrem gnädigen Anschreiben an mich ein wenig kurz über dieselbe. Da sich die Schwesterschaft aus dem Kloster flüchte von wegen der dräuenden Kriegsgefahren, und die Demoiselle Benedicte, die bishero als Novize im Kloster aufgenommen gewesen, ohne Verwandte oder andre Zuflucht, dahin sie sich wenden könne, sei, so ergehe der ehrwürdigen Frau geziementliches Ansuchen an mich, besagte junge Dame mit allen derselben als einer wohlconditionirten Person schuldigen Rücksichten auf Haus Goschenwald aufzunehmen. Das ist Alles … nicht einmal den Namen der Demoiselle Benedicte thut sie mir vermelden … und wenn es eine wohlconditionirte junge Person, weshalb geruht die Hochwürdige nicht, sie unter ihre eigene Obhut und Schutz mit sich nach Würzburg zu nehmen, wohin die meisten der frommen Jungfern sich begeben, wie ich von der Demoiselle höre …“

„Sie wird ihre Gründe dazu haben, mein Herr Schösser,“ versetzte Wilderich aufhorchend, … „wer ist diese hochwürdige Mutter Aebtissin?“

[466] „Die Frau Apollonia Gronauer, eine Frankfurter Geschlechterin; dero Herr Bruder ist Reichshofrath in Wien und mein hochansehnlicher Gönner und Lehnsherr in Goschenwald.“

„Alsdann,“ fiel Wilderich ein, „bin ich überzeugt, daß Eure Gestrengen Alles thun werden, was die ehrwürdige Mutter von Ihnen für die junge Dame erwartet … und unter dem, was sie erwartet, möchte auch gehören, daß die Demoiselle nicht mit neugierigen und lästigen Forschungen nach ihrer Herkunft und ihren Verhältnissen belästigt und geplagt werde … weshalb es auch wohl für uns Beide am angemessensten ist, dieser Unterhaltung über das junge Mädchen ein Ende zu machen. Uebrigens werden der Herr Schösser, wie ich besorge, demnächst eine lästigere Einquartierung bekommen, als ein junges Klosterfräulein ist, und ich ersuche Sie, Ihre Gedanken vor der Hand darauf zu wenden. Es ist möglich, daß ich mit einer kleinen Truppe zurückkehre, die Ihnen als Schutzwache für Ihr Haus von Nutzen werden dürfte.“

„Eine Truppe – eine Schutzwache?“ fiel der Schösser erschrocken ein.

„Ja, alter Herr, die Freude, einmal wieder Pulver zu riechen, dürfte Ihnen blühen, bevor die Zeit, seit Sie mit Ihrem wackern Contingent zum letzten Male in’s Feld rückten, um vierundzwanzig Stunden länger ist –“

„Oho, glauben Sie denn wirklich mir altem erfahrenem Manne aufbinden zu können, daß die Franzosen geschlagen würden, und daß Ihr Förster und Holzknechte und was Ihr an Gesindel zusammengetrieben habt …“

Wilderich lachte kurz und trocken auf.

„Gestrenger Herr,“ sagte er, „ich habe nicht Zeit, darüber mit Euch zu streiten. Sorgt nur für Unterkunft und Lebensmittel in Eurem Castell hier, und verpflegt mir meine Leute, haltet die fremde Dame, die Eurer Obhut anbefohlen, wohl im Auge, und – das Uebrige wird Euch die Zeit lehren!“

Damit ging er davon. Die kurze Unterhaltung mit dem gestrengen Herrn hatte ihm genügt, um ihm Zuversicht und innere Ruhe zu geben, und die beste Bestätigung dessen, was ihm sein innerstes Seelenbedürfniß, an Benedicte zu glauben, zugerufen.

Wenn eine so vornehme, so hochstehende Dame, wie die ehrwürdige Aebtissin von Oberzell, das junge Mädchen so warm empfahl, wenn sie sie im Hause ihres eigenen Bruders unterbrachte – konnte dann ein Makel, eine Schuld, ein Verbrechen auf diesem selben jungen Mädchen haften?

Es war undenkbar, es war unmöglich!




5.

Der Schösser stapfte unterdessen unwirsch davon, er ging Frau Afra berichten, daß dieser heillose Mensch, der Förster Buchrodt, ihm angekündigt habe, Haus Goschenwald werde eine Einquartierung erhalten, als er plötzlich stehen blieb und wie schreckergriffen beide Hände von sich streckte.

„Alle Teufel!“ sagte er.

Frau Afra, an der andern Seite des Hofes auf einem umgestülpten Eimer sitzend, um zu warten, bis es dem Gestrengen gefalle zum Essen zu kommen, stieß einen leisen Schrei aus … die Mägde um sie herum riefen auseinanderfahrend: „Da hören Sie’s selber!“

Frau Afra hörte es selber und der gestrenge Herr hörte es auch. Er hörte Kanonenschüsse – unverkennbare Geschützesschläge … eins, zwei, drei – ein halbes Dutzend rasch aufeinander folgend – dann eine Pause – dann auf’s Neue!

Alle Kriegserfahrung des Ritterschaftlichen half da nichts – es war Kanonendonner – in der Ferne mußte ein Gefecht stattfinden, und daß es stattfand, bewies, daß die Franzosen geschlagen seien, daß sie auf ihrer Rückzugslinie durch den Spessart angegriffen wurden.

Und so war es in der That. Die Führer des Aufstandes hatten ihre Leute so lange vom Angriff zurückgehalten, als es möglich war. Ein zu früher Ausbruch der Erhebung hätte die Feinde gewarnt. Sie hätten andere Wege eingeschlagen, wenn sie zu früh erfahren, wie gefährlich und verhängnißvoll ihnen die Waldpässe des Spessart werden sollten.

Denn die Schlacht bei Würzburg war geschlagen, ein zweiter entschiedener Sieg der Kaiserlichen. Die Sambre- und Maas-Armee war halb aufgelöst; in bunt und wild gemischten Massen fluthete sie in die Defiléen hinein, in denen sie keine Gefahr ahnte; hatte sie doch bei ihrem Vorrücken die Entwaffnung des Landes vorgenommen, hatte doch Jourdan’s Proclamation Todesstrafe auf den Besitz von Waffen gesetzt.[1]

Und trotz dieser Drohungen stand das Land jetzt in Waffen, wenn diese Waffen auch freilich gar oft nur die Sense oder die Pike war, in die jede Heugabel, jede Stange sich rasch umwandelt, wenn der Haß eines durch Mißhandlung empörten Volkes losbricht, oder das Holzfällerbeil, das ein etwas längerer Stiel zur besten Hellebarde und so gefährlich wie die schneidigste Streitaxt macht. Und der Feind war ja geworfen – er mochte jetzt mit Todtschießen, Niederbrennen drohen – Jedermanns Hand, jede nervige Faust in den Bergen war wider ihn und jede krampfte sich um ein rächendes Eisen.

Die Schlacht bei Würzburg hatte am 3. September stattgefunden. Die Truppen der Republik, geführt von ihren besten Generalen, dem kühnen, glänzenden und so früh gefallenen Championnet, Bernadotte, Lefèbvre, Grenier, Ney, hatten sich tapfer geschlagen. Der mörderische Kampf hatte lange hin und her gewogt von sieben Uhr an, dem Augenblick, wo der dichte Nebel des Herbstmorgens gefallen, bis um drei Uhr Nachmittags, wo ein von Wartensleben ausgeführtes Cavallerie-Manöver den Ausschlag zu geben begonnen. Vierundzwanzig Schwadronen Harnischreiter hatte er vorgeführt; sie marschirten im verdoppelten Feuer der französischen Artillerie in größter Ruhe auf; vierzehn Schwadronen leichter Reiterei wurden auf ihren rechten Flügel en échelon gesetzt und im Verein mit acht frischen Grenadierbataillonen, die sich an ihren linken Flügel schlossen, führten sie den entscheidenden Schlag.

Jourdan befahl gegen vier Uhr den Rückzug. Die französische Armee vollzog diesen auf zwei Straßen. Ihr Gros bewegte sich nordwärts über Hammelburg, Brückenau, Schlüchtern, um die Lahn zu erreichen. Ein andrer Theil des geschlagenen Heeres warf sich westwärts und folgte der Straße nach Frankfurt durch den Spessart, um sich auf die letztere Stadt zurückzuziehen und dann mit dem Blokade-Corps von Mainz zu vereinigen, das etwa zwölftausend Mann stark unter Marceau’s Befehlen stand.

Die Heerstraße von Würzburg nach Frankfurt lief damals in nordwestlicher Richtung über Heidenfeld, wo sie den Main überschritt, durch stille und wenig bevölkerte Waldthäler nach Aschaffenburg.

Eine zweite Straße folgte von Würzburg bis Gemünden und Lohr dem Lauf des Maines, um von Lohr stark westlich auf Aschaffenburg zuzulaufen. Es ist die Linie, welche jetzt, nur ein wenig mehr nördlich gelegt, die Eisenbahn verfolgt.

Der Erzherzog Karl detaschirte einige Corps zur Verfolgung der nordwärts abziehenden Feinde, die Hauptmasse seiner Truppen dirigirte er westwärts, dem untern Main zu, um die Besatzung von Mainz an sich zu ziehen und sich dann südwärts auf Moreau zu werfen. Die Infanterie sollte über Lengfurt und Heidenfeld und Rohrbrunn der Hauptstraße folgen, die Cavallerie über Bischofsheim und Miltenberg rücken, beide nachdem sie am 4. bei Würzburg gerastet.

Die Verfolgung während dieses Rasttages hatten aber die insurgirten Bauern übernommen. Einzelne Angriffe des empörten Landvolks hatten die republikanische Armee bereits auf der ganzen Rückzugslinie von Amberg her beunruhigt; schlimmer war es geworden am Abend und in der Nacht nach der Schlacht vom 3. September, auf dem Wege bis zum Mainübergange bei Heidenfeld; als die Franzosen im ersten Morgengrauen des 4. den Spessart betraten, fanden sie eine kleine Vendée. Hier wurde der Marsch ein fortwährendes Kämpfen. Die Bauern griffen an zahlreichen Stellen zugleich die wie eine lange Schlange viele Stunden weit sich hinziehenden Schaaren an. Von den Bergseiten herab, hinter Eichen- und Buchenstämmen her knatterte das Feuer in die Bataillone und löste die letzte Ordnung, die sie zusammengehalten, auf; gegen die verwirrten Massen gingen ganze Haufen Bauern mit geschwungenen Piken und Aexten vor; vor dem wuchtigen Angriff [467] mit dem Bajonnet, vor dem Rottenfeuer flohen sie zurück, die schützenden Waldhöhen hinan, um bald darauf dasselbe Spiel von Neuem zu beginnen, bis die Kampflust zur wilden Wuth wurde, bis selbst die Kartätschladungen, womit der Feind sie begrüßte, ihre Schrecken für sie verloren und sie nur für wenige Augenblicke auseinander gesprengt in ihre verdeckten Stellungen trieb.

An einzelnen Stellen war die Lage des geschlagenen Heeres verzweiflungsvoll: während es sonst im Weiterziehen kämpfte und sich seiner Haut wehrte, und rechts und links mit zahlreichen Todten seinen Weg bezeichnete und nur immer chaotischer durcheinanderwogte, staute sich an diesen einzelnen Stellen die Fluth der Zurückziehenden vor einem Hindernisse auf, das, wie ein Deich in einem Strome die Gewässer, ihre Massen aufhielt und sie dichter und dichter zusammen und wirbelnd durcheinander drängen ließ. Wo die Heerstraße durch einen engeren Thalpaß zog, waren aus gefällten Baumstämmen hohe und furchtbare Verhaue aufgeschichtet, hinter denen her die Büchsen- und Flintenkugeln in die aufgelösten Bataillone schlugen; sie mußten erst genommen, erstürmt, durch Artillerie mit Vollkugeln zusammengeschossen werden, bevor es möglich war, vorwärts und aus diesen höllischen Defiléen herauszukommen.

Einer der schlimmsten Pässe lag hinter dem Dorfe Bischbrunn, zwei enge kleine Seitenthäler mündeten hier von beiden Seiten auf die Heerstraße, und diese Seitenthäler waren für die Kämpfenden wie gemacht, sich verdeckt in ihnen aufzustellen, aus ihnen hervorzubrechen und sich in sie hinein und an den Bergwänden aufwärts zu flüchten, wenn eine geschlossene Truppe im Sturmschritt gegen sie anrückte. Der Weißkopf, der Waldmeister, den wir von Wilderich nennen hörten, befehligte hier etwa zwei- bis dreihundert wohlbewaffnete Bauern. Sie waren eben auseinander gesprengt worden und sammelten sich wieder um eine jener Rieseneichen, die heute noch der Stolz des Spessarts sind; sie stand etwa in Mannshöhe über der Sohle des Seitenthals, und der Waldmeister saß unter ihr, damit beschäftigt, einen neuen Stein auf seine Büchse zu schrauben.

„Bin gleich fertig, Ihr Mannen,“ sagte er zu den schwer athmenden und keuchend herankommenden Leuten, „stellt einen Posten vorn auf die Bergegge, der uns wahrschaut, wenn ein neuer Trupp kommt … so lang wollen wir uns ein wenig Ruhe gönnen – Du, Natz, Du machst mir auch nicht mehr weis, daß Du kein Wilderer bist, hab’s wohl gesehen, wie Du immer auf’s Blatt trafst … wie viel Stück Wild hast mir aus dem Revier fortgeschossen, Du?“

„Ach, Waldmeister,“ antwortete ein blasser, blonder, junger Bursche im Kittel, „denkt Ihr denn heut’ noch daran? Ich mein’, die Herren machen uns nun für das, was wir heut’ ausrichten, all’ zu Waldmeistern und geben’s Wild frei.“

Die Männer umher lachten.

„Wär’ schon recht,“ rief ein kleiner Mann mit einer Hasenscharte, der sich eben müde in’s Moos niedersetzte, und die alte Doppelflinte aufrecht zwischen den Beinen hielt, „wär’ schon recht, Natz … aber daraus wird nichts, kannst mir’s glauben. Das Wild, als da sind die Sauen, die Spießer, die Böck’ und die Rehgaisen, das ist Eine Sorte, die den Bauer ruiniren … und die andre Sorten, das sind die Herren, die Schösser, die Schloßherren, die Cavaliere, denen’s Wild gehört … hätte der Bauer nun Permiß, daß er sich die eine Sorte mit dem Blasrohr vom Leibe halten dürft’, ’s könnt’ gar leichtlich sein, daß er’s auch mit der andern versuchte … und drum – na, alleweil kannst Dir’s schon selbst ausrechnen.“

„Ich geb' aber nachher meine Flinte doch nicht wieder heraus!“ rief der Natz trotzig, „will sehen, wer kommt, und sie mir abholt!“

„Na, na, na,“ fiel hier ein starker, untersetzter Mann mit einem runden, rothen, aber stark von Blatternarben zerfetzten Gesichte ein, aus dem kleine verschmitzte Augen hervorblinzelten, „Ihr seid ja ein verwegener Bursch, Natz. So zu reden, wo der Herr Waldmeister dabei ist! Solchen Leuten wie Euch hätt’ man das Blasrohr gar nicht in die Hände geben sollen. Es ist ohnehin ein Jammer, daß man das Franzosenvolk damit so drangsaliren muß. Man meint, die Eingeweide müßt’s Einem im Leibe herumdrehen, wenn man’s ansieht! In meinem Ort’ daheim stift’ ich ’ne Seelmesse für die armen Seelen, für all’ die armen Teufel, die heut’ dran glauben müssen.“ …

„Was schwätzt der da – den jammert’s?!“ rief hier ein Dritter aus.

„Na, gewiß jammert’s mich … und jeden friedliebenden, rechtschaffenen Christenmenschen muß es jammern,“ fuhr der Blatternarbige, mit dem Aermel den Schweiß von der Stirn wischend, fort, „daß er so hinter ihnen drein laufen muß und all’ die Hundsmüh’ und Sekatur mit ihnen hat! Wenn das so fortgeht, so weiß ich nicht, wie ich’s noch lang vermachen soll … schon fünf Tage lang bin ich dabei, und ’s graust mich …“

„Fünf Tage lang bist dabei?“ fragte hier der Waldmeister. … „Ja, Du bist ja ein Fremder … woher kommst denn, und weshalb bist denn dabei?“

„Woher ich komme?“ sagte der Mann, sich mit dem Rücken an den Stamm einer Buche lehnend und seinen dreieckigen Hut in den Nacken schiebend … „ich komm’ von Teining, da bin ich daheim …“

„So weit her?“

„Just von da her, wo der Franzose Kehrt gemacht hat … ich bin halt hinter ihm drein marschirt … ganz still und zumeist bei der Nacht … hinter dem Nachtrab drein … hab’ dabei manchen halbtodten Marodeur oder zum Krüppel geschossenen armen Lumpen angetroffen … im Straßengraben und in den Scheuern und Barmen am Wege …“

„Und hast ihnen wohl geholfen und sie getränkt und verbunden wie der barmherzige Samariter?“ rief hier einer der Männer, die einen Kreis um den Fremden geschlossen hatten.

„Ja,“ sagte der Blatternarbige lakonisch; „ich hab’ ihnen geholfen … wenn sie nicht schon genug hatten!“

„Aber wenn Du gar so ein mitleidiges Herz hast,“ fragte der Waldmeister, „weshalb kommst denn hierher zu uns?“

„Na,“ sagte der Mann aus Teining, den dreieckigen Hut wieder über die Stirn ziehend und mit den kleinen stechenden Augen zwinkernd, „ich muß noch ein wenig so mitmachen, ich habe meine Zahl nicht voll!“

„Deine Zahl? Was ist Deine Zahl?“

„Ich muß ihrer siebenzig haben … für jeden zehn … das habe ich gelobt bei der Mutter Gottes von Oetting … sieben Ochsen haben sie mir verbrannt – lebendig im Stadel – das arme unschuldige Vieh – und fett dabei, schwer fett – hab’ eine Brauerei in Teining … der Gaishofstoffel nennen’s mich da … und das Mensch, die Stallmagd, ist auch hin worden bei der Gelegenheit. Da hab’ ich ein Gelübd’ gethan zur Mutter Gottes von Altötting – für jeden Ochsen zehn … zehn, die dran glauben müssen!“

Die Bauern lachten auf.

„Bist ein Kerl, ein wüßter,“ sagte der Waldmeister; „der richtige Franzosenjäger! … Na, komm’ nur mit – und vorwärts, Ihr Leute, ich seh’ den Jörg von der Bergegge herlaufen und winken – richtig, man hört’s schon stoßen und rumpeln – das müssen Kanonen sein – haltet nur brav auf die Pferde, Leute, nur immer auf die Pferde.“ …

Die ganze Schaar eilte zu Hauf und unter dem Laubdach der Bäume der Bergegge, welche die Straße beherrschte, zu. Der „Franzosenjäger“ ihnen nach; es wurde jetzt erst sichtbar, daß er hinkte, daß eins seiner Beine kürzer als das andere, aber seine Bewegungen waren trotz seiner Stärke auffallend behende – auch war er bald an der Spitze der Schaar, trotzdem daß er, wie er sagte, so viele Tage hindurch schon dem abziehenden Heere gefolgt war wie ein böser Wolf dem Leichengeruch.

Eine andere, für das rückziehende Heer verhängnißvolle Stelle lag weiter westwärts, da, wo der Verhau, von dem wir Wilderich reden hörten, angebracht worden – ein Verhau, zehnmal erstürmt und auseinander geschleudert, und dann jedesmal hurtig wieder hergestellt, sobald den Vertheidigern desselben die Muße dazu geblieben. Darüber war es Nachmittag geworden; eben hatte sich wieder ein hitziges Gefecht zwischen einer Infanterie-Colonne und den den Verhau vertheidigenden Bauern und Forstleuten entsponnen, als sich ihm eine Schwadron französischer Chasseurs näherte, die, wie von den Folgen der allgemeinen Auflösung unberührt, sich in straffer Ordnung zusammenhielt. In ihrer Mitte ritt ein General, über dessen dunkle, schweiß- und staubbedeckte Züge der Zorn der Niederlage und die Empörung über diese wilden Angriffe verachteten Landvolks einen erschreckenden Ausdruck von Grimm und Wildheit gelegt hatten. Er mochte [468] kaum vierzig Jahre zählen, aber sein Gesicht war stark durchfurcht, die schmalen, blitzenden Augen lagen tief eingesunken und das glatt und schlicht an seinen Schläfen anliegende lange schwarze Haar ließ dies ursprüglich edel geschnittene Gesicht noch schmaler, gelber und magerer erscheinen.

In seinem Gefolge ritten ein paar Officiere und – überraschender Anblick in dieser wilden Kampfscene – zwei Frauen.

Mit der Truppe, welche ihn umgab, war er rasch herangetrabt. Die vordersten seiner Reiter sorgten dafür, daß das marschirende Kriegsvolk ihm Platz machte.

Aber wenn er bisher von den einzelnen Kampfscenen, durch die er gekommen, sich nicht aufhalten lassen, so war es hier ein Anderes. Die Straße war gründlich versperrt, und für die nächste Zeit schienen die Vertheidiger des Verhaues durchaus nicht geneigt, den Kugeln, die hageldicht in ihre aufgeschichteten Baumstämme schlugen, weichen zu wollen; zwischen den Ritzen und Zwischenräumen dieser Baumstämme durch, über den Rand der Barricade zischte Kugel auf Kugel zurück, die wohlgezielt jedesmal ihren Mann trafen. Dazu schmetterten die Hörner ihre Signale, wirbelten die Trommeln und schrieen und tobten die Officiere, und über dem ganzen wüsten Schauspiel schwankten und wogten die Wolken von Pulverdampf.

Der General nahm den hohen Hut mit dem dreifarbigen Federbusche, der seine Würde bezeichnete, ab, wischte sich mit seinem Tuch die Stirn und sagte zu seiner Begleiterin gewendet, zu der großen blassen, mit entsetzten Blicken in das Getümmel schauenden Frau:

„Wir sind da in des Teufels Küche gerathen! Hier hilft kein frisches Vorwärts und kein unbekümmertes Weiterreiten trotz aller Rauferei zu unserer Rechten und Linken mehr! Verflucht, daß auch keine Artillerie zur Hand ist! Soll ich hier warten, bis man uns Platz geschafft hat? Habe ich Zeit zu warten? Verdammte Lage …“

„Sollte denn gar kein Weg in der Nähe sein, der rechts oder links abführte …“ fiel die Frau mit bleicher Lippe ein.

„Ich habe vorhin zur rechten Hand eine Schlucht bemerkt,“ sagte ein kleines und wie es schien vor Furcht zitterndes weibliches Wesen, das hinter der Dame ängstlich mit beiden Händen sich auf ihrem Pferde festhielt – es war gut, daß einer der Chasseurs dicht neben ihr das Pferd am Zügel führte, sie selbst würde schwerlich damit fertig geworden sein, das durch den Kampf und den Lärm aufgeregte Thier zu führen und zu halten.

„Wo ist diese Schlucht?“ fragte der General.

„Hinter uns, einige hundert Schritte zurück – ein Weg führt hinein!“ antwortete einer der Officiere, den die Binde als seinen Adjutanten bezeichnete.

„Wohl denn, so retten wir uns in die Schlucht, bringen wir Sie da in Sicherheit!“ sagte der General zu der Dame gewendet und warf sein Pferd herum.

Das ganze Geschwader machte Kehrt, schaffte sich Bahn wie früher durch die nachdringenden Massen und schwenkte nach wenigen Minuten links in die Schlucht hinein, in welcher es zu der Mühle und Wilderich’s Forsthaus hinaufging.

„Wird denn dieser Weg nicht irgendwo hinführen, von wo aus man diese Barricade umgehen und so weiter kommen könnte?“ rief hier der General aus – „Dubois, geben Sie doch die Karte her!“

Der Adjutant zog eine Karte aus seiner Sattelholfter hervor und reichte sie dem Vorgesetzten.

Der General schlug sie auseinander und suchte im langsamen Weiterreiten sich darauf zu orientiren.

„Dies hier muß die Schlucht, in der wir uns befinden, sein – der Weg läuft auf einen Hof Goschen … Goschenwald … aus und schwenkt dann links … links zwischen Bergen durch … ah, vortrefflich, er schlängelt sich mit der Heerstraße parallel, um sie eine oder zwei Stunden weiter westlich wieder zu erreichen … eine dünne Linie – ein Fußpfad am Ende nur, aber enfin, es ist doch ein Weg – es muß da auch durchzukommen sein; eh bien, wagen wir’s, vorwärts, vorwärts!“

Er reichte die Karte dem Adjutanten zurück. Dabei streifte sein Blick das Antlitz der Dame, deren Augen gespannt auf ihn gerichtet waren.

„Arme Marcelline,“ rief er dabei – „aber ich kann Sie dem nicht aussetzen … Sie können nicht mehr! Zum Teufel, wer hätte auch gedacht, daß wir in eine solche Cochonnerie gerathen würden! – Es wird Zeit, daß Sie Ruhe finden, meine Theure, daß Sie einige Stunden der Erholung bekommen.“

„Freilich, es ist schrecklich, dies Alles!“ versetzte die Frau mit einem von der Aufregung, worin sie sich befand, gedämpften und heiser gewordenen Organ – „es ist gar zu schrecklich –“

„Sie sollen in diesem Goschenwald, oder wie es heißt, die Nacht bleiben,“ fiel der General ein.

„Bleiben, zurückbleiben ohne Sie, Duvignot, in diesem Getümmel … was muthen Sie mir zu?!“

„Beruhigen Sie sich, Marcelline – wir werden ja sehen, wie dies Goschenwald aussieht; verspricht es Ihnen nur irgendwie eine Stelle, wo Sie die Nacht hindurch ruhig Ihr Haupt hinlegen können, so werden Sie da bleiben, ich lasse Ihnen den größten Theil meiner Escorte zum Schutze – mit dem andern eile ich durch die Berge weiter – ich darf nicht rasten, Jourdan zählt darauf, daß ich noch in dieser Nacht in Frankfurt ankomme – ich muß es wenigstens morgen vor Sonnenaufgang erreichen. Gesetzt auch, wir fänden die besten Wege, wie würden Sie einen solchen Ritt aushalten können?“

„O mein Gott, wär’ ich doch nie mit Ihnen gegangen – wär’ ich nie aus Würzburg gewichen …“

„Gewiß, gewiß,“ fiel der General Duvignot ein, „es wäre besser gewesen … aber wer zum Teufel konnte erwarten, auf solche Hindernisse hier zu stoßen? Als mir Jourdan den Befehl gab, mich eiligst nach Frankfurt zu begeben, um dort das Commando zu übernehmen – was schien da einfacher und selbstverständlicher, als daß Sie sich mir und meiner Escorte anschlössen, um aus dem Chaos in Würzburg heimzukommen nach Frankfurt, das man uns hoffentlich sobald nicht entreißen wird!“

„Wie war es möglich, daß man im Hauptquartiere so gar nichts von dem, was sich in diesen Bergen vorbereitete, ahnte?“

„Mein Gott, wie war es möglich! Wir sind in Feindesland! Unsere Spione waren Esel – oder haben uns betrogen! Auch haben wir verdammt wenig daran gedacht, daß wir geschlagen werden könnten, und uns wenig gekümmert um das, was hinter uns vorging – die Augen auf den Feind gerichtet, der vor uns stand!“

„Ihr habt Euren Feind verachtet!“

„Wir hatten ihn so oft geschlagen!“

„Nicht immer …“

„Ah bah, fast immer. Und wenn Bonaparte, dieser junge Teufel, ihn von Süden, Moreau, dieser alte Löwe, ihn von Westen, und wir, die wir uns alle für wahre Teufel hielten, und in Jourdan einen alten Löwen an der Spitze hatten, ihn von Norden packten – wie konnten wir etwas anderes erwarten, als ihm über den Leib zu marschiren bis nach Wien!“

[494] „Und trotz all’ Eurer Teufeleien und Eures Löwengebrülls seid Ihr nun doch geschlagen!“ erwiderte Marcelline dem General Duvignot.

„Wir werden schon Revanche nehmen! Aber ich sehe da Häuser,“ unterbrach sich der General, auf die Mühle und das Forsthaus deutend. „Ob das Goschenwald ist? Lassen Sie sehen,“ wandte er sich zum Adjutanten.

Der Adjutant reichte ihm die Karte; während er darauf suchte, sprengten ein paar seiner Reiter sowohl nach der Mühle als dem Forsthause hinüber. Aber trotz des Gerassels, das ihre an die Thüren pochenden Säbelscheiden machten, öffnete sich keine dieser Thüren. Das Mühlenrad stand still, kein Rauch kräuselte sich über den Essen. Die Müllersleute sowohl wie Frau Margarethe im Forsthause mit ihrem kleinen Schützling mußten sich geflüchtet haben.

„Die Wohnungen scheinen verlassen,“ sagte Duvignot – „auch ist die Entfernung von der Heerstraße nicht groß genug, als daß dies Goschenwald sein könnte … nur weiter, weiter!“

Das Geschwader setzte sich trotz des steinigen und steiler werdenden schmalen Weges in Trab – die Spitze der Truppe hatte nach einer Viertelstunde die Höhe erreicht, auf der man in das enge Bergthal niederschaute, das von Haus Goschenwald beherrscht wurde. Bald nachher wurde auch dieses letztere sichtbar.

„Ah, das sieht ja vollständig gastlich und einladend aus, dieser alte Edelhof; die Essen rauchen … man ist eben beschäftigt, Ihnen eine Suppe zu kochen, Marcelline – ich bin glücklich, Sie in ein solches Quartier senden zu können.“

„Aber, Duvignot, wie kann ich denn jetzt …“

„Sie müssen sich darein fügen, meine Theure – es geht nicht anders. Während ich mich links durchzuschlagen suche, um die freie Heerstraße wiederzugewinnen und ohne Aufenthalt an mein Ziel zu kommen, müssen Sie sich dort oben Ruhe gönnen. Unsere Truppen werden die Wege für Sie bald frei gemacht und gesäubert haben. Aber mich können Sie nicht weiter begleiten. Mein Gott, wenn Sie mir vor Erschöpfung ohnmächtig, wenn Sie mir krank würden, was dann? Dürfte ich mich Ihretwegen aufhalten? Und könnte ich Sie doch verlassen, verlassen unter freiem Himmel, in der Nacht, die herannaht? Seien Sie vernünftig, Marcelline – ich flehe Sie darum an!“

„Mein Gott, wenn es sein muß, so bin ich ja bereit,“ sagte die Dame resignirt; „welche Mannschaft werden Sie mir zu meinem Schutze lassen?“

„Die ganze Schwadron, wenn Sie wollen, ich werde nur ein Dutzend Chasseurs zu meiner Begleitung bei mir behalten. Dubois, zählen Sie so viel Mann, die bei uns bleiben, ab! Sie, Capitain Lesaillier,“ wendete er sich an einen andern Officier, „bleiben mit Ihrer Schwadron als Escorte der Dame.“

Das Dutzend Reiter wurde vorcommandirt, und Duvignot nahm Abschied von seiner Begleiterin.

„Adieu,“ rief er, die Hand, welche sie ihm reichte, ergreifend und an seine Lippen ziehend. „Ich werde Ihnen in Frankfurt Quartier machen. Ich werde Sorge tragen, daß im Hause Ihres Mannes Alles zu Ihrem Empfange in Bereitschaft ist – Adieu, meine Theure – Lesaillier, Sie werden das Vertrauen, das ich in Sie setze, indem ich Madame Ihrem Schutze übergebe, rechtfertigen!“

„Seien Sie überzeugt davon, mein General,“ antwortete militärisch salutirend der Officier der Schwadron.

„Also noch einmal Adieu, Marcelline, ich lasse Sie in guter Hut!“ rief der General aus, legte die Hand an den Hut und spornte sein Pferd an, um dem Wege zu folgen, der vor ihm in’s Thal niederlief und dann sich links am Fuße der Höhe hielt.

Die Frauen mit ihrer Escorte schlugen den Weg ein, der, sich rechts abzweigend, auf halber Berghöhe geradezu auf Haus Goschenwald führte.

[495] Die Dame, welche der General Marcelline genannt hatte, sank, nachdem er sich von ihr getrennt, wie gebrochen vor Müdigkeit in ihren Sattel zusammen Die andere, ihre Zofe, musterte mit scheuem und mattem Blicke den alten Edelhof vor ihr.

„Werden wir da nun zu Rast und Ruhe kommen?“ rief sie aus.

„Wir wollen es hoffen,“ sagte ihre Herrin mit einem Seufzer … „und wenn wir es auch nicht hoffen dürfen, es ist doch besser so, daß wir den General haben vorausziehen lassen.“

„Besser? Den General, der unser bester Schutz war?“

„Ja, besser … was würde man in Frankfurt gesagt haben, wenn ich an der Seite Duvignot’s da eingezogen wäre!“

Sie sagte dies in deutscher Sprache, um nur von der Zofe verstanden zu werden, während die bisherige Unterredung in französischer geführt war.

„Ah bah,“ entgegnete die Zofe ein wenig verdrießlich; sie war nicht in der Stimmung, sich viel Mühe zu geben, um ihre Gedanken zu verbergen … „was würde man gesagt haben! Ich denke, die Verwunderung wäre so groß nicht gewesen. Und zudem wären wir in der Morgenfrühe hingekommen, wo Niemand unsern schönen Triumpheinzug beobachtet hätte. Und endlich wird man in Frankfurt jetzt an Anderes zu denken haben, als an die Rückkehr der Frau Schöffin!“

„Das ist mein Trost freilich auch,“ antwortete die Frau Schöffin. „Wie sagte der General, daß dies Haus heiße? Goschenwald?“

„In der That, ich glaube so war es.“

„Goschenwald!“ wiederholte Frau Marcelline nachsinnend … „ich habe den Namen schon gehört. Ja, ja, es ist richtig … Goschenwald – das muß einem entfernten Verwandten meines Mannes … von seiner ersten Frau her … gehören … einem Reichshofrath in Wien … mein Mann muß sogar einmal dort gewesen sein, ich erinnere mich, daß er davon geredet hat … also dies ist es? Nun, es sieht verlassen und friedlich genug aus, um uns ein ruhiges Nachtquartier zu verheißen!“

Sie waren auf dem Hofe von Haus Goschenwald angekommen – die Truppe hielt, der commandirende Officier glitt rasch aus seinem Sattel, um Frau Marcelline Stallmeisterdienst beim Absteigen zu leisten, und bald nachher waren die beiden Frauen unter dem schützenden Dache untergebracht, wo sich der Schösser und Frau Afra mit einiger widerwilligen Höflichkeit herbeiließen, die Wünsche der Fremden anzuhören und dabei ihr Entsetzen über solche unerwartete Einquartierung nicht gar zu laut an den Tag zu legen.

Der Trupp Chasseurs – es mochten ihrer etwa hundert bis hundertzwanzig sein – legte unterdeß auf die Stallungen Beschlag, um darin einen Theil der Pferde unterzubringen, und bereitete sich vor, mit dem Rest auf dem Hofe des Gebäudes zu campiren.

„Gieb Acht darauf, daß die Leute sich nicht zerstreuen und auf ihrer Hut bleiben,“ sagte der Capitain Lesaillier dabei zu seinem Wachtmeister – „unsere Cameraden da unten werden das Gesindel, das sie attakirt, hoffentlich bald auseinandergesprengt haben – aber just dann könnten wir zerstreute Trupps davon hier auf den Hals bekommen; laß deshalb nicht absatteln und stelle einen Posten in gehöriger Entfernung vom Hofe auf. Duvignot hätte etwas Besseres thun können, als seine Weibsleute in diesem heillosen Rückzug mitzuschleppen und just uns zur Sauvegarde seiner Liebschaften zu machen – Gott verdamme sie!“

„Wär’ mir auch lieb, wir wären aus diesen vermaledeiten Defiléen heraus, Capitain,“ sagte der Wachtmeister; „ist einmal das Wunder passirt, daß uns diese Hunde von Weißröcken geschlagen haben, so kann auch das zweite Wunder passiren, daß sie einmal wissen, wie man einem geschlagenen Feind auf dem Nacken sitzt; und kommen die uns auch noch auf den Hals, so wird die Suppe gut!“

„Das würde sie freilich, alter Grognard,“ fiel der Capitain ein; „aber da ist nichts zu fürchten; sie werden nach ihren Anstrengungen einige Tage zum Ausschlafen nöthig haben; sorg’ dafür, daß die Pferde eine gute Streu bekommen und daß nicht zu früh getränkt wird!“




6.

Etwa eine Stunde vor der Ankunft der Frau Marcelline und ihrer Schutzwache auf Goschenwald hatte Benedicte in wachsender Aufregung das Haus verlassen. Der Lärm des Kampfes, der deutlich in das Thal herüberklang, die Kanonenschläge nicht allein, sondern von Zeit zu Zeit auch das Rollen von Kleingewehrfeuer, dessen Schall die Windströmung gedämpft herübertrug, hatten sie nicht ruhen lassen. Und wie dieser Lärm sie entsetzte, so peinigte sie die Erinnerung an die Scene mit Wilderich, welche sie auf’s Tiefste erschüttert hatte; jedes seiner wilden leidenschaftlichen Worte klang in ihrer Seele wider – sie hatten da einen vollständigen Aufruhr hervorgerufen, vermehrt und in’s Unerträgliche gesteigert durch die Angst um ihn, die seitdem hinzugekommen – jeder Schuß, den sie aus der Ferne herüberhallen hörte, ging ihr in’s Herz, es war ihr, als müsse die Kugel, die da geschleudert wurde, die sein, welche sein warmes männliches Herz treffe … in dieser Angst um ihn ging aller Stolz, alles Gefühl des Verletzenden, das seine rasche und verwegene Werbung um ihre Liebe sonst hätte erwecken können, verloren; sie dachte nur an Alles das, was sein Wesen Gewinnendes, sein Wort, seine Gluth, seine Kühnheit Bezwingendes für sie gehabt; sie dachte an das Schreckliche, das sein Tod für sie haben würde … und für sie ja nicht allein, auch für das Kind, von dem ihr der Schösser gesprochen, das Kind, an das sie so viel denken müssen … mit der Spannung, die ein Geheimniß in uns erweckt … mit Unruhe und einer gewissen Beklemmung, und doch auch einer vollen inneren Zuversicht auf die Wahrheit dessen, was er zu ihr gesprochen – lag es in ihrem Herzen, oder lag es in seinem offenen Antlitze, seinem hellen Blicke, die Offenbarung, daß dieser Mann nicht täuschen könne?

Sie dachte an das Kind, als ob es etwas ihr Nahestehendes sei, etwas, für das ihr die Sorge bleibe, wenn sein Beschützer in diesem verwegenen Kampfe falle, dessen Widerhall an ihr Ohr schlug.

So hatte sie Haus Goschenwald verlassen. Eine Magd hatte ihr unten in der Halle des Hauses zugerufen, ob sie sie begleiten wolle, hinaus auf eine Höhe, von welcher man durch einen Bergeinschnitt weit hinab in das Thal blicken könne, durch welches die Straße ziehe und der Rückzug der Feinde gehe – zwei andre Mägde wären schon vorauf dahin; Benedicte hatte sich eifrig angeschlossen und durch eine Hinterthür, durch den Garten des Edelhofes, der an der hintern Seite sich an die Bergwand legte, dann über einen sandigen Fußweg war sie eine Viertelstunde weit der Magd gefolgt bis zu einem alten Steinkreuz, an dem mehrere Wege auseinanderliefen. Der eine führte als wenig begangener steiler Fußsteig rechts zu der Höhe hinan, auf der die verheißene Aussicht sich bieten sollte. Der andere lief mehr links in die nordöstliche Thalecke hinein, wo ein an dieser Stelle sichtbar werdender Einschnitt in die Bergwände, die das kleine Thal umgaben, einen Ausgang in die dahinter liegenden Waldthäler zu öffnen schien. In der That führte dieser Weg, wenn man seinen Windungen durch mehrere kleine Waldthäler folgte, auf die von uns erwähnte zweite, über Lohr aus Aschaffenburg laufende Spessartstraße.

