Zur Geschichte der Brillen

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Autor: Hermann Cohn
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Titel: Zur Geschichte der Brillen
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aus: Die Gartenlaube, Heft 22, S. 367–368, 370–371
Herausgeber: Adolf Kröner
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Erscheinungsdatum: 1895
Verlag: Ernst Keil’s Nachfolger in Leipzig
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Erscheinungsort: Leipzig
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Quelle: Scans bei Commons
Kurzbeschreibung:
Horner, Friedrich: Ueber Brillen. Aus alter und neuer Zeit, 48. Neujahrsblatt zum Besten des Waisenhauses in Zürich für 1885: Internet Archive, Horner. Ulrich & Co.
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Zur Geschichte der Brillen.

Von Prof. Dr. Hermann Cohn.

Es ist für jeden denkenden Menschen von hohem Interesse, die Geschichte von Erfindungen, welche der Menschheit Nutzen gebracht, so weit als möglich zurückzuverfolgen. Thun wir das also auch einmal mit den Brillen.

Brillen sind bekanntlich Gläser von linsenförmiger Gestalt.

Es giebt hauptsächlich zwei Arten von Linsen: konvexe oder gewölbte, deren Oberfläche gewölbt ist, und konkave oder hohle Gläser, deren Oberfläche vertieft ist.

Die konvex geschliffenen Gläser verdienen den Namen „Linse“ mit Recht, weil sie die Form einer vergrößerten Linsenfrucht haben.

Man nennt sie auch Brenngläser, weil die Sonnenstrahlen hinter ihnen in einem Punkte vereinigt werden, in dem Brennpunkt, in welchem leicht brennbare Körper, Schießbaumwolle, ein Schwefelhölzchen etc., Feuer fangen. Sie heißen auch Sammellinsen, weil sie die Lichtstrahlen in einem Punkte sammeln.

Die alten Schriften schweigen noch vollkommen über geschliffene Linsen; dennoch gab es solche, und zwar aus Bergkrystall; man hat sie in Ninive und Pompeji bei Ausgrabungen gefunden; es waren Konvexlinsen, die wie alle Brenngläser vergrößerten und offenbar zur Vergrößerung als Lupen benutzt wurden. Aber von Brillen lesen wir nichts, weder im Alten Testament, noch bei den griechischen und römischen Autoren. Nur ein einziger Schriftsteller des Altertums erwähnt eine Brille; das ist Plinius, der erzählt, daß der Kaiser Nero die Gladiatorenkämpfe durch einen Smaragd betrachtet habe.

Die Frage, wie diese Brille des Nero beschaffen war, ist nicht etwa eine Spielerei, sondern von ihr hängt die Entscheidung der Frage ab, ob es überhaupt im Altertum schon Hohlbrillen gab. Man nahm früher an, daß Nero kurzsichtig war, weil Plinius kurz vorher angiebt, daß man die Smaragde hohl schleifen könne. Aber die ganze Stelle ist recht dunkel und hat eine Flut von Schriften seitens der Archäologen, Physiologen, Physiker, Mediziner und Historiker über die Brille des Nero hervorgerufen. Die Untersuchungen von Professor Hörner (Neujahrsblatt zum Besten des Waisenhauses in Zürich für 1885) haben nun aber gezeigt, daß Nero aus drei Gründen gar nicht kurzsichtig gewesen sein kann.

1. sind die Augen der stark Kurzsichtigen meist etwas hervortretend; die vorhandenen 8 Statuen und Büsten des Kaiser Nero beweisen aber im Gegenteil, daß seine Augen sehr tiefliegend waren, der obere Augenhöhlenrand stark hervorragte;

2. blinzeln Kurzsichtige nur dann, wenn sie in die Ferne sehen, niemals wenn sie in die Nähe sehen; die Schriftsteller berichten aber im Gegenteil, daß Nero blinzelte, wenn er nahe Gegenstände betrachtete;

3. sehen Kurzsichtige im Dunkeln immer schlechter als im Hellen, sie sind durchaus nicht lichtscheu; es wird aber im Gegenteil mitgeteilt, daß Nero im Dunkeln besser sah als im Hellen, daß er also lichtscheu war.

Horner folgert daraus, daß Nero nicht kurzsichtig, sondern wahrscheinlich schwachsichtig gewesen sei; er hatte ja auch einen mit Narben bedeckten kranken Körper und hat vermutlich infolge eines Augenleidens seine Lichtscheu zurückbehalten; er hat daher wohl auch den Smaragd nur als Konservationsbrille wegen seiner wohlthätigen grünen Farbe bei den Gladiatorenkämpfen im Theater benutzt.

