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Vierte Abhandlung (Über das tugendhafte Leben)

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Textdaten
Autor: Isaak von Ninive
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Titel: Vierte Abhandlung
Untertitel:
aus: Über das tugendhafte Leben, Bibliothek der Kirchenväter, Band 38, S. 333-353.
Herausgeber: Gustav Bickell
Auflage: 1
Entstehungsdatum: 7. Jahrhundert
Erscheinungsdatum: 1874
Verlag: Jos. Koesel’sche Buchhandlung
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Erscheinungsort: Kempten
Übersetzer: Gustav Bickell
Originaltitel:
Originalsubtitel:
Originalherkunft:
Quelle: Faksimile auf den Commons
Kurzbeschreibung:
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[333]

Vierte Abhandlung.[1]

Über die Gottesliebe, die Entsagung und die Ruhe in Gott.

Die Seele, welche Gott liebt, findet ihre Ruhe nur in Gott.

Zuerst befreie dich von den Fesseln der Aussenwelt, und alsdann erst bestrebe dich, dein Herz an Gott zu fesseln!

Die Ablösung von dem Materiellen muß der Verbindung mit Gott vorhergehen.

Dem Kinde reicht man erst dann Brod zur Speise, wenn es von der Milch entwöhnt ist; und der Mensch, welcher in den göttlichen Dingen Fortschritte machen will, muß seine Seele zuvor von der Welt entwöhnen, wie ein Kind von der Mutterbrust.

Die leiblichen Anstrengungen müssen der Seelenthätigkeit vorhergehen, gleichwie auch bei der ersten Entstehung der Leib vor der Seele erschaffen wurde.

Denn wer keine leiblichen Arbeiten übt, dem fehlt auch die Arbeit der Seele. Diese wird von jenen hervorgebracht, wie die Ähren von den bloßen Weizenkörnern. Wer keine Seelenthätigkeit übt, der ist auch von den Gaben des Geistes ausgeschlossen.

Die zeitlichen Leiden für die Wahrheit sind der Glückseligkeit nicht werth, welche den die Tugend Übenden bereitet ist.[2]

Gleichwie die freudenvolle Einsammlung der Ährenbündel auf die thränenreiche Aussaat folgt, so die Freude auf die um Gottes willen erduldeten Mühen.

Das durch Schweiß erworbene Brod erquickt den Ackersmann, und die Mühen wegen der Gerechtigkeit das Herz, welches die Erkenntniß Christi in sich aufgenommen hat.

[334] Ertrage demüthig im Geiste der Tugend die Verachtung, indem dein Herz Zuversicht zu Gott hegt!

Jedes harte Wort, welches der Mensch aus Einsicht erduldet, wenn er es nicht durch eigene Thorheit verdient hat, bringt seinem Haupte eine Dornenkrone um Christi willen; aber er ist glücklich zu preisen, denn auch er wird gekrönt werden zu einer Zeit, die er noch nicht kennt.

Wer verständiger Weise vor der Ehre flieht, der fühlt die Hoffnung der zukünftigen Welt in sich.

Wer da gelobt hat, der Welt zu entsagen, aber mit seinen Mitmenschen über allerhand Dinge streitet, um in seinem Behagen nicht gestört zu werden, der ist vollständig blind, weil er freiwillig seinen ganzen Leib aufgegeben hat und nun doch über ein einzelnes Glied desselben streitet.

Wer die Bequemlichkeiten dieses Lebens flieht, dessen Sinn schaut auf die zukünftige Welt. Wer am Besitze hängt, ist ein Sklave der Leidenschaften. Du darfst aber unter Besitz nicht nur Gold und Silber verstehen, sondern Alles, woran du mit der Begierde deines Willens hängst.

[3] Wer die Hindernisse aus Furcht vor den Leidenschaften abschneidet,[4] der ist wahrhaft weise.

Die Erkenntniß der Wahrheit kann nicht ohne fortwährende Ausübung der Tugend gefunden werden.

Die Erkenntniß des Lebens wird nicht durch bloße körperliche Arbeiten erworben, sondern nur dann, wenn wir diesen Arbeiten die Abschneidung der Leidenschaften des Geistes als Endzweck setzen. Wer ohne Einsicht arbeitet, fällt auch leicht in die sich ihm darbietenden Gelegenheiten zur Sünde.

Lobe niemals Den, welcher zwar dem Leibe nach arbeitet, aber in Bezug auf seine Sinne ungebunden und ausgelassen [335] ist, der nämlich Ohren und Mund offen stehen hat und die Augen herumschweifen läßt!

Wenn du dir vorgenommen hast, Werke der Barmherzigkeit auszuüben, so gewöhne dich daran, dich nicht an anderen Thüren[5] auf die Gerechtigkeit zu berufen, damit du nicht als ein Solcher erscheinest, der mit der einen Hand arbeitet und mit der anderen zerstreut. Denn einerseits bedarfst du zwar des Erbarmens, andererseits aber weitherzige Gesinnung.