Vom Steinkreuz ab westlich senkte er sich abwärts, um unter Goschenwald her durch den Grund des Thales zu laufen, in der Richtung nach Westen, in welcher wir den General Duvignot sich einen Ausweg aus dem Thale suchen sahen.

Benedicte nahm, als sie an dem alten Steinkreuz angekommen war, einen Trupp von bewaffneten Männern wahr, welcher aus dem erwähnten Bergeinschnitt von Nordosten her auf sie zugetrabt kam und dessen vorderster sie, als sie sich rasch entfernen wollte, anrief.

Der Reiter waren sechs – zwei ritten vorauf, die vier andern in einer Gruppe zusammen. Zwei von diesen letztern trugen leichte weiße Staubmäntel über hechtgrauen Uniformen und rothen Beinkleidern – die andern waren in weißen Röcken, nur die voransprengenden trugen die dunkelblauen Uniformen ungarischer Husaren.

So wenig sich Benedicte darauf verstand, erkannte sie doch sofort, daß sie österreichische Officiere vor sich hatte, wie es schien, Stabsofficiere.

Sie blieb an dem Steinkreuz stehen und war bald von ihnen umgeben.

„Demoiselle,“ sagte einer der Männer in der hechtgrauen [496] Uniform mit einem sehr wohllautenden Organ und einer freundlichen Betonung, die mit dem langen, ernsten Gesichte des noch jungen Mannes im Contraste stand, „Sie werden die Güte haben uns einige Auskunft zu geben; zuerst, ist das dort Haus Goschenwald?“

„Es heißt so!“ antwortete das junge Mädchen unter heftigem Herzklopfen und in einer Verwirrung, welche ihr unmöglich machte, sich zu besinnen, woher ihr das Gesicht mit der ungewöhnlich hohen Stirn, den gedehnten Zügen, der stark ausgebildeten Unterlippe und dem langen Kinn bekannt sei, wo sie es gesehen haben könne.

Der junge Mann nickte mit dem Kopfe und sagte:

„Ich danke Ihnen. Ist der Hof besetzt?“

„Nein, er ist ohne Vertheidiger.“

„Ich meine, ob Franzosen da sind, oder ob sie dort waren?“

„Franzosen? Nein!“

„Wie weit sind wir hier von der Heerstraße, über welche der Rückzug der Franzosen sich bewegt?“

„Etwa dreiviertel Stunde.“

„Führt von dem Hofe Goschenwald eine so breite Straße hinab nach dieser Heerstraße, daß eine geschlossene Colonne – Sie verstehen mich: ein Bataillon – ein Regiment darauf marschiren könnte? Würde man Artillerie dahin bringen können?“

„Es führt ein Weg, der befahren werden kann, von Haus Goschenwald nach der Heerstraße; er führt von Goschenwald links über eine Einsattelung, dann durch eine Schlucht an einer Mühle vorüber.“ …

„Und er kann befahren werden?“

„In der That, aber wohl nur mühsam; er ist sehr schlecht zu gehen, ich kann nicht darüber urtheilen, ob Geschütze …“

„Ich danke Ihnen,“ sagte der junge Stabsofficier noch einmal, und dann sich zu dem andern Officier in der hechtgrauen Uniform wendend, fuhr er leiser redend fort:

„Wir wollen Strassoldo mit seiner Batterie bis auf weiteren Befehl stehen bleiben lassen, aber die zwei Bataillone Abpfaltern und eine Compagnie Kaiserjäger sollen vorgehen – die Kaiserjäger als Tête natürlich; ich will auf dem Hofe da vor uns die Meldungen erwarten; wenn sie an der Heerstraße angekommen sind und da in die Verfolgung eingreifen, soll es mir sofort gemeldet werden, wir wollen dann sehen, wie viel Mannschaft wir nachrücken lassen können.“ …

„So sprengen Sie zurück, Muga,“ wandte sich der zweite Hechtgraue, ein schon älterer Herr mit ergrauendem Haar, an einen der beiden andern Officiere, „Sie haben die Befehle gehört?“

„Zu Befehl, Excellenz,“ sagte dieser, die Hand am Schirm der Feldmütze; dann warf er sein Pferd herum, spornte es und sprengte auf dem Wege, den er gekommen, zurück.

„Sie, Bubna, bleiben hier zurück,“ wandte sich der junge Mann mit dem langen Gesichte jetzt an den Dritten seiner Begleitung, „um den Marsch zu dirigiren, wenn die Truppen kommen … da links hinein, nicht wahr?“ richtete er wieder seine Fragen an Benedicte.

„Die Truppen müssen diesem Fahrweg in’s Thal hinein folgen; dann, wo drüben eine Allee von Eichen, die auf Haus Goschenwald zuläuft, endet, wirft sich der Weg linkshin über die Einsattelung und steigt an der andern Seite wieder durch die Mühlenschlucht bis zu der Heerstraße hinab, auf der jetzt gekämpft wird.“

„Haben Sie es gehört, Bubna? Halten Sie eine der Ordonnanzen hier bei sich, damit Sie mir die Meldung machen lassen können, wenn die Leute da sind; lassen Sie sie ihren Marsch beeilen, wie es nur immer möglich ist; untersuchen Sie dann, ob sich Geschütze daher führen lassen, und sorgen dafür, daß ich sofort Nachricht erhalte, falls es möglich ist, Artillerie fortzubringen.“

Der junge Mann nickte dem zurückbleibenden Officier einen Gruß zu und wandte sich dann wieder an Benedicte.

„Jetzt, Demoiselle,“ sagte er, „haben Sie die Güte, uns zu führen … wir wollen die Gastfreundschaft des Edelhofs da vor uns unterdeß in Anspruch nehmen … können wir auf diesem Fußpfade hingelangen … und,“ setzte er lächelnd hinzu, „werden sie da einen frischen Trunk Steinweins oder nur frischer Milch für ein paar müde, durstige Soldaten haben?“

„O gewiß, gewiß!“ rief Benedicte lebhaft aus, „ich bin sicher, daß Soldaten, welche diese Uniform tragen, mit Freuden da empfangen werden; folgen Sie nur, dieser Fußpfad führt in der geradesten Richtung dahin.“ …

„So kommen Sie, Sztarrai,“ rief der junge Mann seinem Cameraden zu.

[503] Benedicte schritt vorauf, die beiden Officiere folgten ihr auf dem Fußstege, nur von einem der zwei Husaren begleitet, die ihnen vorher vorausgeritten waren, der andere war auf einen Wink des Bubna genannten Officiers bei diesem an dem Steinkreuz zurückgeblieben.

Während die beiden Männer, welche sie führte, dicht nebeneinander auf dem schmalen Pfade ritten, sprachen sie lebhaft, aber so miteinander, daß Benedicte ihre Worte nicht verstand.

Als sie vor dem offenstehenden eisernen Gitterthor angelangt waren, das von dieser Seite durch eine niedrige Mauer in den Garten von Goschenwald führte – man hatte nur noch zwischen einigen mit hohem altem Buchsbaum eingefaßten Beeten bis zum Hause zu gehen – wandte sich Benedicte zurück:

„Wenn die Herren hier absteigen wollen,“ sagte sie, „so kann ich Sie unmittelbar in’s Haus führen. Die Pferde jedoch muß Ihr Begleiter hinab an dieser Mauer und an dem Gebäude entlang führen und an der Vorderseite durch die Thoreinfahrt in den Hof, er wird dort gleich die Stallung sehen …“

„Sehr wohl!“ antwortete der junge General und stieg rasch aus dem Sattel, um dem herankommenden Husaren die Zügel zuzuwerfen.

Er blieb einen Augenblick stehen, um seinem älteren und weniger behenden Cameraden, den er Sztarrai genannt hatte, Zeit zu lassen, auf den Boden zu gelangen; dann folgten die beiden Männer dem jungen Mädchen.

Benedicte führte sie durch eine Glasthür in’s Haus, dann durch einen niedrigen Gang, der in ein hohes Stiegenhaus leitete – aber bevor sie noch dieses letztere erreicht, warf sie rechts eine Thür auf und bat die Herren einzutreten.

Ein großer, durch drei auf den vorderen Hof hinausgehende Fenster erleuchteter hallenartiger Raum umfing sie. Rings an den Wänden lief ein hohes Täfelwerk von dunklem Eichenholz umher, über dem mancherlei groteske Jagdbeute des Spessartwaldes an der Wand befestigt war, seltsam ausgewachsenes Gehörn und Geweih – in der Mitte der den Fenstern gegenüberliegenden Wand prangte auch eine Trophäe; aber sie bestand nur aus harmlosen Waidtaschen, Hifthörnern und alterthümlichen Pulverhörnern – die Waffen, die dazwischen die leer gewordenen Stellen gefüllt, waren fortgenommen worden – hatten sie sich vor dem französischen Machtgebot unsichtbar gemacht, oder dienten sie eben bei dem blutigen Handgemenge drüben im nächsten Thal, Rache an dem französischen Machtgebot zu nehmen?

Der gestrenge Herr Schösser hätte es müssen wissen, aber seine Knechte wußten es besser!

Der gestrenge Herr saß eben oben in diesem Saal – auf der Bank neben dem riesigen Kachelofen, mit dem Rücken sich an die kalten Platten desselben lehnend, die Arme über der Brust verschränkt und von der Höhe seines langen Oberkörpers herab auf zwei Gruppen von Leuten blickend, die sich in dem Saale an zwei verschiedenen Tischen, welche unter den Fenstern des Raumes hinliefen, befanden.

An dem oberen Tische saßen zwei weibliche Wesen, Frau Marcelline und ihre Zofe. Frau Marcelline hatte ihren Hut auf einen Stuhl neben sich geworfen und drüber ihr Fichu und ihre langen, bis zum Ellenbogen reichenden Handschuhe; das Sacktuch und ein silbernes Riechbüchschen lagen neben ihr auf dem Tisch, während ihre beringte Hand einen kleinen Spiegel hielt, in dem sie sich beschaute, um den in Verwirrung gerathenen Scheitel wieder zu glätten. Hinter ihr stand die Zofe und steckte ihr mit Haarnadeln den losgegangenen Chignon wieder fest, denn der Chignon gehörte zur Tracht der Damen des achtzehnten Jahrhunderts, wie er es heute that. Von ihren Schläfen hingen lange Locken nieder, dunklen, fast blauschwarzen Haares, wie es ganz paßte zu dem schönen und zugleich pikanten Gesicht, den feingeschnittenen, ein wenig scharfen Zügen den schmalgeschlitzten Augen, die unter schwarzen beweglichen Brauen durch die langen Wimpern der Lider feurige, zuweilen ein wenig stechende Blicke schossen. Ihr Mund war roth, voll, geschnitten wie nach dem Muster vom Bogen Amors, nur die Winkel waren stark genug nach unten gezogen, um diesem reizenden Munde einen gewissen Ausdruck von Hochmuth oder Härte oder Verachtung zu geben, der Frau Marcellinens Gesicht nicht anziehender machte. Ihr Teint war ein wenig abgebleicht, unfrisch, fatiguirt vielleicht nur vom Staub des Weges, von den Mühen der Reise und nicht von den Jahren – sie konnte kaum sechsundzwanzig oder siebenundzwanzig Jahre zählen.

An dem zweiten Tisch weiter unten in dem Raum saß der Capitain Lesaillier mit seinem alten Grognard von Wachtmeister – sie hatten ihre Säbel in den alten Messingscheiden und die Czakos mit den grünen Federbüschen auf den Tisch geworfen, die rothen Revers ihrer grünen Uniformen aufgeknöpft und waren eifrig damit beschäftigt, den Erfrischungen zuzusprechen, welche die Beschließerin ihnen auftrug, wobei der Wachtmeister seinen Vorgesetzten durch einige Späße unterhielt, die er über die seltsame und, wie er es nannte, austrogothische Figur des am Ofen lehnenden Lieutenants außer Dienst und gestrengen Herrn Schössers machte.

„Welch’ ein Biedermann!“ hatte er eben lachend gerufen – „er sieht aus wie aus Pappendeckel geschnitten, um im Marionettentheater den grausamen Feldherrn Ahitophel vorzustellen!“

„Und Das hält sich für einen Soldaten!“ sagte der Capitain lächelnd.

„Sagen Sie mir, mein Capitain,“ fragte der Wachtmeister, „ist je eine ganze Armee solcher mörderischer Kerle in’s Feld gerückt?“

„Eine Armee? Wie wäre die zu Stande gekommen! Diese kleinen deutschen Tyrannen brachten kaum einige Regimenter zusammen – der Eine von ihnen lieferte dies, der Andere das; der Eine gab für die Compagnie einige arme Hungerleider her, der Zweite den Hauptmann und der Dritte die Trommel, den Tambour und die Kochtöpfe. Eine freie Reichsstadt musterte ein halbes Dutzend Reiter, eine Aebtissin besorgte den Cornet und ein dritter Souverän lieferte das Sattelwerk und Riemenzeug – geh’ und frag’ die rothe Vogelscheuche dort, und er wird Dir sagen, daß ihm zu seiner Ausrüstung ein armes Gräflein den [504] rothen Rock und ein Nonnenkloster die schwarze Hose mit den Gamaschen geliefert hat.“

„Das geht noch über den ci-devant König von Yvetot!“ autwortete lachend der Wachtmeister – „aber wenn dem so ist, weshalb haben denn nicht diese armen Deutschen gegen solche Wirthschaft die Revolution gemacht? Was haben wir, die wir doch besser dran waren, die Mühe zu übernehmen brauchen?“

„Ja siehst Du, Lepelletier – das ja just so zugegangen wie bei einem Einsturz mit einem Haufen armer Teufel von Arbeitern die unter Schutt, Trümmern und Gerümpel verschüttet liegen. Da machen sich die am ersten frei, die noch am wenigsten tief darunter liegen und noch einen Arm oder ein Bein regen können. Die anderen vermögen es nicht. Das Gerümpel und der Schutt, begreifst Du, ist die alte Ordnung der Dinge du bon vieux temps. Wenn wir zuerst uns daraus gerettet haben … aber was zum Teufel ist das, wer führt uns diese Oesterreicher hierher?“

Bei diesem Ausruf, bei dem Capitain Lesaillier betroffen in die Höhe fuhr, wandte der Wachtmeister seinen Kopf und ließ aus Ueberraschung das Glas feurigen Kalmuths, den Frau Afra in einer Bocksbeutelflasche aufgetischt, und welches er eben zum Munde führen wollte, beinahe fallen.

Eben waren Benedicte und die zwei österreichischen Stabsofficiere in den Raum eingetreten.

Ein Blick auf die Franzosen, ein zweiter Blick durch die Fenster der Halle, vor denen man den ganzen Schwarm der Chasseurs sich auf dem Hofe umtreiben sah, zeigte den Oesterreichern, daß sie in den Händen des Feindes waren – mitten unter eine französische Abtheilung geführt. …

„Gott steh uns bei!“ rief zurückfahrend der ältere der Beiden aus – wohin hat dies Geschöpf uns gebracht?!“

Seine Hand fuhr an den Säbelkorb und entblößte halb die Klinge.

„Ruhig, Sztarrai, bleiben wir ruhig“ – mahnte der Jüngere flüsternd.

„Lassen Sie mich die Dirne erstechen – eine Deutsche, die …“

„Die Lügnerin wird ihren Lohn finden,“ fuhr, die Hand auf seinen Arm legend, der junge Mann fort – „denken wir daran, wie wir uns selbst aus dieser Schlinge ziehen!“

Während diese Worte in Hast von den beiden Officieren gewechselt wurden, hatte Benedicte ein paar rasche Schritte in den Raum hinein gemacht, hatte erblassend die Franzosen angestarrt, dann ihre Augen auf die Frauen am oberen Tisch geworfen und, plötzlich zusammenfahrend, einen leisen Schrei, wie des heftigsten Erschreckens ausgestoßen.

Sie stand da wie versteinert, beide Hände wie zur Abwehr eines ganz Entsetzlichen, das plötzlich vor ihr aufgetaucht, erhebend.

Frau Marcelline, die beim Anblick der österreichischen Uniformen ebenfalls aufgefahren war, ließ jetzt ihre Augen auf das Mädchen fallen und, zusammenzuckend, erschrocken, wie Jemand, der auf eine Schlange getreten, rief sie aus:

„Benedicte … Benedicte – Du bist’s?!“

Benedicte regte sich nicht – sie starrte noch immer wie von Sinnen die Erscheinung vor ihr an – diese dunklen, jetzt so stechend flammenden Augen, dieser Kopf mit den langen Wimpern und den langen hängenden Locken vor ihr mußten für sie die Wirkung des Medusenkopfes haben.

Frau Marcelline trat, flog, das ganze Gesicht plötzlich von Flammenroth übergossen, auf sie zu.

„Unglückliche! Elende!“ rief sie aus – „Du – Du – Du hier! Welch Verhängniß führt Dich, Dich mir in den Weg, in meine Hände, Abscheuliche!“

In Benedicte schien bei diesen Worten wie mit einem Male das Bewußtsein des Lebens zurückgekehrt – sie warf sich heftig zurück, sie wandte sich, sie wollte davon fliehen. …

Aber eine starke Hand legte sich im selben Augenblick auf ihre Schulter, umspannte ihren Oberarm und hielt sie fest wie eine eiserne Klammer.

Es war der Capitain Lesaillier, der während des vorigen Gesprächs hinter sie und zugleich vor die österreichischen Officiere getreten war.

„Halten Sie sie, binden Sie sie, wenn sie entfliehen will,“ schrie Frau Marcelline auf – „sie darf nicht entkommen, sie ist eine Verbrecherin, eine Mörderin!“

„Sie soll nicht entkommen, beruhigen Sie sich, Madame,“ versetzte der Capitain, indem er Benedicte nach dem oberen Theil des Raumes führte – „setzen Sie sich da, Mademoiselle, und warten Sie das Weitere ab,“ sagte er barsch zu Benedicte gewendet.

Benedicte ließ sich mehr todt als lebendig in den alten Armsessel fallen, der am obersten Fenster stand und zu dem der Capitain sie geführt hatte.

„Und nun,“ fuhr dieser sich zu den Oesterreichern wendend fort, „nun zu Ihnen, meine Herren! Wer sind Sie?“

„Sie sehen, wir sind österreichische Stabsofficiere … auf einer Recognoscirung begriffen,“ antwortete der ältere Officier.

„Stabsofficiere … auf einer Recognoscirung … ohne alle und jede Bedeckung? … Das ist seltsam!“

„Und doch ist es so - daß es unvorsichtig war, auf das Wort jenes jungen Geschöpfes hin, dieser Hof sei unbesetzt, so weit vorzugehen, sehen wir selbst – Sie brauchen es uns nicht vorzuhalten.“

„Nun wohl, Sie sehen es selbst,“ rief der Capitain aus, „Sie sehen, daß Sie in meiner Gewalt sind“ – er deutete auf den mit seiner Mannschaft erfüllten Hof – „also darf ich wohl um Ihre Degen bitten!“

„Wir sind allerdings in Ihrer Gewalt – so gewiß und sicher,“ versetzte hier der jüngere der beiden Oesterreicher, „daß es eine leere Förmlichkeit wäre, wenn wir unsere Degen ablegten – es kann uns nicht einfallen, dieselben gegen Sie und eine solche Uebermacht ziehen zu wollen.“

„Sie sind meine Gefangenen und haben die Degen abzulegen, wenn Sie nicht wollen, daß ich Leute hereinrufe, die sie Ihnen abnehmen, meine Herren!“ anwortete der Franzose gebieterisch.

„Gewiß, gewiß, Sie können das,“ entgegnete der Oesterreicher ruhig – „aber Sie werden unsere Uniformen hinreichend kennen, um zu sehen, daß wir Generalsrang haben – und Sie werden uns die Demüthigung ersparen, die Sie verlangen, da sie unnütz ist – als Franzose werden Sie zu großmüthig sein, einem in Ihre Hände gefallenen Feind Rücksichten zu verweigern, um die er Sie, mein Herr Capitain, bittet!“

Der junge Mann legte auf das Wort „bittet“ einen besondern Ausdruck von vornehmem Selbstgefühl, und der Capitain antwortete mit einem ironischen Lächeln.

„Es demüthigt Sie, einem einfachen Capitain Ihre Degen übergeben zu sollen? – nun, ma foi, wenn dies Ihnen solchen Kummer macht, so sollen Sie sich nicht umsonst an meine Großmuth gewendet haben – aber ich bitte um Ihre Namen!“

„Generalmajor Karl Teschen!“ sagte der junge Mann.

„Sie haben es sehr jung zum General gebracht!“ bemerkte der Franzose.

„Ich habe Glück gehabt,“ antwortete der General Teschen bescheiden.

„Und Sie, mein Herr?“ fuhr Lesaillier zu dem Andern gewendet fort.

„General Sztarrai!“

Der Franzose machte eine leichte Verbeugung und sagte: „Die Herren werden dort am Tische Platz nehmen.“ Dann sich zu Frau Marcelline wendend fuhr er fort: „Madame, ich bedauere unter diesen Umständen nicht ganz meiner Consigne folgen zu können. Sobald meine Truppe sich ein wenig erholt hat und es Ihnen möglich ist, die Reise fortzusetzen, müssen wir aufbrechen und auf demselben Wege, den der General Duvignot eingeschlagen hat, unsern Marsch fortsetzen – ich darf die Verantwortlichkeit nicht auf mich nehmen, ein paar Gefangene von dieser Bedeutung so lange hier zu halten – ich muß sie sobald wie möglich in Sicherheit bringen. Sie haben jedoch zu bestimmen, ob Sie die Nacht hindurch hier bleiben und sich ausruhen wollen – ich könnte Ihnen alsdann einen Theil von meinen Leuten zum Schutze lassen …“

„Nein, nein, nein,“ rief Frau Marcelline aufgeregt aus, „ich bin vollständig mit Ihnen einverstanden, auch mich drängt es, meine Gefangene hier“ – sie warf dabei einen Blick verzehrenden Hasses auf die wie in sich zusammengebrochen dasitzende Benedicte, die diesen Blick freilich nicht wahrnahm, da sie ihr Gesicht mit beiden Händen bedeckt hatte – „meine Gefangene hier in Sicherheit zu bringen!“

„Sie sind also bereit …“

[505] „Bereit, in jedem Augenblick weiter zu reisen!“ rief Frau Marcelline heftig aus.

„So gehen Sie, Lepelletier,“ befahl der Capitain dem Wachtmeister, „und kündigen das den Leuten an; ich sehe, daß sie Lebensmittel gefunden haben – sie sollen sich sputen.“

Daß sie Lebensmittel gefunden, hatte auch längst der Schösser zu seinem Verdruß bemerkt … er beobachtete still grimmig, wie sie Frau Afra Brod, Speck, Würste, Wein und – all’ seinen selbstgemachten Ziegenkäse herbeischleppen ließen!

„Ich gehe, mein Capitain,“ sagte der Wachtmeister.

„Und hören Sie – stellen Sie zwei Leute als Posten draußen vor die Thür dieses Saales.“

„Zu Befehl, Capitain,“ entgegnete der Wachtmeister und schritt davon.

Die österreichischen Officiere hatten sich unterdeß still an den Tisch Marcellinens gesetzt und Sztarrai sagte jetzt: „Ich hoffe, Sie erlauben uns, einige Erfrischungen zu bestellen, und gönnen uns die Zeit, sie zu genießen?“

„Ich lasse Ihnen gern die Zeit dazu,“ entgegnete der Capitain, „um so mehr, da ich Madame wenigstens noch eine Stunde vergönnen muß, sich auszuruhen. Der Herr dort oben,“ Capitain Lesaillier deutete, während er dies sagte, auf den gestrengen Schösser, „der Herr am Ofen dort scheint der Befehlshaber, Commandant oder Gouverneur dieses Platzes … haben Sie die Güte sich an ihn in Angelegenheiten der Verpflegung zu wenden – der Wein, den er in seinen Casematten führt, ist nicht übel, und da Sie seine Landsleute sind, wird er Sie sicherlich nicht schlechter bewirthen als uns!“

„Landsleute oder nicht Landsleute,“ sagte hier der Schösser sich erhebend mit einem äußerst verdrießlichen Gesicht, „es ist ziemlich Eins, an wen ich den Wein abgebe, wenn er nicht bezahlt wird!“

„Wir werden ihn bezahlen, mein Lieber!“ fiel der General, der sich Teschen genannt, ein.

„Afra, gehen Sie zu holen,“ rief der Schösser der Beschließerin zu, die durch eine Hinterthür eben wieder eintrat – „unterdeß,“ fuhr er, sich mit rollenden Augenbrauen zu Frau Marcelline wendend, fort, „möchte ich doch um eine Aufklärung bitten, was diese junge Demoiselle verbrochen hat, die Sie so despectirlich behandeln und die von wohlansehnlichen Leuten meinem Schutze anempfohlen ist.“

„Und von wem,“ fuhr Frau Marcelline auf, „wäre sie das?“

„Von der hochehrwürdigen Mutter Aebtissin von Oberzell, der Frau Schwester meines Herrn und Patrons, des Reichshofraths Gronauer …“

„Von der Aebtissin von Gronauer!“ rief Frau Marcelline mit dem Ton der Verachtung; „nun, meinethalb, die Empfehlungen derselben und Ihr Schutz werden ihr wenig helfen; ich werde sie als Gefangene mit mir fortführen …“

„Das junge Mädchen,“ fiel hier der General Teschen ein, „hat sich in einer Weise gegen uns unwahrhaftig gezeigt und uns in eine so mißliche Lage gebracht, daß wir nicht veranlaßt sein können, ihre Vertheidigung zu übernehmen, Madame. Wenn Sie uns jedoch erklären wollten, wie es kommt, daß sie für den Dienst, den sie damit der französischen Sache geleistet, durch eine so üble Aufnahme von Ihrer Seite gelohnt wird …“

„Ich habe Ihnen keine Erklärungen zu geben, mein Herr!“ antwortete Frau Marcelline hochmüthig.

„Sicherlich nicht! Ich habe sie auch nicht gefordert, nur höflich darum bitten wollen, wie doch wohl Jedermann thun darf, wenn er Zeuge eines auffallenden Vorgangs ist,“ antwortete ruhig der gefangene Officier.

„Wenn dieser Vorgang ihn ganz und gar nichts angeht, mein Herr, so thut Jedermann wohl, sich nicht hineinzumischen,“ fuhr die aufgeregte Frau fort.

Der junge General biß sich auf die Lippen.

„Verzeihen Sie, Madame, es war das durchaus nicht meine Absicht. Mich in Ihre Händel mit diesem jungen Mädchen zu mischen, konnte mir um so weniger einfallen, als ich Gefangener bin und ich Sie so wohl gehütet unter französischem Schutze sehe. Daß eine deutsche Dame auf der Seite unserer Feinde ist, und daß sie über eine so stattliche Escorte aus denselben gebietet, darf, denk’ ich, jedoch meine Verwunderung erregen.“

„Möglich, daß es das thut,“ versetzte Frau Marcelline scharf. „Wenn Sie aber nicht Oesterreicher, das heißt Leute wären, die stets um eine Idee, um eine Armee und um ein Lebensalter hinter ihren Gegnern zurück sind, so würden Sie wissen, daß sehr viele deutsche Frauen auf der Seite Ihrer Feinde stehen, auf der Seite Derer, die der Welt Licht, Freiheit von den alten Vorurtheilen und Wiedereinsetzung der Menschen in ihre ursprünglichen Rechte bringen!“

„Sie lassen mich fast bedauern, Madame,“ entgegnete der Officier ironisch, „daß der Sieg unserer Waffen in den letzten Tagen unsere Feinde so ärgerlich in dem edlen Werke stört, welches sie mit so viel Selbstverleugnung und Uneigennützigkeit zum Besten des Lichts, der Freiheit und der Menschenrechte ausführen.“

„Der Sieg Ihrer Waffen? Ach, pochen Sie nicht darauf, mein Herr General … die Franzosen haben noch so ungefähr immer Sie besiegt und werden, wenn sie auch in diesem Augenblick sich zurückziehen müssen, sehr bald ihre Revanche nehmen. Dieser Erzherzog Karl mit seiner Reichsarmee und den aufgehetzten Bauern, die die Armee aus tückischen Hinterhalten überfallen, wird seinen Kriegsruhm sehr bald schwinden sehn und sehr, sehr klein werden – er wird sich in Wien sehr bald wieder die habsburgische Schlafmütze über die Ohren ziehen und zu Bette legen müssen – man kennt das ja, sobald ihm ein tüchtiger General oder ein ihm gewachsenes Heer entgegentritt, wird der arme junge Mensch krank und legt sich zu Bett.“

Der General Teschen wechselte die Farbe bei diesen mit dem Ton unsäglicher Verachtung ausgesprochenen Worten der schönen Frau. Der General Sztarrai wollte entrüstet aufspringen, aber jener legte die Hand auf seinen Arm und hielt ihn auf seinem Platz.

„Sie haben Recht, Madame,“ sagte er dabei, „der Erzherzog Karl hat leider keine eiserne Natur, wie sie Jemandem, der sich dem Kriegshandwerk widmet, zu wünschen ist. Er hat in den letzten Jahren sich einige Male krank melden lassen müssen, wenn …“

Er wurde plötzlich durch ein paar Carabinerschüsse unterbrochen, die rasch nach einander auf dem Hof abgefeuert wurden. Alle richteten auffahrend ihre Blicke durch die Fenster dahin – man nahm einen Zusammenlauf wahr – mehrere der Chasseurs stürzten mit ihren Carabinern nach der niedrigen Zinnenmauer, welche den Hof nordwärts, den Fenstern gegenüber, abschloß.

„Was giebt’s, Lepelletier?“ rief der Capitain dem eintretenden Wachtmeister entgegen, „haben wir diese deutschen Chouans auf dem Halse?“

„Nein, mein Capitain, nur ein österreichischer Husar wurde am Fuße der Mauer da drüben entdeckt. Er führte zwei lose Sattelpferde mit Generalsschabracken …“

„Ah, die Pferde unserer Gefangenen!“

„Richtig, Capitain, und zwei tüchtige Gäule, bei’m Schnurrbart des ci-devant heiligen Georg, wir hätten sie gebrauchen können!“

„Nun?“

„Der Bursche, der offenbar Unrath gemerkt hatte, hielt sich in einem Buschwerk versteckt … er ist davon gesprengt, rechtsab in die Thalgründe hinein.“

„Und die Schüsse?“

„Haben ihm nicht wehe gethan, er ist zum ci-devant Teufel gegangen!“ .

Sacré mille tonnerres!“ fluchte der Capitain, „vielleicht haben diese Leute hier eine Reserve, näher als wir glauben, und der Schurke holt sie jetzt heran … es ist das Beste, Lepelletier, Du läßt zum Aufsitzen blasen!“

„Das war auch mein Einfall, Capitain, just das! Ich kam den Befehl dazu zu holen.“

„So geh’!“

„Madame,“ wandte der Capitain sich an Frau Marcelline, „werden Sie sich im Stande fühlen, die Reise wieder anzutreten?“

„Schon jetzt?“

„Ich bedauere, daß ich Ihnen nicht längere Zeit zum Rasten geben kann … wenn Sie also nicht vorziehen, die Nacht hier zurückzubleiben …“

„Nein, nein, nein,“ rief Frau Marcelline aus, „ich bin ja bereit!“

„Und Ihre Gefangene da wollen Sie mitnehmen?“

[506] „Ohne Zweifel!“

„Aber sie wird nicht zu Fuß neben Ihnen herlaufen können, die arme Demoiselle …“

„Sie verdient es in der That nicht besser, als so transportirt zu werden!“ versetzte Frau Marcelline mit einem Zucken der Mundwinkel voll der tiefsten Verachtung.

„Ein Pferd habe ich nicht für sie,“ fuhr der Capitain fort, „ich habe ohnehin zwei Pferde für meine Gefangenen nöthig … und wenn es hier keine zu requiriren giebt. …Lepelletier,“ rief er diesem, der eben, während draußen ein Signal geblasen wurde, wieder eintrat, „Sie haben draußen in den Ställen keine Pferde vorgefunden?“

„Nein, mein Capitain, von Remonte nichts als einen großen Ziegenbock, der dem Herrn Commandanten dort zu seinen Evolutionen vor der Fronte zu dienen scheint.“

„Gnt denn, so mußt Du zwei Leute ihre Pferde für die Gefangenen abgeben lassen, und die Demoiselle da hinter Dir auf die Kruppe nehmen.“

„Mit dem äußersten Vergnügen,“ versetzte der Wachtmeister mit einem gutmüthigen Kopfnicken, „Mademoiselle wird hoffentlich einverstanden sein, sich an die Mutter der Schwadron anzuschließen – fürchten Sie nichts, Mademoiselle, die vier Haimonskinder haben unbequemer gesessen …“

„Aber sie kann doch nicht so, wie sie dasitzt, auf’s Pferd steigen … und dann mit fort durch die kalte Nacht … das könnte ja einen Stein erbarmen!“ rief jetzt Frau Afra empört dazwischen.

„Geh’ Sie lieber und hole ihr einen Mantel!“ sagte der Schösser, während Benedicte das mit Thränen überströmte Gesicht erhob und mit einem dankbaren Blick zu Afra aufsah.

Frau Afra eilte davon, selbst in Thränen und Schluchzen ausbrechend bei dem Jammerblick, der eine Secunde lang auf ihr geruht hatte.

„Wir müssen Alles anwenden, diesen Aufbruch zu verzögern!“ flüsterte unterdeß Sztarrai seinem Schicksalsgenossen zu.

„Werden wir es können so lange, bis unsere Leute Zeit haben heranzukommen?“ fragte der jüngere General im selben Tone.

„Wenn auch das nicht, so hindern wir durch irgend eine Verzögerung vielleicht doch diese Franzosen, einen so weiten Vorsprung vor unsern Leuten zu gewinnen, daß sie uns nicht wieder einholen können.“ …

„Was sollen wir beginnen? Ich sehe kein Mittel, sie hier aufzuhalten!“

„Verdammt – sie führen schon draußen die Pferde aus den Ställen!“

„Es läßt sich eben nichts machen!“

„Sie werden mir eingestehen, daß wir in eine verzweifelte Lage gerathen sind – man wird mich in Wien vor ein Kriegsgericht stellen, weil ich zugegeben habe …“

„Man wird nichts dergleichen thun,“ fiel ernst der jüngere Mann ein – „es fällt kein Schatten von Tadel oder Vorwurf auf Sie, Sie haben nur gethan, was Ihnen befohlen wurde.“

„Ich hätte die kühne Verwegenheit, den Eifer zügeln müssen, der Sie so nahe an die Rückzugslinie des Feindes … aber was ist das?“

„Das sind die Unsern!“ rief der General Teschen aus.

„Nicht doch, nicht doch – hören Sie nur!“

„Nein – Sie haben Recht, Sztarrai – dies Feuer wird nicht aus unseren Musketen abgegeben!“

Diese Ausrufe wurden den gefangenen Officieren durch ein plötzliches lebhaftes Kleingewehrfeuer entlockt, das von draußen her sich vernehmen ließ.

[513] „Alle Teufel!“ hatte unterdeß der Capitain Lesaillier, an eines der Fenster stürzend und es aufreißend, ausgerufen … „Heda, Leute, wer kommt uns da auf den Leib? Was giebt’s?“

Mehrere von der Mannschaft liefen heran.

„Es sind diese verdammten Bauern – dieses Gesindel – sie schießen in den Hof herein!“ schallte es ihm entgegen.

„Pest! Etienne und Ihr beiden Andern kommt herein und übernehmt die Bewachung unserer Gefangenen – Ihr steht mir mit Euren Köpfen für sie, merkt Euch das.“

Damit stürzte der Capitain und der Wachtmeister davon, um, während die drei Chasseurs eintraten, die Vertheidigung des Platzes zu leiten.

Die Angreifer hatten mit wohlgezielten Schüssen zwei in der Allee vor Goschenwald abgestellte Posten von ihren Pferden heruntergeschossen. Dann waren sie auf das Thorgebäude zugestürmt, hatten aber beim Anblick der großen Zahl Reiter, welche sich auf dem Hofe befanden, Kehrt gemacht; sie hatten an dem Bergabhang über der Allee verdeckte Stellungen hinter den Baumstämmen genommen und schossen von daher in den Thoreingang hinein. Capitain Lesaillier eilte, einen Theil seiner Leute in den Thorvorbau zu senden; er stieg selbst mit ihnen in des Schössers Zimmer da oben, das die Allee beherrschte, hinauf; er ließ auf die versteckten Feinde aus den Reitercarabinern seiner Leute Feuer geben – aber er sah bald, daß es ein unnützes Pulververbrennen war. – Er kam nach kurzer Zeit in die Halle zurück.

„Diese vermaledeiten Banditen!“ rief er aus. „Wer mir nur sagen könnte, wie viel von ihnen in dem Gehölze stecken, von diesen heimtückischen Strauchdieben! Madame, haben Sie den Muth, trotz ihrer Kugeln den Ausmarsch zu wagen? Nein, Sie haben es nicht! Verfluchte Lage! Ich muß aufbrechen, ich muß … Lepelletier – wo ist Lepelletier?“

Lepelletier war auf dem Hofe, wo er seine Reiter aufsitzen ließ.

„Lepelletier!“ schrie ihm der Capitain durch das offene Fenster zu, „nehmen Sie fünfzig Mann als Tête, rücken Sie damit aus – in scharfem Trabe – das Gesindel wird Sie angreifen, es wird Sie auf Ihrem Vormarsch rechts und links hinter den Gebüschen begleiten, Sie werden so seine ganze Aufmerksamkeit absorbiren … später folge ich mit den Frauen und Gefangenen!“

„Während wir die Kugeln in den Leib bekommen – wie das Strohbündel die Flöhe des Fuchses – ich denke mit Verlaub, mein Capitain, wir thäten besser, uns hier im Hofe zu verschanzen und abzuwarten, ob die Canaille den Muth hat, uns hier offen anzugreifen!“

„Oder bis sie Verstärkung erhält, uns in dieser Bicoque abwürgen zu können!“

„Es ist mein Rath, mein Capitain … nichts für ungut – Niemand hat Lust sich zum Kugelfang herzugeben …“

Der Capitain stampfte mit dem Fuße.

„Und Etienne, Du?“ rief er den einen der drei Chasseurs an, die er vorher hereingerufen, und die sich an den untern Tisch gesetzt hatten.

„Wenn Sie meine Meinung wollen, mein Capitain, ich denke wie der Wachtmeister!“ sagte der Sergeant Etienne, leicht die Finger an den Tschako legend. „Entweder wir brechen Alle miteinander auf, oder bleiben miteinander – wenn diese Damen unsern Schutz nicht aufgeben wollen, so müssen sie auch unsere Gefahren theilen!“

Der Capitain sah nach der Uhr.

„Fast sieben Uhr,“ rief er aus … „dann vorwärts, Lepelletier, zum Aufbruch! – Wir wollen abreiten – lassen Sie aufsitzen – wir wollen uns durchschlagen!“

„Mein Gott,“ rief hier Frau Marcelline, „fällt Ihnen denn gar nicht ein, Lesaillier, daß wir die Gefangenen dort haben?“

„Und die Gefangenen, was ist mit ihnen, Madame?“

„Wenn wir den Hof verlassen und es fällt ein Schuß auf uns, so senden Sie einen Parlamentair an das Bauernvolk draußen – lassen Sie ihnen bedeuten, sobald ein zweiter Schuß falle, würden Sie die Gefangenen niederschießen lassen!“

Capitain Lesaillier blickte die Dame ein wenig überrascht an.