Dies hat auch schon Lessing vor 100 Jahren richtig vermutet; wer sich dafür interessiert, der findet eine sehr scharfsinnige Erörterung über Neros Brille in dem 45. antiquarischen Briefe in Lessings Werken.

Außer dieser einzigen Notiz giebt es in der Litteratur der alten Völker nicht das Mindeste über Brillen. Vielleicht machen die Chinesen eine Ausnahme; man findet in den Sammlungen uralte chinesische Brillen aus hellem Rauchtopas, die sie wahrscheinlich bei ihren feinen Schriftzeichen schon viele Jahrtausende benutzten. Jetzt sollen alle chinesischen Aerzte ausnahmslos Brillen tragen, und zwar sehr große, gewissermaßen als Erkennungszeichen ihres Standes, ähnlich wie früher jeder Arzt bei uns einen Stock mit großem goldenen Knopfe trug.

Wir müssen nun leider einen großen, ganz unvermittelten Sprung von Plinius bis zum Ende des 13. Jahrhunderts machen. Vor kurzem entdeckte man in Florenz in der Kirche Santa Maria Maggiore eine Inschrift, welche auf deutsch lautet: „Hier liegt Salvino von Armati, der Erfinder der Brillen, Gott vergebe ihm seine Sünden.“ Er starb 1317. Ob er wirklich der Erfinder war, ist nicht ganz sicher festgestellt; denn andere Forscher schreiben die Erfindung dem Mönche Alexander von Spina in Pisa zu, welcher 1312 starb. In einer Predigt äußerte Frater Giordano da Rivalto in Piacenza im Jahre 1305, daß es noch nicht 20 Jahre her sei, daß die Brillen erfunden worden wären. Man muß also ungefähr 1290 als die Zeit der Erfindung bezeichnen; ganz sicher aber wurden die Brillen in Italien erfunden.

Diese allerersten Brillen wurden occhiali da naso, Nasenbrillen, Nasenklemmer, genannt und wurden anfangs sehr merkwürdig vor den Augen getragen. Die Mütze wurde tief bis an die Augenbrauen herabgezogen und nun die Brille mit Häkchen an die Mütze befestigt, damit sie nicht herabfallen sollte. Savonarola hat noch im Jahre 1470 dieses Arrangement als besonders nützlich empfohlen.

Was erfanden denn nun eigentlich jene alten Italiener Armati oder Spina? Sie erfanden verschiedene Nummern von Konvexbrillen für alte Leute und machten sie wahrscheinlich aus Glas, während man sich vorher zur Vergrößerung nur der Berylle bediente. Die Berylle sind Edelsteine und von dem Worte Beryll soll auch das Wort Brille kommen. Hans Sachs spricht auch noch immer von der Paryll. In Frankreich kam im 14. Jahrhundert der Name Bericle oder Besicle für ein einzelnes Leseglas auf; es war dies ein großes Brennglas, in Metall eingefaßt und mit einer Handhabe versehen.

Diese Besicles spielten als Inventarstücke in den Testamenten vornehmer Personen eine bedeutende Rolle. So erwähnt das Testament Karls V. zwei Bericles, „deux bericles, dont l’un a le manche de bois“, und noch im 15. Jahrhundert bezeichnete man in Frankreich die einzelnen Lesegläser als Bericles, im Gegensatz zu den Brillen für beide Augen, welche Lunettes (Möndchen) hießen.

Obgleich also die Brillen schon am Ende des 13. Jahrhunderts erfunden waren, konnten sie sich doch nicht Bahn brechen, da die Fabrikation des Glases in Venedig geheim gehalten und das Geheimnis durch strenge Strafen gesichert war. Erst gegen Ende des 15. Jahrhunderts werden plötzlich die Brillen alltäglich, sie werden beschrieben, abgebildet, sogar verspottet; es waren meist Nasenklemmer oder Lorgnetten mit zwei Handgriffen. Die Ursache dieser schnellen Ausbreitung der Brillen um jene Zeit war die Erfindung der Buchdruckerkunst. Durch sie trat an viel mehr Menschen als früher die Notwendigkeit heran, feine Zeichen genau zu sehen, und alle, wes Standes sie auch waren, bemerkten, daß sie zwischen dem 40. und 45. Jahre abends Mühe hatten, bei ungenügender Beleuchtung die Schrift in der Nähe wahrzunehmen. Horner bemerkt sehr richtig: „Wären die Brillen damals noch nicht erfunden gewesen, durch das entstehende Bedürfnis hätten sie um diese Zeit erfunden werden müssen.“ Die Menschen brauchen eben im Alter Brillen zum Lesen, da sie weitsichtig werden. Zur Erklärung diene folgendes:

In der Jugend haben wir bei gesunden Augen das wunderbare Vermögen, nicht bloß in die Ferne, sondern auch in der Nähe gut zu sehen. In unserem Auge befindet sich hinter der Regenbogenhaut eine ganz durchsichtige, wachsweiche Masse von linsenförmiger Gestalt, die man die Krystalllinse nennt, und welche ihre Krümmung [368] ändern kann. Wir bewirken nun das „Sehen in der Nähe“ dadurch, daß wir diese Krystalllinse beim Naheblick stärker krümmen. Dies können wir aber nur durch die Kraft eines Muskels, welcher sich zusammenzieht. Bekanntlich müssen wir im Opernglase eine Schraube drehen, wenn wir von der Bühne weg auf Personen blicken wollen, die uns nahe sitzen. Mit dieser Schraube können wir den Muskel vergleichen, der uns befähigt, in die Nähe zu sehen. Diese Schraube versagt im Alter ihren Dienst, nicht allein durch Abnutzung, sondern durch die größeren Widerstände, welche die immer zäher, härter und unbeweglicher werdenden Teile des Auges, namentlich die Krystalllinse, ihr entgegensetzen. Dieser Muskel, der Accomodationsmuskel, wird nun jahraus jahrein den ganzen Tag von früh bis abends angestrengt; daher ist es gar nicht zu verwundern, wenn er wie alle übrigen Muskeln in späteren Jahren nicht mehr die Kraft hat wie in der Jugend.

Wenn die ersten Runzeln an Stirn und Schläfen, jene gefürchteten Feinde des schönen Geschlechts, sich zu zeigen anfangen, wenn trotz aller Pincetten, die im stillen Kämmerlein hervorgeholt werden, in der Gegend der Schläfe erst einige und dann immer mehr graue Härchen zum Vorschein kommen, dann pflegen sich auch die ersten Zeichen der Ermüdung jenes Muskels geltend zu machen. Es kommt also im Anfange der 40er Jahre, bei manchen besonders kräftigen Personen freilich erst gegen Ende der 40er Jahre dazu, daß sie, die bisher ausgezeichnet in die Ferne und die Nähe gesehen haben, bemerken, daß es namentlich abends nicht mehr recht beim Lesen gehen will. Sie halten das Buch immer weiter vom Auge ab, sie halten es hinter das Licht, um es recht gut zu beleuchten; aber auf die Dauer ist das Lesen doch unmöglich. Sobald nun das Lesen feiner Schrift nur gelingt, wenn die Schrift weiter als 1/4 Meter vom Auge fortgehalten wird, dann sprechen wir von eingetretener Weitsichtigkeit, Presbyopie oder Alterssichtigkeit. Der Name rührt schon von Aristoteles her. Die Strahlen, die weniger als 1/4 Meter vom Auge entfernt sind, werden nun nicht mehr auf der Netzhaut, sondern hinter derselben erst vereinigt. Setzt man aber eine gekrümmte Linse, eine Konvexbrille vor das Auge, so werden die Lichtstrahlen wieder auf der Netzhaut vereinigt; die Linse, welche wir vorsetzen, vertritt die stärkere Krümmung der Linse im Auge. Durch diejenige Konvexbrille, mit welcher die Schrift in 1/4 Meter Entfernung erkannt wird, ist das Leiden gehoben.

Man kann nun als einfache Regel aufstellen: das schwächste Konvexglas, mit welchem feine Schrift noch auf 1/4 Meter leicht gelesen wird, kann als Arbeitsglas dienen. Diese Wahl der Brille ist also, wenn das Auge sonst in die Ferne gut sieht und gesund ist, überaus leicht. Der Accommodationsmuskel kann hinter der Brille ruhen, er ermüdet nicht mehr. Da aber der Muskel von Jahr zu Jahr schwächer wird, so muß auch die Brille mindestens von 2 zu 2 Jahren verstärkt werden. Ob man nun ein Lorgnon oder eine Brille kauft, ist lediglich Geschmackssache. Es ist bei ihr nicht anders wie bei der Wahl des Spazierstöcks; mancher liebt einen solchen mit rundem Knopf, ein anderer einen solchen mit einer Krücke; jeder nimmt das, was ihm am bequemsten ist. Für längere Arbeiten ist wohl die Brille bequemer, da sie fester sitzt, für kürzere Arbeiten genügt ein Lorgnon vollkommen.