Deinen Schuldigern zu vergeben, rechne auch mit zu diesen Werken der Barmherzigkeit; alsdann wirst du sehen, wie der Friede von beiden Seiten in deinen Geist eindringt! Dieß geschieht aber dann, wenn du dich über den Standpunkt der bloßen Pflicht und Gerechtigkeit auf deinem Wege erhebst und in Allem der Freiheit Gelegenheit zur Bethätigung gibst.

Denn einer der Heiligen sagt, indem er über diese Dinge redet: „Wenn ein Barmherziger nicht gerecht ist, so ist er blind.“ Das bedeutet, er soll andere aus seinem gerechten Erwerb und durch seine eigene Arbeit unterstützen, nicht aber mit Gütern, die durch Lüge, Erpressung, Ungerechtigkeit und Betrug zusammengebracht sind. Ebenso belehrt uns derselbe Heilige an einer anderen Stelle: „Wenn du unter die Armen aussäen willst, so säe von deinem Eigenthume aus! Wenn es aber Fremden weggenommen ist, so ist es bitterer als Unkraut.“

Ich aber sage, daß der Barmherzige sogar dann noch nicht wahrhaft barmherzig ist, wenn er sich noch nicht über die bloße Gerechtigkeit erhoben hat. Dieß geschieht aber dann, wenn er nicht nur aus seinem Eigenthume den Menschen Barmherzigkeit erweist, sondern auch ungerechte Beeinträchtigung freiwillig mit Freuden erduldet, so daß er im Verkehre mit seinem Nächsten nicht einmal Alles, was [336] ihm von Rechtswegen gebührt, geltend macht und einfordert, sondern sich so erbarmt, daß er sich, indem er durch die Barmherzigkeit auch die Gerechtigkeit übertrifft, einen Siegeskranz, nicht wie den der Gerechten zur Zeit des Gesetzes, sondern wie den der Vollkommenen des neuen Bundes.

Daß man dem Armen von seinem Eigenthum geben, Den, welchen man entblößt sieht, bekleiden, seinen Nächsten wie sich selbst lieben, nicht Ungerechtigkeit und Trug üben solle, alles Dieß hat schon das alte Gesetz befohlen. Der vollkommene Wandel des neuen Testamentes[6] schreibt aber Dieses vor, daß du dein Eigenthum nicht zurückforderst, wenn es dir Jemand wegnimmt, und Jedem gebest, der dich darum bittet, und nicht nur den Raub deiner Güter und aller anderen Dinge, die dir äusserlich sind, freudig ertragest, sondern auch dein Leben für deine Mitmenschen dahingebest.

Derjenige ist barmherzig, der sich nicht nur durch Geschenke seines Nächsten erbarmt, sondern sich auch, wenn er hört oder sieht, daß ein Anderer leidet, nicht enthalten kann, im Herzen von Mitgefühl zu entbrennen, ja sogar, wenn ihn sein Bruder auf die Wange schlägt, es nicht wagt, sich auch nur mit einem Worte an ihm zu rächen und sein Gemüth zu betrüben.

Schätze die Abtödtung der Nachtwachen hoch, damit du bereiten Trost in deiner Seele findest!

Widme dich fortwährend der Lesung im Stillschweigen, damit du stets zu wunderbaren Dingen hingezogen werdest!

Liebe die Armuth in Entsagung, damit dein Gemüth aus der Zerstreuung gesammelt werde!

Hasse den Überfluß, damit du vor Verwirrung des Gewissens bewahrt werdest!

[337] Halte dich fern von Vielgeschäftigkeit[7] und trage Sorge um deinen eigenen Wandel, damit deine Seele vor dem Schwinden der inneren Ruhe bewahrt bleibe!

Liebe die Keuschheit, damit du nicht vor dem Kampfordner zu Schanden werdest zur Zeit, da du ihn anflehest!

Erwirb dir Lauterkeit der Sitten, damit deine Seele im Gebet jubele und bei der Erinnerung an den Tod Freude in deinem Gemüth entzündet werde!

Widerstehe den geringen (Anfängen), damit du nicht zu schweren (Sünden) weitergetrieben werdest![8]

Sei nicht nachlässig in deinen Arbeiten, damit du nicht zu Schanden werdest, wenn du zu deinen Begleitern gelangest!

Versäume nicht, dich mit Reisevorräthen zu versehen, damit man dich nicht auf der Mitte des Weges einsam zurücklasse und weiter ziehe!

Ertrage deine Mühsal mit Einsicht, damit sie dich nicht von deinem ganzen Laufe abbringe!

Erwirb dir Freiheit in deinem Wandel, damit du von der Verwirrung befreit werdest!

Fasse aber deine Freiheit nicht als einen Vorwand zum behaglichen Leben auf, damit du nicht ein Knecht der Knechte werdest!

Liebe die Enthaltsamkeit in deinem Wandel, damit die sich hervorwagenden Gedanken zurückgeschlagen werden!

Ein hochmüthiges Herz und Unkeuschheit sind beisammen. Wer äusseren Prunk liebt, kann sich nicht einen zerknirschten Geist erwerben; denn das Innere des Herzens muß nothwendiger Weise mit dem äusseren Benehmen übereinstimmen. Wer kann der Üppigkeit dienen und dabei die Lauterkeit des Geistes besitzen? Oder wer sinnt wohl [338] darauf, äussere Ehre zu erhaschen, und erwirbt sich dabei innerlich eine zerknirschte Gesinnung? Wer ist in seinem Äusseren frei und in seinen Gliedern ausgelassen und dabei in seinem Herz rein und in seinen Gedanken heilig?