„Ich weiß nicht,“ antwortete er dann, ob der General …“

„Für die Gutheißung des Generals bürge ich!“ versetzte Frau Marcelline stolz … „haben Sie ein weißes Sacktuch, es an Ihren Säbel als Parlamentairflagge zu binden?“

Mille diables, der Einfall ist gut, mein Capitain,“ sagte der Wachtmeister, „ich fürchte nur, die Bauern werden sich verdammt wenig daraus machen – es ist besoffenes Gesindel!“

„Aber wir können uns von besoffenem Gesindel nicht länger hier festhalten lassen wie Mäuse in der Falle!“ rief der Capitain – „also vorwärts – aber was ist da, welcher Lärm ist dies?“

Der Capitain wandte sich bei diesem Ausruf der hinteren Thür des Raumes zu, durch welche vorher so ahnungslos die [514] zwei österreichischen Officiere eingetreten waren – es wurde da ein plötzlicher lauter Lärm vernehmbar, Waffengeklirr und Aufstoßen von Gewehrkolben.

„Ah … im rechten Augenblick!“ rief Sztarrai aus – „ich denk’, es ist Muga oder Bubna …“

„Unsre Kaiserjäger!“ sagte der ‚General Teschen‘ aufspringend.




7.

Die Thür war aufgeflogen, österreichische Officiere mit gezogenen Degen drängten herein, hinter ihnen grüne Kaiserjäger mit ihren Stutzen und grünen Federbüschen an den aufgeklappten Filzhüten – man sah über ihren Köpfen fort und durch die geöffnete Thür den ganzen Gang draußen voll dieser Hüte und Federbüsche. … Die Officiere stürmten heran in der offenbarsten Aufregung.

„Königliche Hoheit!“ rief ein großer, stark gebauter Mann, „da sind Sie – Gott sei gelobt …“

„Sagen Sie lieber: da sind wir!“ antwortete lächelnd die Königliche Hoheit, der junge General – „Sie kommen just recht, man überlegte hier eben, ob es gegen die Bauern helfen werde, wenn man uns todtschieße – Bubna und Muga haben Sie wohl herbeigebracht?“

„In der That, Hoheit; wir hatten uns eben erst in Marsch gesetzt, wie Lieutenant Graf Bubna den Befehl überbracht, als der Husar von der Stabswache mit Eurer Hoheit Pferden herangesprengt kam, und …“

„Wo ist Kinsky?“ fiel die Hoheit ein.

„Er muß mit der Tête seiner Bataillone in diesem Augenblick unten im Thal, diesem Edelhof gegenüber, angelangt sein; uns führte der Husar auf einem kürzeren Fußsteig zur Hinterseite dieses Hauses …“

Während rasch diese Worte gewechselt wurden, stand der Capitain Lesaillier wie vom Schlag getroffen da – der Wachtmeister und die anderen Chasseurs hatten sich, ihre Säbel in der Faust, in eine Gruppe zusammengedrängt.

Sacré mille tonnerres, wir sind in einen saubern Leimtopf gefallen, Capitain!“ rief der Wachtmeister aus.

Madame Marcelline war aufgesprungen, das blasse Entsetzen in allen Zügen.

„Hoheit? – Der Erzherzog!“ stammelte sie.

„Der Reichsfeldmarschall Erzherzog von Oesterreich und Herzog von Teschen,“ sagte der junge Mann, indem er sich lächelnd vor ihr verbeugte, „wie Sie sehen, heute nicht im Bett, Madame, und deshalb so glücklich, sich Ihnen jetzt ohne Incognito vorstellen zu können. …“

Er wurde unterbrochen durch Carabinerschüsse und lautes Geschrei der Chasseurs draußen, die den vom Garten her eingedrungenen Feind jetzt bemerkt hatten und heranstürmten, ihren Officier herauszuhauen – die Kaiserjäger warfen sich ihnen entgegen, man hörte in der Vorhalle ein wüstes Getümmel beginnen.

„Mein Capitain,“ rief der Erzherzog dem Franzosen zu, „Sie haben gesehen, gehört, daß Sie von stärkeren Streitkräften auf allen Seiten umringt sind. Bringen Sie Ihre Leute zur Ruhe, lassen Sie kein unnützes Blut vergießen – lassen Sie Ihre Mannschaft sich ruhig im Hofe aufstellen und alsdann kehren Sie zurück, ich habe mit Ihnen zu reden!“

„Hoheit,“ entgegnete der Capitain, „eine französische Schwadron giebt sich nicht gefangen, und wenn auch zehn Erzherzoge oder Reichsfeldmarschälle es ihr gebieten – wir sind umzingelt, zum Teufel, was schadet’s, wir werden uns Luft machen! Lassen Sie mich mit diesen meinen Leuten zu meiner Mannschaft auf den Hof hinaus – ich habe Ihnen vorhin aus Großmuth Ihren Degen gelassen und verlange jetzt von Ihrer Großmuth, daß Sie mich zu meiner Mannschaft hinauslassen …“

„Ich habe Ihnen gesagt, daß Sie sich hinausbegeben sollen …“

„Mit diesen meinen Leuten?“

„Mit Ihren Leuten da, wenn Sie mir Ihr Ehrenwort geben, daß Sie draußen Waffenruhe herstellen – Bubna, gehen Sie mit und halten Sie unsere Leute zurück – und daß Sie wiederkommen, damit ich weiter mit Ihnen rede. Ich habe Ihnen nicht gesagt, daß ich von Ihnen die Ergebung auf Gnade und Ungnade verlange. …“

Der Capitain stürmte mit seinen Leuten hinaus; der eine der Adjutanten des Erzherzogs folgte ihm, man hörte draußen ihre Stimmen fluchend und wetternd durch den Lärm schreien und das Getümmel legte sich.

Die Chasseurs kehrten, wie man durch die Fenster sah, zu ihren Pferden zurück, der Wachtmeister trieb die letzten und kampflustigsten vor sich her und hatte bald die ganze Schaar im Sattel. Der Capitain aber, der sich, sobald er Ruhe hergestellt, von allen zuerst auf sein Pferd geworfen hatte, sprengte dicht an das offene Fenster der Halle heran und schrie herein:

„Nun, meine Königliche Hoheit, bitte ich um das, was Sie mir sagen wollten! Ich werde hier draußen an der Spitze meiner Leute ein besseres Verständniß dafür haben, als da drinnen in Ihrer Gewalt – ne vous en déplaise!“

„Mein lieber Capitain,“ antwortete der Erzherzog lächelnd, „Sie verkennen meine Absichten. Sie hätten ruhig zurückkehren können. …“

„Ich habe mein Ehrenwort zurückzukehren nicht gegeben!“

„Nein, aber Sie geben das, so lange wir unterhandeln, Waffenruhe halten lassen zu wollen?“

„Ich gebe es!“

„Wohl denn, so hören Sie. Sie sind mit Ihrer Schwadron abcommandirt zur Beschützung dieser Dame hier?“

„Das bin ich!“

„Und wenn ich Sie zwänge, die Waffen zu strecken, so würde die Dame nicht allein weiter zu ziehen wagen, ich hätte mich selber der Aufgabe zu unterziehen, sie zu beschirmen …“

„Ich müßte sie Ihrem Schutz, Ihrer Ritterlichkeit anempfehlen, Hoheit!“

„Und sie scheint in dieser Beziehung ein wenig verwöhnt, mein Capitain?“

„Es wäre Mangel an Erziehung, wenn ich Eurer Königlichen Hoheit widerspräche.“

„Wer ist die Dame?“

„Sie ist die Gattin des Schöffen und zeitigen Reichsschultheißen Vollrath zu Frankfurt am Main.“

„Des Reichsschultheißen, eines dem Hause Oesterreich so verbundenen und, so viel ich weiß, auch treu ergebenen Mannes?“ rief der Erzherzog aus. „Madame,“ wandte er sich an Frau Marcelline, „ich hätte nicht geglaubt, in Ihnen eine so erbitterte Feindin zu finden.“

„Hoheit,“ stammelte Frau Marcelline, weiß wie ein Tuch und nur höchst mühsam so viel Athem gewinnend, um reden zu können, „ich kann nichts als meine Verzweiflung ausdrücken, daß ich so unbesonnen …“

„Daß Sie so unbesonnen sich in eine Lage brachten, wo Sie nun meinem Schutze übergeben sein sollen! Beruhigen Sie sich, Sie sollen der Ritterlichkeit eines Mannes, den Sie so hassen, wie mich, nichts zu verdanken haben.“

„In der That, Capitain,“ wandte der Erzherzog Karl sich durch’s Fenster an den französischen Officier zurück, „ich habe nicht die geringste Lust, mich länger der gefährlichen Nähe einer solchen Feindin, wie Madame uns ist, auszusetzen. Ich überlasse sie sehr gern Ihrem weiteren Schutz, und damit Sie diesen ausüben können, ziehen Sie ungehärmt mit Ihren Leuten davon. Wie Sie mir meinen Degen gelassen, lasse ich Ihnen die Waffen. Aber ziehen Sie sofort ab.“

Der Capitain Lesaillier senkte vor dem Erzherzog die Spitze seines Säbels.

„Königliche Hoheit, das sind Bedingungen, die ich annehmen kann. Ich danke Ihnen dafür, Sie werden einen Verkünder Ihres Ruhms und Ihres Edelmuths mehr in der Welt haben.“ …

„Ich kämpfe nicht um den Ruhm, mein Capitain, sondern um die Freiheit des Reichs von hochmüthigen Feinden – das ist Alles, was uns je die Waffe in die Hand drücken wird gegen die, welche nichts hindert, unsere Freunde zu sein.“

Der Erzherzog entließ den Capitain mit einer stolzen Verbeugung des Hauptes, und dann sagte er zu Frau Marcelline: „Und nun, Madame, brechen Sie auf.“

Madame hatte ihre Farbe, ihren Muth wiedergefunden.

„Aber ich gehe nicht, ohne diese meine …“ sie stockte, „meine Gefangene,“ rief sie dann, „ohne sie!“

„Was hat das Mädchen verbrochen?“

„Soll ich das hier Eurer Hoheit berichten, diese lange erschütternde [515] Geschichte, während alle diese Zeugen umherstehen und während Sie mich zu raschem Aufbruch mahnen …“

„Nein, nein, Madame, Sie haben Recht, ich begehre Ihren Bericht nicht, ich verlange nicht, mich in Ihre Angelegenheiten zu machen, gehen Sie mit Gott, nehmen Sie das junge Mädchen mit sich, ich habe keine Veranlassung, es gegen Sie in Schutz zu nehmen, es hat entweder sehr verrätherisch oder sehr unbesonnen und leichtsinnig gehandelt, als es mich hierher führte, gehen Sie! Lieutenant Muga, führen Sie die Dame fort und befehlen Sie dann den Bauern draußen, die Schwadron Chasseurs fortziehen zu lassen, ohne sie anzugreifen! Bringen Sie mir sodann den Anführer der Bauern her.“

Der zweite Adjutant des Erzherzogs verbeugte sich vor der Dame. Frau Marcelline wandte sich zu Benedicte mit einem barschen, scharfen „Komm!“ und Benedicte erhob sich gefaßt. „In Gottes Namen,“ sagte sie leise, „Sie werden mich zu Niemand anders bringen können als zu meinem Vater, und er mag über mich richten!“

Die drei Frauen entfernten sich, von dem Lieutenant geleitet, aus dem Raum.

Wenige Minuten nachher waren sie draußen auf den Rücken der Pferde gehoben; der Trupp der Chasseurs setzte sich in Bewegung und verschwand unter dem Thorbogen von Haus Goschenwald.

„Sie waren sehr großmüthig, Hoheit!“ sagte jetzt der General Sztarrai.

„Ich denke, wir haben der Gefangenen genug, lieber Freund, und wo wären wir mit den Weibern geblieben? Es ist besser so; lassen Sie jetzt die Bataillone von Kinsky nach meinen ursprünglichen Befehlen vorgehen und ihren Marsch beschleunigen, der Abend kommt heran. Die Compagnie Kaiserjäger mag sich hier in diesem Hause und auf dem Hofe einrichten, ich will sie zu meiner Bedeckung bei mir behalten; auch die Stabswache soll hierherbeordert werden, ich werde die Nacht über hier mein Hauptquartier aufschlagen, veranlassen Sie das Nöthige, Sztarrai!“

Der General wandte sich den Adjutanten und Officieren, die vorhin in den Raum gedrungen, zu, um ihnen die Befehle des Erzherzogs zu übermitteln; mehrere von ihnen eilten davon und das sonst so stille Goschenwald wurde im Lauf des Abends und der Nacht von all’ dem Getreibe, dem Hin- und Hereilen von Officieren, Ordonnanzen und Fourieren, dem Aufstellen von Posten, dem Ankommen und Abreiten von Adjutanten erfüllt, das ein Hauptquartier charakterisirt. Der alleingebietende gestrenge Herr Schösser mußte erleben, wie er zu einem Nichts schwand, um das sich Niemand auch nur so viel kümmerte, als wenn er, statt eines fossilen Reichstruppen-Lieutenants, ein an der Decke aufgehängter, ausgestopfter Seehund oder Haifisch gewesen. Frau Afra sah ihre Kammern erschlossen, ihre Schränke aufgerissen, ihre Vorräthe weggenommen, ihre Betten und Leintücher umhergeschleppt, ihr Küchengeräth durcheinander geworfen, als ob der jüngste Tag angebrochen und der liebe Gott, der sonst einem rechtschaffenen und ordentlichen Weibe beisteht, schon zum letzten Gericht davongegangen!

Der Erzherzog hatte sich in der Ecke hinter dem großen Tische niedergelassen und ließ ein Portefeuille, das einer der Officiere gebracht, öffnen – er begann eben, die Blätter und Papiere, die es enthielt, meist nur mit Bleistift beschriebene Zettel, vor sich auszubreiten, um darnach Befehle zu dictiren, als plötzlich ein verwildert aussehender Mann in grüner Jägertracht, das Gesicht geschwärzt vom Pulverrauch, die wirren blonden Haare zurückgestrichen, die Kleider bestäubt und alle Zeichen der Erregung in seinem Wesen, vor ihm auftauchte – der Adjutant Bubna hatte ihn hergebracht und folgte ihm, um ihn mit den Worten vorzustellen:

„Der Revierförster Wilderich Buchrodt, der Anführer der Bauern, den Königliche Hoheit zu sprechen verlangten.“

„Ah – der brave Mann, der uns so sehr im richtigen Augenblick zu Hülfe kam!“ sagte der Erzherzog, ihn fixirend. „Ohne Sie und Ihre Leute wär’ es uns schlimmer ergangen, mein lieber Herr Revierförster – man war just im Begriff, uns als Gefangene abzuführen, als Ihre Kugeln in das Hofthor schlugen … ich wollte Ihnen das selbst sagen, wackrer Mann … ich bin Ihnen dankbar, und kann ich etwas für Sie thun, so sagen Sie es mir!“

„Königliche Hoheit, ich verdiene diesen Dank, der mich sonst so glücklich machen würde, nicht ganz.“

„Sie konnten freilich nicht ahnen, daß ich den Versuch machen würde, von der Straße, die über Gemünden und Lohr führt, aus auf die Rückzugslinie des Feindes zu operiren … und daß ich dabei in eine solche Lage gerathen sei …“

„In der That nicht,“ entgegnete Wilderich. „Ich wollte Haus Goschenwald schon früher besetzen, aber meine Leute ließen sich aus dem Kampfe da unten nicht fortbringen. Erst als ich erfuhr, daß sich Franzosen in dieses Thal geworfen, folgten sie mir, um Haus Goschenwald zu sichern.“

„Und der Zufall wollte, daß Sie Haus Goschenwald gerade in dem Augenblick zu Hülfe kamen, als sich der Reichsfeldmarschall darin in den Händen der Franzosen befand …“

„Der Zufall allerdings,“ fiel Wilderich ein; „denn meine Absicht war, Jemand anders aus den Händen der Franzosen zu erretten.“

„Jemand anders? Und wer wäre das?“

„Ein junges Mädchen, von dem ich zu meiner Verzweiflung eben höre, daß Eure Hoheit sie den Händen der Feinde überlassen und von einer wider sie aufgebrachten zornigen Frau haben fortführen lassen – Ihr Adjutant erzählte mir Alles – und, Königliche Hoheit, das setzte mich in Verzweiflung, denn ich kenne dieses Mädchen; ich bin in tiefster Seele überzeugt, daß sie des Schutzes, den sie hier mit der besten Empfehlung einer hochstehenden Frau zu suchen kam, so würdig wie bedürftig ist …“

„Sie kennen das Mädchen?“

„Ich kenne sie – ich habe nur wenige Male mit ihr zu sprechen das Glück gehabt, aber hinreichend, um die Hand dafür in’s Feuer strecken zu wollen, daß …“

„Ihr Herz,“ unterbrach ihn lächelnd der Erzherzog, „steht wenigstens schon im Feuer, in vollen Flammen, wie ich sehe – nun, ich will Ihnen glauben, obwohl …“

„Königliche Hoheit hegen den Verdacht wider sie, daß Sie geflissentlich von ihr getäuscht worden – aber das ist ja gar nicht möglich; hätte die Unglückliche geahnt, daß, während sie von diesem Hause entfernt war, Franzosen hier eingerückt seien und inmitten dieser Franzosen die Frau, welche ihre Todfeindin zu sein scheint, bei Gott, sie würde doch nicht so thöricht gewesen sein, hierher zurückzukehren, hierher Eure Königliche Hoheit zu geleiten!“

„Also Sie glauben, das junge Mädchen habe die Anwesenheit der Chasseurs nicht gewußt?“

„O gewiß, gewiß ist es so – ich selbst war vor wenig Stunden hier und gab der Demoiselle Benedicte die Versicherung, daß ich über Goschenwald wachen, für ihre Sicherheit einstehen wolle … und doch, o mein Gott, weshalb kam ich zu spät! Aber das Gefecht unten an der Verrammelung der Heerstraße war so scharf und hitzig, ich konnte meine Leute nicht aus dem Gefecht herausziehen, sie waren gar nicht fortzubringen – erst als wir uns vor den stärker nachdringenden Franzosen – das Gros der Division Lefebvre kam eben heran – zurückziehen mußten und wir erfuhren, daß sich eine Abtheilung in die Mühlenschlucht gezogen, erst da brachte ich meine Leute hierher, früh genug, um noch zu verhindern, daß Eure Königliche Hoheit nicht entführt wurde, aber nicht früh genug …“

„Was soll ich nun aber bei der Sache thun, mein lieber Mann?“ fiel ihm der Erzherzog in’s Wort – „was geschehen ist, ist geschehen – ich bedaure es um Ihretwegen, aber ich kann es nicht wieder gut machen – die Chasseurs sind fort, Ihre Demoiselle Benedicte mit ihnen – sie sind beritten und Ihre Bauern nicht …“

„Freilich, das ist eben meine Verzweiflung – sie haben einen Ausweg aus diesem Thal gesucht, der sie bald in’s Freie führt – verfolge ich sie mit meinen Bauern, so kann ich höchstens ihnen noch einige Leute tödten – sie anhalten nicht! Aber wenn Eure Königliche Hoheit Cavaliere …“

„Mein lieber Mann,“ unterbrach ihn der Erzherzog lächelnd, „solch’ ein Verliebter wäre im Stande, zur Rettung seiner Demoiselle die gesammte kaiserliche Armada in Marsch zu setzen – lassen Sie mir meine Cavalerie, wo ich sie gebrauche! …“

„Aber unterdeß …“

„Ich habe auch,“ fuhr der Erzherzog, ohne auf Wilderich’s Unterbrechung zu achten, fort, „ich habe auch diesen Chasseurs [516] mit sammt ihren Weibern einmal den ungehinderten Rückzug verstattet und zugesagt – das ist nicht mehr zu ändern …“

„Aber,“ fiel Wilderich in größter Erhitzung wieder ein, „Euer Hoheit Adjutant sagte mir, daß jene Frau das arme Mädchen als eine Verbrecherin mißhandelte, und Gott weiß, welches Schicksal dasselbe nun bedroht, wenn Niemand auf der Welt da ist, sich ihrer anzunehmen.“ …

„Hm,“ versetzte der Erzherzog nachsinnend und für sich – „die Frau ist die Gattin des zeitigen Schultheißen in Frankfurt … man könnte am Ende bei diesem intercediren.“ …

„Solch ein zorniges, rachsüchtiges Weib ist zu Allem fähig!“ rief Wilderich in seiner Verzweiflung aus.

Der Erzherzog warf einen Blick auf ihn – dann sagte er in heiterem Tone.

„Ich sehe schon, ich werde etwas thun müssen, um wegen dieser Demoiselle, dieser verfolgten Unschuld, bei einem Mann, dem ich Dank schuldig bin, nicht gar zu sehr als herzlos und alles Gefühles baar in Verachtung zu gerathen! Seien Sie ruhig, ich werde Ihre Dame unter meinen persönlichen Schutz stellen.“ …

Er nahm eines der vor ihm liegenden weißen Blätter und begann rasch zu schreiben. Die Worte lauteten:

 „Mein lieber Schultheiß!
Ich verfolge den Feind unablässig und werde, so Gott will, am Abend des 7. Septembers vor den Thoren von Frankfurt sein – ich rechne dabei auf Ihren Einfluß und Ihre Autorität über Ihre Mitbürger, daß diese nicht zögern, mir trotz der französischen Streitkräfte, welche alsdann noch dort sein könnten, sofort und ohne Zögern die Thore zu öffnen, nöthigenfalls die Oeffnung derselben erzwingen. Sagen Sie Ihren Mitbürgern, welche sich von dem gewaltthätigen Feind sollten einschüchtern lassen, daß die Herrschaft desselben zu Ende ist und meine siegreiche Armee sich sonst die Thore von Frankfurt mit jenen Maßregeln der Gewalt öffnen wird, die für die Bürgerschaft sehr verhängnißvoll werden können.

Ich vertraue, mein lieber Schultheiß, darin auf Ihre bewährte Anhänglichkeit und Hingebung für das Haus Oesterreich und das deutsche Vaterland!

Außer diesem wende ich mich an Sie mit einem persönlichen Begehren. Ihre Gemahlin hat unter Umständen, welche dieselbe Ihnen berichtet haben wird, unter französischer Escorte eine Demoiselle Benedicte mit sich fortgeführt, nachdem sie diese mit Beschuldigungen beladen, deren Bedeutung mir nicht bekannt geworden ist.

Ich habe Theil an dem Schicksal dieses Mädchens zu nehmen gewichtige Veranlassung bekommen, und würde es als eine besondere mir erwiesene Courtoisie und Rücksicht betrachten, wenn dieselbe mit Humanität behandelt und über sie nicht eher irgend ein Entschluß gefaßt würde, als bis ich nach wenigen Tagen persönlich meine Vermittlung in der Angelegenheit derselben eintreten lassen könnte. Ich vertraue darin auf Ihre Gesinnungen, mein lieber Schultheiß, und bin Ihr wohlgewogener Reichsfeldmarschall Karl Erzherzog.“ 

Der Erzherzog faltete und siegelte den Brief; während er die Adresse schrieb, sagte er:

„Ich hoffe, dies wird Sie beruhigen, lieber Mann. Die Frau, in deren Gewalt sich das Mädchen befindet, ist die Gattin des Schöffen und zeitigen Schultheißen Vollrath zu Frankfurt – ohne Theilnahme dieses Mannes wird ihr nichts geschehen und sie wird sicher sein von dem Augenblick an, wo dieser Brief in die Hände dieses Mannes gelangt. Sehen Sie also, daß Sie möglichst rasch und ungehindert nach Frankfurt und trotz der Franzosen hinein kommen und dem Herrn Vollrath diesen Brief übergeben. Haben Sie den Muth?“

„Den Muth, Hoheit?“

„Nun ja – die Reise wird nicht ohne Gefahr für Sie sein …“

„Ich weiß es. Wenn die Franzosen einen Brief Eurer Königlichen Hoheit bei mir fänden …“

„Würden sie Sie nicht viel besser als einen Spion behandeln.“

„Man wird ihn nicht finden – das sei meine Sache!“ .

„Wohl denn – so gehen Sie mit Gott; warten Sie noch, um sich einen Passirschein geben zu lassen, damit Sie durch die Vorposten unserer Armee gelassen werden, wenn Sie zurückkehren wollen.“

„Ich bitte darum!“

„Sztarrai, fertigen Sie ihn aus!“ sagte der Erzherzog.

Dann wandte er sich wieder seinen Depeschen zu. Sztarrai füllte ein kleines Formular, das er aus einer der von dem Adjutanten vor ihn gelegten Mappen nahm, aus und reichte es Wilderich. Dieser steckte es nebst dem Briefe des Erzherzogs zu sich und sagte:

„Ich danke Euer Hoheit aus voller Seele.“

„Schon gut, mein lieber Mann; suchen Sie mich wieder auf, um mir zu berichten, wie es Ihnen ergangen und wie der Dame und Ihre Angelegenheiten stehen.“

Wilderich verbeugte sich und ging eilig davon.




8.

Als er draußen wieder bei seinen bewaffneten Bauern war, berichtete er ihnen des Erzherzogs Dank, und wie sehr ihr Angriff auf die Chasseurs diesem im richtigen Augenblick zu Hülfe gekommen. Jetzt waren sie unnütz hier oben. So setzte sich der Trupp wieder in Bewegung und zog neben der österreichischen Infanterie-Colonne, die der Erzherzog in die Flanke des rückziehenden Feindes vorgehen ließ und die jetzt in voller eilig vorwärts dringender Bewegung war, über die Bergeinsattelung in die Mühlenschlucht hinein und weiter hinab gegen die Heerstraße.

„Was meinet Ihr Mannen,“ rief, als sie am Forsthause und der Mühle angekommen waren, einer der Leute, „wenn wir hier Schicht machten?“

„Zum Teufel ja,“ sagte ein Anderer, der Forstläufer Sepp, „ich hab’s satt hier neben diesen Oesterreichern sich herzuquetschen und den Gänsemarsch zu machen –“

„I freilich, die können ja das Geschäft jetzt da unten selber abmachen,“ rief ein hochstämmiger Bauer, der eine Flinte über dem Rücken und eine andre in der Hand trug, eine erbeutete französische Muskete – „ich hab’ aus meinen zwei Blasrohren heute sieben todt und fünf angeschossen – macht just ein Dutzend und das ist genug; den Dreizehnten, bei meiner armen Seele, müßt’ ich beichten!“

„Der Krippauer hat Recht!“ sagte ein kleiner untersetzter Kerl, dem der eine Aermel seines Wamses zerrissen an der Seite herabbaumelte, „wir machen Feierabend und brechen in des Gevatter Wölfle’s Mühle ein – die anderen, die nicht Raum mehr drin finden, können im Forsthaus Unterschlupf finden für die Nacht –“

„Wo ist der Wölfle … und wo ist der Commandant?“ wurde jetzt von allen Seiten gerufen.

„Hier ist der Commandant!“ antwortete die Stimme Wilderich’s aus den hinteren Reihen. „Macht Halt vor der Mühle!“

Bald war der ganze Trnpp vor der Mühle versammelt – Gevatter Wölfle ging als Quartiermacher hinein, während Wilderich die Verwundeten unter der Schaar vorrief – es waren ihrer vielleicht zwanzig, die Streifschüsse ober Schrammen erhalten und sich so gut wie’s ging mit Tüchern und Lappen verbunden hatten – einzelne, die im Laufe des Tages schwerer verwundet worden, hatten sich gleich fortbegeben, um ihre Wohnungen im Gebirge aufzusuchen – ein paar auch lagen todt und noch unbestattet in den Büschen, man überließ ihren Verwandten, sie zu suchen und zu holen.

„Mit den Verwundeten,“ rief Wilderich, „geht der Chirurgus in meine Wohnung, in’s Forsthaus drüben. Da ist mehr Raum für sie, und sie können sich da ordentlich verbinden lassen; wo die Anderen bleiben, da wird’s nicht angehen so gut in dem Lärm und Tumult, den diese machen werden. – Chirurgus!“

„Hier!“ rief ein wie ein Grobschmied aussehender Mann; er war in der That Schmied in einem der nächsten Dörfer, und weil er nebenbei Pferd und Rind curirte, in Ermangelung eines gelehrteren „Pflasterkastens“ zum Chirurgus der Truppe bestellt.

„Geht hinüber und laßt meine Margareth Euch Leinen und was Ihr bedürft, geben – sorgt dafür, daß sie nicht zu viel trinken – und nun zieht ab!“

Der Trupp der Verwundeten setzte sich, von dem Curschmied geführt, in Bewegung.

[529] „Und nun Du, Krippauer, und Deine Knechte und der mit dem Aermel da, Ihr seid die Proviantmeister,“ sagte Wilderich. „Geht und holt einen der Proviantwagen, welche die Franzosen haben stehen lassen müssen, weil wir ihnen die Pferde todtgeschossen haben; es stehen ihrer genug die Heerstraße entlang.“

„Es stehen ihrer genug da, das weiß ich,“ entgegnete der Krippauer, „aber wie bring’ ich einen herauf?“

„Hilf Dir selbst! Sieh, daß Du ein Paar herrenlose Pferde auffängst; oder nimm Dir Leute genug mit, daß Ihr den Wagen selber heraufziehen könnt –“

„Gut, ich geh’ ja schon!“ antwortete der Krippauer, „aber ich muß mehr Hülfe haben als den zerrissenen Schulmeister hier und meine zwei Knechte –“

„Freiwillige vor!“ rief es.

Ein Dutzend waren bereit, dem Krippauer zu helfen, und der Haufen eilte davon, weiter die Schlucht hinab.

Als sie abzogen, ließ sich unten, von der Heerstraße her ein plötzliches lebhaftes Kleingewehrfeuer hören – die Spitze der österreichischen Colonne mußte eben unten eingetroffen sein und in den marschirenden Haufen der Feinde ihre Salven schleudern.

„Jetzt wird’s da unten ein gutes Durcheinander geben!“ rief der Forstläufer Sepp, „wenn der Krippauer sich nur aus dem Gemeng herausholt, was wir brauchen! – wär’ schlimm, wenn bei der Affaire nicht so viel Arbeitslohn herauskäm’.“

Unter diesen Ausrufungen hatte die Schaar – es mochten etwa noch hundertundfünfzig Köpfe sein – sich in die Mühle gedrängt und in alle Räume des kleinen Gebäudes ergossen … das heißt, so viel von ihnen hineingingen, denn ein großer Theil mußte draußen bleiben, weil der Platz drinnen nicht reichte. Gevatter Wölfle schleppte eilig mit den Seinen Stroh und Heubündel auf den freien Raum vor seiner Mühle, damit die Männer sich drauf lagern konnten; diese waren thätig, seinen Holzschuppen zu plündern und Reisig und Scheitholz herbeizuschleppen, um vor der Mühle ein großes Wachtfeuer anzuzünden; nach kurzer Zeit flammte es in heller Gluth in die Höhe und die Bauern lagerten sich in malerischen Gruppen umher.

In malerischen Gruppen – es konnte nichts in der That frappantere Bilder bieten, als dies kleine Bivouac bewaffneter Bauern, die von einer heißen und blutigen Tagesarbeit ausruhten, in wunderlich bunten Kleidungsstücken, mit staub- und rauchgeschwärzten Gesichtern, mit den verschiedensten und seltsamsten Waffen neben sich, müde, hungrig, durstig und doch in der tollsten Laune, in der ganzen Erregung eines triumphreichen Tages, wie sie einen ähnlichen in ihrem Leben nicht gesehen, inmitten eines großen geschichtlichen Ereignisses, wie sie nie inmitten eines ähnlichen selbsttheilnehmend und werkthätig helfend gestanden.

Es war nach und nach dunkel geworden. Die Flammen fingen an greller und glühender die altergeschwärzte Mühle, die Bergwände und die Gruppen der Männer umher zu beleuchten und jenes eigenthümlich intensive Grün der Baumwipfel hervortreten zu lassen, das der Baum an den Stellen, wo er hell beleuchtet ist, dem rothgoldenen Glanz nächtlichen Lichtscheins entgegenhält.

Von drunten her tönten noch immer Flintenschüsse, aber sie wurden seltener und seltener, die Nacht schien auch dort unten Ruhe zu gebieten; die Oesterreicher sandten einen Haufen Fouragiere herauf, von denen die Bauern erfuhren, daß sie weiter unten in der Schlucht bivouakiren wollten … die Fouragiere sollten Heu und Stroh zum Lager herbeischaffen einige von ihnen nach den ihnen nachkommenden Proviant- und Gepäckwagen ausschauen – sie mußten weiter ziehen, die Mühle und das Forsthaus hatten keine Hülfe für sie; nur Gevatter Wölfle’s Holzschuppen spendete ihnen eine Beisteuer an getrocknetem Holz für ihre Beiwachtfeuer.

„Wo der Krippauer bleibt?“ rief der mit dem umgewendeten Rock, nachdem ein Theil der Oesterreicher aufwärts weiter und ein anderer mit Scheiten und Reisigbündeln beladen abwärts gezogen war; „ich fürchte, geräth der mit seinem erbeuteten Proviantwagen unter diese Cameraden drunten, so werden sie uns nicht viel drin lassen!“

„Weshalb nicht gar,“ antwortete der Krepsacher, „’s sind ehrliche Ober-Oesterreicher, gute Bursche, deutsches Blut, keine Welsche und Kroaten – solche, weißt Du, von denen dem Sepp seine Geschichte geht …“

„Dem Sepp seine Geschichte? Und wie lautet Deine Geschichte, Sepp? Her damit!“ sagte der Umgewendete.

„Kannst sie haben, Jochem, sie ist kurz genug,“ versetzte Sepp. „Es waren ihrer drei von diesen Völkern im Quartier bei einem Bauer; der hat ein silbernes Crucifixbild über dem Bett hangen. Sagt am anderen Morgen der Eine heimlich zum Andern: ‚Host Du g’sehen – Herrgott, silbernes, in der Kammer?‘ [530] – Sagt der Andere: ‚Hob i schon!‘ – Sagt der Dritte ‚Host Du g’hobt!‘“

Ein lautes Gelächter folgte, das in einen allgemeinen Hurrahruf überging, als jetzt der Krippauer mit seinen Leuten, die sich mit Stricken vor einen französischen Fourgonwagen gespannt hatten, auftauchte. Alle eilten ihm entgegen, um Hand anzulegen und den Wagen bis zu dem Wachtfeuer vor der Mühle heraufzubefördern.

„Teufel, der ist gut beladen,“ rief der Krepsacher.

„Ich mein’s,“ sagte der Krippauer, der jetzt mit den Seinen verschnaufend nebenher ging und sich die Stirn wischte, „ob er schwer ist! … Wir haben auch einen guten ausgesucht – könnt’s uns danken!“

„Ist Gepäck drin?“ fragte der Umgewendete.

„Es ist Alles drin,“ versetzte der Krippauer; „es muß solch ein Generalsküchenwagen sein, und es schaut aus drin wie in der Vorrathskammer des Abts von Neustadt; das Herz soll Euch aufgehen, Ihr Männer, wenn Ihr dreinschaut … hat dies Franzosenpack was Ehrliches zusammengeraubt!“

Und das Herz ging den Männern auf, als sie den Fourgon öffneten und seinen Inhalt plünderten. Brod und Würste, Gebackenes, kaltes Geflügel, Pasteten, Kuchen, Flaschenkörbe mit Bocksbeuteln, genug wurde aus dem Innern herausgelangt, um die ganze Mannschaft satt und – trunken zu machen. Dazu silbernes Geräth und Teller und Trinkgeschirr – das letztere diente zuerst, überströmt von dem Inhalt des goldenen Main- und Steinweins, der aus den Bocksbeuteln floß.

„Hurrah, es lebe das heilige römische Reich!“ rief der Knirps, der Krepsacher, aus, nachdem er ein Krystallglas halb geleert, „das ist Gewächs von der Harfe, denk’ ich, hab’s nie besser bekommen – so laß ich mir die Franzosenjagd gefallen!“

„Klagst jetzt nicht mehr, daß man den Kerlen nicht die Haut abziehen und sie nicht als Hasen schmoren kann?“ lachte der mit dem zerrissenen Aermel, der Schulmeister.

„Nein – so kann’s fortgehen – morgen und alle Tage,“ versetzte der Knirps, den Rest hinunterschluckend. „Ich denk’, wir machen so weiter! Was haben wir auch die Soldaten, die Oesterreicher, nöthig? Wenn Jedermann von uns Bauern wäre wie ich, und drei Gulden sich’s kosten ließe für Schießpulver – Jedermann von den Förstern und Bauern im ganzen römischen Reich, wir schlügen die Franzosen allein zum Land hinaus und nachher, dann gingen wir über den Rhein und in ihr Land hinein und machten’s dort, wie sie bei uns. Steinwein wie diesen da haben sie freilich nicht – aber was sie haben, wird auch nicht schlecht sein, und es ließ sich probiren!“

„Armer Tropf!“ sagte der Schulmeister, „meinst Du, die großen Herren ließen Dich ruhig Dein Pulver verknallen und auf Deine Faust nach Frankreich marschiren, damit, wenn Du heimkämst, Du nachher das große Maul führtest? Jetzt, weißt, haben sie uns losgelassen, weil sie uns brauchen können, wie die Hunde, wenn die Räuber auf den Hof kommen. Später werden sie Dich schon wieder an die Kette legen!“

„Ah bah, wenn wir Alle zusammen hielten – könnten wir nicht damit anfangen, daß wir die großen Herren erst einmal an die Kette legten?“

„Weshalb nicht gar,“ fuhr der Krippauer dazwischen, „wer sollt’ sie dann füttern? Die Sorte frißt zu viel!“

„Nun, so sähen wir’s den Franzosen ab, wie sie sich drüben ihre großen Herren vom Halse schaffen; die haben’s doch gekonnt!“ antwortete der Krepsacher, sich das Maul mit einem Biß in ein kaltes Feldhuhn stopfend.

Wilderich trat in diesem Augenblick in den Kreis und unterbrach diese Reden, die bewiesen, daß der gestrenge Schösser nicht so ganz Unrecht hatte, wenn er behauptete, das Volk im Lande sei von den Republikanern mit Gedanken angesteckt, die in den Zeiten seiner siegreichen Ausmärsche wider den Reichsfeind noch nicht erfunden waren.

Wilderich war in seiner Wohnung drüben gewesen, für die Unterkunft der Verwundeten zu sorgen, nach Margarethe und dem Kinde zu sehen, die gegen Abend aus einem Fluchtversteck im Walde zurückgekommen waren, und seine Vorbereitungen für seine Reise zu treffen.

„Wo bleibt Ihr, Commandant?“ riefen ihm die Bauern entgegen, „eßt und trinkt!“

„Ich habe in meinem Hause gegessen und getrunken,“ versetzte er und zog den Krippauer am Wamms zur Seite.