Was nun die Nummern betrifft, so besteht ein gewisser Zusammenhang zwischen dem Lebensalter und der Brillennummer. Maurolycus von Messina erzählt, daß die Glasschleifer im 15. Jahrhundert nicht die Nummern der Gläser, sondern die Zahl der Lebensjahre auf die Gläser kratzten, für welche sie bestimmt waren. Später, und zwar noch bis in die neueste Zeit hinein schrieben die Optiker eine Nummer in das Glas, welche die Brennweite des Glases angab, das ist diejenige Entfernung in Zollen, in welcher die Strahlen hinter dem Glase in dem Brennpunkt sich vereinigen würden. Man hatte also eine Reihe, die mit 80 anfing, d. h. ein Glas, das so schwach war, daß erst 80 Zoll hinter ihm der Brennpunkt lag; dann kam 60, 50, 40, 36 etc. bis herab zu 2. Nummer 2 war das stärkste Glas; die Strahlen vereinigen sich schon 2 Zoll hinter demselben. Mit 42 Jahren fing man gewöhnlich mit Nummer 60 an und ging allmählich herab.

Aber in neuerer Zeit sind die Augenärzte übereingekommen, das Zollmaß, das ja kein Tischler und kein Schneider mehr anwendet, mit dem Metermaß zu vertauschen, und so haben wir jetzt die Brillen nach der Meterskala geordnet, und zwar umgekehrt wie früher, so daß die niedrigsten Zahlen 1, 2, 3 etc. jetzt die schwächsten Nummern sind, während früher die höchsten Zahlen 80, 60, 50 die schwächsten Nummern waren. Daher die große Verwirrung im Publikum. Wir sagen jetzt, ein Glas ist Nummer 1, es hat die lichtbrechende Kraft 1, wenn es seinen Brennpunkt in einem Meter hat; diese lichtbrechende Kraft nennt man Dioptrie. Ein Glas hat zwei lichtbrechende Kräfte, zwei Dioptrieen, wenn es in 1/2 Meter seinen Brennpunkt hat; es ist Nummer 4, wenn es in 1/4 Meter, Nummer 10, wenn es in 1/10 Meter seine Brennweite hat, – und das stärkste Glas ist heute Nummer 20, welches in 1/20 Meter, also in 5 Centimeter, seinen Brennpunkt hat.

Da ein Meter ungefähr = 40 Zoll ist (nicht genau, aber das thut wenig für unsere Zwecke), so kann man leicht eine alte Zollbrille in eine neue Meterbrille umrechnen, wenn man sie in 40 dividiert; also die alte 40 = 40/40 = neue 1; 20 = 40/20 = 2; 10 = 40/10 = 4; 5 = 40/5 = 8; 2 = 40/2 = 20.

Wir erhalten dann folgende Tabelle:

Zollbrille = Meterbrille etwa: Zollbrille = Meterbrille etwa:
Nr. Nr. Nr. Nr.
40 1 (40/40) 10 4 (40/10)
32 1.25 (40/32) 9 4.5
26 1.5 8 5 (40/8)
23 1.75 7 5.5
20 2 (40/20) 6 6 (40/6)
18 2.25 5 8 (40/5)
16 2.5 4 10 13 (40/4)
14 2.75 3 13 (40/3)
13 3 (40/13) 2 20 (40/2)
11 3.5

Die Zahlen stimmen nicht ganz, weil eben der Meter nicht 40, sondern nur 38,3 Zoll ist.

Nun kann man nach vielen Beobachtungen ungefähr folgende Tabelle entwerfen.

Das gesunde Auge braucht

  mit 45 Jahren   Meterglas Nr. 1
  mit 50 Jahren Meterglas Nr. 2
  mit 55 Jahren Meterglas Nr. 3
  mit 60 Jahren Meterglas Nr. 4
  mit 65 Jahren Meterglas Nr. 4,5
  mit 70 Jahren Meterglas Nr. 5,5
  mit 75 Jahren Meterglas Nr. 6
  mit 80 Jahren Meterglas Nr. 7

immer vorausgesetzt, daß das Auge in die Ferne gut sieht und gesund ist.