Wenn der Geist von den Sinnen gelenkt wird, so nährt er sich mit ihnen von der Speise der Thiere. Wenn aber die Sinne vom Geiste gelenkt werden, so nähren sie sich mit ihm von der Speise der Engel.

Die eitle Ehrbegierde ist eine Dienerin der Unkeuschheit,[9] wenn sie sich aber im Lebenswandel äussert, des Hochmuthes.

Mit der Demuth ist Eingezogenheit, mit der Ruhmbergierde aber Ausgelassenheit verbunden. Jene gelangt durch ihre stete Sammlung zu Beschauungen und bewaffnet die Seele zum Schutze der Keuschheit. Diese aber sammelt sich wegen der steten Zerstreuung des Geistes Vorräthe aus den ihr begegnenden Aussendingen an und befleckt damit das Herz. Denn diese beschäftigt sich in ausgelassener Weise mit den Naturen der Aussendinge und entzündet den Geist durch unreine Gedanken; jene aber wird durch die Beschauung derselben geistlich gesammelt und treibt Diejenigen, welche sie besitzen, zum Lobpreise Gottes an.

Lege also allen Wundern und Zeichen, die in der ganzen Welt vollbracht werden, keinen so hohen Werth bei als dem einsichtsvollen Verharren in Stillschweigen!

Liebe die Ruhe im Stillschweigen mehr, als daß du die Hungrigen der ganzen Welt speistest oder eine Menge von Völkern aus dem Irrthum zur Anbetung Gottes bekehrtest! Es möge dir weit werthvoller erscheinen, deine Seele aus den Fesseln der Sünde zu befreien, als Gefangene von Denen, die ihre Körper in Sklaverei gebracht haben, loszukaufen und der Freiheit wiederzugeben!

[339] Sei mehr darauf bedacht, Frieden mit dir selbst zu halten, indem die in dir enthaltene Dreieinigkeit, nämlich Leib, Seele und Geist, unter einander einträchtig ist, als darauf, die Erzürnten durch deine Belehrung friedfertig zu stimmen!

Sprich lieber einfache Worte, die aus dem Bewußtsein innerer Erfahrung hervorgehen, als daß du einen Gehon von Belehrung hervorsprudelst aus bloßer Verstandesschärfe und Wiedergabe des von dir Gehörten und Gelesenen!

Sei mehr darum besorgt, deine Seele aus ihrem Tode in Leidenschaften zur Belebung durch auf Gott gerichtete Affekte aufzuerwecken, als daß du die auf natürliche Weise Gestorbenen vom Tode auferwecktest!

Denn Viele, welche Wunder thaten, Todte auferweckten, unter den Irrgläubigen arbeiteten, große Zeichen wirkten und vermittelst des Erstaunens über diese durch ihre Hände vollbrachten Dinge Viele zu Gott zogen, sind später selbst, obgleich sie Anderen die Seligkeit brachten, in schändliche und verabscheuungswürdige Leidenschaften verfallen und haben sich selbst getödtet, während sie Anderen das Leben gaben. Alsdann gereichten sie hinwiederum auch Jenen zum Ärgerniß durch den Widerspruch mit sich selbst, den sie in ihren Werken zeigten, indem sie, obwohl noch an ihrer eigenen Seele erkrankt, sich doch nicht die Heilung ihrer selbst angelegen sein ließen, sondern sich in das Meer der Welt zu stürzen wagten, um die Seelen Anderer zu heilen, während sie selbst noch krank waren, und so für ihre eigenen Seelen die Hoffnung zu Gott durch die vorher erwähnten Leidenschaften verloren.

Denn die Schwäche der Sinne vermochte nicht den Glanz der Aussendinge auszuhalten, welche heftige Leidenschaften in den noch der Behutsamkeit Bedürftigen zu erwecken pflegen. Ich meine aber hiermit den Anblick von Frauen, Lebensgenuß, Geld und ähnliche Dinge, sowie die Leidenschaft des Ehrgeizes und der Überhebung über Andere.

Laß dich lieber von Thoren des bäuerischen Wesens als von Weisen der Frechheit beschuldigen!

[340] Werde aus Demuth arm und strebe nicht aus Anmaßung nach Reichthum!

Schüchtere die Streitsüchtigen durch die Kraft deiner Tugenden, nicht durch Worte ein und bringe die Unbelehrbaren durch die Friedfertigkeit deiner Lippen zum Erröthen, nicht durch Reden!

Beschäme die Ausschweifenden durch den Ernst deiner Sitten und die frech Blickenden durch die Schamhaftigkeit deiner behutsam eingezogenen Augen!

Betrachte dich in deinem ganzen Leben überall als einen Fremden, wo du auch hinkommst, damit du den großen Nachtheilen entgehen könnest, welche aus der Zuversichtlichkeit entspringen!