„Krippauer,“ sagte er dabei, „hört, ich muß Euch verlassen.“

„Verlassen – Ihr – uns – jetzt? Zum Teufel, das wäre nicht recht, Commandant!“

„Und doch muß ich. Ich muß nach Frankfurt. Fragt mich nicht weshalb!“

„Das möcht’ ich doch wissen …“

„Wohl denn, weil der Erzherzog mir einen Brief dahin gegeben.“

„Der Erzherzog? Nun, wenn das ist – aber wie wollt Ihr nach Frankfurt kommen – durch das Franzosengewühl auf allen Straßen, die dahin führen?“

„Ich denk’, ich werd’s möglich machen – ich muß eben! Unterdeß führt Ihr die Leute, wollt Ihr, Krippauer?“

„Ob ich will … fragt lieber, ob ich kann? Sie werden nicht auf mich hören!“

„Sie sollen auf Euch hören, ich werd’s schon machen.“

„Da bin ich begierig, wie Ihr’s machen wollt, daß die Respect vor dem Krippauer bekommen!“

„Hört nur – tretet neben mich an’s Feuer.“

Wilderich trat mit dem Krippauer in die Runde der Gelagerten und rief: „Ihr, Ihr Leute hier, seid ruhig … hört mich an!“

„Still, der Commandant will reden, er wird uns sagen, ob wir sie an die Kette legen oder abthun sollen, wie die Franzosen,“ schrie der Krepsacher.

„Ich muß,“ hob Wilderich an, „ich muß Euch verlassen, brave Freunde! Ihr seid mir gefolgt, habt mir gehorcht und gute Manneszucht gehalten. Dafür dank’ ich Euch. Jetzt muß ich Euch verlassen, weil ich von dem Erzherzog und Reichsfeldmarschall einen Brief bekommen habe, den ich nach Frankfurt bringen muß!“

„Ach, redet nicht so,“ fiel der Schulmeister ein. „Ihr dürft von der Compagnie nicht desertiren, Hauptmann!“

„Ich desertire auch nicht, ich nehme nur Urlaub; und unterdeß laß ich Euch einen Lieutenant, dazu hab’ ich den Krippauer erwählt, denn der ist ein wackrer Mann, stark wie Zehn und ist in seiner Jugend auch eine Weile Soldat gewesen bei den Hohelohe’schen! Wollt Ihr ihm folgen wie mir?“

Die Bauern schwiegen theils verdutzt, theils mißvergnügt, bis Wilderich fortfuhr. „Na, meint Einer, er ist nicht der Stärkste, so komm’ er vor und schlage sich mit dem Krippauer … wenn ihn Einer niederringt, so soll der mein Lieutenant werden! Hat aber Keiner jetzt den Muth dazu, so gehorcht ihm nachher auch! – Nun, hat Keiner Lust? Wie ist’s mit dem Krepsacher? Schaust ja so tückisch drein! Kremp’ doch Deine Hemdärmel auf!“

Die Anderen lachten und: „Es lebe der neue Obercommandant, es lebe der Krieg, es leben die Franzosen und ihre Küchenwagen!“ schrie es bald durcheinander.

„Siehst’s nun, Du Knirps von Krepsacher,“ raunte der Schulmeister diesem zu, „daß es gute Wege hat mit dem an die Kette legen? Eben wollten sie noch alle großen Herren köpfen und jetzt lassen sie sich einen auf die Nase setzen, um den sie sich nicht den Teufel zu scheeren brauchten, und sie kuschen Alle zusammen und schreien gehorsam: Es lebe der Krippauer! Weshalb nicht: Es leben alle Esel?“

„Na, laß sie doch – wenn sie das schrieen, müßt’st Du ja eine Dankrede halten, Schulmeisterlein, krummbeiniges,“ sagte der Krepsacher verdrießlich.

Wilderich hatte sich unterdeß entfernen wollen, aber der Krippauer hielt ihn.

„Wär’ besser,“ sagte er, „Ihr würft erst einen Blick in den Fourgon da und sähet, was Alles noch d’rin ist … es sind Koffer, Papiere, kleine Kisten d’rin – muß ein vornehmer Officier gewesen sein, dem der Wagen gehört hat, und Ihr thätet gut, zu sehen, ob darunter nichts ist, was von Wichtigkeit und was an’s Hauptquartier abgeliefert werden muß.“

„Könnt Ihr nicht selber nachsehen – ich habe Eile, fortzukommen!“

Der Krippauer schüttelte den Kopf. „Es wird’s halt nicht thun, Revierförster; was mich angeht, so ist der Teufel sicher, daß ich ihm meine Seele nicht verschreib’ … oder er müßt’ mit drei Kreuzen vorlieb nehmen.“

[531] Wilderich ging zum Wagen, stieg behende hinein und ließ sich aus der Mühle, da es zu dunkel geworden, um noch genau sehen und lesen zu können, eine Laterne bringen, die er im Innern des Wagens auf den Boden desselben stellte.

„Schulmeister,“ rief er dann von seiner Höhe herunter, „ich nehme an, Ihr könnt lesen …“

„Nicht allzu gut!“ antwortete lachend der Krepsacher statt des Schulmeisters, „mit dem Lesen stockt’s ein wenig bei ihm und mit dem Schreiben hapert’s, nur das Kopfrechnen, wie viel Würst’ es ausmacht, wenn zu Martini von fünfzig Kindern jed’s zwei bringt, das versteht er, gelt, Schulmeister?“

„Du hast ein Schandmaul, Krepsacher,“ fiel der Schulmeister ein, „ich lese gedruckte Bücher so gut wie der Herr Cooperator und auch Geschriebenes, zeigt nur her, Revierförster.“

Der Schulmeister schwang sich in den Fourgon und begann in den Schriftbündeln und Mappen zu stöbern, die neben Koffern und anderen Effecten eines Officiers in dem Wagen lagen.

„Das ist ja Alles französisch!“ sagte er nach einer Weile. „Hol’s der Henker – für das Häuflein Würst und alle zwei Jahr zu Sanct-Michelstag einen neuen Rock von der Gemeinde, werd’ ich am End’ auch noch Spanisch reden sollen, das mag die Gemeinde sich anderswo bestellen!“

Der Schulmeister warf die Papiere bei Seite und machte sich mit einer verschlossenen Schatulle zu thun.

Au citoyen Duvignot, Général de Brigade,“ las Wilderich unterdeß und fand den Namen wiederholt auf einem großen Theile der Blätter, die ihm unter die Hände kamen … der Wagen mußte der Gepäckwagen eines Brigadegenerals Duvignot sein. Wilderich rief dem Krippauer zu, er solle einem der österreichischen Officiere melden, daß man allerlei Rapporte und andere Dienstpapiere eines Generals erbeutet und es den Oesterreichern überlasse, ob sie sich darum kümmern wollten oder nicht, als ein heftiger Krach ihn sich wenden und auf den Schulmeister blicken ließ.

Dieser stand hinter ihm, die geöffnete Schatulle im Arm, er hatte mit seinem starken Taschenmesser den Deckel aufgesprengt. Obenauf in der Cassette lag ein Bündel Papiere in gelbem Umschlage und mit einem grünseidenen Bande umwunden; darunter lagen einige Geldrollen, ein Medaillon mit dem Miniaturportrait einer Frau, Ringe, ein paar goldene Taschenuhren, eine Tabatière, ein paar alte Notizbücher und einige Briefe; es schien die kleine Schatzkammer des Generals Duvignot zu sein.

„Halt, Schulmeister,“ rief Wilderich nach einer flüchtigen Durchmusterung. „Das ist etwas, was ich brauchen kann!“

„Glaub’s, daß Ihr’s brauchen könnt’, Revierförster … aber wir andern können’s auch brauchen … ich denk’, wir theilen ehrlich.“

„Wir sind keine Räuberbande, Schulmeister,“ sagte Wilderich, die Cassette unter den Arm nehmend … „ich brauch’s, um es diesem General Duvignot wieder zustellen zu können.“

„Dem General? Kennt Ihr ihn denn?“

„Nein – nicht mehr als jeden andern.“

„Nun also!“

„Hör’, ich muß in Frankfurt hinein – weiß der Himmel, wie ich’s anfange, durchzukommen. Da soll mir dies Ding da dienen – ich werde sagen, ich woll’s dem General wieder zustellen – es wird mir als Paß dienen. Darum nehm’ ich’s – behüt Dich Gott, und die Uebrigen – ich muß fort!“

Er sprang behende vom Wagen herunter, schritt mit dem Kistchen davon in die Dunkelheit hinein, und war bald den Augen des ihm betroffen nachblickenden Schulmeisters verschwunden.

So lange die Vorräthe in dem Generalfourgon vorhielten, blieb es laut und lebendig im einsamen Bauern-Bivouac. Als sie aber erschöpft waren, machte sich auch die Erschöpfung bei den Männern geltend. Sie begannen an ihre Nachtruhe zu denken; die, welche aus der Mühle gekommen, um ihr Recht auf einen Beute-Antheil wahrzunehmen, zogen sich allgemach dahin zurück, andere suchten Dach und Fach unter dem Holzschuppen und der Rest lagerte sich um’s Feuer.

„Sorgt dafür, daß das Feuer hübsch im Flackern bleibt, die Nacht ist kalt!“ sagte der Krippauer; „Du Schulmeister und der Krepsacher, Ihr sollt’s schüren!“

„Danke!“ erwiderte der Schulmeister verdrießlich … „ich hab’ Schlaf nöthig so gut wie die Andern!“

„Na, dank’ doch dem Herrn Obercommandanten, daß er uns nicht anbefiehlt, der sämmtlichen Mannschaft für morgen die Schuh’ zu putzen!“ lachte der Krepsacher, „dafür sind wir ihnen just gut; Du, der Schulmeister, und der Krepsacher, dem der Hof vergantet ist, die sind die letzten in der Gemeinde!“

„Gott weiß es,“ versetzte der Schulmeister, „das kommt dabei heraus, daß man ein Studirter und Gelehrter ist, nachher kann man der Gemeind’ die Schuhe putzen!“

Der Krepsacher stützte sein Kinn auf den Arm und blickte lange sinnend in das Feuer. Nach einer Pause und während die Andern einschliefen, sagte er:

„Du, Schulmeister!“

„Was hast?“ fragte dieser, aus dem Einnicken auffahrend.

„Was meinst, wenn wir ihnen das Fener so groß schürten, daß der Wind die Funken auf des Müllers Schindeldach jüg? Der Wind bläst grad’ aus der richtigen Ecke!“

„Bist von Sinnen?“

„Ich denk’, der Krippauer hätte dann warm genug für die Nacht,“ antwortete der Krepsacher lachend. „Es sind mehr alte Hütten abgebrannt in diesen Tagen im Spessart! Eine mehr oder weniger, was schadet’s? Geh’, hol’ Scheite und Reisig!“

„Bist ein Boshafter, Du!“ sagte der Schulmeister, einen ängstlichen Blick von der Seite auf den Krepsacher werfend. – „Aber wer kommt denn dort?“

An der andern Seite der Schlucht, jenseits des Bachs rauschte es im Gestrüpp; Gerölle kollerte nieder; es mußte Jemand da durch die Sträuche brechen.

Die beiden allein noch wachenden Männer blickten gespannt in die Dunkelheit … nach einer Weile wurde eine wie hüpfend sich bewegende Gestalt sichtbar, die zum Bache niederkam, ihn leicht übersprang und über den Wiesenstreif diesseits zum Feuer herankam.

„Das ist Einer … der hinkt; man sollt’ sagen, der mit dem Klauenfuß wär’s,“ sagte der Krepsacher.

„Mag schon sein – denn los ist er im Spessart seit gestern und heute!“

Der mit dem Klauenfuß war aber der hinkende nächtliche Waldgänger doch nicht; es war ein starker untersetzter Mann mit einem dreieckigen Hut auf dem – man sah’s, als er in den Bereich des Lichtscheins der Flammen kam – sehr vollen und pockennarbigen Gesichte, aus dem ein Paar kleine Augen verschmitzt hervorblitzten.

„Wer bist … woher kommst?“ fragte ihn der Krepsacher, als er vor ihnen stand.

„Wie heißt, wohin willst, was ist die Parole?“ antwortete der Fremde kaustisch. „Ich seh’, Ihr haltet Mannszucht und laßt Niemand durch! Mir kann’s recht sein, wenn Ihr mich anhaltet, ich will auch nicht weiter durch, und bleib’ schon bei Euch!“

Er legte sich ohne Weiteres zwischen die Beiden und warf seinen Hut neben sich auf den Boden.

„Wie das schnarcht und schläft!“ sagte er auf die umherliegenden Gruppen blickend. „Ich kann’s nicht; mich läßt’s nicht ruhn! Ich hab’s im Geblüt. Das Geblüt läßt mich nicht schlafen. Leg’ ich den Kopf auf den Arm, so saust’s, als ob mir das Mühlrad da durch die Schläf’ ginge. Ist’s Euch auch so, Euch, daß Ihr wacht?“

Der Schulmeister und der Krepsacher sahen schweigend den seltsamen Passagier an, endlich sagte der Schulmeister:

„Hast nicht mitgethan? Du bist ja ohne Gewehr?“

„Gewehr? Wozu soll ich’s schleppen? Ich denk’, Ihr Spessarter verknallt Pulver genug, meines kann ich sparen. Beim Haufen vom Weißkopf, dem Waldmeister, herwärts Bischbrunn bin ich gewesen. Da ist Pulver genug verknallt. Und nachher, weil ich nicht schlafen konnt’, bin ich weiter gangen, abseits von der Straße, an den Bergseiten her und über die Leithen. Dacht’ mir’s schon, daß ich da ihrer etzliche finden könnt’, arme verwundete Teufel, halbtodte Marodeurs, die sich da in die Sträucher verkrochen; ich wollt’ ihnen helfen …“

„Du wolltest ihnen helfen?“ rief der Krepsacher aus … „helfen, den Franzosen? Bist kein guter Deutscher?“

„Ein Oberpfälzer bin ich … was schiert mich Deutschland? Meine Ochsen haben’s verbrannt, und die Stallmagd, das Urschel, ist auch hin. Ich geh’ wegen meiner Sach’, und nicht wegen Deutschland! Mir recht, wenn’s Euch so viel’ Schüss’ Pulver werth ist!“

[532] „Was willst denn hier bei uns?“ fragte der Krepsacher.

„Was ich will? Ihre siebzig will ich … und noch einen dazu, damit ich nachher nicht denk’, ich könnt’ mich verzählt haben. Brauch’ kein Gewehr dazu … das thut’s auch!“

Der Mann hob an der Seite seinen grünen Kittel in die Höhe, und zog aus der Tasche seines ledernen Beinkleids den schwarzen Griff eines Messers hervor.

Der Krepsacher sah den neuen Cameraden verwundert an. Dem Schulmeister, schien es, war der Mann unheimlich geworden – er rückte mit scheuem Blick von dem Fremden weiter ab.




9.

Es war am folgenden Nachmittage, als ein französischer Chasseur auf einem hohen, starken, aber sehr abgetriebenen Pferde auf der von Hanau nach Frankfurt führenden Straße sich der letzteren Stadt näherte. Statt des Mantelsacks war hinter seinem Sattel mit einem Strick eine kleine Cassette von polirtem Holz festgebunden, unter der ein schaumiger Streif von Schweiß über die Flanken seines keuchenden Pferdes niederfloß. Er selbst sah bestäubt und in der von einem langen Feldzuge mitgenommenen Uniform marode genug aus, ohne dadurch in der Hast nachzulassen, womit er sich neben den die Straße bedeckenden und aufgelöst durcheinander marschirenden Truppen, Artilleriezügen, Munitions- und Proviant-Colonnen seinen Weg bahnte. Oft, wenn er die sich müde fortschleppenden Infanteristen in den Graben drängte, oder der Kopf seines Pferdes die Schulter eines Officiers streifte, oder sein Stiefel in die Seite eines alten Troupiers stieß, wurde er angefahren, wurden ihm Haltrufe zugedonnert, oder wurde eine Salve von Flüchen ihm nachgesandt. Er ließ sich dadurch nicht beirren und hastete weiter, so rasch es die steifgewordenen Knochen seines müden, gestachelten Gauls vermochten.

Und so kam er vorwärts – es war vier Uhr, als er zwischen zwei Bataillonen leichter Infanterie, welche kaum mehr die Hälfte ihrer Mannschaft hatten, mit Mühe sich durch das Allerheiligen-Thor der alten Reichsstadt durchdrängte.

Die Stadt war gefüllt von Truppentheilen der geschlagenen Sambre- und Maas-Armee; alle Häuser waren voll Einquartierung; auf den Straßen drängten sich die neu einmarschirten Heersäulen und Abtheilungen mit solchen durcheinander, die am Morgen Befehl bekommen, den Flüchtigen Raum zu machen und weiter zu marschiren und die nun fluchend und erbittert sich ihren Officieren widersetzten, schrieen und tobten; mit anderen, die sich bereiteten, auf freien Plätzen, auf der Zeil und dem Roßmarkte zu campiren, und die hier Stroh zusammenschleppten, Feuer anzündeten, requirirte Nahrungsmittel zusammenschleppten. Alle Straßen standen voll abgespannter Fuhrwerke und Geschütze – Officiere schrieen Befehle, Adjutanten sprengten mit eiligen Aufträgen daher, auf den Trottoirs lagen Reihen von Maroden, die nicht mehr die Kraft gehabt, sich aufrecht zu erhalten und sich ihr Quartier zu suchen. Dazwischen wurden Wagen mit Verwundeten in die improvisirten Spitäler gefahren, todte Pferde auf Schleifen weggeschafft – es war ein wildes und wüstes Durcheinander, dies Pandämonium, wie es nur eine geschlagene Armee darstellen kann.

Wilderich, den wir in der Chasseuruniform erkannt haben, sah betroffen und ein wenig ängstlich in dies Gewirre, vor dem der souveräne Bürger, der reichsunmittelbare Frankfurter sich scheu und angstvoll in’s Innerste seiner Häuser zurückgezogen hatte; dieser hatte noch zu gut im Gedächtniß, was der frühere Einmarsch der Franzosen auf sich gehabt hatte – im vorigen Juli, als Kleber mit drei Divisionen genaht war, seine Bomben in die Stadt geschleudert und, nachdem hundertundzweiundvierzig Häuser in Asche gelegt waren (am 16. Juli), seinen Einzug gehalten hatte – der riesige Kleber, dessen Kopf wie eine Standarte seine Bataillone überragte.

Wilderich wußte nicht wohin, wo für sich und sein Pferd ein Unterkommen finden. Endlich beschloß er, sich wenigstens des Letzteren auf jeden Fall zu entledigen – er ritt durch ein offenes Mauerthor, welches er wahrnahm, in einen Hof hinein, in dem ein paar Pulverwagen in Sicherheit gebracht waren und ein Artillerist als Schildwache auf- und abschritt.

„Habt Ihr nicht Raum für ein Pferd in dem Stall drüben?“ fragte er den Mann mit dem geläufigen Französisch, das er sich in seiner Heimath angeeignet.

„Seht zu,“ versetzte dieser, „fragt nicht erst lange!“

Wilderich sprang aus dem Sattel und führte sein Pferd in die Stallung. Alle Plätze waren besetzt – auf einer hohen Streu vor den Pferden lag ein Dutzend schnarchender Artilleristen.

„Wohin wollt Ihr?“ rief ihm eine deutsche Stimme zu – es war ein Mensch in einem Wamms und mit einer blauen Schürze, der aus der Ecke des Hofes heran kam.

„Ich will in einen Stall für mein Pferd und in irgend eine Kammer, ein Gelaß zum Verschnaufen für mich – da ist ein Kronthaler für Euch, wenn Ihr mir dazu verhelft!“

Der Mann besah das Geldstück und sagte dann im reinsten Sachsenhäuser Dialect:

„Nun, Ihr sprecht ja ein ehrliches Deutsch, von dem welschen Schweinsgesindel, den Hundsföttern, bekommt man sonst so was nicht zu besehen – wie kommt Ihr denn drunter?“

„Wie so Mancher!“ versetzte Wilderich. „Wollt Ihr mir helfen?“

„Meine eigene Kammer kann ich Euch überlassen – im Giebel dort über dem Stalle; das Pferd bindet draußen an die Mauer an – ich will hernach sehen, wo ich’s lasse!“

Wilderich folgte seinem Rath und ließ sich alsdann von ihm zurück in das Stallgebäude, über eine schmale Holztreppe auf den Boden und von da in eine durch einen Breterverschlag vom übrigen Raume abgeschiedene Kammer geleiten.

„Ihr seid der Hausknecht?“ fragte er hier.

„Hausknecht im grauen Falken.“

„Ein Wirthshaus also?“

„Fragt Ihr danach? Das Schild über der Thür ist doch groß genug! Ein gutes Wirthshaus für Mann und Gaul, wenn nicht just wie heute der Teufel los ist, und Alles drunter und drüber geht!“

„Gut denn, so darf ich hoffen, Ihr verschafft mir ein wenig zu essen und zu trinken hierher; ich verschmachte und verhungere beinahe!“

„Ihr – Einer von den Franzosen – nun freilich, unterwegs im Spessart drüben sollt Ihr wohl nicht viel Verdauliches zu schlucken bekommen haben – ich will sehen, was ich noch finde.“

Der Hausknecht ging und Wilderich streckte sich in dem alten Stuhl vor dem schmutzigen Tisch unter dem einzigen kleinen Fenster aus. Er knöpfte seine Uniform auf und legte den Kopf auf die Stuhllehne zurück, um eine Weile die Augen zu schließen und sich dem vollen Gefühl seiner Ermüdung hinzugeben. Trotz der Aufregung und Spannung, in der er sich befand, würde ihn der Schlaf befangen haben, so sehr er dagegen kämpfte, wenn nicht der Hausknecht zurückgekommen wäre mit einem kleinen Korbe, worin er Bier, Brod und ein wenig kaltes Fleisch trug.

„Das ist Alles, was die Frau Wirthin hergeben will,“ sagte er mürrisch, „es giebt schmale Bissen heut in Frankfurt – auch müßt Ihr einen Gulden zahlen für den Bettel!“

„Es ist genug für mich!“ antwortete Wilderich, indem er dem Knecht das Verlangte gab. – „Könnt Ihr mir beschreiben, wo der Schöffe Vollrath wohnt?“

„Der Schöff Vollrath – der Herr Schultheiß wollt Ihr sagen – der wohnt auf der Zeil, der Katharinenkirche gegenüber, dicht an der Eschenheimer Gasse.“

„Ich danke Euch. Und noch Eins: habt Ihr von einem General Duvignot gehört? … Ihr wißt wohl nicht, ob er unter den französischen Anführern in der Stadt ist?“

Der Mann maß ihn mit mißtrauischen Augen.

„Nun, mir kann’s Eins sein!“ sagte er dann.

„Was kann Euch Eins sein?“

„Wie Ihr in den grünen Rock da hineingekommen seid!“

„Wie ich da hineingekommen bin?“ antwortete Wilderich. „Nun, Ihr mögt’s wissen, was soll ich Euch ein Geheimniß daraus machen, daß ich das Zeug nicht alle Tage trage! Ich hatte in Frankfurt zu thun, und um nicht auf dem Wege aufgehalten zu werden, habe ich meinen Rock ausgezogen, den Rock eines Revierförsters im Spessart, und habe einem erschossenen Chasseur seine Uniform genommen und mir sein Pferd eingefangen – damit kam ich am besten weiter! Ein guter Deutscher wie Ihr wird mich nicht verrathen.“

[545] „Nein, ich werd’ Euch nicht verrathen,“ antwortete der Sachsenhäuser. „Wenn Ihr aber ein Spion von den Oesterreichern seid und das die Ursache ist, weshalb Ihr in Frankfurt zu thun habt, so möcht’ ich lieber, Ihr zögt ab aus meiner Kammer, es könnte auch mir an den Kragen gehn, falls sie Euch packten …“

„Beruhigt Euch,“ erwiderte Wilderich, „ich bin kein Spion …“

„Der Duvignot, nach dem Ihr fragt, versteht keinen Spaß; das ist ein grausamer Hund, ein Bluthund von einem Kerl, und just deshalb hierher gesandt, um noch ein wenig in der Stadt zu wüthen und Schrecken einzujagen, damit sie sich ein paar Tage länger halten können; denn fort müssen sie doch einmal, sobald nur die Oesterreicher kommen! Wir haben schon unsre Nachrichten und wissen, wie’s steht … es braucht ja Einer auch nur die Augen aufzuthun und zu sehn, wie sie ausschaun. Aber just weil sie auf der Retirade sind, desto tückischer sind sie …“

„Und was ist denn dieser Duvignot?“

„Was sollt’ er sein, als Einer von ihren Generalen, diesen Morgen hier angekommen, vom Jourdan hergeschickt, um sofort das Commando in Frankfurt zu übernehmen und den Belagerungszustand aufrecht zu erhalten, der richtige Holofernes dazu!“

„Duvignot ist der Commandant von Frankfurt?“ rief Wilderich aus. „Nun, mag er’s sein, oder vielmehr, desto besser! Gebt mir doch einmal das Kistchen dort her!“

Der Hausknecht rückte die Schatulle, die Wilderich mitgebracht, neben diesen. Der letztere, während er aß und trank, öffnete sie zugleich und begann jetzt noch einmal den Inhalt zu durchmustern. Der Hausknecht ließ ihn dabei allein.

Wilderich knüpfte zunächst das Band, welches das gelbe Convolut zusammenhielt, auf; er fand eine Menge von Briefen darin, welche von einer Frauenhand in französischer Sprache geschrieben waren; es bedurfte keiner langen Lectüre, um zu sehen, daß sie an den General Duvignot gerichtet waren, daß sie die Ausbrüche einer leidenschaftlichen Neigung enthielten und daß sie, aus einer Reihe von Jahren herrührend, ein sehr inniges und – schuldiges Verhältniß verriethen; die Schreiberin der Briefe sprach darin wiederholt von ihrem Gatten.

Unterzeichnet waren sie: Marcelline, oder auch bloß M. Eine Ortsangabe enthielten sie nicht.

Wilderich durchflog die ersten, dann die letzten.

In einem dieser letzten machte eine Stelle ihn betroffen. Sie lautete: ‚B. ist und bleibt spurlos verschwunden. Wenn ihre Flucht überhaupt noch den geringsten Zweifel an ihrer Schuld übrig lassen könnte, so würde dieses Verschollenbleiben ihn nehmen. Mein Mann ist jetzt ebenso überzeugt, wie ich es bin; er hat alle Nachforschungen nach ihr verboten, was mich jedoch nicht abhält, diese im Geheimen anstellen zu lassen.‘

B. – der Anfangsbuchstabe des Namens Benedicte – und diese B. war verschwunden – sollte eine Schuld auf sich geladen haben … das war seltsam … hätte Wilderich gewußt, daß die Dame, welche Benedicte aus Goschenwald entführt, Marcelline hieß, er würde wie elektrisirt aufgefahren sein. So blätterte er nur in Hast weiter, ohne mehr Andeutungen über die Sache finden zu können. Doch war eine andere Stelle da, welche, wenn die erste eine Beziehung auf ein Wesen hatte, das Wilderich in kurzer Zeit so theuer geworden, vortrefflich dazu paßte. Es hieß: ‚Du wirst das Commando in Würzburg erhalten, und ich, ich werde Dir dahin folgen. Es ist mir nicht möglich, hier unthätig und ruhig daheim zu sitzen, während Du den Gefahren des Krieges entgegenziehst. Wenn Du auch nicht lange Zeit in Würzburg bleibst, wenn Du auch bald mit Deinen siegreich vorrückenden Cameraden weiterziehst – was thut es, ich werde Dir immer um so viel näher bleiben, und wenn Du verwundet würdest – Gott wende es ab – so könnte ich Dir nacheilen von dort, könnte Dich pflegen, mit mir zurück nach Würzburg nehmen. Ich habe eine Cousine, welche in dieser Stadt wohnt. Das giebt mir den Vorwand eines Besuches bei ihr. V. wird mir die Reise gestatten, er muß sie mir gestatten. Meine Cousine heißt Frau von Goller. Unterlaß nicht, im Hause derselben, sobald Du dort angekommen bist, einen Besuch zu machen; es ist besser, wenn ich Dich im Hause schon bekannt finde, als wenn ich dich erst einführen muß!“

V…? hieß das Vollrath? Was sollt’ es anders heißen … die Frau Vollrath’s war ja in Goschenwald gewesen, von Würzburg herkommend … und „B.“ mußte also Benedicte bedeuten – es konnte kaum ein Zweifel sein – die Verfolgerin, die Feindin Benedictens war die Geliebte Duvignot’s!

Jedenfalls, sah Wilderich, mußten diese Briefe einer verheiratheten Frau an ihn dem General von großer Wichtigkeit sein; er mußte das größte Gewicht darauf legen, daß sie nicht in fremde Hände kamen; Wilderich hatte damit ein höchst bedeutungsvolles Pfand in Händen, wenn ihn der Zufall in eine üble Lage brachte, in der er des Schutzes des Generals bedürfen konnte.

[546] Er blätterte weiter, er suchte nach weitern Erwähnungen des B., das ihn so betroffen gemacht hatte … da fiel sein Auge auf etwas, das ihn noch mehr betroffen machte – auf die Buchstaben G. de B. – ‚Es ist merkwürdig,‘ hieß es, ‚wie G. de B. so völlig verstummt ist, oder hast Du Nachrichten von ihm?‘

G. de B. hatte sich ja auch der Mann unterschrieben, der ihm das Kind hinterlassen! Wie seltsam! War …

Aber Wilderich durfte die Zeit nicht mit Grübeln darüber verlieren.

Er sprang auf, steckte die Briefe zu sich, ordnete seinen Anzug – des Hausknechts auf dem Tische liegende Kleiderbürsten kamen ihm dabei sehr zu Statten – und ging das Haus des Schöffen Vollrath zu suchen.

Es war nicht schwer, es aufzufinden. Ein Knabe zeigte es ihm.

Vor dem Hause standen zwei Schildwachen; es mußte also ein hoher Befehlshaber in demselben einquartiert sein. Für Wilderich hatte dieser Anblick etwas Beunruhigendes. War er bis jetzt im Wirrwarr des Rückzugs und der Flucht unangenehmen Begegnungen mit Leuten, welche ihn nach seinem Truppentheile, seiner Bestimmung, seiner Ordre fragten, entgangen, so konnte es anders sein, wenn er in das Quartier eines Generals, unter dessen Ordonnanzen und Adjutanten gerieth. Sollte er umkehren und sich einen andern Anzug verschaffen? Er hatte keine Mittel dazu, er wußte nicht, wie dazu gelangen. Wenn er zurückging und sich an seinen Hausknecht wendete und in dessen Sonntagskleidern aus der Kammer herauskam, in welche er in der Chasseuruniform geschritten, so mußte er sofort die Aufmerksamkeit der Soldaten auf sich ziehen, die im Hofe und Stalle seines Wirthshauses lagen und herumlungerten. Dazu der Zeitverlust! Und hatte er nicht als Sicherheitspfand für den schlimmsten Fall seine Briefe?

So trat er mit der Miene ruhiger Unbefangenheit in das Haus ein. Der geräumige Flur war voll Menschen; Ordonnanzen standen da, Unterofficiere mit Rapporten, Bürger mit Reclamationen wegen ihrer Einquartierungen, Unterbeamte des Senats mit Aufträgen, Officiere, die Meldungen machen oder Befehle einholen wollten – auch Leute, welche mit gespannten Gesichtern zwischen zwei Wachen standen, unglückselige Arretirte, die vor den Commandanten geführt werden sollten, waren da – kurz Alles, was in solchen Tagen sich in einer besetzten Stadt um den Commandanten und zu ihm drängt.

Auf der im Hintergrunde der Flur emporführenden Treppe stand mit untergeschlagenen Armen ein langer, verdrossen aussehender Gesell, in einem langen blauen Rocke mit rothen Epaulettes, Revers und Aufschlägen, dessen Schöße bis auf die Waden fielen, in hirschledernen Hosen und Kanonen, das Haupt bedeckt mit einem großen Sturmhut mit rothem Federbusch. So, an das Treppengeländer zurückgelehnt, zwischen den übereinander geschlagenen Beinen den geraden Pallasch in weißer Scheide haltend, blickte er mürrisch auf das Gedränge unter ihm nieder, gegen das er als eine Art Damm zu dienen schien, der die Erstürmung der Treppe durch all die Harrenden hinderte.

Wilderich drängte sich bis an den Fuß der Treppe und sagte dem Mann, den die Uniform als Gensd’arm kenntlich machte.

„Kann man zum Schöff Vollrath hinaufgehn?“

On ne passe pas!“ lautete die barsche Antwort.

Ein wenig aus der Fassung gebracht, schaute Wilderich drein und wagte kaum, den bissigen Cerberus weiter anzureden, um ihm klar zu machen, daß er zum Hausherrn und nicht zum Commandanten wolle, als ein Diener in gelber Livrée an ihm vorüber kam, die Treppe hinaufzugehn. Er brachte diesem sein Anliegen vor.

„Folgen Sie mir nur,“ sagte der Diener, „diese Leute hier warten auf den Commandanten, der erst Punkt sechs Uhr wieder zu sprechen sein will; zum Herrn Schultheiß kann ich Sie führen.“

Er schritt die Treppe hinauf und Wilderich, jetzt unangehalten, ihm nach.




10.

Während Wilderich die auf einen ziemlich dunklen Vorplatz führende gewundene Treppe hinanstieg, saß der vom Obergeneral Jourdan von Würzburg aus als Commandant nach Frankfurt gesandte General Duvignot in einem bequem und wohnlich, wenn auch nach unseren Begriffen sehr einfach eingerichteten, auf den Hof hinausgehenden Zimmer in höchst lebhafter Unterhaltung mit einer Dame begriffen, welche wir kennen.

Duvignot war in der frühesten Morgenfrühe in Frankfurt angekommen; er hatte sein Quartier im Hause des Schöffen genommen. Am Morgen schon hatte er energisch, scharf und schonungslos die Zügel des Regiments ergriffen und vor Geschäften kaum die Zeit gefunden, um Mittag Frau Marcelline zu begrüßen, die unter dem Schutz des Capitains Lesaillier glücklich mit ihrem Gefolge eingezogen war. Vor einer halben Stunde hatte er eine durchgreifende Maßregel getroffen, um so viel Ruhe zu gewinnen, rasch eine Mahlzeit einzunehmen und dann ein Gespräch mit der Frau vom Hause halten zu können. Sie saß in einem an das Fenster gerückten Lehnstuhl, müde hingegossen, die Arme im Schooße, das Haupt vornüber gebeugt und auf den Boden niederblickend.

Der General stand aufrecht an dem Fenster, die linke Hand auf dem Knopf der Espagnolettestange, mit der rechten lebhaft gesticulirend.

Doch wurde das Gespräch nur leise flüsternd geführt.

„Ich versichere Dich, Marcelline,“ sagte er, „darüber kann keine Täuschung sein; wir sind vollständig geschlagen, daß an eine Behauptung Frankfurts gar nicht mehr zu denken ist; wir werden uns halten, so lange wir können, vielleicht noch vierzehn, vielleicht noch acht Tage, es hängt blos von der Energie ab, womit die österreichische Armee ihre Siege ausbeutet und auf uns drückt. Auch im besten Falle, wenn der Erzherzog sich jetzt durch den Odenwald links werfen und Moreau’s Rheinarmee zum Rückzuge zwingen würde, auch dann könnten wir das rechte Rheinufer nicht halten und müßten zurück, zurück nach Frankreich. Glaub’ mir’s, Marcelline!“

„Ich glaube Dir’s ja – aber bedarf’s denn etwas andres als einer kurzen Waffenruhe für Euch, um bald siegreich zurückzukehren, und wenn ich mich nun in das Schicksal fügen will, zu warten – ich, die so lange, so lange Jahre diese unselige martervolle Lage des sich Fügens und Harrens habe aushalten müssen, ich muß es ja können!“

Frau Marcelline sprach dies mit einem tiefen Seufzer und schmerzbewegt ihre Finger zusammenpressend.

„Harren, auf unsere Wiederkehr? Weißt Du, ob, wenn wir wiederkehren, ich unter denen sein werde, die unsere Fahnen siegreich hierher zurücktragen? Ob ich nicht längst dann in weite Ferne, nach dem Oberrhein, nach Italien gesandt sein werde?“

„Das hängt ja doch von Dir ab …“

„Und wenn auch, ich sehe nun einmal voraus, daß wir gar nicht wiederkehren werden.“

„Du zweifelst an dem Siege Deiner eigenen Waffen?“

„Nein, nicht deshalb. Ich sehe nur voraus, daß diesem Feldzuge der Friede folgen wird. Das ist unausbleiblich. Wir sind erschöpft; wir bedürfen des Friedens, das Directorium will den Frieden, und unsere Feinde? Trotz ihrer jetzigen Erfolge bedürfen sie seiner weit mehr noch als wir. Verlassen von Preußen können sie es gar nicht auf einen weiteren Krieg im folgenden Jahre ankommen lassen. Dieser Winter bringt uns den Frieden, so gewiß ich diese Hand ausstrecke, und deshalb, Marcelline, fasse Muth, sei groß und stark und entschließe Dich!“

„Ich kann nicht!“ lispelte sie leise. „Es ist unmöglich!“

„Unmöglich! Das Wort ist so leicht bei der Hand, wenn der Muth und der Wille fehlen!“

„Aber mein Gott, Du selbst kannst doch nicht so verblendet sein, nicht einzusehen, daß ich nicht den furchtbaren Schimpf, die Schande, die Verdammung aller Menschen auf mich laden, daß ich nicht meinen Mann in Verzweiflung stürzen und, auf nichts Anderes als die Stimme der Leidenschaft hörend, Dir blindlings nachfolgen kann, wohin Du mich führst!“

„Nicht? – Das könntest Du nicht?“ antwortete Duvignot bitter. „Die Urtheile der Menschen, die Rücksicht auf Deinen Mann sind Dir wichtiger als mein Glück, mein Leben, mein ganzes Dasein, das ohne Dich vernichtet ist?“

„O mein Gott, Du weißt, wie ich Dich liebe …“

„Liebe – eine Liebe ohne Vertrauen … Du vertraust mir Dein Loos nicht an, Du kannst Dich nicht ‚blindlings‘ von mir führen lassen, Du …“

„Wie ungerecht Du bist, mir so bitter vorzuwerfen, daß ich nicht taub und blind für Alles bin! Währe ich achtzehn Jahre, [547] so könnte ich es sein, jetzt kann ich es nicht mehr. Die Folgen einer solchen verbrecherischen That stehen nun einmal vor meinen Augen – und ich kann, ich kann nicht!“

„Freilich … Du handeltest sehr thöricht … die reiche Patrizierfrau, die sorglos, im Wohlleben, in allem Luxus, der sie umgiebt, von Huldigungen umringt, hier ihre glückliche Existenz weiter führen kann, wird nicht so wahnsinnig sein, ihr Loos an das wechselreiche unstäte Leben eines armen Glückssoldaten zu fesseln!“

„Das sind Worte, die der Zorn aus Dir spricht, Etienne, und ich brauche deshalb nicht darauf zu antworten – ich bin zu stolz dazu.“

„Zu stolz – da liegt’s! Du bist zu stolz, Marcelline, um wahrhaft lieben zu können. Die Liebe ist demüthig! Was ficht sie der Menschen Urtheil an, und ob es sie hoch oder niedrig stellt? Sie hört nur auf die eine Stimme, die des Herzens – Marcelline, ich bitte, ich flehe Dich an, horche auf sie, ich will es, ich verlange es von Dir, ich kann es fordern, denn Du bist mein Weib, mein durch die heiligsten Bande an mich gekettetes Weib! Was hat die inhaltlose Form zu bedeuten, dieser Priestersegen, der Dich mit einem alten ungeliebten Manne verbunden hat – uns hat das Herz, hat die Natur mit heiligeren Banden verbunden, und das lebende Zeugniß dieses Bundes, wenn es nun vor Dich träte und zu Dir spräche: verlaß, verlaß meinen Vater nicht – dann …“

„Ich bitte, o ich bitte Dich, Etienne, rede nicht weiter!“ sprach das gepeinigte Weib, ihre Hände vor das Gesicht schlagend.