Schlimm sind nur die Maler dran, welche bald in die Ferne, bald in die Nähe sehen müssen, und die immerfort das Glas abnehmen und aufsetzen sollen. Diese können sich mit den Franklinschen Brillen behelfen; sie rühren her von demselben Franklin, der den Blitzableiter erfunden hat. Sie bestehen aus zwei Hälften. Man denke sich ein Brillenglas wagerecht durchschnitten. Die obere Hälfte ist Fensterglas und die untere enthält das Konvexglas für die Nähe. Man kann auch solche Gläser à double foyer (mit doppelter Brennweite) schleifen, so daß z. B. oben Konvex 2 und unten Konvex 4 ist etc. –

Kehren wir nun von unserer Abschweifung wieder zurück zu der Erfindung der Buchdruckerkunst, so müssen wir feststellen, daß dieselbe bei der Jugend nicht allein Bildung, sondern auch leider eine Krankheit verbreitet hat, nämlich die Kurzsichtigkeit; letztere stellte sich ein, da die Jugend,die vorher niemals viel zu lesen hatte, nun durch die kleinen Buchstaben gefesselt wurde. Die Kurzsichtkeit ist bekanntlich das Unvermögen, in der Ferne scharf zu sehen.

Es wäre nun allerdings ein großer Irrtum, zu glauben, daß es vor der Erfindung der Buchdruckerkunst nicht auch Kurzsichtige gegeben habe. Schon Aristoteles hat die Kurzsichtigkeit sehr genau beschrieben; er erwähnt auch zuerst, daß die Kurzsichtigen beim Fernsehen die Augen zusammenzukneifen pflegen, weil sie dann besser sehen. Dieses Blinzeln, welches ästhetisch nicht gerade sehr schön ist und das man bei allen Kurzsichtigen findet, die keine Brille tragen, heißt auf Griechisch μύειν, daher der Name Myopie. Auch Plinius erwähnt die Kurzsichtigkeit. Der berühmte Rechtslehrer Ulpian erzählt, daß im alten Rom jeder Verkäufer eine Ware zurücknehmen mußte, wenn sie einen Fehler hatte; jedoch sei es in Rom Gesetz gewesen, daß kurzsichtige Sklaven nicht zurückgegeben werden durften; die Römer hatten nämlich Schreibsklaven, und [370] unter diesen muß also doch die Kurzsichtigkeit schon verbreitet gewesen sein, wenn man ein Gesetz im Hinblick auf sie machte.

Im Mittelalter wurde die Kurzsichtigkeit schon bei den Zweikämpfen berücksichtigt. Wer kurzsichtig war, konnte ein Duell unbeschadet seiner Ehre ablehnen, da es mit 5 Fuß langen Piken ausgefochten wurde, also auf eine Distanz, auf die der Betreffende nicht mehr deutlich sehen konnte. Man hat sogar neuerdings behauptet, daß es bestimmte Helme für Kurzsichtige gab, sogenannte Kesselhauben, wie sie sich in der Wartburg noch heute im Rüstungssaale und in Wien im Kunsthistorischen Museum finden, diese Helme haben in der Augenhöhe einen horizontalen, langen Spalt, der gewissermaßen das Zusammenkneifen der Lider, die Verengerung der Lidspalte beim Zwinkern ersetzt haben könnte, doch scheint mir diese Erklärung sehr gewagt, vermutlich sollte der schmale Spalt dem Auge unter möglichstem Schutz Ausblick gewähren.

Der berühmte Physiker Cardanus, der 1501 bis 1576 lebte, der Erfinder des Ringes, in welchem der Kompaß seine ruhige Lage behält, hat ganz vorzüglich die Leiden der Kurzsichtigen beschrieben; am Schlusse behauptet er in humoristischer Weise, daß die Kurzsichtigen besonders verliebt wären, da sie die körperlichen Fehler nicht bemerken und alle menschlichen Wesen für Engel halten.

Im 16. Jahrhundert lebte in Padua ein berühmter Professor, Hieronymus Mercurialis, welcher es sehr merkwürdig fand, daß es in Italien so viele Kurzsichtige und in Deutschland damals so wenige gäbe, man hätte, meint er, immer behauptet, die Kurzsichtigkeit käme vom vielen Trinken, das könne aber nicht sein, denn im Trinken seien doch wohl die Deutschen entschieden den Italienern überlegen. Und darin hat er gewiß recht, vom Trinken kommt wohl Schwachsichtigkeit, aber keine Myopie.

Die Myopie ist also keine neue Krankheit unserer überkultivierten Zeit, sie hat schon früher existiert, aber gewiß nicht in so großer Ausdehnung, wie seit Erfindung des Bücherdrucks und seit der obligatorischen Einführung des Leseunterrichts. Denn jetzt wird ein jeder der Schädlichkeit, kleine Buchstaben in der Nähe schon in der Jugend zu betrachten, ausgesetzt.

