Verlesung der letzten Opfer der Schreckenszeit
[371] Verlesung der letzten Opfer der Schreckenszeit. (Zu dem Bild S. 360 und 361.) Die große französische Revolution ist zweifellos für Europa der Herd großer befreiender Wirkungen gewesen, aber sie hat in ihrem Verlaufe auch für alle folgende Zeit der Welt grausenerregende Beispiele dafür aufgestellt, bis zu welchem Grade die menschliche Natur im Rausche der Willkür ihren niedrigen Instinkten verfallen kann. An diese Zeit des „Schreckens“ gemahnt unser Bild. Das furchtbare Revolutionstribunal hatte im Sommer 1793 die Pariser Gefängnisse gefüllt und der Guillotine immer neue Opfer zugeführt. Eine erwünschte Handhabe gab ihm das Dekret gegen die Verdächtigen; jeder Verdächtige sollte eingekerkert und vor das Tribunal geschleppt werden. Es war ein Dekret wie die schlimmsten Gesetze der römischen Kaiserzeit. Verdächtig waren alle, welche sich fürchteten oder Mitleid mit den Opfern der Revolution zeigten, verdächtig, wer seine hingerichteten Verwandten beweinte, wer den herrschenden Gewalthabern und ihrem Anhang mißfiel, jeder, der durch seinen Stand, seinen Reichtum, seine Bildung den Sansculotten ein Dorn im Auge war. Wie schon bei den Septembermorden waren es in erster Linie die Vornehmsten, welche dem Tode geweiht wurden: der alte Adel, alle Mitglieder der älteren Parlamente, Personen des Hofes, frühere Minister und Intendanten. Ein Lichtblick der Hoffnung fiel in die Gefängnisse, als Robespierre das Fest des Höchsten Wesens feierte und in seiner Festrede die Tugend und die Weisheit verherrlichte – Blumen und Kränze, liebliche Musik, weißgekleidete Jungfrauen, ganz Paris im Festgewand – es war wie eine Feier der Versöhnung! Doch schmerzlich war die Enttäuschung; die Schreckensherrschaft erreichte jetzt erst ihren Höhepunkt; der Priester des Höchsten Wesens ließ das Revolutionstribunal fortwüten; jeden Tag wurden 50 bis 60 Opfer auf dem Henkerskarren zum Schafott geschleppt; gleich nach jenem Fest ließ Robespierre ein Gesetz ergehen, demzufolge das Revolutionstribunal ohne alle Förmlichkeiten seines Amtes walten, bloß summarisch und nach seinem Gewissen richten sollte. Vom 10. März 1793 bis zum 10. Juni 1794 wurden in Paris allein 1269 Menschen guillotiniert; in den letzten sechs Wochen aber bis zum Sturz Robespierres, den 27. Juli, wurden noch 1400 Menschen in Paris hingerichtet; die Ernte eines Monats war reicher als die Ernte eines Jahres.
Das Bild des kürzlich verstorbenen Pariser Malers Charles Louis Müller, dessen Original sich in der Luxembourg-Galerie zu Paris befindet, führt uns in eines jener überfüllten Gefängnisse, in welche der Todesengel tritt in Gestalt eines Sendboten des Tribunals, der die für diesen Tag bestimmten Opfer verliest. Aengstliche Spannung auf allen Gesichtern; Verzweiflung dort, wo die Schergen der Gewalt ein Opfer packen und aus den Armen der Familienangehörigen reißen, vergebliches Flehen um Gnade, Thränen des Schmerzes und der Trauer, meist dumpfe Ergebung in das Unvermeidliche; Alter und Jugend dem gleichen Schicksal verfallen, überall Scenen eines ergreifenden Abschieds! Den Gesichtern und der Haltung sieht man es an, daß fast alle, Männer und Frauen, den bevorzugten Ständen angehören; der Maler hat für viele der einzelnen Persönlichkeiten beglaubigte Porträts als Vorlage benutzt. Wer aber bei dieser Verlesung der Todgeweihten leer ausging, der hielt jeden neugewonnenen Tag seines Lebens für ein Geschenk des Glücks. Trotz aller Todesfurcht hatte die Gewohnheit der Hinrichtungen und der angeborene Leichtsinn der Franzosen es dahin gebracht, daß man in den Gefängnissen in den Tag hinein lebte, sich verliebte, Romane spielte, lachte und tanzte. Es blieb ja noch immer die Hoffnung, es könne doch plötzlich die Stunde der Befreiung schlagen. Und diese Hoffnung war nicht für alle eine trügerische – denn am 28. Juli mußte Robespierre selbst den Henkerskarren besteigen, und nach einigen letzten blutigen Zuckungen erreichte die Schreckensherrschaft ihr Ende. †