„Weshalb soll ich nicht weiter reden,“ eiferte Duvignot, „weshalb, da Du mich feige verlassen willst, nicht Alles Dir in’s Gedächtniß rufen, was uns für ewig zusammenkettet?“

„Will ich denn das Band zerreißen?“ rief Marcelline aus geängstetem Herzen aus. „Wie soll ich Dir folgen? Wie ist es möglich? Wohin? Zu wem? Wen hast Du auf Erden, zu dem Du mich bringen könntest? Hast Du einen Kreis, in dem ich, stolz darauf, die Deine zu sein, geschützt, geachtet und geehrt meine Tage zubringen könnte, wenn Du nicht bei mir, wenn Du auf Monate, Jahre hinaus im Felde bist? … und wenn Du fällst, Du mit Deinem rücksichtslosen Drang, der Gefahr zu trotzen, Deiner Verwegenheit, Deinem Ehrgeiz, Deinem Ruhmdurst, allem dem Feuer, das einen Soldaten nicht zu Jahren kommen läßt – wohin dann mit mir verlassenem, entehrtem, schmachbedecktem Geschöpfe?“

„Du bist sehr klug und besonnen, Marcelline,“ antwortete Duvignot, eine verächtlich abwehrende Bewegung mit der Hand machend, „Ihr Frauen könnt das, mit Besonnenheit lieben! Wenn die Besonnenheit nur nicht so feige wäre; eine muthigere Klugheit würde Dir die Dinge in anderem Lichte zeigen; Dein Mann wird einmal sterben, und dann wirst Du mein Weib werden – das ist einfach die Zukunft, die meine Klugheit mir zeigt! Höre, Marcelline, ich flehe Dich noch einmal an, folge mir, such’ Dich nicht von mir loszureißen …“

„O mein Gott, wer spricht davon?“

„Du, Du thust es; was kann uns ein armseliger Briefverkehr sein, wenn Hunderte von Meilen vielleicht zwischen uns liegen, wenn die Hoffnung, uns wiederzusehen, verschwindet, wenn andre Menschen, andre Schicksale, wenn die Jahre treten zwischen Dich und mich …“

„Menschen, Schicksale, Jahre – sie werden mich nicht verändern, sie werden mich nicht von Dir trennen!“

„So fühlst Du jetzt! Doch wer übernimmt die Gewähr dafür? Und deshalb will ich, daß Du mir folgst. Du wirst es. Aber sieh, das ist die Forderung der Leidenschaft in mir: ich will Dich freiwillig, ungezwungen, aus eigenem Antriebe, nur der Liebe gehorchend mir folgen sehn. Ich sträube mich auf’s Aeußerste, Dich zu zwingen.“

„Und wie könntest Du mich zwingen?“

„Ich kann es!“

„Weil Du die Gewalt in der Stadt hast? Willst Du mich als ein Beutestück betrachten? Willst Du mich mit Gewalt entführen?“

„Nein, nicht das!“

„Dann wüßte ich nicht, wie Du’s könntest!“ sagte Marcelline stolz.

„Vielleicht kann ich’s doch!“ versetzte Duvignot, den Blick abwendend. „Aber ich sage Dir ja, meine ganze Seele sträubt sich dawider – und deshalb flehe ich Dich an: entschließe Dich – wag’ es – vertraue mir – traue meiner Kraft, Dir die Zukunft so glücklich zu gestalten, daß Du es nie bereuen wirst! - Ich habe das Vorgefühl, ich möchte sagen, in meiner Brust die Bürgschaft eines großen und glänzenden Schicksals; die Geschichte ist im Rollen begriffen, wir gehen Alle einer Zukunft voll großer Ereignisse und Katastrophen entgegen, voll welterschütternder Wandlungen und gewaltiger Krisen im Leben der Völker; das ist die Zeit für starke Arme und muthige Seelen – darum Muth, Muth, Marcelline – und nur Muth; der Muth allein ist der Schlüssel zu allem Glück!“

„Glück – Glück, als ob es aus einem Verbrechen erblühen könnte, mit dem man den Himmel beleidigt und der ganzen Welt Trotz bietet – ist das möglich?“

„Wenn Du im Leben mit mir, in der Verbindung mit mir, in einer Zukunft an meiner Seite kein Glück mehr siehst, dann freilich …“ fuhr Duvignot zornig auf.

„Du wirst ungerecht,“ versetzte sie lauter; „ich habe Alles gethan, Alles, Alles was ich thun konnte für Dein Glück! Dies kann ich nicht. Ich kann meine Pflicht vergessen, aber nicht so meine Ehre, nicht so meines armen alten Mannes Ehre mit Füßen treten.“

Seine Ehre!“ sagte Duvignot verächtlich. „Lebe wohl denn – wirf sie in eine Wagschale und mein Glück in die andere; sieh, welche Dir schwerer wiegt. Ich werde Dich morgen darnach fragen, denn meine Zeit ist hin, ich muß gehen, Du weißt, wie man mich drängt …“

„Du wirst nie eine andere Antwort von mir erhalten, als diese,“ erwiderte Marcelline.

„Vielleicht doch … wir werden sehen!“

„Was sollen diese Anspielungen, diese Drohungen, als ob Du mich zwingen könntest, bedeuten? Sprich offen heraus, ich fordere es.“

„Du wirst es erfahren – wenn Du unerbittlich bleibst.“

„Etienne – Etienne – was hast Du vor, woran denkst Du? – Du gestehst selbst, daß Du nicht vorhast, Gewalt zu gebrauchen!“

„Nein, nicht das. Ich werde Dich dadurch zwingen, daß ich Dir in der Ferne, in meiner Heimath etwas zeige, welches Dich unwiderstehlich dahin und mir nach ziehen wird.“

„Und dies Etwas?“

„Kein Wort mehr darüber!“

„O ich bitte Dich …“

„Nicht heute …“ entgegnete Duvignot, sich abwendend, „meine Stunde ist abgelaufen – der Dienst verlangt mich! Adieu, Marcelline! Fasse Dich, fasse Muth, sei mein großes und starkes Weib, fühle, daß Du mein bist, und … reich mir die Hand!“

Sie reichte ihm langsam und wie gebrochen die Hand, ohne die Augen zu ihm zu erheben. Dann ließ sie den Kopf mit einem tiefschmerzlichen Seufzer an die Lehne des Armstuhls zurücksinken.

Duvignot war mit raschen, heftigen Schritten davon gegangen.

In dem Augenblick, als er auf den Vorplatz draußen trat, betrat Wilderich Buchrodt, dem Bedienten folgend, die letzte Stufe der Treppe.

Duvignot blieb stehen und erwartete ihn.

„Was wollt Ihr, von wem kommt Ihr?“ fragte er barsch den Ankommenden. „Wer zum Teufel hat Euch wider meinen Befehl heraufgelassen?“

Wilderich mußte seine ganze Kraft, sich zu beherrschen, zusammennehmen, um nicht das Erschrecken zu verrathen, das bei diesem Zusammentreffen und bei der zornigen Anrede des heftig erregten Mannes so natürlich war. Er konnte nicht daran zweifeln, daß es der gefürchtete Commandant sei, dem er in den Wurf gekommen. Er legte die Hand an den Schirm des Czakos und antwortete in meldendem Tone:

„Exempt von der dritten Halbbrigade der Chasseurs zu Pferd, zweite Schwadron …“

„Der Mann will nicht zu Ihnen, Herr General,“ fiel der Bediente sich entschuldigend ein, „sondern zum Herrn Schultheiß, deshalb habe ich ihn heraufgeführt.“ … Duvignot sah von Einem auf den Anderen.

„So führt ihn zum Schultheißen!“ antwortete er und wandte sich einer Flügelthür zu, die in sein Zimmer führte … Wilderich [548] schlug das Herz schon von der Angst befreit hoch auf – er folgte dem rasch gehenden Bedienten unmittelbar hinter dem General.

„Wo steht Eure Halbbrigade in diesem Augenblick?“ fragte dieser, vor seiner Thür sich plötzlich um- und wieder zu Wilderich wendend.

„Sie ist in Hanau angekommen, Citoyen General!“ versetzte Wilderich auf gut Glück, da er fühlte, daß er mit einer Antwort keinen Augenblick zögern dürfe.

„Wann?“

„Gestern Abend!“

„In Hanau?“

„Zu Befehl!“

„Wie heißt Euer Divisionsgeneral?“

„Ney.“

„Und Euere Halbbrigade führt?“

„Major de la Rive!“ antwortete in steigender Beklemmung Wilderich, die Namen mit dem Muth der Verzweiflung hervorstoßend.

„Was habt Ihr bei dem Schultheißen zu melden?“

Wilderich stockte jetzt.

„Ich habe ihm einen Brief von einem gefallenen Cameraden zu bringen, der mich bat, ihn sofort zu überbringen, da Gefahr im Verzuge sei!“ sagte er endlich.

„Seid Ihr deshalb Eurer Abtheilung von Hanau hierher zuvorgeeilt?“

„Zu Befehl, Citoyen General!“

Der General trat auf die Schwelle der Thür, welche der Bediente ihm unterdeß diensteifrig aufgeworfen hatte … Wilderich sah ihn schon mit unsäglicher Erleichterung im nächsten Augenblick verschwinden – aber der General sagte, halb den Kopf zurückwendend, mit einem kalt trocknen Tone:

„Folgt mir!“

Wilderich konnte nicht anders als gehorchen. Er trat in das große, nach vorn auf die Straße hinausgehende Zimmer, das Prunkgemach des Hauses, das jetzt dem Commandanten als Empfangszimmer diente – der General winkte ihm mit der Hand heran, dem Fenster näher zu treten, dann sagte er:

„Gebt mir den Brief Eures gefallenen Cameraden.“

„Citoyen, General … Sie werden mich entschuldigen … ich habe dem Sterbenden gelobt, ihn nur dem Schultheißen selbst …“

„Ihr seid sehr gewissenhaft, mein lieber Exempt von den dritten Chasseurs zu Pferde! Ich achte das. Geht also hinauf, Euren Brief dem Schultheißen zu übergeben – da ich jedoch ein wenig neugierig geworden, was in dieser Depesche sein mag, die so eilig zu bestellen ist, so werde ich dabei sein. Hierher!“

Der General verließ das Zimmer wieder, schritt draußen über den Vorplatz der Treppe in das zweite Stockwerk zu und nachdem er mit Wilderich oben angekommen, klopfte er an eine Flügelthür, welche unmittelbar über der unten in seine eigenen Zimmer führenden lag.

Noch bevor er ein ‚Herein!‘ vernommen, öffnete er, winkte Wilderich, den er vorausgehen lassen wollte, einzutreten und trat selbst ein.

Der Schultheiß Vollrath bewohnte den über des Generals Empfangszimmer liegenden Raum – ein weites Gemach, das an den Wänden ringsum bis zu drei Viertel der Höhe mit Bücherrepositorien besetzt war. Ueber ihnen standen vergilbte Gypsbüsten, an den Wänden aber hingen eine Reihe alter Familienbilder; ein Paar Lehnsessel, Stühle mit hohen rohrgeflochtenen Rückenlehnen und ein Paar Tische mit Büchern und Schriften und Actenstößen darauf waren die ganze bescheidene Einrichtung dieses Wohngemachs, das nur an der Wand zwischen den beiden Fenstern den strengen und fast düsterm Eindruck, den es machte, verleugnete – hier hingen, wie es schien, allerlei Jugend- und Freundschaftserinnerungen des alten Herrn, zwei Pastellbilder von jungen Frauen, Silhouetten in runden Goldrähmchen, ein Bildwerk aus Haararbeit, das einen Tempel mit einer Thränenweide darstellte, und darunter eine alte, sehr vergilbte rothe Seidenschleife in einem noch älteren, noch vergilbteren Immortellenkranze.

Der Schultheiß Vollrath war ein Mann von über sechszig Jahren. Auf seinem Gesicht sprachen zwei hervorstechende Züge den ganzen Charakter des Mannes aus – die hohe und breite Stirn verrieth seine Intelligenz und Idealität und der weiche Mund eine unendliche Gutmüthigkeit, eine gefährliche Gutmüthigkeit, wenn man anders das schmale, so wenig ausgebildete Kinn als Zeichen jeglichen Mangels an Energie deuten durfte. Er hatte das dünne spärliche Haar hinter die Ohren zurückgestrichen – ein schwarzes Käppchen vertrat die Stelle der großen gepuderten Perrücke, die jetzt auf einem der Actenstöße vor ihm lag. So saß er an seinem Schreibtisch, die Stirn auf den Arm gestützt, wie in Sinnen verloren, mit der linken Hand wie in träumerischem Spiel die goldne Tabatiere drehend, die vor ihm lag. Bei dem hastigen Eintreten der zwei Männer fuhr er wie aufgeschreckt empor.

„General Duvignot,“ sagte er, diesem entgegenschreitend, „Sie sind es … und wen bringen Sie da?“

„Uebergebt jetzt Euren Brief, Chasseur!“ befahl der General trocken mit zornig gerunzelten Brauen.

Wilderich sah, daß er gefangen war. Er hatte von dem Briefe gesprochen – er konnte ihn jetzt nicht mehr zurückhalten. Er konnte auch den Schultheißen, der mit einem wohlwollenden Blicke ihm seine Augen zuwandte, nicht warnen. Er konnte nichts thun, als seinen Brief hervorziehen und, indem er ihn dem Schultheißen übergab, sagen:

„Er ist zu eigenen Händen und ganz privater, nur den Herrn Schultheißen persönlich betreffender Natur.“

Der Schultheiß nahm den Brief entgegen und betrachtete betroffen das Siegel; auch des Generals Blicke hefteten sich auf das Siegel. Der Schultheiß machte, ehe er das Schreiben aufriß, eine Bewegung mit der Hand, um den General einzuladen, Platz zu nehmen.

„Ich danke,“ versetzte dieser lakonisch und blieb, während der alte Herr das Siegel erbrach, stehen.

Wilderich hatte unterdeß Zeit, sich ganz das Gefährliche seiner Lage klar zu machen. Es war offenbar, daß der General Verdacht geschöpft, daß er die Maske, in welcher Wilderich stak, durchschaut … was sollte daraus werden, wenn er den Brief des feindlichen Feldherrn zu lesen bekam? Die Schlinge war um Wilderich zugezogen – sein letztes Hülfsmittel mußten jene erbeuteten Briefe bilden – oder er war verloren …

[561] Der Schultheiß las den Brief. Seine Miene nahm dabei einen Ausdruck tiefen Ernstes an – er las still bis zu Ende, dann sagte er aufschauend:

„Und hat der Schreiber dieses Briefes denselben Ihnen übergeben, um ihn mir zu bringen? Sie sind französischer Soldat – wie ist das, wie hängt das zusammen?“

„Ein Camerad hat ihn mir übergeben,“ erwiderte Wilderich, „der …“

„Lassen Sie mich, bitte, den Brief sehen,“ unterbrach Duvignot, indem er ohne weiteres dem alten Herrn den Brief aus der Hand nahm und zu überfliegen begann.

„Es ist seltsam,“ fuhr der Schultheiß fort, „der Brief muß dann aufgefangen und in Hände gekommen sein, für die er nicht bestimmt war – wie kann ein französischer Soldat ihn mir bringen …“

„Beruhigen Sie sich mein Herr Schultheiß,“ fuhr hier Duvignot scharf dazwischen, „der Mann ist kein französischer Soldat – er ist ein österreichischer Spion, und dieser Brief beweist mir, daß Sie mit unseren Feinden in heimlicher Verbindung stehen! Man rechnet auf Ihre Beihülfe, Ihren Verrath, um dem Feinde Frankfurt in die Hände zu spielen. Und wer Ihnen dies schreibt, ist der Erzherzog Reichsfeldmarschall selbst!“

„Mein Herr General,“ fuhr der Schultheiß erschrocken auf, „ich muß Sie bitten …“

„Es thut mir leid,“ fiel ihm der General in’s Wort, „Sie sind ein Mann, den ich als sein Gast schon zu achten habe; ich bin Ihnen Dankbarkeit schuldig für das Wohlwollen, das Sie mir schon vor Jahren, als ich unter Custine’s Truppen Ihre Stadt betrat und Ihr unfreiwilliger Gast wurde, mit so vieler Urbanität zeigten … aber meine Pflicht geht über meine persönlichen Gefühle … ich muß Sie vor ein Kriegsgericht stellen lassen, Herr Schultheiß …“

Der Schultheiß war todtenbleich geworden.

„Wenn Sie mich achten,“ sagte er, „so werden Sie mir auch glauben – ich bin kein Verräther – dies Schreiben ist an mich gerichtet ohne mein Wissen und Wollen – dieser Mann dort kann kein Spion sein, denn …“

„Kein Spion? Wir werden das sehen!“ rief Duvignot, sich zu Wilderich wendend, aus. „Wer seid Ihr? Ihr werdet nicht länger behaupten, daß Ihr französischer Soldat seid! Ihr seid ein Deutscher – das habe ich an Eurer Sprache erkannt! Nun wohl, wir haben auch Deutsche unter unseren Fahnen. Aber die Chasseur-Abtheilung, zu der Ihr gehören wollt, steht nicht in Hanau; ich traf sie gestern auf dem Marsch nach der Wetterau – sie gehört nicht zu Ney’s Division, ich kenne keinen de la Rive. … Wie war gestern Eure Parole? Seht ihr, Ihr wißt das nicht! Ihr hättet Euch vorher besser über Eure Rolle unterrichten sollen, bevor Ihr wagtet, sie zu übernehmen. Sie sehen, Schultheiß, daß ich Recht habe – dieser Mann ist kein französischer Soldat, er ist ein österreichischer Spion. Ich denke, dieses Schreiben hier, dies Schreiben in seinen Händen ist Beweis genug …“

„Beim lebendigen Gott,“ rief Wilderich hier stolz und entrüstet aus, „Ihre Beschuldigung ist falsch und ungerecht, Herr General – ich bin kein Spion, und dieser Herr hier, den ich in einen so unseligen Verdacht bringe ist völlig unschuldig … ich bin kein Franzose, ich gestehe das offen ein, ich bin der Revierförster Wilderich Buchrodt vom Rohrbrunner Revier im Spessart – ein Mann, den noch Niemand einer schlechten Handlung wie die, den Spion zu machen, fähig gehalten hat.“

„Förster aus dem Spessart, in der That?“ fiel Duvignot ein, „… einer von den Leuten, mit denen wir eine so schwere Rechnung auszugleichen haben! Doch enden wir,“ fuhr er, wie eine innerliche Erregung niederdrückend und stoßweise fort, „Herr Schultheiß, ich muß thun, was der Dienst mir gebietet. Ich bin gezwungen, Ihnen anzukündigen, daß Sie diese Zimmer nicht zu verlassen haben, bis weiter über Sie verfügt wird. Den Mann dort wird man zur Constablerwache führen. Der Brief bleibt in meiner Hand!“ –

Der General wandte sich rasch und ging – so rasch, als wolle er sich der peinigenden Scene, der Pflicht, die er gegen seinen Gastfreund zu erfüllen hatte, so bald wie möglich entziehen. Wilderich hätte ihm nachrufen mögen. ‚Halt – warten Sie – ich habe einen Preis, um den Sie abstehen werden von diesem entsetzlichen Verfahren wider zwei Unschuldige‘ – aber eben so rasch fuhr ihm der Gedanke durch’s Hirn, daß der französische Gewalthaber alsdann ihm einfach seine Briefe werde nehmen wollen, wie er den Brief des Erzherzogs genommen, ohne dafür das geringste Zugeständniß zu machen – und dann, wie konnte Wilderich von diesen Briefen in Gegenwart des Schultheißen reden, sie zeigen … wer war die Frau, die sie an den General geschrieben? war es nicht das eigene Weib des Schultheißen? sollte er dem alten gebrochenen Manne die Schmach anthun – und [562] wenn er es that, wenn er diese verbrecherische Liebe dem Manne des treulosen Weibes verrieth, war ihm dann nicht gerade deshalb die schonungsloseste Rache des Generals gewiß?

Diese Gedanken durchzuckten ihn – er hatte sie noch nicht ausgedacht, als der General längst verschwunden war.

„Mein Gott,“ sagte der Schultheiß, sich an der nächsten Stuhllehne aufrecht erhaltend, mit kreidebleichen Lippen, … „unseliger Mensch, welches Schicksal bringen Sie über mich … wie um’s Himmelswillen …“

„Mehren Sie meine Verzweiflung nicht noch,“ rief Wilderich im furchtbarsten Schmerze aus, „ich gäbe jeden Tropfen meines Blutes dafür, könnte ich wieder gut machen, was ich verbrochen an Ihnen – dies Entsetzliche – aber Sie sind ja unschuldig, was kann Ihnen geschehen, deshalb, weil ein von Gott und seinem Verstande verlassener Mensch Ihnen einen Brief bringt?“

„Was mir geschehen kann – das fragen Sie – nachdem Sie selbst es gehört, das Wort: Kriegsgericht – und wissen Sie nicht, daß in einer Stadt, wo der Belagerungszustand erklärt ist, in Tagen, wie diese sind, bei einer Armee, die auf der Flucht ist, und die sich um ihr Dasein schlägt, das Wort gleichbedeutend ist mit: Tod?!“

Wilderich schlug verzweifelt die Hände vor’s Gesicht.

„Sprechen Sie, was wollen Sie, was treibt Sie, so zu handeln? was hat den Erzherzog getrieben, mir einen solchen Brief zu schreiben, einen Brief, der mir Verrath zumuthet an dem Machthaber, der augenblicklich hier die Gewalt hat?“

„Ich … ich allein,“ rief Wilderich aus. „Ich drängte ihn zu dem Briefe. Ich liebe Benedicte – ich wollte ihr Beschützer sein, ich wollte sie retten – nun bring’ ich Ihnen den Tod durch meine Leidenschaft …“

„Sie lieben meine Tochter?!“ rief der Schultheiß mit einem unbeschreiblichen Ton von Erstaunen und Entrüstung zugleich aus.

„Sie ist Ihre Tochter? Ihre Tochter?!“

„Sie sagen, Sie lieben sie, und wissen nicht, wer sie ist?“

„Nein … und dennoch liebe ich sie, innig und tief und ehrlich, wie ein deutscher Mann je geliebt hat – ich wußte sie bedroht, dem gehässigsten Verdacht, den Peinigungen durch ein ihr feindseliges Weib ausgesetzt – ich zitterte für ihre Freiheit, ihr Leben, ich wagte Alles, um ihr Hülfe zu bringen …“

„Sie sehen, welche Hülfe Sie gebracht haben,“ fiel der Schultheiß bitter ein, während ein Paar Thränen über seine bleichen alten Wangen zu rollen begannen.

„Sie sind ein unvernünftiger hirnloser Mensch, der das Verderben über mich gebracht hat,“ fuhr er dann fort – „aber ich sehe, Sie fühlen es, wie ruchlos Sie handelten. Sie sind nicht schlecht – Sie verdienen jedenfalls den Tod nicht, der Sie erwartet, sichrer, unabwendbarer als mich – retten Sie sich – Sie müssen Ihr Heil in der Flucht suchen – fliehen Sie, bevor man kommt, Sie in den Kerker zu führen …“

„Fliehen? Wohin –“

„Das Haus unten ist voll Soldaten – aber vielleicht giebt es einen Weg über die Speicher, auf die Dächer der nächsten Häuser – was weiß ich – kommen Sie – kommen Sie –“

„Wenn Sie mich fliehen lassen, verdoppeln Sie den Schein Ihrer Schuld, Ihre Lage wird zehnfach ärger – ich bleibe!“

„Nein, nein,“ rief der Schultheiß, „was sollen zwei Menschen sterben, wenn dies bittre Loos Einem wenigstens abgenommen werden kann … ich bin ein alter Mann, ich bin zur Flucht zu alt, zu ungeschickt – Sie werden es können – vor Ihnen liegt noch ein langes Leben – folgen Sie mir –“

„Lassen Sie mich, lassen Sie mich hier, damit ich die Menschen, die Sie richten wollen, überzeugen kann …“

„Sie werden sie nicht überzeugen können. Man wird uns Beide zum Tode führen, ohne auf Sie zu hören –“

„Und doch –“

„Kommen Sie, ich will’s, ich will’s,“ rief der alte Mann hastig aus und schritt auf die Thür des Nebenzimmers zu.

Wilderich folgte ihm. Es war das Schlafgemach des Schultheißen, das sie betraten. Dieser öffnete im Hintergrunde eine zweite Thüre, die in einen ganz schmalen, dunklen Gang leitete, an dessen Ende sich wieder eine Thür zeigte.

Der Schultheiß pochte an dieselbe und rief flüsternd:

„Mach’ auf, mach’ augenblicklich auf, Benedicte!“

Wilderich erbebte bei diesem Namen. Sie – sie war’s, die er sehen sollte … sehen sollte, um nur einen Blick mit ihr zu wechseln, ein Wort, und dann weiter zu fliehen, um nie wieder vielleicht nur ihren Namen nennen zu hören … nein, das war nicht möglich … wie ein Blitz durchfuhr es ihn – hier lag vielleicht die Rettung … bei ihr … die Rettung für den Vater Benedictens, wie für ihn – sein Entschluß stand fest!

Die kleine Thür bewegte sich, ein Riegel wurde im Innern fortgeschoben, sie öffnete sich, Benedicte stand auf der Schwelle.

Aus dem kleinen Zimmer, aus welchem sie getreten, fiel das Licht der Dämmerung, die draußen begonnen, auf die Gestalt ihres Vaters und Wilderich’s.

„O mein Gott,“ flüsterte sie, erschrocken, daß ihre Worte kaum vernehmlich waren – „Sie, Sie hier?“

„Du kennst ihn also – es ist so, wie er sagt, er kommt um Deinetwillen – Alles, Alles dies ist um Deinetwillen – Du entsetzliches, mir zum Unglück geborenes Geschöpf,“ rief der Schultheiß aus.

Benedictens Augen öffneten sich weit – sie starrte den Vater an – aber sein Ausruf, seine Empörung konnte sie nicht zerschmettern, weil sie ihn nicht begriff, nicht verstand.

„Starr mich nur an,“ fuhr der Schultheiß im heftigsten Zorn auflodernd fort, „Du, Du warst es, Schlange, die mein Leben vergiften wollte …“

„O nicht das, nicht noch einmal, nicht immer wieder das – Vater, Vater, ich flehe Dich an, sei barmherzig!“ rief Benedicte, wie bittend die Hände erhebend.

„Du warst es, die mir das Kind stahl, verdarb, tödtete …“

„Es ist nicht wahr, es ist nicht wahr, es ist nicht wahr, der Himmel ist mein Zeuge!“ rief Benedicte mit einer Heftigkeit dawider, wie sie sie vielleicht nie noch so maßlos gezeigt hatte.

„Es ist nicht wahr – nicht wahr, daß Du, nur Du jetzt auch an meinem Tode schuld wirst, daß dieser unselige Mensch hier nur um Deinetwillen sich mit einem Briefe an mich drängt, der mich verdirbt, der mich vor diesen erbarmungslosen Franzosen zum Verräther stempelt …“

„O mein Gott – was, was ist denn geschehen … welche neue Sünde habe ich begangen?“ fiel Benedicte außer sich ein.

„Ich sag’s dir ja – ich sag Dir’s – dieser Mensch hier dringt zu mir und giebt mir in Duvignot’s Gegenwart einen Brief, einen Brief, der mein Todesurtheil ist, und das um Deinet-, nur um Deinetwillen …“

Benedicte wußte nicht länger sich aufrecht zu erhalten, sie wankte zurück, sie ließ sich rückwärts auf das Lager fallen, das an der Wand ihres Zimmers stand, sie schlug die Hände vor’s Gesicht und begann bitterlich zu weinen.

„Sie sind ein böser, schonungsloser, grausamer Mann!“ sagte Wilderich jetzt mit unterdrücktem Zorne. „Wüthen Sie wider mich, und nicht gegen sie, die keine Schuld hat. … Ihre wilden Vorwürfe machen die Sache nicht besser. Gehen Sie! Ich will nicht fliehen. Ich verlange, daß Sie mich mit Ihrer Tochter allein lassen. Ich verlange eine Unterredung mit ihr … ich will, ich verlange es … ich flehe Sie an darum – wenn man kommt, mich gefangen zu nehmen, so stellen Sie sich vor mich – nur eine Viertelstunde lang schützen Sie mich, bis ich mit ihr geredet habe …“

„Sie sind ein Thor, wenn Sie nicht fliehen. … Dort hinter jener Thür“ – der Schultheiß deutete mit zitternder Hand auf einen Ausgang im Hintergrunde von Benedictens Zimmer – „führt eine Treppe hinauf … sehen Sie, wie Sie da weiter kommen!“

„Ich sag es Ihnen, ich will nicht – gehen Sie, lassen Sie uns allein – nur eine kurze Zeit schützen Sie mich hier vor dem Verhaftetwerden, das ist Alles, was ich will!“

Er drängte den Schultheiß zurück, er schloß die Thür des Zimmers, er ergriff eine der Hände Benedictens, und sich neben sie setzend, sagte er hastig: „Benedicte, hören Sie auf mich, die Augenblicke sind kostbar. Sie müssen sich ermannen, Sie müssen mir in kurzen Worten sagen, um was es sich handelt bei den Vorwürfen, die man Ihnen macht, dann kann ich handeln danach, dann, glaub’ ich, kann ich den Frieden in dies Haus zurückbringen und uns Alle retten! Aber ich muß Alles, Alles wissen und Sie müssen reden augenblicklich … es hängen Menschenleben davon ab …“

„O mein Gott, wie kann ich Ihnen das sagen … jetzt … jetzt das Alles sagen …“

[563] „Sie müssen es, Sie werden es, Benedicte, in wenigen kurzen Worten müssen Sie es; ermannen Sie sich, schöpfen Sie Hoffnung, raffen Sie Ihre Kraft zusammen –“

„Hoffnung – Hoffnung,“ rief Benedicte, ihm ihre Rechte entziehend, aus, und die Hände verzweiflungsvoll ringend, „meine einzige Hoffnung ist der Tod – die einzige letzte Erlösung …“

„Und doch müssen Sie reden – reden auf der Stelle, Sie sind es sich, Ihrem Vater, sind es mir schuldig,“ drängte Wilderich fast zornig werdend.

„Ihnen, der solches Unglück in das Haus gebracht …“

„Um Gotteswillen … machen nicht auch Sie mir diesen Vorwurf! Um Sie verdien’ ich ihn nicht, von Ihnen will ich ihn nicht hören, was ich verschuldet, denk’ ich gut zu machen, nur muß ich wissen, wie ich es kann! Die Augenblicke sind so kostbar, so entsetzlich kostbar; um des Himmels willen, bei Allem, was Ihnen theuer ist, fleh’ ich Sie an … sagen Sie mir zuerst: ist Ihre Mutter die Geliebte Duvignot’s?“

„Sie ist es!“

„Ihre Stiefmutter …“

„Ja.“

„Und was ist es mit dem Kinde, das Sie entfernt haben sollen, Sie?“

„Es ist das Kind, der Sohn meiner Stiefmutter, der ihr geraubt wurde.“

„Weshalb kamen Sie in diesen Verdacht?“

„Weil ich, so lange ich meines Vaters einzige Tochter war, mich auch als seine Erbin betrachten durfte, die Erbin seines Reichthums. Er heirathete wieder und meine Stiefmutter schenkte ihm einen Sohn. Von dem Augenblick an war ich arm, meines Vaters ganzes Vermögen bestand in Lehngut, es gehörte dem Sohne …“

„Weiter, weiter!“

„Ich wurde schlecht behandelt von meiner Stiefmutter, man wollte mir mit Gewalt einen Menschen zum Manne aufdringen, den ich haßte; ich entfloh dem väterlichen Hause; in derselben Nacht verschwand der Sohn meiner Stiefmutter, geraubt, entführt; man gab mir Schuld ihn entführt, als den Erben, der mir mein Vermögen genommen, um des elenden Reichthums wegen beseitigt zu haben; ich mußte mich verbergen vor aller Welt Augen; ich floh zu einer Verwandten meiner verstorbenen Mutter, der Aebtissin von Oberzell, dort lebte ich im Kloster, bis die Nonnen fliehen mußten, bis es galt ein anderes Asyl für mich zu finden. Die Aebtissin sandte mich nach Goschenwald, mein böses Schicksal sandte meine Stiefmutter dahin – alles Uebrige wissen Sie –“

„Weshalb sagte Ihr Vater, daß Sie sein Leben hätten vergiften wollen …“

„Muß ich auch das Ihnen sagen, auch das bekennen, die Stunde, worin ich schlecht, verächtlich, abscheulich war …“

„Sie waren nie schlecht, nie verächtlich, Benedicte, das sagt mir mein innerstes Gefühl, jede Regung meines Herzens, und ich muß Alles wissen, Alles …“

„Wohl denn: Es war im Jahre 1792, als Duvignot, damals Commandant einer Halb-Brigade, mit dem Heere Custine’s nach Frankfurt kam, und das Unglück wollte, daß er sein Quartier in unserem Hause erhielt. Mein Vater war seit einem Jahr erst wieder vermählt. Meine Stiefmutter war sein Weib geworden, weil er sie eben gewählt hatte, weil sie ohne Vermögen war, weil ihre Verwandten den Gedanken, die Hand eines solchen Mannes auszuschlagen, gar nicht hätten in ihr aufkommen lassen; ihre Neigung wurde nicht befragt. Der junge schöne französische Officier verliebte sich in sie; seine Leidenschaft erweckte die ihre, sein Werben machte sie bald zu seinem völligen Eigenthum. Nach einigen Monaten mußte Duvignot Frankfurt verlassen. Meine Stiefmutter gab einem Sohne das Leben. Ein Jahr später kehrte Duvignot zurück; er war verwundet worden, er suchte Heilung, wie er angab, in Wiesbaden; von dort kam er oft zum Besuch zu uns – endlich, als der Winter kam, siedelte er nach Frankfurt über und war täglicher Gast in unserem Hause; er wollte noch immer nicht ganz geheilt sein, und unter diesem Vorwande mußte es ihm gelungen sein, seinen Urlaub so lange ausgedehnt zu erhalten.

Mein Vater war blind gegen das, was vorging, gegen dies schmähliche Verhältniß – ich sah es, ich durchschaute es. Auch haßte mich meine Stiefmutter, der es nicht entging, daß meine Augen schärfer waren als die aller Anderen; und Duvignot theilte natürlich ihre Gefühle gegen mich … bis diese plötzlich sich geändert zeigten. Er führte einen jungen und gewandten Menschen, einen Pariser, der, wie er sagte, der Sohn reicher Eltern, eines verstorbenen Parlamentsraths, war und Güter in der Bretagne besaß, in unser Haus ein – er nannte ihn seinen Vetter von Seiten seiner Mutter, einer Dame aus dem bretagnischen Adel – und dieser Mensch warb um meine Hand, Duvignot redete für ihn, meine Stiefmutter befürwortete seine Werbung, mein Vater ward dafür gewonnen – ich wurde gedrängt, gepeinigt, gescholten – in meiner Noth, unfähig mich länger wider eine Zumuthung zu vertheidigen, die mich empörte – denn ich verabscheute diesen Franzosen, der mir den Eindruck eines schlauen und geriebenen Intriganten, eines falschen und unreinen Menschen machte – in meiner Noth flüchtete ich mich zu meinem Vater, ich sagte ihm Alles, ich sagte ihm, wie seine Gattin ihn entehre, wie diese Verbindung, zu der man mich zwingen wolle, nur den Zweck habe, mich, die lästige scharfblickende Zeugin des strafbaren Verhältnisses, zu entfernen … mein Vater war auf’s Tiefste betroffen … er gelobte mir eine strenge Untersuchung, seinen vollen Schutz, sein unerbittliches Dazwischentreten. Er sprach meine Stiefmutter – und war von ihrer Unschuld so überzeugt, wie davon, daß ich nichts weiter als eine böse, falsche Schlange sei! Ich war zum Aeußersten gebracht; ich sah keine Rettung und kein Heil mehr außer in der Flucht; ich entschloß mich dazu, ich verließ an einem späten Abend das väterliche Haus, ich flüchtete mich in’s Kloster und dort fand ich Schutz.…

Es war mein Unglück! Dieser eigenmächtige Schritt, der mich befreien sollte, sollte fürchterlich bestraft werden … denn in derselben Nacht verschwand das Kind, der Sohn und Erbe meines Vaters, und wer, wer anders hatte das Kind geraubt, entführt, als ich!“

„Furchtbares Zusammentreffen!“ rief Wilderich aus. „Aber wie war es möglich zu glauben, Sie, Benedicte, Sie …“

„Meine Stiefmutter haßte mich; was hätte sie nicht von mir geglaubt!“

„Aber Ihr Vater …“

„Mein Vater ist schwach … er liebt sein Weib, wie ein alter Mann ein junges Weib liebt –“

„Das ist entsetzlich. … Doch nun, da ich Alles weiß, lassen Sie mich reden – ich habe ein Pfand der Rettung für uns Alle – ich habe die Briefe Ihrer Stiefmutter an Duvignot!“

„Die Briefe meiner Stiefmutter … die haben Sie?“

„So sagt’ ich!“

„Ihre Briefe an Duvignot? Aber wie ist es möglich …“

„Wie sie in meine Hände kamen, ist gleichgültig; genug, daß ich sie habe, hier wohlverwahrt auf meiner Brust. Ich will zu Ihrer Mutter gehen – ich will ihr sagen: Du wirst des Schöffen und wirst meine Freiheit von Duvignot verlangen, Du wirst mir schwören, Deinen Verdacht, Deine böse Tücke wider Benedicte aufzugeben, Du wirst meine Werbung um sie unterstützen – alsdann erhältst Du Deine Briefe zurück, die in meinen Händen sind; wo nicht, so wird der, in dessen Händen sie sind, sie Deinem Manne zeigen, er wird sie der Welt zeigen, die Welt wird sehen, daß Du ein schlechtes Weib bist, die Welt wird erfahren, daß Duvignot Deinen Gatten ermorden läßt, um Dich zur Wittwe zu machen! …“

Benedicte sah ihn mit großen Augen an.

„Ich werde Ihnen die Briefe geben,“ fuhr Wilderich eifrig fort, „Sie sollen sie in Händen haben und aufbewahren, damit man sie mir nicht entreißen kann …“

„Eitle Hoffnung!“ unterbrach ihn Benedicte.

„Wie, Sie glauben nicht …“

„Sie kennen die Leidenschaft dieser Menschen nicht, nicht ihre Gewaltthätigkeit! Meine Mutter ist Duvignot bis nach Würzburg gefolgt – sie ist hierher mit ihm zurückgekehrt – hat sie so dem Aergerniß getrotzt, was wird sie am Ende noch fürchten …“

„Aber sie kann nicht wollen …“

„Mag sein, mag sein; aber jedenfalls wird sie Ihnen nicht eher glauben, als bis sie die Briefe sieht … und wenn man sie ihr zeigt, so wird sie wissen, sie Jedem, der sie hat, mit Gewalt entreißen zu lassen. Vergessen Sie, daß sie durch Duvignot hier allmächtig ist? Und wird sie sich nicht rächen wollen dafür, [564] daß Sie diese Briefe gesehen, gelesen, besessen? Wird Duvignot nicht … aber,“ unterbrach sie sich auffahrend, „hören Sie – mein Gott, man kommt – man wird Sie fortschleppen – in den Kerker, in den Tod … und meinen armen, armen Vater mit Ihnen …“

„Benedicte, fassen Sie sich – wir stehen in Gottes Hand – Gott wird uns nicht verlassen …“

„Hat er nicht mich längst verlassen – mich, wie ich nun zu allem Entsetzlichen auch das noch zu tragen habe, daß ich schuld an diesem unsäglichen Unglück geworden?“

„Da nehmen Sie die Briefe, bei Ihnen sind sie sicherer, bewahren Sie sie mir, bis ich sie Ihnen abfordern lasse.“ …

Er reichte ihr das Packet, das sie ängstlich unter das Kopfkissen ihres Bettes verbarg.