Aber es scheint, daß das Hilfsmittel der Kurzsichtigen, die Konkavbrille, erst 200 Jahre später als die Konvexbrille erfunden wurde. Auf alten Bildern, z. B. aus dem 15. Jahrhundert, findet man wohl schon mitunter ältere Personen mit Brillen, offenbar mit Konvexbrillen bewaffnet gemalt, jüngere Personen wollten sich wahrscheinlich nicht gern durch eine Brille verunstaltet malen lassen. Das erste Bild, auf welchem eine Konkavbrille vorkommt, ist von Raphael gemalt, und zwar im Jahre 1547; es hängt im Palazzo Pitti zu Florenz und stellt den Papst Leo X. dar, der ein rundes Glas mit ziemlich langem Stiele in der Hand hält und damit Zeichnungen betrachtet, die vor ihm aufgeschlagen sind. Das ist kein Vergrößerungsglas, wie Horner nachgewiesen hat. Leo X. war, wie historisch festgestellt ist, außerordentlich kurzsichtig; er bediente sich auf der Jagd eines Glases, mit dem er besser sah als seine Begleiter, er hatte gerade im Gegensatz zu Nero, von dem wir im Anfange sprachen, stark hervorspringende Augen wie die meisten sehr Kurzsichtigen. Raphael hat das Glas auch so gemalt, daß es spiegelt wie ein Konkavglas. Der Papst hält das Glas in der Hand, um einen besseren Ueberblick über die Zeichnungen zu haben, ohne sich bücken zu müssen. Also steht fest, daß im 16. Jahrhundert auch die Kurzsichtigen die Wohlthat einer Brille erhalten hatten.

Im Anfange des 16. Jahrhunderts wurde auch zuerst eine richtige Erklärung der Wirkung der Konkavbrille gegeben und zwar von dem schon genannten Maurolycus. Er zeigte, daß durch sie die Strahlen zerstreut, durch Konvexgläser aber gesammelt werden. Kepler, der große Astronom, kannte die Arbeiten von Maurolycus nicht und konnte im Jahre 1601, als ihn Herr von Dietrichstein fragte, warum die Kurzsichtigen durch Konkav- und die Weitsichtigen durch Konvexgläser besser sähen, keine Antwort geben; dies gelang ihm erst, nachdem er 3 Jahre über diesen Fragen studiert hatte.

Freilich begann auch gegen Ende des 16. Jahrhunderts schon eine Reaktion gegen das Brillentragen, und selbst die Aerzte fingen damals an, dagegen zu predigen. So eiferte besonders Georg Bartisch, der das erste Lehrbuch der Augenheilkunde schrieb, im Jahre 1583 gegen die Brillen. Er schrieb ein eigenes Kapitel „wie man sich vor denen Prillen und Augengläsern bewahren und enthalten soll“. Es fehlte freilich ihm wie allen damaligen Augenärzten und herumziehenden Starstechern jede Spur von physikalischen wie physiologischen Kenntnissen.

Auch Goethe scheint, obgleich er doch unzweifelhaft ein wahrhaft großer Naturforscher gewesen ist, eine Antipathie gegen Brillen gehabt zu haben, freilich nur aus ästhetischen Gründen. In den „Wahlverwandtschaften“ fand ich in Ottiliens Tagebuche folgende Stelle: „Es käme niemand mit der Brille auf der Nase in ein vertrauliches Gemach, wenn er wüßte, daß uns Frauen sogleich die Lust vergeht, ihn anzusehen und uns mit ihm zu unterhalten.“

Es verging übrigens lange Zeit, bis die Augenärzte selbst anfingen, den Brillen ihre Aufmerksamkeit zuzuwenden. Noch vor 30 Jahren wurden die Augengläser selbst in den dicksten Lehrbüchern der Augenheilkunde auf wenigen Seiten abgehandelt, und meist wurden sehr falsche Ansichten über die Brillen dabei entwickelt. Seitdem aber hat sich das Blatt gewendet. Die Lehre von den Brillen bildet heute ein so riesiges Kapitel, daß es auf jeder Universität in einem eigenen, das ganze Semester dauernden Kolleg vorgetragen werden muß. Die heutigen Augenärzte sind auch gerade mit den technischen und physikalischen Hilfsmitteln sehr wohl vertraut, das Studium der Baufehler des Auges, bei denen eine Brille notwendig ist, ist ein ganz mathematisch exaktes geworden, und nicht zum kleinsten Teil geschah dies infolge der großartigen Erfindung des Augenspiegels. Die Namen Helmholtz und Donders werden bis in die fernsten Zeiten in der Geschichte der Brillenlehre mit höchsten Ehren genannt werden.