Halte dich stets für durchaus unwissend, damit du den Vorwürfen entgehest, welche dir der Dünkel, mit dem du Andere verbessern willst, zuziehen wird!

Dein Mund spreche immer nur Segnungen aus, so wirst du nie von irgend Jemandem eine Lästerung erleiden!

Schmähung bringt Schmähung, Segen aber Segen hervor.

Bedenke stets, daß du selbst der Belehrung bedürfest, damit du in deinem ganzen Leben als ein Weiser erfunden werdest!

Empfiehl nicht Anderen eine Tugend, die du selbst noch nicht erworben hast, wie aus eigener Erfahrung, damit du dich nicht vor dir selbst schämen müssest und deine Unwahrhaftigkeit aus der Vergleichung deines Wandels offenbar werde! Rede vielmehr, selbst wenn du über Pflichten sprichst, nach Art eines Lernenden und nicht mit Autorität, indem du zuerst dich selbst zurechtweisest und zeigst, wie sehr du noch hinter dem Ziele zurückbleibst, damit du auch deinen Zuhörern ein Beispiel der Demuth gebest, sie durch das Anhören deiner Worte um so mehr zum Laufe der Tugendübung antreibest und so in ihren Augen ehrwürdig erscheinest!

Über derartige Dinge rede so viel als möglich unter Thränen, damit du sowohl dir selbst als auch deinen Gefährten nützest und die Gnade an dich ziehest!

[341] Wenn du durch die Gnade Christi dazu gelangt bist, dich an den in den sichtbaren Kreaturen verborgenen Geheimnissen zu erfreuen, welches die erste Stufe der Erkenntniß ist, so waffne deine Seele gegen den Geist der Lästerung![10] Bleibe aber nicht ohne Waffenrüstung an dieser Stelle stehen, damit du nicht mit leichter Mühe im Hinterhalt von den Verführern getödtet werdest!

Deine Waffenrüstung aber bestehe in Fasten und Thränen, welche du in steter Demüthigung vergießen mußt!

Hüte dich auch vor der Lesung von Büchern, in welchen häretische Ansichten, wenn auch nur zum Zwecke der Widerlegung, auseinandergesetzt sind; denn dieses verleiht dem Geiste der Lästerung stärkere Waffen gegen die Seele.

Wenn dein Magen angefüllt ist, so wage es nicht zu forschen, damit es dich nicht gereue! Nimm zu Herzen, was ich sage: Bei einem vollen Magen ist keine Erkenntniß der Geheimnisse Gottes.

Betrachte oft, ohne überdrüssig zu werden, in den Schriften, welche die erleuchteten Männer über die Weltregierung Gottes verfaßt haben, und worin der Zweck seiner verschiedenartigen Werke bei der Erschaffung der mannigfaltigen Kreaturen in der Welt gezeigt wird, damit dadurch deine Erkenntniß gestärkt werde und du durch ihre scharfsinnigen Lehren erleuchtete Regungen erlangest, auf daß dein Geist lauter auf seinem Wege wandele zu dem Ziele der richtigen Ordnung der geschaffenen Welt gemäß der Erhabenheit der weisen Ideen des Schöpfers der Natur!

Lies auch in den beiden Testamenten, welche Gott der ganzen Welt kundgethan hat, damit du mit der Kraft seiner in allen Zeitaltern sichtbaren Gnadenführungen ausgerüstet und in Staunen versenkt werdest! Solche und ähnliche Lesungen sind zu diesem Zwecke sehr nützlich.

     Deine Lesung werde in vollkommerner Ruhe vorgenommen, [342] während du auch von der Menge der leiblichen Sorgen und der Verwirrung durch Geschäfte frei bist, damit sie deiner Seele einen angenehmen Geschmack gewähre durch die süßen, übersinnlichen Erleuchtungen, welche die Seele bei steter Beschäftigung mit derselben empfindet!

Achte nicht die aus der Erfahrung stammenden Worte dem Geschwätze der Wortkrämer gleich, damit du nicht bis zum Ende deines Lebens in der Finsterniß bleibest und des Nutzens aus jenen beraubt seiest, auch zur Zeit des Kampfes wie in der Nacht verwirrt, um nicht zu sagen, unter dem Scheine der Wahrheit in eine Grube hinabgeschleudert werdest!

Dieses diene dir als Zeichen dafür, daß du wirklich dem Eingang zu jener Stufe genaht bist: Zur selben Zeit, wo die Gnade angefangen hat, deine Augen zu öffnen, so daß du die wahre Gestalt der Dinge merkst, beginnen deine Augen Thränen zu vergießen, bis daß sie durch ihre Menge deine Wangen abwaschen, und der Andrang der Sinne wird zur Ruhe gebracht, indem sie friedlich in dir eingeschlossen werden.

Wenn dich Jemand anders als auf diese Weise belehrt, so schenke ihm keinen Glauben! Ausser den Thränen darfst du aber vom Leibe kein anderes äusserliches Zeichen als Merkmal für die Empfindung der Wahrheit verlangen, wenn nicht etwa noch die in der Thätigkeit der Glieder eingetretene Ruhe!