„Glauben Sie mir,“ fuhr er fort, „diese Briefe werden uns nützen – und wenn nicht, so werden wir ja auch ohne sie unsre Unschuld – beweisen können.“

„Gerade weil Sie unschuldig sind, wird man Sie nicht hören wollen.“

„Gerade deshalb? Aber das wäre ja teuflisch!“

„Die Menschen sind oft Teufel! Duvignot wird es durchschauen, daß mein Vater und Sie unschuldig an dem sind, wessen er Sie beschuldigt. Wenn er dies dennoch thut, so ist es ein Beweis, daß er Sie verderben will.“

„Er kann doch kein Interesse daran haben, mich zu verderben …“

„Wenn er meinen Vater vernichten will, so müssen Sie mit fallen …“

„Hören Sie Benedicte, ich verzweifle dennoch nicht; ich kann nicht mit Ihnen glauben, daß dieser Mann so schlecht sei! Wir werden doch vor Richter gestellt werden. Vor diesen werde ich reden. Ich werde ihnen schildern, wie nur meine Leidenschaft für Sie mich verführt hat, hierher zu eilen … wie ich vom Erzherzog nichts anderes gewollt, als eine Verwendung für Sie, wie die Angst um Sie allein mich hierher getrieben – ich werde das mit aller Beredsamkeit, deren ich fähig bin, aussprechen – und wenn Sie, Sie, Benedicte, dann, falls man Sie fragt, meine Worte nicht Lügen strafen, wenn Sie großmüthig genug wären, zu bestätigen, daß es so sei, daß Sie mich früher Freund genannt, daß Sie mir das Recht gegeben, für Sie zu handeln … Benedicte, zürnen Sie mir nicht, daß ich so spreche, daß ich so viel von Ihnen verlange … aber Sie würden es ja nicht für mich blos, auch für Ihren Vater thun, und das …“

Benedicte legte sanft ihre Hand in die seine:

„Weshalb sollte ich es nicht?“ sagte sie kaum hörbar. „Habe ich Ihnen auch das Recht, für mich zu handeln, bis jetzt nicht gegeben, so würde ich es ja gern thun!“ …

„O, Sie würden es gern?“

„Ja, mein Freund, der einzige, den ich gefunden habe! … Das ist es eben, was mich weniger Ihnen vorwerfen läßt, daß Sie so zum unsäglichen Unheil in dies Haus gedrungen – es ist mir ja, als trüge ich selber daran die Schuld, als hätten meine Gedenken, mein Verlangen Sie hierher gezogen, als hätten diese sehnsüchtigen Gedanken eine unwiderstehliche Gewalt über Sie üben müssen – denn meine Gedanken sind bei Ihnen gewesen, seit ich Sie zum ersten Male sah.“ …

Wilderich warf sich tieferschüttert ihr zu Füßen, er nahm ihre beiden Hände und preßte sie schluchzend an seine Zippen.

„O Dank – o Dank für dies Wort! – ein solches unermeßliches Glück geben Sie mir – und dennoch sollte Alles, Alles mit uns aus, sollte unser Leben dem Tode verfallen, sollten unsere Minuten gezählt sein? O es ist, es ist nicht möglich – jede Fiber, jeder Blutstropfen in mir sträubt sich dawider, kocht dawider auf – o Benedicte, lassen Sie uns hoffen, lassen Sie eine kurze Spanne Zeit hindurch uns glücklich sein!“

Er barg sein Haupt an ihren Knieen und schluchzte wie ein Kind. Sie legte ihre beiden Hände auf sein dunkles Haupthaar und lispelte etwas, das er nicht verstand. War es ein Wort der Liebe – ein Bekenntniß des Herzens? Jedenfalls war es ein Gebet.

Das Geräusch von schweren Männerschritten und Waffenrasseln, das Beide vorher vernommen hatten, war wieder erstorben. Jetzt wurde es auf’s Neue hörbar – erst dumpf, dann heller – die Schritte nahten durch den kleinen Corridor, durch den der Schultheiß Wilderich zu Benedicte geführt.

„O fliehen Sie, fliehen Sie!“ rief Benedicte aufspringend aus. …

„Fliehen?“ sagte Wilderich, „nein … ich kann es nicht … zwar, ich möchte leben jetzt … leben! … aber ich darf nicht, ich kann nicht … ich muß das Schicksal Ihres Vaters theilen … ich bin sein einziger Vertheidiger, seine einzige Rettung, wenn es eine für ihn giebt! Ich darf ihm nicht fehlen in der Stunde, die über sein Loos entscheidet! – Aber,“ fuhr er, sich plötzlich, vor die Stirn schlagend, fort, „wie ist’s möglich, daß ich das vergaß! Sagen Sie mir, wer in den Briefen Ihrer Stiefmutter kann G. de B. sein?“

„G. de B.? Wohl Grand de Bateillère, der Mann, den man mir aufdringen wollte.“

„Ah!“ rief Wilderich aus, „dann …“

Zum Weitersprechen war es zu spät, wie es zu spät gewesen wäre zur Flucht – der Capitain Lesaillier trat über die Schwelle. Hinter ihm standen ein Paar Ordonnanzen des Generals.

„Im Namen der Republik – Sie sind mein Arrestant,“ sagte der Capitain zu Wilderich, „folgen Sie mir!“

Benedicte flog an Wilderich’s Brust – sie umklammerte ihn mit krampfhafter Gewalt, und dann riß sie sich stürmisch mit dem Aufschrei: „Und o mein Vater – wo ist mein Vater?!“ von ihm los und wollte hinausstürzen.

Lesaillier hielt sie zurück.

„Ersparen Sie sich das, Mademoiselle,“ sagte er theilnahmevoll und bewegt, „Ihr Vater ist fort, er ist vorhin bereits abgeführt!“

„Und ich, ich trage die Schuld, daß man ihn in den Tod schleppt, o ewiger Gott, ich allein!“ rief sie mit einem Ausbruch furchtbarer Verzweiflung aus – und dann sank sie bewußtlos auf den Boden.

[578]
11.

Wenn Wilderich und Benedicte eine so lange Zeit behalten, um sich über ihre Lage auszusprechen, so hatte dies seinen Grund in einem Zögern Duvignot’s, zum Aeußersten zu schreiten, in den Gedanken, von denen der General erfaßt und bewegt wurde, nachdem er vorhin das Zimmer des Schultheißen verlassen hatte.

Er hatte ein Document in der Hand, auf das hin er den unglücklichen Mann vor ein Kriegsgericht stellen und nach vierundzwanzig Stunden erschießen lassen konnte.

Die Proklamationen Jourdan’s, die eine solche Strafe auf Verbindungen mit der feindlichen Armee setzten, berechtigten ihn vollständig, ja verpflichteten ihn dazu.

Auch ohne dies wäre er berechtigt dazu gewesen, als oberster commandirender Officier in einer Stadt in Feindesland, in welcher der Belagerungszustand verkündet war. Sein Oberfeldherr hatte ihm, dem energischen und zudem in Frankfurt durch seinen früheren Aufenthalt so wohl bekannten Mann, die Hut der Stadt übergeben, in der Voraussetzung, daß er schonungslos und unerbittlich die Maßregeln durchsetzen würde, welche nothwendig seien, um diesen Punkt möglichst lange dem rückziehenden Heere zu erhalten. Der General konnte nach der Schärfe des Rechts verfahren. – Er konnte Marcelline zur Wittwe machen! Er konnte den Streit zwischen ihr und ihm mit einem Streiche zerhauen, mit einem Worte enden.

Dieser Gedanke bestürmte ihn, während er die Treppe aus dem Stockwerk des Schultheißen niederstieg – aber er bestürmte ihn auch zu sehr, um sofort seinen Willen und Entschluß bestimmt und entschieden feststehen zu lassen.

Duvignot war ein Sohn der Revolution, die der Freiheit Hekatomben von Menschenleben gebracht, die zu ihrer Vertheidigung den Boden, auf dem sie stand, nicht wie eine angegriffene Feste des Niederlandes unter Wasser und Meereswellen, sondern unter Blut gesetzt hatte. Er war Soldat und hatte den Tod in allen Gestalten gesehen; er kehrte von einem leichenbedeckten Schlachtfelde heim; der Tod war ein ihm vertrautes Ding, ein ihm gewöhnliches Ereigniß, eine alltägliche Lösung … er war nicht der Mann, der viel Wesens aus einem Menschenleben machte.

Und dennoch war er erschüttert; er fühlte seine Energie sich brechen bei dem Gedanken an diesen Tod, in den er einen Mann senden wollte, der zwischen ihm und seiner Leidenschaft stand! Er fühlte, daß es etwas Fürchterliches sei um eine solche That, daß jenseits derselben für ihn etwas Dunkles, zu Fürchtendes, Grauenhaftes liegen könne – die Reue, die Selbstverachtung.

Als er auf dem Vorplatze vor seinem Zimmer unten angekommen, trat er an die Treppe, welche nach unten in den Hausflur hinabführte. Er winkte dem Gensd’arm, der da unten Wache hielt, und als der Mann vor ihm stand, sagte er:

„Ist der Capitain Lesaillier da?“

„Er ist eben gekommen und unten im Zimmer der Adjutanten.“

„Sagt ihm, er soll einige Leute nehmen und oben die Treppe damit besetzen … der Schultheiß und ein Mensch, der bei ihm ist, werden arretirt werden müssen … aber er soll da oben auf weitere Befehle von mir warten.“

„Zu Befehl, Citoyen General!“ versetzte der Gensd’arm und eilte dem Capitain Lesaillier seinen Auftrag auszurichten. Duvignot aber wandte sich und trat raschen Schrittes zurück in das Gemach Marcellinens, das er vorher verlassen hatte. Er fand sie in derselben Stellung in ihrem Sessel am Fenster, wie er sie verlassen – nur daß sie ihr Tuch an die Augen gedrückt hatte.

„Marcelline,“ sagte er, auf sie zuschreitend und mit bewegter Stimme … „das ändert Alles … da lies!“

Er reichte ihr den Brief des Erzherzogs; sie nahm ihn mit lässiger Hand, ohne aufzublicken.

„Was soll ich damit?“

„Lies!“

„Nun,“ fuhr sie apathisch fort, nachdem sie das Blatt überflogen … „was soll es? Es ist nichts, was mich just überrascht – ich sagte Dir, daß ich dem Erzherzog begegnet. Der Brief ist an Vollrath … gieb ihn ihm … ich denke viel an seine Benedicte jetzt!“

„Vollrath erhielt den Brief – er nahm ihn in meiner Gegenwart entgegen und das genügt, um ihn des Verraths zu überweisen … ich werde Vollrath darauf hin vor’s Kriegsgericht stellen und erschießen lassen.“

Marcelline fuhr erschrocken zusammen.

„Ah … Du … Du sagst … nein, ich kann nicht recht gehört haben … Du sagst …?“

„Ich könne ihn erschießen lassen, so sagt’ ich, und so wird es geschehen …“

„Um Gotteswillen, das ist, das kann nicht möglich sein …“

„Laß mich ausreden … meine Pflicht gebietet mir, die Befehle, die ich erhielt, ausführen zu lassen, und zu diesen Befehlen gehört, unnachsichtlich jede Verbindung mit unseren Feinden zu ahnden … wir können, wir dürfen nicht anders handeln, von stärkeren Gegnern umgeben, in Feindesland uns unserer Haut wehrend, in einem Kriege, wo von Schonung keine Rede ist und die Bauerncanaille sogar sich wie eine blutdürstige Bestie auf uns gestürzt hat …“

[579] „Du sprichst dies Alles nicht, um mich wirklich glauben zu machen, daß Du ein solcher Unmensch, ein so verabscheuenswürdiger Schurke sein würdest …“

„Ruhig, ruhig, Marcelline – zornige Worte bringen uns nicht weiter – höre mich an. Ich werde das Leben Deines Gatten schonen, ich werde diesen Brief dann zerreißen, wenn Du es willst … dagegen wird Dein Gatte einwilligen, Dir all das Deine herauszugeben, Dich friedlich ziehen und mir folgen zu lassen! Geh’ zu ihm und stelle ihm die Bedingung …“

„Um Gott, ich soll zu ihm gehn, ich soll ihm in’s Gesicht mein Verbrechen bekennen … ich soll seine Einwilligung in einen schmachvollen Handel verlangen …“

„Wenn Du mich liebtest, wie Du so oft geschworen, würde ich diese hochtönenden Worte nicht zu hören brauchen,“ rief Duvignot, zornig mit dem Fuße stampfend, aus – „nimm die Dinge einfach, wie sie liegen! Blicke der Nothwendigkeit mit mehr Ruhe und Vernunft in’s Gesicht, laß die Worte und handle … Du stehst vor einem Entweder-Oder … und kein Gott rettet Dich vor einer Entscheidung!“

„Daß kein Gott den rettet, der einmal in Deinen Händen, scheint in der That! Etienne, Du bist entsetzlich, es graut mich vor Dir!“

Er zuckte mit düsterem Stirnrunzeln die Achsel.

„Entscheide Dich und geh’!“ sagte er, sich an’s Fenster stellend und seine Stirn an eine der Scheiben beugend.

„Aber glaubst Du denn, glaubst Du in der That,“ rief Marcelline, „daß Vollrath in einen solchen schmachvollen Vertrag einwilligt? Daß er mich gehen heißt, wenn ich ihm als Preis dafür jenen Brief dort biete?“

„Ich denke doch!“ stieß Duvignot zornig hervor.

„O, Du irrst … Du irrst gewaltig – der alte Mann wird nie in etwas einwilligen, was wider seine Ehre ist, nie … und er liebt mich … wahrhaft … mehr vielleicht als Du, der im Stande ist, mich so zu quälen … weißt Du, was seine Antwort sein wird?“

„Was wird sie sein?“ fragte Duvignot mit kaltem Hohn. „Er kann Dich nicht mit in’s Grab nehmen, dieser Mann, der Dich mit so heißer Liebe liebt, wie Du sagst!“

„Nein, aber er kann über’s Grab hinaus mich vor Unglück, vor dem Untergang behüten wollen. Er wird sagen: ich darf mir das Leben nicht erkaufen wollen mit dem sicheren Unglück Deines Lebens – willigte ich ein, so wärst Du ein verlorenes Geschöpf, Du würdest grenzenlos unglücklich werden an der Seite eines Mannes, der solche Mittel gebraucht, um Dich zu besitzen … Deine Zukunft, das ganze Elend Deiner Zukunft steht vor mir und – ich will Dir nicht das Thor öffnen zu dieser Zukunft … lieber geh’ ich in den Tod, der mich nicht entehrt, wie es das Leben nach solch einem Handel thun würde!“

„Welchen Heroismus Du ihm zutraust, welche rührende Liebe zu Dir!“ erwiderte Duvignot verbissen und doch von Marcellinens Worten erschüttert. Aber dies Gefühl wurde nicht Herr über ihn. Die Leidenschaft, die ihm die Trennung von dem geliebten Weibe als etwas Unmögliches, etwas ganz Undenkbares erscheinen ließ, die Kränkung seiner Eigenliebe, die in ihrem Widerstande lag, das Stachelnde dieses Widerstandes selbst, alles das durchwühlte ihn und höhnisch rief er aus:

„Ihr Weiber seid Egoisten, Alle – Alle – Du denkst bei dem Allen nur an Deine Zukunft und die Sicherheit Deines Glücks darin …“

„Ihr Männer seid wohl nicht Egoisten? … Du bist es nicht in dieser Stunde?“

„Wenn Du es nicht bist, nun wohl, so geh’, denk’ zuerst an Deinen Mann und wie Du ihn rettest – denk’ an ihn und nicht blos an Dein Schicksal, das Dir so entsetzlich scheint, wenn Du mir folgst, wenn Du mir es anvertraust!“

„Ich kann Vollrath nicht retten … er wird es nicht wollen … nur Du kannst es – gieb Deinen schrecklichen, schurkischen Vorsatz, Deinen teuflischen Willen auf …“

„Reize mich nicht mit solchen Worten – es ist genug, daß Du sagst: ‚Ich will nicht‘! Wohl denn, so höre: Du bist es, die Deines Mannes Todesurtheil unterschreibt, und – nachher folgst Du mir dennoch …“

„Dem Mörder meines Mannes? Nimmermehr!“

Duvignot wandte sich und schaute eine Weile auf die furchtbar erregte, verzweifelnde Frau nieder.

Der Anblick schien ihn zu erweichen; er fuhr mit der Hand über die Stirn und sagte halblaut. „Suchen wir Frieden, Marcelline; höre mich an. Ich dürste nicht nach dem Blut dieses armen alten Mannes – bei meiner Ehre nicht! Mag er leben! Aber auch wir wollen leben, zusammen leben, denn anders fasse ich das Leben nun einmal nicht! Laß uns darüber einig werden, einig noch in dieser Stunde, damit Alles abgethan sei, was neuen Streit zwischen uns entbrennen lassen könnte! Du fürchtest für das Glück Deiner Zukunft, für Dein Loos, wenn Du es mir anvertraust … das ist bitter, es ist demüthigend für mich. Liebtest Du mich, so wie ich Dich, so würde kein Raum für solche Bedenklichkeiten in Deinem Herzen sein. Du würdest in einer Zukunft, die uns die Freiheit gäbe, uns ganz anzugehören, nur das höchste Glück erblicken und vertrauend dem Manne folgen, von dem Du weißt, daß Du seine ganze Seele besitzest. Sei es drum – wenn ich Deine ganze Seele nicht besitze, wie Du die meine, so giebt es ein Wesen wenigstens, was sie besitzt, und dieses Wesen wird die Macht haben, Dich zu dem zu bestimmen, was Du mir abschlägst …“

„Was willst Du sagen?“ rief Marcelline aus.

„Ich sagte Dir vorhin, daß ich die Macht habe, Dich zu zwingen, mir zu folgen. Ich drückte mich verkehrt aus. Nicht in meiner Hand liegt diese Macht – es ist ein anderes Wesen, das …“

„Wen … o mein Gott, wen kannst Du meinen? …“

„Brauche ich es Dir zu sagen? ich meine Leopold!“

„Leopold!“ fuhr Frau Marcelline empor, sich strack aufrichtend und die Hand nach Duvignot ausstreckend, … „Leopold … was ist mit meinem Kinde … was weißt Du von meinem Kinde … rede, rede, was ist mit ihm … wo ist es?“

„Es ist in Frankreich!“

„In Frankreich? In Deinem Lande?“

„In meinem Lande, in meiner Heimath, in der Bretagne, wohlgehütet, wohl aufbewahrt!“

„In Deinem Lande … und da ist Leopold … und das sagst Du mir erst heute … erst jetzt … o Du belügst mich, Du entsetzlicher Mensch!“

„Ich spreche die Wahrheit!“

„Es kann nicht wahr sein … es kann nicht sein … wie könnte Benedicte, nachdem sie das Kind entführt, es nach Frankreich, in Deine Gewalt gebracht haben?“

„Behaupte ich das? Aber könnten meine Nachforschungen nach dem geraubten Knaben nicht rastloser und glücklicher gewesen sein als die Deinen? Könnte es mir nicht gelungen sein, ihn aufzufinden, ihn, meinen Sohn, mein Eigen, das nach allen Gesetzen der Natur mir gehörte, in meiner Heimath in Sicherheit zu bringen und mir als einen theuern Schatz, als mein Liebstes da zu bergen?“

„Das … das sollte die Wahrheit sein, das behauptest Du?“

„Ich behaupte es, ich schwöre es Dir, daß das Kind in meinen Händen ist. Giebt es einen Schwur, der Dich überzeugt, so nenne ihn mir, ich will ihn leisten. Bei meiner Ehre? Das genügt Euch Weibern nicht, Ihr wißt nicht, was einem Manne seine Ehre ist … bei der Asche meiner Mutter – ist Dir das genug?“

„Aber wie war es Dir möglich …“

„Ich habe das Kind Grand de Bateillère anvertraut; ich habe es ihm auf die Seele gebunden, er hat es in die Nachbarschaft von Rennes geführt, zu einer seiner Tanten, die auf dem Lande lebt. Ich hörte lange nichts von ihm … aber sein letzter Brief sagte mir, daß das Kind wohl sei.“

„Und mir, mir verschwiegst Du das?“

„Ich verschwieg es Dir – vielleicht in der Voraussehung einer Stunde, wie diese für uns ist … einer Stunde, wo ich die Demüthigung erlebe, zu sehen, daß meine Bitte: verlaß mich nicht und folge mir, machtlos an Dir abgleitet, wo ich Dir sagen muß: Folge mir denn zu Deinem Kinde, Du wirst sonst Dein Kind nie wieder sehen.“

„Hatte ich Recht,“ fuhr, als Marcelline nicht antwortete, Duvignot mit Bitterkeit fort, „hatte ich Recht, als ich Dir sagte: ich könne Dich zwingen?“

Marcelline stand wie erstarrt, wie versteinert. Sie war todtenbleich geworden. Nur in ihren unheimlich vergrößerten Augen, die auf ihm ruhten, schien noch Leben zu sein. So blickte [580] sie ihn an, daß ihm unheimlich zu Muthe wurde … daß er die Brauen zusammenzog und gebieterisch sagte. „Nun, so rede doch endlich!“

„Du hattest nicht Recht!“ stieß sie kaum hörbar hervor. „Nein, bei Gottes rächendem Strafgericht nicht! Du der Verbündete dieser Benedicte, um mir den größten Schmerz meines Lebens zu bereiten!“

„Das war ich nicht – ich wahr nicht ihr Verbündeter …“

„Und wenn auch, Du konntest meine Angst, meine Qual sehen … und doch sagen, Du liebtest mich! O unerhört … unerhört … unerhört!“

Sie sank in ihren Sessel zurück, sie schlug ihre Hände vor’s Gesicht und brach in bittres Schluchzen aus.

„Gieb mir mein Kind,“ rief sie aus, „gieb mir mein Kind zurück … und dann, dann laß mich nie, nie wieder den Vater dieses Kindes sehen!“

„Marcelline!“

„Ich will mein Kind von Dir … nichts … nichts als das … gieb mir mein Kind zurück!“

„So fasse Dich doch … Du wirst mit mir kommen, wir werden zusammen es wiedersehen …“

„Mit Dir? Nie, nie – aber ich werde es mir holen … ich werde es zu suchen, zu finden wissen … ich werde barfuß gehen und mich von Thür zu Thür betteln, wenn es sein muß, um mein Kind wieder zu erlangen … ich werde seinetwegen Alles, Alles opfern, ich werde meinen Ruf mit Füßen treten lassen, ich werde Alles thun, was ein Weib thun kann – nur das Eine nicht, Dir Menschen ohne eine Seele und ohne ein Herz im Leibe zu folgen … bei Gott, dies scheidet uns auf ewig!“

„Marcelline!“ rief Duvignot leidenschaftlich aus, „mach’ mich nicht rasend, nicht toll – – dies ist nicht Dein letztes Wort, oder …“

„Es ist mein letztes … unwiderruflich!“

„Wenn ich Dir Alles auseinandersetzen könnte, was mich bestimmte, was mich zwang …“

„Was bedarf es dessen? Du sahst meinen Schmerz, meinen furchtbaren Schmerz und – schwiegst! Es ist genug, übergenug. Sprich mir kein Wort mehr, geh’, räche Dich, thue, was Du magst und kannst, tödte, erschieße, bade Dich in Blut, mich beugst Du nicht mehr! –“

„Zorniges, unvernünftiges, eigensinniges Weib!“ brauste jetzt Duvignot auf, „füge Dich in meinen Willen oder …“

„Niemals – Du kannst mich zerbrechen, aber nicht beugen!“

„Nun dann im Namen der Hölle!“ schrie Duvignot, „gebrochen sollst Du werden! Es ist Dein Trotz, der mich zwingt zu handeln!“

Er stürzte, den auf den Boden gefallenen Brief des Erzherzogs an sich reißend, davon und draußen einige Stufen der Treppe zum oberen Stock hinauf, bis ihm auf seinen Ruf der Capitain Lesaillier entgegen eilte.

„Der Schultheiß wird auf die Hauptwache abgeführt,“ befahl er diesem. „Dann bemächtigen Sie sich des Menschen in der Chasseur-Uniform; Beide werden strenge bewacht!“




12.

Wir sahen, wie die Befehle des Generals sofort ausgeführt worden waren. Der Capitain Lesaillier hatte zuerst den Schultheißen Vollrath abführen lassen. Dann hatte er sich der Person Wilderich’s bemächtigt. Dieser folgte jetzt den Soldaten; der Capitain schritt hinter ihm drein. In seiner furchtbaren Erregung, in seiner Erschütterung war es Wilderich schwer, die Besinnung zu bewahren, und doch hatte er alle seine Fassung nöthig, um den Gedanken, der wie ein Licht in seine Seele gefallen, festzuhalten – den Gedanken, der ihm in all’ dieser unsäglichen Aufregung nicht früher gekommen, der jetzt wie ein Blitzstrahl ihn bei Benedictens letzter Antwort durchzuckt hatte – und an dessen Ende die Rettung, sichere Rettung lag!

„Capitain,“ sagte er deshalb, sich, die Treppe hinabschreitend, zu Lesaillier umwendend, „Capitain, wenn Sie Ihrem General einen großen Dienst leisten wollen, so verstatten Sie mir, daß ich ein paar Worte mit Ihnen unter vier Augen rede!“

„Sie werden vor dem Kriegsgericht reden können … morgen!“ antwortete der Capitain.

„Nein,“ versetzte Wilderich, „des Generals Privat-Angelegenheiten und die der Dame dieses Hauses gehören nicht vor das Kriegsgericht.“

„Pst!“ rief Lesaillier aus, „und davon wollen Sie mit mir reden?“

Er maß ihn mit einem verächtlichen Blick von oben bis unten.

„So ist es … ich bitte Sie dringend darum … wenn Sie mich anhören, werden Sie Ihrem Vorgesetzten den größten Dienst leisten, den ihm ein Sterblicher in diesem Augenblick leisten kann!“

„Merkwürdig! Und was liegt Ihnen daran, ob ihm ein Dienst geleistet werde oder nicht? Ihnen … in Ihrer Lage?“

„An Ihrem General liegt mir nichts … aber an einer anderen Person, für die ich nicht handeln kann, ohne auch Ihrem General zu nützen.“

„Nun, so treten Sie,“ sagte Lesaillier zögernd, doch betroffen von dem Ernst, womit Wilderich sprach, „treten Sie dort ein.“

Sie waren unten auf dem Flur angekommen und Lesaillier deutete auf die Thür, die links von der Hausthür in einen Raum führte.

Wilderich trat ein, Lesaillier folgte ihm, während auf seinen Wink die Soldaten vor der Thür blieben.

„Also – was wollen Sie?“ fragte der Capitain herrisch und wie über seine eigene Nachgiebigkeit verdrossen, „reden Sie!“

Es standen im Hintergrund des Zimmers ein paar Officiere und einige Leute in Civil zusammen, Wilderich trat also in die erste Fensternische, wo er ungehört sprechen konnte.

„Was ich will,“ sagte er, „ist die Freiheit auf dreißig bis sechsunddreißig Stunden, gegen mein Ehrenwort, daß ich nach Verlauf dieser Zeit mich wieder zur Haft stellen werde.“

„Ah!“ rief der Capitain, halb verwundert, halb spöttisch aus.

„Und Sie werden mir die Freiheit geben,“ fuhr Wilderich fort, „wenn …“

„Wenn ich gesehen habe, daß Sie ein Narr sind, der unzurechnungsfähig ist und den man deshalb laufen läßt, wollen Sie sagen!“

„Nicht doch, Sie werden mir die Freiheit für so kurze Zeit geben, wenn ich Ihnen einen Preis dafür biete, den Sie nicht ausschlagen werden.“

„Und dieser Preis wäre?“ sagte achselzuckend der Capitain.

„Es ist die ganze geheime Correspondenz der Frau des Schultheißen mit Ihrem General.“

„Teufel … die hätten Sie?“

„Sie ist in meine Hände gefallen … mit dem im Spessart aufgehobenen Fourgon des Generals.“

„So werde ich sie Ihnen einfach abnehmen lassen …“

„Das können Sie nicht, denn ich trage sie nicht bei mir.“

„Wo ist sie?“

„Sie werden das erfahren nach meiner Freilassung.“

„Ich soll Sie freilassen auf Ihr bloßes Wort hin, daß Sie diese Briefe besitzen, an deren Wiedererlangung allerdings dem General gelegen sein dürfte …“

„Sie werden das,“ fiel Wilderich ein, „diese Briefe werden sonst veröffentlicht werden und die Welt wird erfahren, daß die Verfolgung des Schultheißen Vollrath durch den General eine Handlung der allerniedrigsten und verächtlichsten Privatleidenschaft war … wenn sich der General daraus am Ende nichts machen sollte, so wird die Frau, um deren Ruf es sich handelt, desto mehr Werth darauf legen, nicht so bloßgestellt zu werden!“

Der Capitain sah Wilderich eine Weile nachdenklich an.

„Aber was wollen Sie denn eigentlich, daß geschehe?“ sagte er dann. „Sie können doch unmöglich begehren, daß man Sie so ohne Weiteres und auf das gütige Versprechen hin, daß Sie jene Briefe ausliefern wollen, laufen lasse?“

Wilderich unterbrach ihn, indem er zu dem Tische im Hintergrunde des Raumes, auf welchem sich Schreibmaterialien befanden, schritt und ein Blatt nahm, um hastig einige Worte darauf zu schreiben.

„Was schreiben Sie da?“

Wilderich gab das Blatt an den Capitain. Dieser las die Worte:

„Geben Sie die Briefe, welche ich Ihnen anvertraute, an den Ueberbringer dieser Zeilen. Wilderich Buchrodt.“     

[582] „Nun?“ fragte der Capitain, „an wen ist dieser Zettel gerichtet?“

„Geben Sie mir die Freiheit … dann gebe ich Ihnen die Adresse! Mein Ehrenwort darauf … gegen Ihr Ehrenwort!“

„Gut denn,“ versetzte Lesaillier, „ich will zum General gehen und ihn entscheiden lassen. Sind Sie damit einverstanden?“

„Völlig! Aber eilen Sie!“

Der Capitain ging. Nach wenigen Minuten kam er zurück. Auf die Schwelle des Zimmers tretend, winkte er Wilderich zu sich. Dieser trat auf ihn zu.

„Kommen Sie,“ sagte Lesaillier, „die Adresse … dann können Sie gehn, wohin Sie wollen!“

„Ihr Ehrenwort, daß mich Niemand hindern wird?“

Lesaillier wandte sich durch die offene Thür zum Flur zurück und sagte laut zu den zwei Soldaten, welche als Posten sich davor aufgestellt hatten:

„Ihr könnt gehen, Leute, der Mann hier ist frei.“

„Also … die Adresse!“ wandte er sich dann an Wilderich zurück.

„Uebergeben Sie den Zettel an Fräulein Benedicte Vollrath!“ antwortete Wilderich.

„Die Briefe sind in ihren Händen?“

„So ist es, Herr Capitain … und nun auf Wiedersehen!“

Wilderich grüßte leicht und schritt davon. Der Capitain eilte mit seinem Zettel zum General hinauf, den er umdrängt von Menschen und Geschäften oben in seinem Zimmer und wie einen zornigen Löwen dazwischen auf- und abrennend fand.




13.

Eine Viertelstunde später hatte Wilderich mit Hülfe des ehrlichen Sachsenhäusers seinen Braunen aus dem Stalle im „Grauen Falken“ gezogen und saß im Sattel, um heimwärts in seinen Spessart zu reiten. Hatte der arme Klepper bei dem Herritt sich scharf zusammennehmen müssen, so war es jetzt, bei der Rückkehr zehn Mal ärger. Die Wege waren durch den Marsch so vieler Truppencolonnen, Geschütze, Proviant- und Munitionswagen, und was Alles mit einer Armee sich dahinwälzt, in einen fürchterlichen Zustand gerathen. Nur gut, daß die Straße von diesen Zügen selbst freier war, als am gestrigen Tage und am Morgen – der weitaus größere Theil dessen, was von der Sambre- und Maas- Armee durch den Spessart gezogen, war rechtsab in die Wetterau marschirt oder hatte seinen nächsten Bestimmungsort, Frankfurt, erreicht … nur noch die Marodeurs und Nachzügler begegneten Wilderich, der in gestrecktem Trab, ohne sich viel um sie zu kümmern, meist mitten durch ihre Haufen hindurchsprengte. So erreichte er Hanau am tiefen Abend; er ließ dem Pferde in Wein getränktes Brod geben und es trug ihn weiter, unermüdlich, bis in die tiefe Nacht hinein, bis nach Aschaffenburg. Hier aber drohte es zusammenzubrechen. Wilderich mußte sich entschließen, abzusteigen und es über holpriges Pflaster am Zügel durch ein paar Straßen zu führen, bis er ein Wirthshaus entdeckte, vor dessen noch geöffnetem Einfahrtsthor eine Laterne brannte. Da fand es Stall, Streu und Rast. … Wilderich aber fühlte, daß an Rast und Ruhe für ihn nicht zu denken sei; er ging, nachdem er gesehen, wie sein Thier von einem verschlafenen Hausknecht versorgt worden, in das große gewölbte Gastzimmer neben dem Eingangsflur des Hauses.

Es war still und menschenleer, das weite Gastzimmer zum „Goldenen Faß“ in der Schmiedstraße zu Aschaffenburg. Auf der Bank am Kachelofen lag ein halbwüchsiger Junge, mit dem Rücken an die Wand gelehnt, den Kopf auf die Brust gesenkt; er war nach des Tages Last und Mühen selig entschlafen. Nur ein verspäteter Gast war noch da – ein starker Mann mit einem dreieckigen Hut auf dem vollen, runden und stark blatternarbigen Gesichte, in dem die kleinen Augen fast ganz verschwanden, saß am Ende des langen Raumes, die beiden Ellenbogen auf den Tisch vor ihm stemmend und nachdenklich in sein halbgeleertes Bierglas blickend.

Er erhob den Kopf, als Wilderich eintrat, schob den dreieckigen Hut leise mehr auf den Hinterkopf zurück, als ob er so besser den Fremdling beobachten könne, und folgte ihm mit seinen blinzelnden Blicken, während dieser den schlafenden Burschen aufrüttelte und ihm auftrug, Wein und Brod zu holen.

Wilderich setzte sich dann in einiger Entfernung von dem andern Gaste an den Tisch.

Dieser nickte ihm freundlich zu.

„Nix deutsch?“ sagte er lächelnd.

„Ich spreche deutsch!“ antwortete Wilderich.

„Sieh, sieh,“ fuhr der Mann, indem er aufstand, sein Glas nahm und sich in Wilderich’s Nähe setzte, fort, „dacht’ mir’s gleich, trotz Eurer grünrothen Jacke … Chasseurs nennt Ihr Euch, denk’ ich? na, ja, dacht’ mir’s gleich, Ihr wäret Keiner von den Echten, sondern Einer von denen aus dem Elsaß, oder von denen vom Rhein drüben, die so mitlaufen … ’s sind ihrer wenig drunter so stattliche Leute, wie Ihr … also Ihr sprecht deutsch … da können wir ein wenig discuriren zusammen … es ist gar langweilig, wenn man so allein Nachts bei dem kalten Bier sitzt.“ …

„Und weshalb sitzt Ihr so spät allein hier?“ fragte Wilderich den geselligen Mann.

„Na ja, seht,“ versetzte dieser, „was soll man zu Bett gehen, wenn man weiß, man findet doch seine Ruhe nicht? Es ist von wegen des Geblüts, müßt Ihr wissen … von wegen des Geblüts! Wenn ich mich leg’, so ist’s just, als ob ich einen Tobel da hätte … hier und hier“ – der Mann deutete erst auf seine rechte und dann auf seine linke Schläfe – „just wie ein Tobel, sag’ ich Euch, wie ein kleiner Mühlenkolk, wenn die Räder am Drehen sind!“

„So müßt Ihr kein Bier trinken, sondern zur Ader lassen …“

„Ist schon wahr,“ versetzte der Mann gutmüthig lächelnd, „bin auch nicht faul mit dem Aderlassen … werden schon sehen, werden schon sehen … es ist viel zur Ader gelassen worden im Spessart in diesen Tagen … gar wüst und bös … es war eine wüste Geschichte … bin auf und davon gelaufen vor der wüsten Wirthschaft … konnt’s nicht mehr ansehen … das sakrische Bauerpack … ist doch eine gräuliche Sach’, wenn so der plumpe Bauer losbricht!“

„So habt Ihr nicht geholfen, mit den Anderen drauf zu schlagen?“

„Ich? Der Gaishofstoffel? Was denkt Ihr? Ich? Mich graust’s. Auf Euch Franzosen losschlagen? Das mögen die Kaiserlichen thun; denen ihre Sache ist’s! Das sind Soldaten. Und die Franzosen sind auch Soldaten … mögen sie’s mit einander ausmachen – was geht’s einen friedfertigen Bauersmann an?“

„Aber es ist doch arg gehaust worden von der französischen Armee im Frankenland!“

„Arg gehaust … nun ja … ein wenig arg schon ist’s hergegangen … geplündert und gebrannt, geraubt und geschändet … wie’s so im Kriege hergeht … die Kirchen besudelt und die Pfarrer gezwickt … dem in Strullendorf, dem Pfarrer Rük ist’s am schlimmsten ergangen … Ihr wißt wohl nicht davon? Sie haben ihn geplündert, mißhandelt, ihm mit einem Grabscheit in den Hals gehauen, ein Stück von der Nase abgeschlagen und ihn in den in Flammen stehenden Widum gestoßen; da hat der arme Teufel gemeint, im Keller kann er sich vor dem Feuer retten; und da hat man ihn denn am andern Tage gefunden – ganz ausgebraten! Ihr seid wohl nicht dabei gewesen?“

„Nein,“ sagte Wilderich trocken.

„Es ist eben der Krieg,“ fuhr der Mann mit seinem stereotypen gutmüthigen Lächeln fort, „und das muß man so hinnehmen, wie’s Gottes Wille ist … was geht’s einen armen Bauersmann an? … Ich habe gesehen, wie sie drei französische Officiere, die sie gefangen hatten, nackt auszogen und an drei Bäume hingen; im Wald, nahe beim Bessenbacher Schlosse war’s … ihre Kleider verbrannten sie – das Satanspack von Bauern.“ …

Der Mann hatte, während er so mit einem ganz eigenthümlichen Ausdruck von Harmlosigkeit diese Gräuelgeschichten vorbrachte, eine Bewegung mit dem rechten Arme unter dem Tische gemacht, die Wilderich nicht entging. Es war, als ob er aus der Seitentasche seines Beinkleides etwas hervorgezogen und damit unter die Tischplatte gedrückt … Wilderich glaubte die Bewegung zu verstehen … sie schien ihm in verdächtiger Verbindung mit einer Landessitte zu stehen, die weniger harmlos war, als des seltsamen Gastes gutmüthiges Lächeln dabei. Wilderich zog nach einer Weile, während der er seinen späten Gesellschafter nicht aus dem Auge verloren, einen Schlüssel aus seiner Tasche hervor, spielte damit und ließ ihn wie achtlos zu Boden fallen und bückte sich dann, um ihn aufzuheben.