Erst in neuerer Zeit sah man ein, daß das Wesen der Kurzsichtigkeit eine Verlängerung der Augenachse ist. Das gesunde Auge mißt von vorn nach hinten etwa 22 Millimeter, das kurzsichtige 26, 30 und mehr Millimeter. Je kurzsichtiger, desto länger ist es.

Die Kurzsichtigkeit ist eine Krankheit, welche meist in der Jugend schon entsteht und während der Beschäftigung der Augen in der Nähe zunimmt. Die Lichtstrahlen fallen von fernen Gegenständen nicht auf die Netzhaut, sondern vor dieselbe. Konkavgläser aber sind imstande, die aus der Ferne kommenden Strahlen so zu zerstreuen, daß sie sich auf der Netzhaut wieder vereinigen, daß sie also dem Auge aus der Nähe zu kommen scheinen. Der Grad der Kurzsichtigkeit wird ausgedrückt durch die Nummer desjenigen schwächsten Konkavglases, mit welchem der Betreffende in die Ferne scharf sieht.

Die Frage, ob man Konkavbrillen geben soll, ist nicht so einfach zu beantworten als die nach den Konvexbrillen. Es stehen sich hier zwei Ansichten der Sachverständigen direkt gegenüber. Die einen geben die stärksten Brillen und wollen durch dieselben das kurzsichtige Auge in ein normales verwandeln, die andern verabscheuen alle Brillen, halten kurzsichtige Augen für kranke Augen, die man schonen müsse, und meinen, daß der civilisierte Mensch zufrieden sein könne, wenn er in der Nähe zu seinen Arbeiten sehe; es gebe gar nicht so viel Schönes auf der Straße und in der Ferne zu sehen; der Betreffende möge sich wie im Altertum mit Zusammenkneifen der Lider behelfen. Die Wahrheit liegt hier wie überall in der Mitte.

Bei der Entscheidung dieser Frage handelt es sich nach meinen 30jährigen Erfahrungen um zweierlei: 1. um den Grad der Kurzsichtigkeit und 2. um die Entfernung, für welche die Brille benutzt werden soll.

1. Der Grad der Myopie. Man bestimmt ihn leicht durch die Entfernung, bis zu welcher noch kleine Schrift gelesen werden kann. Wer nur noch bis 1/2 Meter liest, braucht für die Ferne Konkavglas – 2, bis 1/4 Meter – 4, bis 1/10 Meter – 10, bis 1/20 Meter – 20. Nun muß man aber wissen, daß die Konkavgläser von 1 bis 6 fast gar nicht verkleinern; die stärkeren Gläser aber von 6 bis 20 verkleinern wohl, was ein unbehagliches Gefühl hervorruft und die höchsten Gläsernummern überhaupt gar nicht anzuwenden gestattet. Die Größe, die Orientierung und die Perspektive werden um so mehr geändert, je stärker das Konkavglas ist. Dazu kommt aber noch, daß fast alle Kurzsichtigkeiten, die stärker als 6 sind, mit Folgekrankheiten im Auge verbunden sind. Sie zeigen schon sehr bedeutende Ausdehnung der Häute des Auges, „fliegende Mücken“, Aderhauterkrankungen, sie sind die gefürchtete Form, bei denen häufig Trübungen im Glaskörper, Blutungen und Zerstörung der Netzhaut, selbst Ablösung der Netzhaut eintritt. Solche Augen, die mehr als Kurzsichtigkeit 6 haben, sind eben meist kranke Augen. Das wird auch dadurch bestätigt, daß niemand zum Militär genommen wird, der stärkere Kurzsichtigkeit als 6 hat. Die [371] Gefahr für diese Augen steigt erfahrungsgemäß mit dem Alter und wird im 50. Lebensjahre durchschnittlich immer drohender. Für solche Augen ist es in der That am allerbesten, wenn sie gar kein Glas tragen und jede anstrengende Beschäftigung vermeiden. Solche Personen müssen Landwirte, Gärtner, Bäcker, Konditoren, Gastwirte oder Bierbrauer werden, das sind Berufe, die den Augen keine Anstrengungen zumuten und gewiß einträglicher sind als mancher gelehrte Beruf. Auf Momente mögen solche Kurzsichtige sich wohl eines Lorgnons bedienen, z. B. auf Reisen, in Gesellschaften etc., um sich zu orientieren; aber am besten ist für sie die Ruhe des Auges. Ich habe sehr häufig gesehen, daß in späteren Jahren gerade diejenigen Kurzsichtigen böse Komplikationen zeigten, welche permanent scharfe Brillen getragen hatten.