Wenn sich jedoch der Geist über die gewordenen Dinge erhoben hat, so werden auch für den Leib die Thränen aufhören, sowie die Empfindung und die Erregbarkeit,[11] mit Ausnahme des natürlichen Lebens. Denn diese Erkenntniß läßt sich nicht dazu herab, sich die Gestalten der Dinge der sichtbaren Welt anzueignen und sie als Begleitung in die geistige Anschauung mit sich zu nehmen.

Der Apostel[12] sagt: „Ob ich im Leibe oder ausser dem [343] Leibe war, weiß ich nicht, Gott weiß es.“ Und die Worte, die er hörte, nennt er unaussprechlich.

Denn Alles, was durch die Ohren gehört wird, kann ausgesprochen werden; Jener aber vernahm nicht durch hörbare Stimmen noch durch den Anblick körperlicher, sichtbarer Gestalten, sondern durch Regungen des dem Leibe entrückten und nicht mit dem Willen verbundenen Geistes.

[13] Denn kein Auge hat je Derartiges gesehen und kein Ohr etwas Ähnliches gehört und kein Herz sich jemals ein Abbild davon vorgestellt, indem es durch die Erinnerung eine Art von Erkenntniß dessen in sich hervorgerufen hätte, was Gott Denen, die reinen Herzens sind, bereitet hat, um ihnen in ihrer Abgestorbenheit von der Welt nicht einen körperlichen Anblick zu zeigen, der von den fleischlichen Augen nach seinen Merkmalen materiell aufgefaßt wird, auch nicht diesen entnommene, im Geiste abgeprägte Vorstellungen, sondern die einfache Anschauung der übersinnlichen und zu glaubenden Dinge, welche sich nicht zergliedern und in verschiedene, elementarische Bilder darstellende Theile zertrennen läßt.

Richte deinen Blick so auf die Sonnenscheibe, wie es deiner Sehkraft angemessen ist, nämlich nur um dich an ihren Strahlen zu erfreuen, nicht aber um ihren Kreislauf zu beobachten, damit du nicht auch deiner beschränkten Sehkraft beraubt werdest! Wenn du Honig findest, so iß davon, so viel dir zuträglich ist, damit du ihn nicht aus Übersättigung wieder ausbrechen müssest![14]

Die Natur der Seele ist ein leicht bewegliches Ding und springt zuweilen von Begierde, Dasjenige zu lernen, was zu erhaben für sie ist.

Häufig erfaßt sie Einiges aus dem Verlaufe der Lesung und der Betrachtung der Dinge, obgleich das Maß ihrer Tugenden im Vergleich mit dem so von ihr Gefundenen sehr unbedeutend ist. Und wie weit dringt ihre Erkenntniß [344] vor? Bis dahin, daß ihre Gedanken in Schrecken und Zittern gehüllt werden und sie aus Furcht sich beeilt, wieder zurückzukehren; während sie dreist zu den feurigen Dingen hinzuspringen will, wird sie von Furcht wegen deren Schrecklichkeit zurückgehalten. Die Klugheit winkt schweigend dem Verständniß der Seele zu: Wage es nicht, damit du nicht sterbest;[15] suche nicht Das, was dir zu schwer ist, und erforsche nicht Das, was dir zu gewaltig ist! Suche Das zu begreifen, was man dir erlaubt hat! Aber es kommt dir nicht zu, dich an das Verborgene zu wagen. Bete also an, lobpreise schweigend und danke dem Unbegreiflichen dafür, daß er sich dir schon weit über deine Fassungskraft hinaus geoffenbart hat, suche aber nicht gewaltsam in seine übrigen Werke einzudringen!

Es ist ebenso verkehrt, allzu erhabene Dinge zu erforschen, als übermäßig Honig zu essen.[16] Denn gar leicht können wir, wenn wir uns lange Zeit hindurch bestreben, Etwas zu sehen, und doch immer nicht in seine Nähe gelangen, wegen der Unermeßlichkeit des Weges erliegen und sogar durch die Sehkraft Schaden erleiden, indem sie uns mitunter statt der Wahrheit Trugbilder vorspiegelt.

Denn wenn der Verstand durch die Erforschung ermüdet ist, so vergißt er auch seine Sicherheit. Und mit Recht sagt der weise Salomon:[17] „Wie eine offene Stadt ohne Mauer, so ist der Mann ohne Geduld.“

Um Gott zu finden, ist es nicht nothwendig, Himmel und Erde zu durchschweifen und unseren Geist nach verschiedenen Orten auszusenden, um ihn zu suchen.

Reinige deine Seele, o Mensch, und entferne von dir das Nachsinnen über Erinnerungen, die deinem (wahren) Wesen fremd sind! Hänge vor deine Regungen den Vorhang der Keuschheit und Demuth! Auf diese Weise wirst du Ihn [345] finden, da er in dir ist. Denn den Demüthigen werden die Geheimnisse geoffenbart.