Er sah dabei ein großes breites Messer zwischen den Knieen des Andern mit der Spitze in die untere Seite der Tischplatte [583] gestoßen – der Mann konnte es mit einem Griffe darnach fest gefaßt haben. Wilderich zog es heraus und betrachtete es; dann legte er es ruhig vor seinen Gesellschafter auf den Tisch.

„Ihr führt da eine stramme Klinge!“ sagte er, ihn fest ansehend.

„Mein Gott, ja – ohne die wag’ ich mich schon gar nicht mehr hinaus,“ sagte der Mann, „man wird so schreckhaft in solchen Zeiten … man denkt immer, es könnt’ Einem was zustoßen … und wenn man dann so gar nichts hat, sich zu verdefendiren … gegen Marodeurs und böse Menschen, die sich einen Spaß daraus machen, Einem das Lebenslicht auszublasen … dann …“

„Ihr haltet mich auch wohl für einen Marodeur?“ fragte Wilderich.

Der Mann schüttelte den Kopf.

„Gott behüte!“ sagte er. „Die Eurigen, auch die Marodeurs, sind längst alle zum Spessart hinaus … die Oesterreicher sind da nun schon nachgerückt; Ihr seht mir eher aus wie Einer, der mit einer Botschaft, einem Brief oder dergleichen abgeschickt ist – vielleicht von denen, die rechts ab in die Wetterau marschiren, an die in Hanau oder Frankfurt drüben? Ihr dient bei den leichten Reitern … das muß solche Botendienste thun.“

Wilderich hatte die Erfrischungen, die ihm der verschlafene Bursche gebracht, zu sich genommen und stand jetzt auf. Der gutmüthige Mann mit dem dreieckigen Hut auf dem Hinterkopf und den lächelnden Schweinsaugen machte ihm einen Eindruck, der ihn von der Fortsetzung des Gesprächs abhielt. Er fand sich nicht veranlaßt, den Irrthum desselben, der ihn wegen seiner Uniform für einen Franzosen hielt, aufzuklären, und wandelte schweigend in der Gaststube auf und ab.

Der „Gaishofstoffel“ folgte ihm dabei mit den Augen ohne einen Versuch zu machen, das Gespräch wieder aufzunehmen. Er trank in raschen kleinen Schlucken ein Glas Bier nach dem andern. Sein großes Messer hatte er still wieder eingesteckt.

Endlich ertrug Wilderich die erzwungene Rast nicht mehr. Er hatte es von den Thürmen der Stadt schlagen hören – eine Viertelstunde nach der andern … anderthalb Stunden waren vergangen … er vermochte es nicht über sich, seinem Pferde eine längere Ruhe zu gönnen, und ging, um im Stalle nach dem Thiere zu sehen. Es hatte zum guten Glück, nachdem es von der ersten Ermüdung verschnauft, sich gierig über sein Futter hergemacht; Wilderich ließ ihm nachschütten, wartete im Stalle noch eine Viertelstunde, bis es seinen Hafer verzehrt hatte und getränkt worden, und ließ es dann herausziehen.

Es war zwei Uhr Morgens, als er aus dem Wirthshause fortritt. An den erleuchteten Fenstern der Gaststube vorüberreitend sah er, daß diese jetzt auch vom „Gaishofstoffel“ verlassen war … der Bursche löschte drinnen eben die Lichter aus.

Wilderich ritt dem Sandthore zu durch die schweigenden Gassen, die vor Kurzem noch Zeugen so wüsten Tumults gewesen, denn am Tage vorher war bereits eine österreichische Truppe mit einem starken Haufen Spessartbauern hinter den fliehenden Franzosen in fortwährendem Fechten, Schießen und Verfolgen in die Stadt eingebrochen – die Franzosen waren weiter geflohen, die Oesterreicher und die Bauern ihnen nach, rechtsab nach Gelnhausen zu.

[593] Eine kühle Nachtluft wehte draußen vom Main her unsern einsamen nächtlichen Reiter an. Er knöpfte seine Uniform dicht zu und trieb sein Pferd zu raschem Schritte an – der Weg war zu schlecht, die Dunkelheit zu groß, als daß es anders als im Schritt hätte vorankommen können – es ließen sich kaum die Gegenstände zur Rechten und Linken des Weges unterscheiden, da der Himmel mit Wolken bedeckt war und nur im Süden ein breiter, kalter Streifen am Horizont dämmerte. Wilderich konnte kaum so viel von dem Wege vor ihm sehen, um sein Pferd um die schlimmsten ausgefahrenen Wegstellen herumführen zu können.

Doch hatte er ein paar Mal den Eindruck, als ob er den Weg nicht allein mache. Sich umblickend hatte er etwas wie einen gleitenden Schatten bemerkt, der sich im Dunkel einer Reihe Weiden, die auf einem Anger zur Seite des Weges standen, fortbewegte – er hielt an, um zu sehen, ob das dunkle Etwas aus dem Schatten der Weiden, da wo diese aufhörten auf die freie Fläche herauskommen würde, aber er mußte sich getäuscht haben, es erschien nichts. Zehn Minuten weiter, den Bergen sich nähernd, lief der Weg durch ein Tannicht; in den schlanken Wipfeln und Aesten der noch jungen Bäume pfiff wie mit leisen Klagetönen und langgezogenem Aechzen der Nachtwind … ein unheimliches Lied, als ob die Nacht den Gefallenen den Todtensang halte … aber es war Wilderich auch, als ob unter den Bäumen Schritte von Zeit zu Zeit dürres Reisig zerträten … es knisterte, als ob ein Wild scheu durch den Tann bräche.

Ein Wild – das konnte es ja auch sein – obwohl es seltsam gewesen wäre, wenn ein Wild nach all’ dem Lärm und Schießen der Menschenjagd sich schon jetzt wieder in diese Wegschluchten des beginnenden Waldgebirgs gewagt hätte!

Er zog eines der Pistolen aus seiner Satteltasche hervor und lockerte den Säbel, der von Zeit zu Zeit klirrend an seine Sporen schlug, in der Scheide.

Das Geräusch aber erstarb; Wilderich begann an andere Dinge zu denken, an die Erlebnisse, die so mächtig seine Gedanken gefangen hielten; er berechnete die Zeit, die er zu seiner Reise bedurfte, er dachte über die Möglichkeit nach, sich ein anderes Pferd zu verschaffen, wenn das seine den Dienst in völliger Erschöpfung versagte – so war er an eine Stelle des Weges gekommen, wo er sich zwischen zwei Ufern befand, die, oben mit Bäumen bestanden, über seinen Pfad unten tiefe Schatten völliger Finsterniß legten. Er warf seinem Thiere den Zügel auf den Nacken und ließ es seinen Weg sich selber suchen, was es, von Zeit zu Zeit gebückten Halses den Boden mit seinen Nüstern anschnaubend, that.

Plötzlich stand es still, stierte vorgestreckten Halses in die Dunkelheit hinein und wieherte wie in Angst und Schrecken laut auf – gegen Wilderich’s Schenkeldruck in seinen keuchenden Flanken sträubte es sich mit einem heftigen Rückwärtsprallen.

Wilderich schimmerte etwas Helles, ein Gegenstand etwa von Menschenlänge entgegen, das quer auf seinem Wege lag … aber er sah es nur mit einem halben, einem Viertelsblick – im nächsten Augenblick fuhr von dem hohen Ufer her ein anderer Gegenstand, eine wie rasend sich auf ihn werfende Gestalt im Sprunge herab, saß auf der Kruppe seines Pferdes, umklammerte seine linke Schulter und vor den Augen des überraschten Reiters blitzte etwas wie eine Klinge. …

Die Klinge war zum Stoß gezückte aber sie konnte den Stoß nicht ausführen in demselben Augenblick, in welchem das Pferd die neue Last auf sich niederkommen gefühlt, hatte es sich steilrecht gebäumt, und statt eines Stoßes in die Seite fühlte Wilderich nur die schwere Faust sich krampfhafter in seine Schulter krallen, um sich festzuhalten.

Er selbst hatte durch die Bewegung des Pferdes sich irren lassen in seinem blitzschnellen Griff nach dem Pistol – er faßte es am Lauf und führte mit dem Kolben einen rasenden Schlag um sich – der Schlag traf mit einem lauten Krach; die Faust an seiner Schulter ließ los – rechts von Wilderich fiel das Messer hin und hinterwärts glitt die Gestalt von der Kruppe des Pferdes nieder – mit einem Aufschreie einem Stöhnen fiel sie zu Boden … plump und schwer … Wilderich athmete ein paar Mal aus tiefster Brust auf; er hatte Mühe sich zu fassen und seine Gedanken so weit zu sammeln, um sich Rechenschaft darüber zu geben, was in dem kurzen Augenblick Alles geschehen – dann glitt er aus dem Sattel zur Erde nieder, beugte sich über den hinter dem schnaubenden Pferde liegenden dunklen Körper, der mit den Armen und Beinen Zuckungen machte, röchelte, dann unbeweglich dalag … neben ihm, einen Schritt weiter, lag ein dreieckiger Hut … so dunkel es war, Wilderich glaubte diese starke untersetzte Gestalt zu erkennen … trotz der schwarzen Fluth, die über das breite Gesicht strömte … der schwarzen Fluth, über deren Toben in seinen Schläfen der Mann vor so kurzer Zeit noch geklagt … es war der pockennarbige Mann aus dem Wirthshause zu Aschaffenburg, der „Gaishof-Stoffel“ – der „Franzosenjäger“, [594] dem ein schicksalschwerer Irrthum hier den Hieb einer deutschen Faust zugezogen, einen Hieb, der ihm an der Schläfe den Schädel gespaltet!

So viel war gewiß, der Mann athmete nicht mehr, er rührte sich nicht mehr, er war todt.

Wilderich blickte eine Weile starr auf ihn nieder – dann ermannte er sich – er machte ein paar Schritte vorwärts, beugte sich dann noch einmal über den helleren Gegenstand, der vor seinem Pferde quer über den Weg lag … es war eine geplünderte Leiche, gewiß die eines Franzosen … der Gaishof-Stoffel mußte, als das Pferd davor scheute und stehen blieb, in der tiefen Wegschlucht, grade den Augenblick gekommen geglaubt haben, um sich auf den vermeintlichen Feind zu stürzen, dem er aus dem Wirthshause bis hierher gefolgt war, um an dem einsamen Reiter einen Act seiner Wiedervergeltungswuth mehr zu üben! –

Wilderich konnte nichts thun, als das Grausen von sich abschütteln, das ihn zwischen den zwei Leichen, bei denen er in dunkler Nacht so allein dastand, und deren eine von seiner Hand gefällt war, gefaßt hatte. Wären auch noch Zeichen des Lebens in dem von ihm Erschlagenen gewesen – er war außer Stande ihm beizuspringen … er beschränkte sich deshalb darauf, den Körper bei Seite zu ziehen, ihn mit der Brust aufrecht gegen das hohe Wegufer zu lehnen … dann nahm er sein Pferd am Zügel, führte es an der andern Leiche vorüber und sprang jenseits derselben wieder in den Sattel, um dem Schauplatz der grauenhaften Begegnung so schnell wie möglich zu entkommen.

Je weiter Wilderich kam, desto häufiger wurden die Spuren der in diesen Thälern, durch die ihn sein Weg führte, stattgefundenen Kämpfe. Vor den Leichen scheute sein Pferd bald nicht mehr zurück, es bog nur schnuppernd und schnaufend zur Seite aus; zuweilen stieß es mit den Hufen klirrend an weggeworfene Waffen, oder bog vor abgespannten, stehen gebliebenen Fuhrwerken aus. Auf Truppen stieß er nicht mehr; der Paß, den ihm Sztarrai gegeben, war überflüssig, die Hauptstärke der Oesterreicher und mit ihnen der bewaffneten Bauern verfolgte die Franzosen auf den Straßen über Hamelburg und Brückenau nach der Lahn hin; der Erzherzog Karl, der auf Frankfurt marschirt war. um es zu occupiren und die Besatzung von Mainz, das seine Siege von der französischen Umschließung befreien mußten, an sich zu ziehen, bivouakirte mit seinen Truppen auf den Straßen, die rechts von Wilderich’s Wege am Mainufer entlang liefen, und in der Umgegend von Aschaffenburg, durch das Wilderich, wie wir sahen, ohne Aufenthalt gekommen war. – –

Es war am Nachmittage, als Wilderich an seinem Ziele, seinem einsamen Forsthause, ankam. Schon als er bei einer Wendung der Mühlenschlucht das Haus erblickte, sah er sich über eine Sorge, welche er in sich getragen, beruhigt. Er fürchtete, daß die Gräuelscenen des Kampfes und der Verfolgung, welche an den vorigen Tagen hier stattgefunden haben müßten, die alte Margarethe mit dem Knaben auf und davon getrieben haben könnten, daß sie sich in einer noch einsamer liegenden Gegend des Waldes ein Asyl gesucht und darin verborgen habe – zum guten Glück sah er sie auf der Treppe vor dem Hause sitzen, den Knaben zwischen ihren Knieen – wie sie immer dasaß, wenn Wilderich Abends heimkam – heute nur nicht beschäftigt wie immer, denn ihr Spinnrad stand nicht neben ihr, sie hatte die Hände gefaltet auf der Schulter des Knaben liegen und sah nachdenklich zu Boden.

Leopold schrie auf, als er den Reiter erblickte und Wilderich erkannte – er stürzte ihm entgegen mit dem lauten Freudenausruf:

„Bruder Wilderich! Da bist Du!“

„Da bin ich, mein Junge … Gott sei gedankt, daß Du zur Stelle bist!“ antwortete Wilderich aus dem Sattel gleitend.

„Heb’ mich auf Dein Pferd, Bruder Wilderich,“ sagte der Kleine, den Steigbügel erfassend.

„Nicht gleich – Du wirst schon hinaufkommen, mein Kind, und länger als Dir lieb sein wird!“ erwiderte Wilderich und gab der alten Margarethe, die dem Knaben nachgeeilt kam die Hand.

„Wie geht’s, Margareth – Ihr lebt also noch und seid nicht gestorben vor Schrecken?“

„Vor Schrecken nicht,“ antwortete die Alte, „aber beinahe aus Angst, daß es Euch an’s Leben gegangen, daß Ihr unter irgend einer Buche und Tanne im Weggraben lägt, und daß ich nun dasäße mit dem verlassenen Jungen da …“

„Für den Jungen ist gesorgt, Muhme Margareth,“ erwiderte Wilderich, „er wird Dir von nun an nicht die geringste Sorge mehr machen!“

„Das Kind … der Leopold?“ rief Margarethe erschrocken aus.

„Der Leopold … ich komme, ihn seinen Eltern zu bringen.“

„Ah … Ihr scherzt wohl … Ihr werdet das Kind nicht fortbringen wollen … das arme Kind …“

„Es ist nicht arm, Margareth – seine Eltern …“

„Seine Eltern haben es verlassen,“ fiel sie hitzig ein, „nun gehört das Kind uns, und Ihr sollt es nicht fortbringen … ich laß’ es nicht, was fingen wir an ohne das Kind in der todtenstillen Försterei!“

„Hast Du nicht oft genug geseufzt über die Sorge um das Kind, Margarethe?“ antwortete Wilderich, indem er bewegt den Knaben an sich zog. „Und glaubst Du, es würde mir leicht, mich von meinem kleinen Bruder zu trennen, dem lieben armen Burschen?“

Er hob das Kind in seine Arme empor und drückte es gerührt an sich.

„Aber so erzählt mir doch, was Ihr erlebt habt, wo Ihr gewesen, was Ihr vorhabt mit dem Leopold, wohin …“

„Das Alles wollen wir ruhig später durchsprechen, alte Margarethe, für jetzt ist nicht Zeit dazu. Ich gehe das Pferd in den Stall zu ziehen und mich umzukleiden. Dann geh’ ich zum Müller hinüber … er lebt doch noch, der Wölfle? … um zu sehen, ob er mir ein andres frisches Pferd verschaffen kann – unterdeß sorgst Du für ein Abendessen für den Leopold und mich und kleidest mir das Kind warm und vorsorglich für die Reise an.“ …

„Heilige Muttergottes, Ihr wollt doch nicht sogleich und durch die Nacht …“

„Sogleich und durch die Nacht, sobald ich ein andres Pferd habe.“ …

Wilderich entzog sich den weiteren Ausrufungen der alten Margarethe, indem er sein müdes Roß um das Haus herum zum Stalle führte. Dann ging er, seine Franzosen-Montur abzuwerfen und seine beste Förster-Uniform anzuziehen, den Hirschfänger anzuschnallen und die alte Büchse überzuwerfen, die ihm geblieben, nachdem er seine beste und sicherste Waffe damals, als er sich im Walde in einen französischen Chasseur verwandelt hatte, zurücklassen müssen, und endlich eilte er zum Müller drüben.

Der Müller war noch nicht heimgekehrt; die Mühlräder standen still, und ebenso still war es im Hause – nur die Frauen waren da, des Müllers Weib und die Schwiegermutter mit den Kindern – sie bestürmten Wilderich mit Fragen nach dem Mann, der noch mit den Andern auf der Franzosenjagd war, und nach allen den Andern aus der Nachbarschaft – Wilderich hatte Mühe, ihnen begreiflich zu machen, wie wenig er davon wisse und daß er nur gekommen des Müllers Rath zu verlangen, wie er zu einem Pferde komme. Darin konnten ihm die Frauen auch ohne den Müller helfen, sie wußten, daß drei gute Beutepferde, welche die Bauern sich, wenn sie zurückgekommen, theilen wollten, auf einem nicht fernen Hofe eingestallt seien – Wilderich hatte nur eine Viertelstunde zu gehen, um ihn zu erreichen. – Trotz seiner Ermüdung trat er sofort den Weg an, das Gehen war ihm nach dem langen Reiten eine Wohlthat – auf dem Hofe fand er ebenfalls nur Frauen und den alten halbblinden Sauhirten, auf dessen Protestationen er nicht achtete – er nahm das beste der drei Pferde und führte es am Zügel mit sich.

Als er heimkam, hatte die alte Margarethe für Alles gesorgt, ihre Vorräthe waren zwar arg von der Einquartierung mitgenommen, aber sie hatte ja die verschüchtert in den Wald gelaufenen Hühner wieder zusammengebracht und ihre Ziegen hatten ebenfalls die Katastrophe überlebt – Wilderich konnte erquickt und gestärkt beim Dunkelwerden sein frisches Roß besteigen, den in ein warmes Umschlagetuch Margarethens gehüllten Knaben vor sich auf den Sattel nehmen und dann, während die Alte ihre bitteren Thränen über den Abschied von ihrem oft gescholtenen „Prinzen“ weinte, davonreiten.




14.

Es war am anderen Abend, als er Frankfurt erreichte; in Hanau war er jetzt auf kaiserliche Truppen gestoßen; er hörte dort, daß sie am folgenden Tage den Marsch auf Frankfurt antreten sollten, während von der anderen Seite, von Höchst her, das bereits [595] besetzt war, ein anderes Corps zur Vertreibung der Franzosen aus der alten Kaiserstadt anrücken würde. Um so eiliger suchte Wilderich vorwärts zu kommen, in der Angst, daß der französische Commandant, dem klar werden mußte, wie kurz seines Bleibens in der von ihm tyrannisirten Stadt nur noch sein könne, desto grausamer und rücksichtsloser über das Schicksal des armen gefangenen Schultheißen entschieden und das Aergste vollführt habe.

An dem Allerheiligenthor – Frankfurt hatte damals noch von seinen alten Befestigungen einen bastionirten Wall mit zerfallener Brustwehr und einem breiten Wassergraben und seine sämmtlichen Thore – am Allerheiligenthor wurde er von der französischen Wache angehalten. Er mußte Auskunft über sich geben – als man Schwierigkeiten machte, ihn durchzulassen, verlangte er lebhaft zum Capitain Lesaillier geführt zu werden … „zum General Duvignot, zum Commandanten …“ rief er endlich aus, als er sah, daß die Mannschaft auf der Wache den Capitain Lesaillier nicht kannte.

„Das kann geschehen,“ versetzte der wachhabende Officier, rief einen Unterofficier vor und befahl diesem, ihn vor den Commandanten zu führen.

Der Unterofficier winkte ihm und schritt neben seinem Pferde her, der Zeil zu.

Wilderich sagte, als sie die erste Straße hinter sich hatten: „Mein Freund, Sie begreifen, daß ich nicht mit dem Pferde und mit diesem vor Ermüdung halb todten Kinde vor dem Commandanten erscheinen kann.“

„Das ist wahr,“ antwortete der Mann; „wir müssen Beide unterbringen.“

„Ist es Ihnen Eins, in welchem Wirthshause?“

„Wenn es nicht vom Wege abliegt – sicherlich.“

„So kommen Sie!“

Wilderich lenkte sein Pferd dem nahen „Grauen Falken“ zu. Als er auf den Hof ritt, fand er die Pulverwagen abgefahren und seinen Sachsenhäuser an die Stallthüre gelehnt, mit Behagen aus einer kurzen Pfeife rauchend und den Genuß nachholend, den er sich während der Anwesenheit der bedrohlichen Fracht auf dem Hof hatte versagen müssen.

„Wie, seid Ihr das?“ sagte der Mann, als er den Reiter erkannt hatte. „Zum Teufel, Ihr steckt ja täglich in einer neuen Uniform … diese da steht Euch besser!“

Wilderich ließ den Knaben, der ermattet und schlaftrunken in seinen Armen hing, dem Sachsenhäuser in die Hände gleiten und sprang dann selbst zur Erde.

„Da nehmt – nehmt mir auch das Pferd ab,“ rief er aus … „und sagt mir – ist Nichts geschehen in der Stadt, ist Niemand gerichtet, erschossen …?“

„Erschossen … nun freilich!“ rief der Sachsenhäuser. „Ohne Blut thun’s ja … Gott, steh’ mir bei! Euer Franzose da wird doch kein Deutsch verstehn?“

„Sprecht, sprecht, wer ist erschossen – der Schultheiß …?“

„Der Vollrath? … bewahre … der sitzt auf dem Eschenheimer Thurm, aber erschossen ist er nicht …“

„Gott sei gedankt!“ rief Wilderich aus tiefster Brust.

„Nur die Bauern sind heut’ erschossen, die armen Teufel … drei Bauern, die sie sich eingefangen haben … das war heut’ Morgen … gestern ist’s zwei Klingenberger Bauern, zwei ganz unschuldigen Burschen, nicht besser gegangen …“

„Nun, sorgt für das Kind und das Pferd,“ fiel Wilderich ihm in die Rede. „Bringt das Kind auf Euer Bett in Eurer Kammer – laßt es keinen Augenblick aus den Augen – hört Ihr – Ihr sollt reich belohnt werden – reicher als Ihr denkt, wollt Ihr?“

„Weshalb nicht? – Es soll schon für das Jüngelchen gesorgt werden – wenn Ihr nicht zurückkommt, ihn mir vom Halse zu schaffen, nehm’ ich als Trinkgeld Euren Gaul.“

„Das mögt Ihr!“ erwiderte Wilderich, indem er hastig den Knaben an sich drückte und ihn zu beschwichtigen suchte, da er plötzlich in lautes Weinen ausgebrochen war, als er sah, daß Wilderich ihn allein bei dem fremden Mann lassen wollte.

„Sei ruhig, sei ruhig, mein Kind,“ sagte er, „ich komme zurück, sogleich, sogleich – Du sollst schlafen, und wenn Du wieder erwachst, steh’ ich an Deinem Bettchen …“

„Margareth, Mutter Margareth – ich will zu Mutter Margareth!“ schrie der Kleine wie in Verzweiflung auf, als ob er, empört darüber, daß Wilderich ihn verlassen wolle, nur noch auf die alte Margareth in der Welt zähle.

„Na, so komm’, Du Zappelfisch, wir wollen sehen, ob die Margareth oben in meiner Kammer ist,“ sagte der Sachsenhäuser, während Wilderich sich hastig wendete und mit seinem Franzosen davon ging.

Es war stiller auf den Straßen Frankfurts als das erste Mal, da Wilderich in die Stadt eingeritten – die Verwundeten, die Marodeurs, die in Auflösung gerathenen Truppen waren fort und dem Heere in nördlicher Richtung nachgesandt – man sah nur Mannschaften von in Ordnung gehaltenen Corps – wenn auch eine starke Patrouille, welche Wilderich begegnete, in der Haltung und in ihrem ganzen Aufzuge verrieth, daß sie im Felde gewesen und von starken Strapazen heruntergebracht war. Als Wilderich im Hause des Schultheißen angekommen, fand er den Flur nicht mehr von Menschen erfüllt wie das erste Mal – nur einige Ordonnanzen waren da, die jetzt Raum genug gefunden, einen Tisch aufzustellen und mit jenen republikanischen Karten zu spielen, auf denen der König durch „La France“ und der „Valet“ durch die Freiheitsgöttin ersetzt war.

Ein Adjutant trat eben aus dem Nebenzimmer, in welchem Wilderich die Unterredung mit Lesaillier gehabt, und der Unterofficier rapportirte; der Adjutant sandte den letzteren fort, zu seiner Wache zurück, und winkte Wilderich, ihn zum Commandanten zu begleiten. Wilderich folgte ihm die Treppe hinauf und trat hinter dem Adjutanten in das Zimmer Duvignot’s; er sah diesen an seinem Tisch sitzend, den Rücken der Thür zukehrend, den Kopf auf den linken Arm gestützt, während die rechte Hand auf einem vor ihm liegenden Papier Figuren kritzelte.

„Citoyen General!“ meldete der Adjutant. „Die Wache am Allerheiligenthor schickt einen Mann, der sich nicht ausweisen kann, und darauf bestanden hat, vor den Commandanten …“

Duvignot hatte unterdeß langsam den Kopf gehoben und gewendet – im Augenblick, wo er Wilderich’s ansichtig wurde, verzog sich seine Stirn in Falten, er schloß halb die Augen, wie um schärfer zu sehen und ihn zu erkennen – dann sprang er plötzlich auf, mit dem Ausruf:

„Was – Sie sind’s? Diesmal in einer anderen Maske! Zum Teufel, was bringt Sie zurück – in die Höhle des Löwen, Unglücksmensch!“ setzte er mit aufflammendem Zorn hinzu, indem er Wilderich einen Schritt entgegentrat.

„Ich gab mein Ehrenwort, daß ich zurückkommen würde … und hier bin ich!“

„Unglaublich! Sind Sie so dumm, daß Sie mir in die Hände rennen, sich von mir in die Hölle schicken zu lassen?“

„Ich bin klug genug zu wissen, daß Sie mir kein Haar krümmen werden, General!“ antwortete Wilderich ruhig.

„Wir werden sehen!“

„Es war,“ fuhr Wilderich fort, „freilich nicht mein Wille, just zu Ihnen zu kommen – man hat mich vor Sie geführt – nun bitte ich Sie, mich zu der Frau dieses Hauses zu führen!“

„Ich … Sie?“

„Ich bitte darum … ich habe mein Lesaillier gegebenes Ehrenwort auf eine Weise gehalten, die Ihnen beweisen muß, daß man auf mein Wort bauen kann!“

„Das ist wahr!“

„Nun wohl, ich gebe es Ihnen noch einmal, daß ich die Frau dieses Hauses sprechen muß, um ihr das Wichtigste mitzutheilen, was ihr ein Mensch auf Erden mittheilen kann …“

„Und was ist das?“

„Ich werde es ihr sagen!“

„Heraus mit der Sprache… ich will wissen, was …“

„Ich habe gesprochen, was ich Ihnen zu sagen hatte … führen Sie mich zu ihr!“

Wilderich’s ruhige Entschlossenheit imponirte Duvignot. Er warf einen zornig forschenden Blick auf ihn, dann wandte er sich zu gehen.

„Kommen Sie!“ sagte er dabei.

Er führte Wilderich über den Corridor in das Wohngemach Marcellinens; sie war nicht darin, aber sie trat, als sie die Schritte der Männer hörte, aus der halbgeöffneten Thür des Nebenzimmers.

„Der Mensch hier hat Ihnen eine Mittheilung zu machen, Madame, wie er vorgiebt,“ sagte der General.

[596] „Mir?“ fragte Marcelline, forschend zu dem jungen Mann hinüberblickend.

„So ist es, Madame,“ antwortete dieser, „Ihnen, der Mutter des kleinen Leopold …“

Marcelline wurde bleich, ihre ganze Gestalt schrak zusammen – sie sah starr den fremden jungen Mann an und öffnete die Lippen, ohne daß sie ein Wort hervorbrachte.

„Ich komme, Ihnen Ihren Sohn zurückzubringen.“

„O – um Gott – Leopold – das Kind ist …“

„In meinen Händen – seit langer, langer Zeit – ich habe es treulich gepflegt, ich habe es wie einen jüngeren mir anvertrauten Bruder betrachtet, ich habe es von Herzen lieb gewonnen, so lieb, daß ich mich schwer von ihm trenne …“

„Aber wie ist es möglich,“ rief hier Duvignot aus, „daß dies Kind in Ihren Händen sein kann? Ihre Behauptung ist Wahnsinn – ist eine Lüge, und …“

„Wie das möglich ist? Ich denke, Sie, mein Herr General, können wohl ebenso viel zur Erklärung dessen beitragen, als ich …“

„O mein Gott, mein Gott, sprechen Sie weiter – sagen Sie, wo ist das Kind, wo ist es?!“

Marcelline, die dies ausrief, hob dabei wie flehend die gefalteten Hände empor.

„Es ist in Ihrer Nähe,“ erwiderte Wilderich, „und ich sage Ihnen, ich komme es in Ihre Arme zu führen – ich werde dies aber erst dann thun, wenn Sie sofort Demoiselle Benedicte rufen lassen und ihr das furchtbare Unrecht abbitten, welches Sie ihr angethan – das ist meine erste Bedingung, und die zweite, daß dieser Mann hier seinen abscheulichen Vorsatz fallen läßt, mich und den Schultheiß wegen des Briefes des Erzherzogs verfolgen lassen zu wollen!“

„Wie können Sie reden von Bedingungen!“ rief Marcelline aus, „geben Sie mir das Kind zurück, und ich will Benedicte den Saum des Kleides küssen!“

„Habe ich Ihr Wort?“ fragte Wilderich den General.

„So reden Sie doch erst, wie es möglich ist, daß Sie der Hüter dieses Knaben sind …“

„Ich verlange, daß Sie mir glauben,“ entgegnete Wilderich gebieterisch, „ich werde keine Silbe reden, bis Benedicte hier ist, nur vor ihr!“

„So lassen Sie das Mädchen holen!“ rief Duvignot.

Marcelline flog, wie von Stahlfedern geschnellt, davon.

Wilderich ließ sich müde in einen Armsessel nieder; Duvignot wandte sich schweigend zum Fenster – wie um den Ausdruck furchtbarer Bewegung und Spannung zu verbergen, der auf seinen harten gebräunten Zügen lag.

So verrannen die Minuten, bis das Rauschen von Frauenkleidern hörbar wurde; Marcelline trat mit Benedicte, sie an der Hand führend, durch die offene Thür des Nebenzimmers herein – Benedictens bleiches Gesicht hatte eine leise Röthe überflogen, als ihr Blick auf Wilderich fiel – ihre blauen Augen wurden feucht, sie streckte ihm die Hände entgegen, sie eilte mit dem Impuls des Herzens, der mächtiger war, als jede Rücksicht auf die Anwesenden, auf ihn zu, sie warf sich an seine Brust, um sich dann sofort wieder loszureißen, und dabei rief sie aus der schweraufathmenden Brust:

„Sie … Sie kommen zurück … Sie … hierher?“

„In die Höhle der Löwen,“ antwortete lächelnd Wilderich, ihre beiden Hände festhaltend, um sie in tiefer Rührung an seine Brust zu drücken – „der Löwen,“ fügte er hinzu, „die uns nun nichts mehr anhaben werden …“

„So reden Sie, reden Sie jetzt!“ fuhr Duvignot, sich wendend, stürmisch dazwischen.

„Das will ich,“ antwortete Wilderich – „Sie sollen hören, wie ungerecht, wie abscheulich an diesem jungen Mädchen gefrevelt ist! Sie haben sie beschuldigt, das Kind geraubt zu haben …“

„Wie konnte ich anders!“ rief Marcelline mit fliegendem Athem aus. „Wissen Sie denn etwas von Allem dem, was hier geschehen ist, als man mir das Kind entführte?“

„Was ich weiß, das stehe ich ja eben im Begriff zu sagen,“ entgegnete Wilderich, „Alles, was ich weiß – hören Sie nur zu.“

Wilderich begann zu erzählen – er gab über die Art, wie er der Pflegevater des kleinen Leopold geworden, denselben Bericht, den wir ihn früher der Muhme Margareth geben hörten.

„Dieser abscheuliche Bube, diese Schlange, dieser Grand de Bateillère!“ fuhr bei dieser Erzählung mehrmals Duvignot dazwischen, in furchtbarem Zorn hin und her rennend, „ich werde ihn erwürgen, ich werde ihn tödten!“

„Also Er – also Du, Ihr wart es?“ stammelte kaum hörbar und in ihren Sessel zusammensinkend, wie entsetzt und verzweifelt, Frau Marcelline – sie barg das Gesicht in ihren Händen und brach in furchtbares Schluchzen aus.

„O, so bringen Sie mir das Kind – bringen Sie mir es!“ rief sie dann, das mit Thränen überströmte Gesicht zu Wilderich emporhebend.

„Ich will es,“ versetzte Wilderich – „ich denke ja, meine Bedingungen sind bewilligt, mein Herr General und Commandant …“

„Zum Teufel, so gehen Sie doch, statt all’ dieser überflüssigen Worte!“ schrie Duvignot in Wuth.

„Lassen Sie mich, mich, die es geraubt haben sollte, es in dieses Haus zurückbringen!“ bat leise Benedicte.

„Ja, Sie, Sie sollen es,“ antwortete Wilderich bewegt, die Hand des jungen Mädchens ergreifend, „um Ihretwillen geschah ja Alles, wären Sie nicht gewesen, ich wäre nie hierher gekommen – Sie sollen das Kind in den Arm dieser Frau legen, Ihnen, der man seinen Tod schuld gab, Ihnen allein verdankt sie es – o kommen Sie!“

Benedicte eilte in’s Nebenzimmer, nach irgend einem Tuch, einem Hut zu greifen, dann kam sie zurück, legte ihren Arm in den Wilderich’s und Beide gingen.

Duvignot war noch in seinem wüthenden Auf- und Ablaufen begriffen … Marcelline lag still weinend in ihrem Sessel, endlich stand er vor ihr still und sagte:

„Höre, Marcelline … höre mich an … Du wirst mich dann weniger schuldig sprechen … ich hatte meine Gründe, meine guten Gründe, als ich im Einverständniß mit Grand handelte…“

„Was sollen mir Deine Gründe?“ versetzte Marcelline, ohne ihr Gesicht zu erheben „was sollen sie mir?“

„Sieh,“ fuhr er fort, „Benedicte war lange, lange Deines Mannes Erbin, die einzige Erbin … ihr gehörte einst Alles … der ganze Reichthum der Vollraths … da wurde Leopold geboren und Benedicte war nun arm, es mußte Alles dem männlichen Erben zufallen … wir hatten meinem Vetter Grand Benedicte verlobt … er murrte darüber … über diesen Knaben, über das furchtbare Unrecht, das seiner Braut dadurch zugefügt werde … ich sagte ihm endlich: ‚nimm den Knaben, nimm ihn, laß ihn verschwinden, bring ihn in unsere Heimath, in die Bretagne und sorge dort für ihn, bis ich komme, mich meines Kindes anzunehmen … mir ist der Gedanke unerträglich, daß er hier bleiben und dieses alten Schöffen Erbe werden soll‘ – und, um aufrichtig zu sein, Marcelline, um Dir Alles zu gestehen … ich sah ja ein, daß meines Bleibens nicht für immer hier sein könne, ich sah bei Deinem Charakter die Stürme voraus, die wir gestern und heute richtig erlebt haben … es war mir willkommen, Leopold in die Heimath voraus senden zu können, nicht allein mir das Kind zu sichern, sondern dadurch auch ein unfehlbares Mittel zu haben, Dich zu zwingen …“

Marcelline machte eine abwehrende Bewegung mit der Hand.

„Es ist entsetzlich!“ sagte sie leise, sich aufrichtend, die Hände im Schooße haltend und den Boden anstarrend.

Er fuhr fort:

„So geschah’s. Die Ausführung war so leicht … ich selber holte das Kind aus der Kammer seiner schlafenden Wärterin und brachte es die Hintertreppe hinab, auf die Straße hinaus, wo Grand es mir abnahm. Er nahm es unter seinen Mantel und ging damit zum Gallusthore, wo er es seinem Diener übergab, der das Kind bis zu einem Orte jenseits Mainz brachte, wo er auf Grand warten sollte. Dieser kehrte in sein Quartier zurück.

Was am andern Morgen geschah, weißt Du: Gedrängt, Grand, dessen Abreise bevorstand, das Jawort zu geben, hatte sich Benedicte entschlossen, in dieser selben Nacht das Vaterhaus zu verlassen und sich vor der Verbindung, die sie eingehen sollte, durch die Flucht zu retten. Sie war verschwunden, ein Brief, den sie auf ihrem Tische zurückgelassen, war Deinem Manne gebracht worden – und zugleich durcheilte heulend die Wärterin des Kindes das Haus, das Kind war verschwunden – wer anders konnte es geraubt haben, geraubt um sich zu rächen, geraubt vielleicht, um es verschwinden [598] zu machen und so wieder die unbestrittene Erbin zu werden, als Benedicte? Ein Zweifel an ihrer Schuld stieg in keines Menschen Seele auf – und ich, sollte ich sie rechtfertigen? Wahrhaftig, es war mir nicht zuzumuthen. Mir konnte diese Deutung nur willkommen sein. Was stand in dem Briefe, den sie ihrem Vater hinterlassen? Eine Erklärung ihres Schrittes, Klagen über die Gewalt, welche man ihrem freien Willen anthun wollen … das gewiß! Aber nicht auch mehr? Rächte sie sich nicht, indem sie uns anklagte? indem sie Deinem Manne das Geheimniß unserer Liebe verrieth? indem sie ihm alles aufdeckte, was sie beobachtet, durchschaut hatte? Ich zweifelte keinen Augenblick daran. Und was kam nun mehr im richtigen Momente, was entscheidender uns zu Hülfe, als dieser Verdacht, diese Ueberzeugung von der nichtswürdigen Handlung Benedictens – Dein Mann konnte, es mochte nun in dem Briefe stehen, was da wollte, nicht das mindeste Gewicht auf die Anklagen Benedictens wider ihre Stiefmutter mehr legen – die Anklagen eines Geschöpfes, das so zu handeln fähig!“

„Gewiß, gewiß, es war sehr politisch, sehr edel, daß Du schwiegst, und auch mich in dem Wahne ließest,“ sagte Marcelline bitter und ohne Duvignot anzusehen.

„Aber dieser Elende, dieser Grand, der mich so betrog!“ knirschte Duvignot ingrimmig zwischen den Zähnen. „Er ist mir unbegreiflich …“

„Mir nicht,“ sagte Marcelline mit leisem, aber fast höhnischem Tone. „Er entledigte sich des Kindes, das ihm eine Last war. Hätte sich seine Hoffnung erfüllt, wäre er der Mann Benedictens und der Eigenthümer ihres Erbes geworden, so war es für ihn viel beruhigender, Leopold ganz beseitigt als in Deinen Händen zu wissen. Du konntest später jeden Augenblick den Knaben wieder auftauchen lassen, um für ihn sein Recht zu fordern; Grand war in Deine Hände gegeben, so lange Leopold in Deinen Händen war – darum ließ er Leopold verschwinden!“

„Ich glaube, Du hast Recht, Marcelline,“ erwiderte offenbar überrascht Duvignot. „Wie Ihr Weiber solche Canaillerien stets schneller durchschaut als wir!“ –

Eine stumme Pause folgte. Marcelline begann in Spannung und Ungeduld auf jedes Geräusch, das im Hause laut wurde, zu horchen.