2. Die Entfernung, für welche die Brille benutzt werden soll. Diese Frage ist auch recht schwer zu beantworten. Gegen eine Fernbrille bei schwachem Grade läßt sich nichts einwenden; aber dieselbe Brille kann nicht für die Nähe benutzt werden. Wenn jemand noch auf 1/2 Meter ohne Brille sieht und er setzt sich Konkav 2 auf, so sieht er natürlich damit in die Ferne gut. Wenn er aber durch die Brille auf 1/2 Meter sehen will, so muß er die Brille, die ja dazu überflüssig ist, überwinden. Das geschieht durch stärkere Accomodation und damit stärkere Konvergenz beider Augen; diese Vorgänge aber strengen an und veranlassen Zunahme der Kurzsichtigkeit. Zur Arbeitsentfernung braucht eben ein solches Auge keine Brille.

Anders ist es, wenn das Auge nur bis auf 1/4 Meter sieht, so daß der Lesende sich beständig bis auf 25 Centimeter der Schrift nähern und dabei auflegen muß; für die Ferne braucht das Äuge Nummer 4; für die Arbeitsentfernung von 1/2 Meter wäre das zu stark; hier muß ein schwächeres Glas berechnet werden, mit dem das Auge auf 1/2 Meter sehen kann, das würde Konkav 2 sein. Noch anders wird die Sache beim Violinspielen, wo auf 3/4 Meter die Noten erkannt werden sollen, wieder anders bei den Tischlern, bei den Zimmerleuten etc. Es muß eben von Fall zu Fall geurteilt werden; man kann nicht alles über einen Leisten schlagen, zumal noch sehr wichtige Berücksichtigungen der Augenmuskeln, welche das Auge nach der Nase zu bewegen, hinzukommen, deren Auseinandersetzung aber hier viel zu weit führen würde.

Nur das eine sei noch bemerkt, weil ich es für sehr wichtig halte. Hat ein Kurzsichtiger eine Brille, die ihn in stand setzt, auf 1/2 Meter weit zu sehen, dann muß er an einem Tische sitzen, der so körpergerecht gebaut ist, daß er wirklich lange Zeit sein Auge 1/2 Meter von der Schrift entfernt halten kann, daß er nicht gezwungen ist, nach 5 oder 10 Minuten auf 20 oder 16 Centimeter herabzusinken. Senkt er seinen Kopf, so schadet ihm die Brille; denn er zieht nun die Accommodationsschraube aufs furchtbarste hinter der Brille an, er wird schneller kurzsichtig. Darin liegt die Gefahr, kurzsichtige Schüler mit Arbeitsbrillen zu versehen, solange die Subsellien nicht richtig gebaut und die Kinder nicht nach der Größe gesetzt sind, was ja leider in Deutschland fast immer noch nicht der Fall ist.

In jedem Falle frage man bei Myopie wegen der Brille einen Arzt; der Fall ist oft verwickelt, und Kurzsichtigkeit ist namentlich in höherem Grade durchaus nicht gleichgültig; sie bietet auch in mittlerem Grade ein großes Hemmnis für die Wahl des Berufes und für die Existenz. – –

Endlich sei noch mit wenigen Worten der Uebersichtigkeit gedacht. Man nahm früher an, daß Kurzsichtigkeit und Weitsichtigkeit einander gegenüberstehen. Ja, man machte das schöne Wortspiel: „Der Weitsichtige sieht beinahe nichts (bei Nahe nichts), und der Kurzsichtige sieht beiweitem (bei Weitem) weniger.“ Das ist aber ganz unrichtig; auch der Kurzsichtige kann im Alter etwas weitsichtig werden. Der Kurzsichtigkeit, dem zu langen Bau, steht gegenüber die Uebersichtigkeit, der zu kurze Bau des Auges. Das Auge ist dann zu flach. Solche Augen täuschen oftmals Kurzsichtigkeit vor, namentlich in der Jugend; sie sind es aber nicht. Die Uebersichtigen sehen in die Ferne mit Konkavgläsern schlechter; sie brauchen schon für die Ferne Konvexgläser, und da ist denn die Regel sehr leicht zu merken: der Uebersichtige nimmt dasjenige stärkste Konvexglas, mit dem er in die Ferne noch scharf sieht, ohne jeden Schaden. Für die Nähe braucht er noch ein schärferes. Werden die Gläser nicht genommen, so entsteht Ermüdung oder Schielen.

In neuerer Zeit verordnet man auch cylindrische, torische prismatische und farbige Brillen. In einem späteren Artikel wollen wir über diese besonders sprechen.

Möge nur jeder den Satz beherzigen: die Brille ist, wie das Opium, falsch angewendet ein Gift und richtig angewendet ein großer Segen der Menschheit.