Wenn du dich der Übung des das Gewissen läuternden Gebetes und dem Ausharren im Nachtwachen gewidmet hast, um einen lichtumhüllten Geist zu erlangen, so halte deine Seele zurück vom Anblick weltlicher Dinge, schneide dir den Verkehr durch Gespräche ab und suche nicht die gewohnten Freunde in deiner Zelle zu empfangen, nicht einmal zu frommen Zwecken, ausgenommen einen solchen, welcher gleiches Streben mit dir hat und mit deinem Leben vertraut ist, indem du eine Störung des verborgenen Seelenverkehrs befürchtest, welcher sich von selbst ohne unser Bemühen zu regen pflegt, wenn wir nur der Seele die äusserlichen Zerstreuungen abschneiden!

}Verbinde Tugendübungen mit deinen Gebeten, damit deine Seele den Glanz des Aufgangs der Wahrheit schaue!

Sobald das Herz Ruhe von den Erinnerungen an die Aussendinge erlangt hat, wird dein Geist auch die Wunder der (göttlichen) Aussprüche erfahren.

Die Seele pflegt leicht die eine Vertrautheit mit der anderen zu vertauschen, wofern wir nur etwas Sorgfalt und Anstrengung zeigen.

Lege ihr die Arbeit der Lesung in den Schriften auf, welche die höheren Wege des geistlichen Lebens, die Kontemplation und die Geschichten der Heiligen lehren! Wenn sie auch Anfangs keine Süßigkeit dabei empfindet wegen der Verfinsterung und Verwirrung durch die ihr noch nahen Erinnerungen, da sie ja die bisherige Vertrautheit mit einer anderen vertauschen soll, so werden doch, wenn du dich zum Gebet und Gottesdienst anschickest, statt des Nachdenkens über weltliche Dinge die Vorstellungen aus den Schriften dem Geiste eingeprägt und dadurch die Erinnerung an das früher Gesehene und Gehörte vergessen und ausgetilgt werden.

Auf diese Weise wird dein Geist zur Reinheit gelangen, und hierauf bezieht sich der Ausspruch: „Die Seele verarbeitet das Gelesene, wenn sie zum Gebet kommt, und [346] wird im Gebet aus der Lesung erleuchtet.“ Dieß bedeutet aber, daß die Seele statt des Herumirrens in den Aussendingen einen Vorrath für die verschiedenen Arten des Gebets an den zuverlässigen Erleuchtungen findet, welche durch die wundervollen, dorther (aus der Lesung) entnommenen Erinnerungen im Geiste auftauchen.

[18] Wie oft wird er alsdann zum ekstatischen Schweigen gebracht, so daß er selbst dem Gebete nicht mehr obliegen kann, indem die aus der Schrift entnommene Macht der Kontemplation ihn zu jenen Zeiten in einen regungslosen Zustand versetzt, welche, wie gesagt, sogar das Gebet auf heilsame Weise abzuschneiden pflegt, Ruhe über das Herz ausbreitet und dessen Regungen durch eine Unterbrechung der Thätigkeit der seelischen und leiblichen Glieder zum Schweigen bringt.

Diejenigen verstehen, was ich hier sage, die diese Sache in sich selbst erfahren haben und in ihre Geheimnisse eingeweiht sind, aber nicht durch Belehrung von Anderen oder durch Entlehnung aus Büchern, welche so oft die Wahrheit zur Lüge machen können.

Ein voller Magen verabscheut die Erforschung der geistlichen Dinge, wie eine Buhlerin Unterredungen über die Keuschheit.

Demjenigen, dessen Inneres voll Krankheiten ist, widersteht eine nahrhafte Speise, und Demjenigen, dessen Geist von der Welt angefüllt ist, das Herannahen zu der Untersuchung der göttlichen Werke.

Das Feuer brennt nicht in feuchtem Holze, und das Aufwallen in Gott wird nicht in einem die Bequemlichkeit liebenden Herzen entzündet.

Gleichwie eine Buhlerin ihre Zuneigung nicht einem Einzigen bewahrt, so bleibt auch eine an vielerlei Dinge gefesselte Seele nicht in der Liebe zur geistlichen Lehre.

[347]      Gleichwie Derjenige, welcher niemals die Sonne mit seinen Augen gesehen hat, von bloßem Hörensagen darüber sich ihr Licht in seinem Geiste nicht vorstellen und in seiner Seele keine Ähnlichkeit auffinden kann, um daran die Herrlichkeit ihrer Strahlen zu ermessen, ebenso kann auch Derjenige, welcher in seiner Seele keinen Geschmack für geistliche Arbeit empfindet und in seinem Wandel ausserhalb der Erfahrung ihrer Geheimnisse steht, aus bloßem menschlichen Unterricht und Studium in Büchern kein der Wahrheit ähnliches Bild in seinen Geist aufnehmen, so daß er die richtige Belehrung in seiner Seele fände und sichere Auskunft über die Sache erlangte.

Wenn du etwas mehr besitzest als die tägliche Nahrung, so gehe hin und gib es den Armen; alsdann komme wieder und bringe ein zuversichtliches Gebet dar, das heißt, rede mit Gott wie ein Sohn mit seinem Vater!

Nichts bringt das Herz so nahe zu Gott wie die Barmherzigkeit, und Nichts verleiht dem Geiste solchen Frieden als die freiwillige Armuth.