Dann wie mit einem plötzlichen sich Besinnen auffahrend sagte sie:

„Weshalb[WS 2] gehst Du, weshalb sendest Du nicht, meinem Manne die Freiheit geben zu lassen?“

Duvignot blickte sie an, ohne zu antworten.

„Der fremde Mensch hat es Dir zur Bedingung gemacht …“

„Hat er?“ fragte Duvignot wie zerstreut.

„Mein Gott,“ rief Marcelline auffahrend aus, „Du wirst das doch nicht leugnen wollen, Du wirst …“

„Ich werde Bedingungen, welche ich angenommen habe, auch erfüllen. Aber zuerst möchte ich doch sehn, daß dieser Fremde, der sie mir vorschreibt, auch die seinigen erfüllt! Ich sehe bis jetzt nicht viel davon und so lange … so lange ich Leopold nicht sehe, bin ich nicht geneigt, irgend Schritte zu thun, die wider mein Interesse sind, die mir die Waffen aus den Händen reißen …“

„Waffen? O mein Gott, wozu bedarfst Du noch der Waffen … was willst, was sinnst Du?“

Duvignot zuckte die Achseln.

„Was ich will, was ich sinne? Brauche ich Dir das zu sagen? Zum hundertsten, zum tausendsten Male? Glaubst Du etwa, ich hätte das zerknirschende Gefühl eines demüthigen Sünders in mir und zöge nun kleinlaut ab, mit einem ‚Verzeihung, Madame!‘ und ‚Seien Sie glücklich – weihen Sie mir Unglücklichem eine Thräne, wenn ich Ihnen anders derselben noch würdig scheine!‘?“

Duvignot lachte nach diesen Worten bitter und höhnisch auf.

„Nein,“ sagte er dann zornig, ingrimmig, die Stirn in Falten ziehend, die Arme auf der Brust verschlingend, „Du und Dein Kind, Ihr seid mein, mir gehört Ihr, und eher laß ich die ganze Stadt niederbrennen, eher spreng’ ich Eure Thürme in die Luft, eher laß ich den Main sich vor Leichenhaufen stauen, ehe ich meinen Willen beuge, ehe ich Dich lasse, ehe ich …“

Marcelline hatte sich langsam wie in furchtbarem Erschrecken vor diesem Ausbruch unbändiger Leidenschaft erhoben – sie hielt sich, geisterbleich, mit großen vor Angst starrenden Augen, zitternd an der Lehne ihres Sessels aufrecht … sie streckte die andre Hand gegen ihn aus und wie kaum mehr fähig zu reden und doch Herrin noch ihrer ganzen Willenskraft, sagte sie leise, aber feierlich:

„Und ich, ich schwöre Dir, daß ich mich eher unter diesen in die Luft gesprengten Thürmen begraben, eher zu den Leichen, die das Flußbett ausfüllen werden, werfen lasse, als daß ich jetzt, jetzt noch Dir folgte!“

Duvignot blickte sie mit wuthflammenden Augen an – dann wandte er sich ab, zuckte die Achseln und ging.

Marcelline lauschte seinen Schritten; als sie verhallt waren, sank sie in ihren Sessel zurück und athmete tief, tief auf. Und dann … dann fuhr sie wieder empor … lauschte … Schritte von Kommenden wurden hörbar auf der Treppe … sie stieß einen Schrei aus … sie flog zur Thür … diese öffnete sich eben und Benedicte trat herein, auf ihrem Arme den Knaben, dessen Haupt im nächsten Augenblick an der Brust seiner Mutter ruhte, überströmt von ihren Thränen. –

[611]
15.

Benedicte legte ihre Hand auf Wilderich’s Arm. Sie gab ihm einen Wink, ihr zu folgen, und führte ihn hinaus, hinauf in ihres Vaters Wohnzimmer.

„Kommen Sie hierher,“ sagte sie dort, „ich mochte nicht die Freude meiner Stiefmutter durch mein Bleiben stören; es hätte ihr diesen Augenblick vergällen müssen, wenn ich dabei gestanden … wenn sie in meinen Augen den Triumph, so wider sie gerechtfertigt zu sein, hätte lesen und die Reue fühlen müssen, die mein Anblick ihr einflößen muß …“

„Das ist ein Gefühl, welches Ihrem Herzen Ehre macht, Benedicte,“ antwortete Wilderich, „und mir machen Sie eine große Freude, indem Sie mir erlauben, Sie noch einmal, bevor ich aus diesem Hause scheide, zu sprechen …“

Benedicte reichte ihm bewegt die Hand.

„Glauben Sie denn, ich würde Sie ziehen lassen, bevor wir uns ausgesprochen? Setzen Sie sich da, in den Sessel, und nun hören Sie, was ich Ihnen zu sagen habe.“

Sie nahm neben ihm in dem Sopha Platz, stützte das Kinn auf den Arm und fuhr fort:

„Ich weiß, daß Sie ein edler Mensch mit einer reinen Seele sind, Wilderich; deshalb kann ich zu Ihnen reden, wie ich reden werde … Sie dürfen mich aber nicht unterbrechen, bis ich zu Ende bin … Sie müssen mich Alles sagen lassen, damit Sie mich ganz verstehen … versprechen Sie mir das?“

Wilderich nickte mit dem Kopfe, sie mit großen gespannten Augen ansehend.

„Wenn man,“ fuhr sie leise fort, „so verlassen und verloren in der Welt gestanden hat wie ich, gedrückt vom Bewußtsein einer Schuld – denn es war doch eine, daß ich dem Vaterhause entlief – und unter dem Verdachte, eine viel größere begangen zu haben, dann lernt man das Leben ernst zu nehmen und fühlt eine große Sorge und Angst auf sich ruhen bei Allem, was man beschließt, denkt und vorhat. Ich ängstige mich vor den Worten, welche Sie jetzt zu mir sprechen wollen, vor Dem, was diesen Worten folgen wird, und vor der ganzen Zukunft. Ich sehe nur dann ein Heil voraus für diese, für unsere Zukunft, nur dann ein ungetrübtes Glück, wenn nicht Sie, sondern wenn ich jetzt spreche … Wilderich, ich liebe Sie, und,“ fügte sie ernst und ohne alle Verlegenheit, aber leise weiter redend hinzu, „ich werbe um Ihre Hand … versagen Sie mir diese, so würde ich auf ewig unglücklich sein, unglücklicher, als ich je gewesen … ich weiß wenig von Ihren Verhältnissen, aber mögen diese sein wie sie wollen, können Sie mir im entferntesten Winkel der Erde nur einen stillen Platz neben einer freundlichen Heerdflamme einräumen, so nehmen Sie mich auf, lassen Sie mich Ihr Weib werden, ich werde glücklich sein, beneidenswerth glücklich, und werde meinen letzten Blutstropfen hergeben, um Sie glücklich zu machen.“

„O mein Gott,“ rief Wilderich, bestürzt vor diesem Glück, das ihm so überwältigend entgegenkam, aus, „das sagen Sie, Sie, Benedicte, mir, der es kaum gewagt hätte, Ihnen zu gestehen, welchen Himmel ich darin sehe …“

„Sie hätten es kaum gewagt,“ antwortete sie mit sanftem Lächeln, während er vor ihr niederkniete und ihre Hand mit den beiden seinen umschloß, „aber Sie hätten es endlich doch gewagt … und dann, dann hätte ich freudig Ja gesagt, und ich wäre Ihnen gefolgt, Wilderich, in Ihr stilles verfallenes Forsthaus … und dort, dort würden Sie sich erinnert haben, daß ich ein verwöhntes Kind aus einem üppigen Patrizierhause bin, und es würde Sie gequält haben, daß Sie mir die Umgebung nicht schaffen konnten, die ich im Vaterhause gehabt, daß Sie mich entbehren lassen müßten, und Ihre Liebe würde in ihrer Demuth nicht glauben, daß sie diese Entbehrungen aufwiegen könne, und würde sich diese Entbehrungen hundertfach vergrößert vorgestellt haben … ist es nicht so?“

Wilderich sah sie verwundert an.

„Gewiß, gewiß,“ fuhr sie eifrig fort, „so wäre es gekommen und es hätte unser ganzes Glück zerstören können … und sehen Sie, darum habe ich gesprochen, ich, ich werbe um Ihre Hand, Wilderich, ich verlange Ihnen zu folgen, wohin auf Erden Sie mich führen. Wollen Sie mir Ihre Hand gewähren?“

„Sie sind das engelhafteste Wesen auf der Welt, Benedicte,“ sagte er; „haben Sie wohl auch bedacht, daß, wenn Sie Einem, das unser Glück stören könnte, so vorgebeugt haben, Sie ein Andres in meiner Seele heraufbeschwören, das mein Glück schlimmer bedroht? Und das ist der Gedanke: wie bin ich eines solchen Engels würdig, wie kann ich ihr je lohnen …“

Sie unterbrach ihn mit heiterem Lächeln.

„Ach,“ sagte sie, „vor diesem Wurm in unserem Zukunftsglück fürchte ich mich nicht! Sie werden bald sehen, daß ich weiter nichts bin als Ihr sehr irdisches, schwaches, der Leitung bedürftiges, aber treues Weib. Und wollen Sie mich so, Wilderich?“

[612] Er zog sie stürmisch, überselig an sein Herz.000

Minuten und Stunden waren verflossen, es war dunkel geworden in dem Wohnzimmer des alten Schöffen, und noch immer war dieser nicht zurückgekehrt.

Benedictens Unruhe darüber war immer höher gestiegen. Wilderich entschloß sich jetzt, den General aufzusuchen und ihn an sein Wort zu mahnen. Aber der General war nicht in seinen Zimmern. Er war ausgegangen, kurz nachdem er Marcelline verlassen und Wilderich und Benedicte mit dem Kinde gekommen. Wilderich fragte die Soldaten, die Diener, Niemand wußte, wohin er gewollt, er hatte seinen Adjutanten mitgenommen und war schweigend gegangen, ohne zu sagen, wann er wiederkehre.

Wilderich kam der Gedanke, daß er selbst zum Eschenheimer Thore gegangen sein könne, um die Freilassung des Schultheißen anzuordnen. Um sich davon zu vergewissern, verließ er jetzt das Haus und wanderte durch die Eschenheimer Gasse zum Thore. Als er an diesem angekommen, redete er die unter dem Thorweg auf- und abwandelnde Schildwache an, er fragte, ob der Commandant da gewesen? Der Mann gab, obwohl Wilderich ihn französisch angeredet, keine Antwort. Ein Sergeant, der innerhalb der in’s Wachtzimmer führenden offenen Thür lehnte, fragte ihn dagegen:

„Was wollen Sie beim Commandanten? Haben Sie ihm etwas zu melden?“

„Nicht das … ich habe Grund anzunehmen, daß er hier gewesen … wegen des gefangenen Schultheißen …“

„Wegen des Schultheißen? Und was sollte der Commandant sich mit dem alten Verräther zu schaffen machen, der in einer Stunde vor das Kriegsgericht gestellt wird …“

„Vor das Kriegsgericht … der Schultheiß?“ stammelte Wilderich entsetzt.

„Ich habe Ordre, ihn hinführen zu lassen!“ entgegnete der Sergeant.

„Unglaublich … das wäre …“

„Nun, was wäre es?“ fragte der Sergeant, Wilderich argwöhnisch fixirend.

„Ich kann es nicht glauben – es kann nicht wahr sein,“ versetzte dieser sich fassend.

Der Sergeant wandte sich ab.

„Gehen Sie um acht in den Römer,“ sagte er, „und Sie werden sehen, wie viel Federlesens man mit dem alten Schuft macht, der im Einverständniß mit dem Feind stand …“

Dabei kehrte der Franzose Wilderich den Rücken zu und trat in die Wachtstube hinein.

Der Letztere konnte nicht mehr zweifeln an der Wahrheit dessen, was er vernommen. In furchtbarer Erregung eilte er zurück. Er stürzte in das Haus des Schöffen, er verlangte stürmisch, Benedicte zu sprechen, als man es ihr gesagt, kam sie die Treppe herab und rief ihm in ängstlicher Spannung entgegen:

„Was ist geschehen … welche Nachricht bringen Sie?“

Er reichte ihr die Hand, war aber im ersten Augenblick seiner Worte nicht mächtig.

„Eine Schreckensnachricht … eine furchtbare … o, kommen Sie zu Ihrer Mutter, zu Ihrer Mutter … sie allein kann helfen! –“

Benedicte wandte sich, zitternd und leichenblaß geworden, zu Marcellinens Zimmer; sie öffnete die Thür vor ihm und Beide standen im nächsten Augenblick vor – Duvignot.

Er stand in der Mitte des Zimmers, die Hände auf den Rücken gelegt, mit düstern, wie von Ingrimm verzerrten Zügen … er schien eben heimgekehrt, eben erst Marcellinens Zimmer betreten zu haben; sie selbst war nicht da, aber sie kam gleich nachher, als sie die laute Stimme Wilderich’s vernahm, herein, in der offenen Thür zu ihrem Nebenzimmer stehen bleibend und erschrocken auf die Gruppe vor ihr blickend.

„General!“ rief Wilderich in seiner furchtbaren Erregung dicht vor Duvignot tretend aus, „hab’ ich Ihr Wort, das Wort eines Soldaten, das Ehrenwort eines Mannes, oder hab’ ich es nicht?“

„Was wollen Sie?“ fragte Duvignot auffahrend.

„Was ich will? Ihre Antwort auf meine Frage!“

„Sie sind sehr verwegen, junger Mann, es hat noch nie Jemand so mit dem General Duvignot gesprochen, und …“

„General Duvignot hat auch wohl noch nie Jemandem sein Wort gebrochen, und ihm ein Recht gegeben, so zu reden! Sagen Sie mir, daß man mich belogen hat, als man mir mittheilte, der Schultheiß werde heute noch, in der nächsten Stunde noch, vor ein Kriegsgericht gestellt!“

„Gerechter Himmel!“ rief Benedicte hier aus.

Marcelline faßte an die Einfassung der Thür, auf deren Schwelle sie stand, um sich aufrecht zu erhalten.

„Man hat Sie nicht belogen,“ erwiderte Duvignot. „Das Verfahren war einmal eingeleitet, es mußte seinen Weg gehen – was kann ich ändern daran?“

„Elender Heuchler!“ rief hier Marcelline, „Du bist allmächtig in der Stadt und willst glauben machen …“

„Glaubt, was Ihr wollt!“ sagte Duvignot achselzuckend.

„Sie gaben Ihr Wort, General, wenn ich das Kind bringe…“

„Ich gab nichts, gar nichts,“ fiel ihm Duvignot barsch in’s Wort, „ich versprach nichts ausdrücklich, nichts, was ich nicht versprechen konnte!“

„Bei Gott, General, Sie gaben es, und ein Schuft nur bricht sein Wort!“ fuhr Wilderich seiner nicht mehr mächtig vor furchtbarer innerer Empörung auf.

Duvignot blickte ihn an, blaß vor Wuth.

„Das wagen Sie mir zu sagen,“ antwortete er leise und wie von seiner Wuth halb erstickt … „Sie, der Sie ein Spion sind, den ich geschont habe, den ich aus Nachsicht und Edelmuth vergessen zu haben affectirte … zum Teufel, Herr, ich kann Sie gerade so gut wie jeden Andern vor das Kriegsgericht und vor ein Peloton mit sechs Flintenläufen schicken, die Sie stumm machen werden.“

„Also das ist Ihre Antwort, Ihre letzte,“ sagte jetzt ruhig und stolz ihn anblickend Wilderich, und wandte sich dann rasch zu Benedicten, um sie zu umfassen, da sie schluchzend zusammenbrach, während Marcelline starr auf den General schaute, als stände eine Gestalt des Schreckens, etwas ganz Furchtbares und in seiner Entsetzlichkeit nie Gesehenes vor ihr.

„Benedicte, verzweifle nicht, halte Dich aufrecht, es ist nicht Alles verloren!“ rief Wilderich dabei aus, „glaub’ mir! Ich werde thun, was ich kann, und …“

„Was wirst Du thun, Wilderich?“

„Gehn, Deinem Vater beizustehen … wird er vor das Kriegsgericht gestellt, so werde ich mich demselben auch stellen. Ich werde ihn vertheidigen … ich allein kann es, ich allein kenne seine Unschuld, ich allein wäre der Schuldige, wenn hier eine Schuld wäre, ich allein kann enthüllen, weshalb den Schultheißen dieses Schicksal trifft – weshalb General Duvignot ihn in den Tod senden will … der Himmel wird mir die rechten Worte auf die Zunge legen, diese Menschen zu rühren!“

„O mein Gott, hoffen Sie doch das nicht!“ rief hier Marcelline, „Sie rennen in Ihren Untergang!“

„Mag sein … aber es soll mich nicht abhalten … ich werde Alles, Alles sagen, was ich weiß, General …“

„Thun Sie das,“ antwortete dieser, ihn mit seinen flammenden Wuthblicken durchbohrend, „stellen Sie sich dem Kriegsgericht nicht bloß als Spion, sondern auch noch als Verleumder des General-Commandanten vor – man wird desto mehr Schonung für Sie haben, davon seien Sie sicher!“

„Du hörst es – o Du hörst es, Wilderich,“ beschwor ihn Benedicte, „Du gehst nur ebenfalls in den Tod!“

„Gut denn, für meine Pflicht … für Deinen Vater …“

„Glauben Sie,“ rief Duvignot dazwischen, „Sie wären nicht, was Sie auch sagen könnten, verloren? … verloren, weil man Sie als einen der Rädelsführer der Bauern erkennen wird? Meinen Sie, wir wüßten nicht, wer uns in den Spessartpässen hinterrücks überfallen und abgeschlachtet hat, meinen Sie, wir hätten uns nicht für ein späteres Strafgericht die Anführer gemerkt?“

Wilderich antwortete ihm nicht.

„Lebe wohl, Benedicte!“ sagte er leise und weich, während ihm Thränen in die Wimpern traten, zu dem jungen Mädchen, es an seine Brust schließend, „ich habe geglaubt, die Zukunft läge wie ein Himmel vor mir … und jetzt … jetzt reißt das Schicksal uns so auseinander … aber ich war ja glücklich … eine Stunde lang … vielleicht ist’s genug für ein Menschenleben … und denk’ an mich … Benedicte, denk’ an mich, wenn … doch nein, nein, wozu das Alles, wozu das Herz sich schwer machen; hoffe, hoffe, vielleicht kehre ich zurück – Du hast so viel gelitten, [613] der Himmel kann Dir nicht auch das noch zufügen, Menschen können Erbarmen haben.… Lebe wohl!“

Er riß sich aus Benedictens Armen, die ihn krampfhaft umschlangen, los, er ließ sie sanft auf den Boden gleiten, auf den sie halbohnmächtig niederglitt, und stürzte davon.

„Der Thor!“ knirschte Duvignot ihm wüthend nach, „mit ihm wird man kein Erbarmen haben – über eine Stunde werde ich sein Leben, wie das des Andern in jedem Momente, der mir beliebt, vernichten, ecrasiren können – und bei Gott, Marcelline, ich werde es thun, ich werde es, Du weißt allein, was mich abhalten kann und wird, diese Todesurtheile zu unterschreiben.“ …

„Ich weiß es,“ erwiderte Marcelline, die gebrochen zusammengesunken in ihrem Sessel lag. zu dem sie sich geschleppt hatte, „ich weiß es, und …“

„Was ist das?!“ unterbrach Duvignot sie, plötzlich aufbrechend und erblassend … „alle Teufel, was ist das?“

Und ohne eine Antwort abzuwarten, eilte er hinaus.

Wilderich war unterdeß davongestürzt, die Treppe hinab, zum Hause hinaus – er wußte, daß er keinen Augenblick zu verlieren hatte, wenn er um acht Uhr an der Stelle sein wollte, wo das Kriegsgericht gehalten wurde … er hatte zehn Minuten nöthig, um bis zum Römerberg zu kommen – als er auf die Zeil hinauskam, hob auf dem Katharinenthurm ihm gegenüber die Uhr aus, den ersten Schlag von acht zu thun – zugleich aber wurde die Luft durch eine dumpfe Detonation erschüttert … es schien ein Kanonenschlag … noch einer … dann, nach einer Pause, wieder einer … heller und stärker zitterte es durch die dunkle Abendluft! Weit oben, nach dem Allerheiligenthor hin, wurde getrommelt … fern vom Roßmarkt her wurde Schreien und Rufen hörbar … jetzt auch wurde an der nahen Hauptwache getrommelt … und, was geschlagen wurde – Wilderich kannte sehr wohl die Bedeutung dieses Tacts auf dem Kalbfell – was geschlagen wurde, das war das ça-ira, das war der Generalmarsch der Republikaner.

Dazwischen dröhnte das Schießen fort … und – irrte sich Wilderich darin, war es eine Täuschung, hervorgerufen durch sein so stürmisch durch die Adern der Schläfen gepeitschtes Blut? – aber es war ihm, als spräche so nur der Mund österreichischer Kanonen, als kämen diese Geschützschläge aus den schweren deutschen Rohren!

Das Geschrei vom Roßmarkt her wurde stärker, lauter – ein Menschenhaufen hatte sich da zusammengeballt, er kam heran und drängte näher und näher – er vergrößerte sich von allen Seiten … dann theilte er sich, eine Hälfte blieb vor der Hauptwache, in einer gewissen respectvollen Entfernung … die andere Hälfte wälzte sich die Zeil hinauf. … Wilderich verstand jetzt dies Rufen, dies „Hurrah“, dies „die Kaiserlichen sind da, der Prinz Karl ist da!“ – er drängte sich in den Haufen hinein, er fragte, er rief, aber es wurde ihm schwer, eine verständliche zusammenhängende Antwort von einem der wie trunken von Freude und Ingrimm zugleich berauschten Menschen zu erhalten.

„Jetzt holt sie der Teufel, jetzt holt sie alle der Teufel, wenn sie nicht machen, daß sie fortkommen, das Räuberpack, die Canaille, die Hundsfötter … der Prinz Karl ist da … von Offenbach her, wie das Wetter sind die Szekler-Husaren in Sachsenhausen hinein – die Kanonen fegen mit Kartätschen die Mainbrücke rein – hurrah die Kaiserlichen, hurrah die Weißröcke!“

Die Rufe erstarben im Gedröhn der Trommeln, die zwischen einer starken Escorte jetzt die Zeil hinauf sich bewegten, um den Generalmarsch in allen Hauptstraßen ertönen zu lassen.

„Gott sei gedankt!“ rief Wilderich, vor dem wilden Jubel in seinem Innern kaum seiner Sinne mehr mächtig, und seine Stimme erhebend, rief er aus: „Dann ist’s auch mit dem Kriegsgerichthalten und Füsilirenlassen am End’ – Ihr Leute, es giebt dann Besseres zu thun, als hier Hurrah zu schrein – gehen wir zum Römer, da soll eben der Schultheiß Vollrath gerichtet werden – reißen wir ihn den Franzosen aus den Händen, bringen wir ihm die Freiheit, bringen wir ihn im Triumph zu den Seinen zurück!“

Es brauchte nur in die stürmisch bewegte Masse solch ein Gedanke geworfen zu werden, um sie dafür zu begeistern … sie verlangten nichts Besseres, als eben eine That, etwas Gewaltsames, eine stürmische Kraftäußerung, um sich darin auszutoben.

„Hoch der Vollrath! hurrah, zum Römer! hoch der Schultheiß!“ schrie es sofort von allen Seiten; Alles stürzte sich nach einer Richtung, Alles, was sich aus allen Häusern auf die Straßen ergoß, die Männer, die Weiber, die Kinder, warf sich in den Strom.

Auf halbem Wege zum Römer aber staute sich plötzlich dieser Strom. Vom Römerberge her kam ein anderer Haufe ihnen entgegen … mit denselben Hurrahs, denselben Rufen … sie hatten den Schultheiß in ihrer Mitte; sie hatten ihn aus dem Saale geholt, sie hatten das Triumphgeleite, zu dem Wilderich aufgefordert, längst gebildet … das Kriegsgericht hatte bei den ersten Alarmrufen, noch bevor es begonnen, sich aufgelöst; die Officiere, die Soldaten, Alles war zersprengt, in wilder Hast auseinandergelaufen, zu seinen Truppentheilen, seinen Sammelplätzen zu kommen; den Angeklagten hatte man sich selber überlassen und denen, die, als Zuschauer zu den Verhandlungen des Gerichts gekommen, ihn jetzt umjubelten.

So wälzte sich denn nun eine dichtgedrängte, tosende Volksmenge der Zeil wieder zu – in deren Mitte der Schultheiß Vollrath, halb getragen, nur noch halb seiner Sinne mächtig nach allen Erschütterungen der letzten Tage, nur halb noch lebend einherschwankte.

Als Wilderich die Ecke der auf die Zeil mündenden Straße erreichte, sah er, über Haufen vorüberrennender, nach ihren Sammelplätzen eilender Franzosen fort, eine Gruppe von vier oder fünf Reitern drüben vor dem Hause des Schultheißen halten. Sie setzte sich eben in Bewegung – es war Duvignot mit seinen Adjutanten und Officieren. Wilderich hat ihn nie wiedergesehen. Sie waren so blitzschnell, diese Franzosen – als ob für einen Augenblick wie dieser Alles von ihnen vorgesehen und vorbereitet gewesen; in unglaublich kurzer Zeit waren die einzelnen Truppenkörper zusammen und in guter Ordnung zogen, Munitionscolonnen und Artillerie zuerst, dann die Gepäckwagen, die Cassen- und Proviantwagen, endlich die Bataillone und die Schwadronen durch das Eschenheimer und das Friedberger Thor ab, gen Norden in die Herbstnacht hinaus.

Wilderich sah, wie der Volkshaufe den Schultheiß in seine Wohnung geleitete, wie dieser darin verschwand, wie vor seinem Hause noch lange die versammelte Menge ihre Rufe, ihre Hochs schrie. Er hatte sich todtmüde, tief erschöpft auf einen Prellstein vor dem Portal der Katharinenkirche gesetzt. Da sah er des Schultheißen, Benedictens, seiner Benedicte Haus vor sich – sah, wie die Lichter hinter den Fenstern schimmerten, sah auch Gestalten sich bewegen, leichte Schatten, die hinter den herabgelassenen Vorhängen herglitten. Er sah und hörte das Gerassel und den Lärm der abziehenden Truppen; sah auch, wie die Oesterreicher fast auf dem Fuße ihnen nachrückten; die Eclaireurs mit den gespannten Faustrohren in der Hand, langsam an den Trottoirs entlang reitend, vorauf, dann lange Züge von Szekler-, von Kaiser-Husaren, dann schwer rasselnde Geschütze, dann weiß durch die Nacht schimmernde, schwerwuchtig und müde daher marschirende Fußvölker; er sah, wie sie Halt machten und sich anschickten zu bivouakiren, und wie das Volk ihnen jubelnd zutrug, was es für sie nach all’ den Plünderungen noch hatte, um sie zu speisen und zu tränken und zu betten.

Wilderich saß lange, lange so da. Es war, als ob ihn etwas festgebannt hätte an die Stelle, als ob ihm die Glieder gelähmt sein würden, wenn er aufstehen und sich bewegen wolle. Er fühlte die Kraft nicht, sich zu erheben und hinüber zu gehen in jenes Haus dort, in dem doch seine ganze Seele war. Er konnte es nicht über sich gewinnen, über jene Schwelle zu treten – jetzt – jetzt – wo dort ein Glück herrschen mußte, das er sich scheute zu theilen, als ob er desselben nicht würdig wäre – er, der so wenig gethan an dem Allen, so nur das Einfache, Natürliche, das Jeder gethan hätte, und der so überschwänglichen Lohn dafür erhalten!

Es war ein eigenthümliches Gefühl, das ihn abhielt, da zu erscheinen, wo man seinen Namen rief, nach ihm suchte, ihn herbeisehnte, ihn verlangte. Aber es war zu mächtig in ihm – diese Blödigkeit eines tief- und feinfühlenden Herzens.

Die Morgensonne, als sie über den Dächern der befreiten Stadt aufstieg, sah ihn auf dem Lager eines Zimmers im „Grauen Falken“ im tiefen Schlummer[WS 3] furchtbarster Ermüdung.




[614] Es war spät, sehr spät, als er endlich erwachte und sich erhob. Er sah, wie hoch bereits die Sonne stand, und kleidete sich hastig an.

Als er fertig war, als er das längst kaltgewordene Frühstück, das der Hausknecht schon vor einer Stunde gebracht und auf den Tisch gestellt, schnell zu sich genommen, hielt ihn nichts mehr ab zu gehen … zu Benedicte zu gehen, zu dem Hause, welches Alles einschloß, das ihm theuer war.

Und doch ging er nicht. Er setzte sich auf den Rand seines Bettes und versank in Gedanken … in Sinnen und Träumen mehr als in Gedanken.

Was hielt ihn zurück? Hatte er nicht in die Arme der Mutter ihr Kind zurückgeführt? hatte er nicht Benedicte gerechtfertigt, hatte er nicht sein Leben dahin geben wollen, im Versuche, das Leben des Hausherrn zu retten? …

Das aber war es eben … eine unüberwindliche Scheu der Bescheidenheit und der Demuth ließ ihn zurückschrecken vor dem Augenblick, wo sein Gesicht vor jenen drei Menschen auftauchte und sie in seinen Mienen lesen würden: da bin ich – und nun dankt mir, und gebt mir zum Lohne das Beste, was Ihr habt, Euer Kind, Eure Tochter, diesen Engel, dessen Niemand, Niemand auf Erden würdig ist, gebt sie mir, dem armen Revierförster aus dem Spessart!

Mußte es denn so sein? Konnte er nicht heimkehren und an Benedicte schreiben? Dann behielt ja auch diese Zeit, sich die Zukunft, welche ihrer an seiner Seite harrte, klar zu machen und …

Wilderich spann sich eben in diesen Gedanken ein, als er auf der Treppe vor seinem Zimmer einen schweren Männerschritt vernahm und dazu einen leichteren, beflügelteren; dann wurde die Thür zu seinem Zimmer, ohne daß man anklopfte, geöffnet – der Sachsenhäuser war es, der hereinschaute und sich dann zurückwandte:

„Aus den Federn ist er … Sie konnen herein treten, Demoiselle,“ sagte er. Im nächsten Augenblick stand Benedicte vor Wilderich – sie legte ihre Hände auf seine Schultern, um ihn am Aufstehen zu hindern, sie sank auf ihre beiden Kniee vor ihm, faßte seine Hände und drückte sie an ihre glühenden Wangen.

„Endlich gefunden … o mein Gott, Wilderich, wo warst Du?“ rief sie aus. „Welche Angst ich um Dich hatte … Du kamst gestern nicht zurück, Du kamst heute nicht – da machte ich mich auf, Dich zu suchen – ich hatte Leopold mit Dir aus diesem Hause geholt – so suchte ich Dich hier zunächst … mein Gott, wie konntest Du mich allein, in solcher Sorge um Dich lassen?!“

„Du hast Recht, Benedicte!“ antwortete er, „ich … ich war wohl ein Thor … ich war ängstlich, ich dachte, ich verdiente Dich nicht, und … wie konnte ich gehen, Dich von den Deinen zu fordern … Dich, Benedicte …“

„O wohl, wohl warst Du ein Thor. … Verdienen! welch ein häßliches Wort das ist!“

„Ja, ja, ich fühl’s … es ist häßlich; nun ich in Deine Augen sehe, fühl’ ich’s … ich gehöre Dir, Du gehörst mir, wir sind ein Leben – ein einziges untrennbares Leben – ist es so?“

„So ist es, Wilderich!“

„Wer fragt nach dem Verdienst! Verdient die Brust das Herz, das in ihr schlägt?“

Sie sprang auf, erfaßte seinen Kopf mit beiden Händen, drückte einen Kuß auf seine Stirn und schaute ihm lange tief in die Augen.

„Das halte fest,“ sagte sie dann, „das Wort! Und nun kein andres mehr darüber. Komm. Komm zu den Meinen!“

Wilderich folgte ihr.

Wenn er gewähnt hatte, daß in dem Hause des Schultheißen Vollrath ihn eine Scene erwarte, die ihn beschämen und niederdrücken werde, so hatte er geirrt.

Schon beim Eintritt in das Haus wurden er wie Benedicte überrascht durch eine gewisse Aufregung, welche da zu herrschen schien … es standen österreichische Officiere unten im Hausflur in einer Gruppe zusammen, auf der Treppe standen flüsternd die Diener des Hauses – einer von ihnen kam eilig Benedicten entgegen.

„Der Erzherzog ist droben,“ sagte er, „bei dem Herrn Schultheiß … ich soll Sie gleich zu ihm führen, wenn Sie zurückkämen …“

„Der Erzherzog … bei meinem Vater?“ rief Benedicte aus, „welche Freude … auch er wird jetzt nicht tänger an mir zweifeln dürfen!“

Benedicte und Wilderich wurden von dem Diener in dasselbe Zimmer, aus dem Duvignot so plötzlich abziehen mußte, den Empfangssalon des Hauses geführt … sie erblickte den Erzherzog, neben Frau Marcelline vertraulich plaudernd auf dem Sopha sitzend – ihr Antlitz war wie mit Schamröthe übergossen, während der Erzherzog so harmlos sprach, als seien alle bitteren Worte, welche diese Frau ihm einst entgegengeschleudert, völlig von ihm vergessen. Der Schultheiß saß zur Seite – er erhob sich, als die jungen Leute eintraten, um sie dem Erzherzog vorzustellen.

„Wir kennen uns, wir kennen uns!“ unterbrach dieser ihn mit freundlichem Lächeln, „nicht wahr, mein Kind?“ und dabei reichte er Benedicten die Hand. „Was diesen jungen Forstmann angeht, so hat ja er gerade mir den Brief abverlangt, der Sie in so großes Unheil gebracht hat. Ich bin eben hier, um Ihrem Vater meine Theilnahme auszudrücken und ihm Glück zu wünschen,“ fuhr der Erzherzog sich an Benedicte wendend fort, „daß er diesem Unheil entgangen …“

„Dank Eurer königlichen Hoheit,“ fiel der Schultheiß ein.

„Nun ich hatte Sie am Ende in diese schreckliche Lage auch ein wenig hineingebracht … oder vielmehr dieser Unglücksmensch, dieser Förster hier, der meinen Brief so unklug bestellte, wie Sie mir eben erzählt haben. Aber Gott hat ja Allem eine gute Wendung gegeben und so will ich auch diesen jungen Mann, den wir im Spessart wacker an der Arbeit gesehen haben, und dem wir zum Danke verpflichtet wurden, Ihrer Nachsicht und Verzeihung empfehlen, mein lieber Schultheiß!“

Der Schultheiß nickte lächelnd mit dem Kopfe.

„Die Nachsicht und Verzeihung ist ihm bereits geworden,“ antwortete er, „meine Tochter hat mir angekündigt, daß sie ihn mir zum Schwiegersohne erkoren – was bleibt da einem gutmüthigen ‚deutschen Hausvater‘ übrig, als …“

„Ah,“ rief der Erzherzog aus, „Ihre Tochter ist die Braut unsres Forstmannes, und will ihm in seinen öden Spessart folgen? In diese stillen armen Thäler? Hören Sie, das gefällt mir nicht!“

„Aber mir, königliche Hoheit!“ erwiderte Benedicte jetzt mit verlegenem Lächeln und tiefem Erröthen.

Der Erzherzog sah sie an und blickte dann auf die stattliche Gestalt Wilderich’s. Er schwieg eine Weile, nachsinnend, dann sagte er zu Wilderich:

„Gehen Sie mit uns. Wir haben noch ein tüchtig Stück Arbeit für muthige Männer. Noch ist der deutsche Boden nicht frei. Noch ist die Rheinarmee Moreau’s durch die Schwarzwaldpässe und über die deutschen Grenzen zu werfen. Ich kann Leute, die sich wie Sie als Führer bewährt haben, gebrauchen. Als Diplomat freilich,“ fügte er lächelnd hinzu, „wären Sie nur mit einiger Vorsicht zu verwenden. Aber wie wär’s, wenn ich Ihnen eine Officierstelle bei einem Jägerregimente gäbe, mit der Aussicht auf eine Compagnie nach der ersten Action, und so weiter? Sie schauen besorgt darein, Demoiselle Benedicte? Seien Sie ruhig – er hat Glück, dieser junge Mann, das lese ich in seinen Zügen, und wenn er einst ein großer General ist, werden Sie mir’s danken!“

„O gewiß, Königliche Hoheit,“ fiel der Schultheiß erfreut ein.

„Was denken Sie?“ wandte der Erzherzog sich wieder an Wilderich.

„Ich bitte Eure Hoheit, mir gnädig zu bleiben, wenn ich diese Güte ablehne.“

„Sie wollen nicht?“

Wilderich schüttelte den Kopf und antwortete:

Wenn ich in meinem Spessart bleiben möchte, so ist es nicht allein der Wunsch, mich von dem Glücke nicht zu trennen, das ich eben gefunden habe. Ich habe die Waffen wider den Landesfeind nur ergriffen, wie es, mein’ ich, jeder deutsche Mann zum Schutz und für die Freiheit des Vaterlandes muß. Man soll dazu deutschen Männern nur vertrauen, in der Stunde der Gefahr werden sie da sein! Aber zum Soldaten taugt solch ein an’s freie Waldleben gewohnter Mensch wie ich nicht … lassen Eure Hoheit mich im Schatten meiner Buchen!“

„Nun,“ versetze der Erzherzog ihm die Hand reichend, „dann vergessen Sie in der Einsamkeit Ihrer Buchenschatten nicht, daß Sie einen Freund an mir haben!“

Er erhob sich.

[616] „Ich muß scheiden, mein lieber Schultheiß … meine Zeit ist gemessen,“ sagte er. „Gott erhalte Sie und die Ihren, Gott erhalte Deutschland seine treuen und starken Männer, daß wir die Stürme, die noch kommen mögen, siegreich bestehen und einst so ruhig und glücklich darauf zurückblicken mögen, wie Ihr Haus es auf die Tage kann, die nun hinter Ihnen liegen!“

„Und Gott,“ flüsterte, während er vom Hausherrn und Wilderich geleitet ging, Marcelline still für sich, „Gott erhalte auch ihn – während er die Vaterstadt und meinen Gatten befreite, wurde ja auch ich frei von dem grauenhaftesten Irrthum und der entsetzlichsten Verirrung, die je ein armes schwaches Weib gefangen hielten!“



  1. In seiner Proclamation vom 11. Messidor im vierten Jahre der französischen Republik hieß es: „Die Bewohner der Dörfer, Flecken, Städte, welche sich bewaffnet vereinigen würden, werden mit Gewalt zur Niederlegung ihrer Waffen gezwungen, sodann erschossen und ihre Häuser verbrannt werden. Jeder Bewohner, welcher im Lande gefunden wird und ohne Erlaubniß eines Generals oder Oberofficiers Waffen trägt, soll arretirt, verurtheilt und auf der Stelle erschossen werden.“

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Vorlage: … zu der römisch-kaiserlichen Armada stoßen lassen, …
  2. Vorlage: Weshab
  3. Vorlage: Schummer