Laß dich immerhin von Vielen einen Unverständigen nennen wegen deiner offenen Hände[19] und deiner unbegrenzten Freigebigkeit aus dem Beweggrund der Gottesfurcht. Laß dich aber ja nicht einen Weisen von festem Verstande nennen wegen deiner Sparsamkeit!

Selbst wenn Jemand, der auf einem Pferde ritte, dir die Hand hinhielte, so verschließe doch deine Hand nicht vor ihm in Bezug auf Das, was er wirklich nothwendig braucht! Denn zu dieser Zeit ist er ebenso bedürftig wie einer der Armen.

Wenn du gibst, so gib mit reichem Auge, zeige dem Empfänger ein freundliches Angesicht und füge zu dem von ihm Erbetenen noch mehr hinzu, was er nicht von dir verlangt [348] hat! Denn es heißt:[20] „Sende dein Brod über das Wasser, so wirst du nach langer Zeit den Lohn finden!“

Mache keinen Unterschied zwischen Reichen und Armen und bekümmere dich nicht darum, ob der Empfänger würdig oder unwürdig ist! Halte, soweit es dich angeht, alle Menschen der Wohlthat für würdig, besonders weil du sie dadurch der Wahrheit geneigt machen kannst!

Denn die Seele wird leicht durch leibliche Hilfe zu gottesfürchtiger Gesinnung hingezogen. Auch unser Herr ließ die Zöllner und Buhlerinnen zu seinem Tische zu, indem er sich nicht von den Unwürdigen absonderte, um sie auf diese Weise zur Gottesfurcht anzueifern und durch die Gemeinschaft in irdischen Dingen zu der Gemeinschaft im Geiste zu bringen.

Würdige deßhalb jeden Menschen deiner Wohlthaten und Ehrenerweisungen, mag er auch ein Jude oder Abtrünniger oder Mörder sein, besonders deßhalb, weil er dein Bruder und gleicher Natur mit dir ist und aus Unverstand von der Wahrheit abirrt!

Wenn du Gutes thuest, so setze dabei deinem Geiste nicht eine nahe Belohnung zum Zwecke! Alsdann wird es dir Gott doppelt vergelten.

Wo möglich thue es nicht einmal wegen der jenseitigen Belohnung, damit du die Tugend um so vollkommener aus Liebe zu Gott übest! Die Stufe der Liebe steht Gott näher als die der Vergeltung; und zwar steht sie noch weit höher über dieser, als die Seele über dem Leibe.

Wenn du dir bereits die Entäusserung von allen Dingen als Ziel vorgesetzt hast, durch die Gnade Gottes von den Sorgen befreit bist und dich durch deine Entäusserung über die Welt erhoben hast, so hüte dich, daß du nicht etwa durch die Liebe zu den Armen wiederum verleitet werdest, in die Sorge für Besitzungen und Aussendinge zurückzufallen, [349] um nämlich Almosen austheilen zu können, dich nicht abermals in Verwirrung stürzest, indem du von dem Einen nimmst und dem Anderen gibst, deine Würde verächtlich machest durch die Herabwürdigung, mit welcher du bei Sammlungen für solche und ähnliche Zwecke die Menschen anflehest, und so von der Höhe deines freigewordenen Bewußtseins wieder in die Sorge für irdische Dinge zurücksinkest!

Deine Würde ist erhabener als die der Almosenaustheiler. Ich bitte dich, mache dich nicht zum Gespötte! Dieses ist die für die Erziehung der Kindheit angemessene Stufe, jenes aber der Weg der Vollkommenheit.

Wenn du Etwas hast, so vertheile es auf einmal; wenn du aber Nichts hast, so wünsche nicht, Etwas zu erhalten!

Säubere deine Wohnung von Bequemlichkeiten und Überflüssigem, damit du so nothgedrungen zur Selbstverleugnung angeleitet werdest! Denn die Nothwendigkeit zwingt uns, Vieles zu ertragen, zu dessen Ertragung wir uns nicht freiwillig, wenn sich uns die Gelegenheit dazu darbietet, entschließen wollen.

Diejenigen, welche in dem äusseren Kampfe gesiegt haben, haben auch die innere Furcht hinweggenommen; und kein (feindlicher) Zwang kann sie mehr gewaltsam gefangen hinwegführen, indem er sie im Streite von vorn und im Rücken beängstigt.[21]

Den äusseren Kampf nenne ich denjenigen, welchen der Mensch durch die Sinne thörichter Weise gegen seine eigene Seele erregt, nämlich durch Nehmen und Geben, Hören und Sehen, Reden und Eßbegierde, und dadurch, daß er seiner [350] Seele ununterbrochen viele dringende Geschäfte aufträgt, so daß sie, geblendet durch die von aussen her auf sie eindringende Verwirrung, nicht im Stande ist, in dem verborgenen, gegen sie erregten Streit klar zu sehen und durch Gelassenheit die von innen sich erhebenden Störungen zu überwinden.

Wenn aber der Mensch die Thore der Stadt verschließt, so stehen sich beide Parteien im Streite von Angesicht zu Angesicht gegenüber, und er braucht sich vor dem Hinterhalt hinter der Stadt nicht zu fürchten.[22]

Heil dem Menschen, welcher Dieses einsieht, sich in der Stille zurückhält und seiner Seele selbst auf jene Art[23] nicht viele Arbeit aufträgt, sondern, wenn es möglich ist, jede körperliche Arbeit mit der Anstrengung des Gebets vertauscht, in den Zwischenräumen zwischen den einzelnen Gottesdiensten keine andere Thätigkeit mit dem in Gebet und Lesung der (heiligen) Schriften bestehenden Werke Gottes verbindet und glaubt, daß ihm Gott, da er mit Ihm arbeitet und bei Tag und Nacht an Ihn denkt, Nichts von dem Nothwendigen, dessen er bedarf, deßhalb werde mangeln lassen, weil er um Seinetwillen nicht arbeitet!

Wer es ohne Arbeit nicht in der Ruhe aushalten kann, der soll auf jeden Fall arbeiten, muß aber die Arbeit nur als Hilfsmittel, nicht als Erwerbsquelle betrachten und als etwas jenen Dingen Untergeordnetes, nicht als das hauptsächlichste Gebot. Auch gilt Dieß nur für die Schwachen; [24] denn Evagrius nennt die Arbeit der Hände ein Hinderniß des Gotteingedenkseins. Den Bedrängten und Kleinmüthigen [351] haben sie die Väter auferlegt, aber nicht als eine gesetzliche Nothwendigkeit.

Zur Zeit, da Gott deinen Geist von innen heraus aufthut und du dich zu häufigen Kniebeugungen anschickst, da wende dein Herz keinerlei Sorgen zu, wie sehr dich auch die Dämonen im Verborgenen dazu zu bereden suchen; und alsdann schaue voll Staunen auf Das, was dir hierdurch hervorgebracht wird!

Achte keine andere Tugendübung dieser gleich, daß der Mensch bei Tag und Nacht vor dem Kreuze mit zurückgebogenen Armen auf seinem Angesicht liegt! Beobachte diese Übung, wenn du willst, daß deine Aufwallung niemals ermatte und du der Thränen nie ermangelest!

Selig bist du, o Mensch, wenn du über diese Dinge, die ich dir gesagt habe, nachsinnest und bei Tag und Nacht nach nichts Anderem verlangst! Alsdann wird dein Licht hervorbrechen wie der Morgen und deine Gerechtigkeit bald aufstrahlen; du wirst einem Paradies der Wonne gleichen und einer Quelle, deren Wasser nie versiegt!

Siehe, wie viele Güter der Mensch durch anhaltenden Eifer erlangt! Zuweilen liegt Jemand auf den Knieen, indem er sich zum Gebete vorbereitet; seine Hände sind zum Himmel emporgerichtet und ausgebreitet, seine Augen blicken auf das Kreuz, und so zu sagen alle seine Regungen und Gedanken sind im Flehen auf Gott gerichtet. Aber zu dieser selben Zeit, wo er sich so im Flehen und Seufzen befindet, bricht plötzlich aus seinem Herzen die Quelle der Süßigkeit hervor, seine Glieder wanken, seine Augen schließen sich, sein Angesicht neigt sich zur Erde, und seine Gedanken schwinden, so daß sich sogar die Kniee nicht mehr auf dem Boden zu halten vermögen vor Entzücken über die in seinem ganzen Leibe strahlende Seligkeit.

O Mensch, denke nach über Das, was du liebst! Kann man wohl so Etwas aus Tintenaufzeichnungen lernen, oder kann etwa der Geschmack des Honigs aus Büchern in den Gaumen des Lesers übergehen?

Wenn du dich nicht darum bemühest, so wirst du es [352] nicht finden; und wenn du nicht eifrig anklopfest und lange an der Thüre wachest, so wirst du nicht erhört werden.

Wer könnte Solches hören und noch nach einer äusserlichen Gerechtigkeit[25] verlangen, als nur Derjenige, welcher das Gebundensein an die Zelle nicht ertragen kann?

Jedoch wenn Jemand Dieß nicht vermag, da es ja ein Gnadengeschenk von Gott ist, daß man innerhalb der Thüre bleibe, so soll er doch wenigstens in dem anderen Theile nicht lässig werden, damit er nicht beider zum Leben führenden Theile[26] verlustig gehe!

Denn so lange als der äussere Mensch noch nicht den weltlichen Geschäften abgestorben ist, nicht etwa nur der Sünde, sondern auch jeder leiblichen Thätigkeit, und der innere Mensch den schädlichen Erinnerungen an böse Dinge, so lange nicht auch die natürlichen Regungen einigermaßen durch Anstrengungen im Leibe niedergehalten und ertödtet sind, so daß die Süßigkeit der Sünde nicht mehr im Herzen lockt, läßt der Geist Gottes seine Süßigkeit nicht in dem Menschen wirken, das Leben offenbart sich nicht in seinen Gliedern, und die göttlichen Regungen zeigen sich nicht in seiner Seele. Und so lange das Herz nicht frei geworden ist von der Sorge für irdische Dinge, abgesehen von dem Nothwendigen, was die Natur zur Zeit ihres Bedürfnisses verlangt, obgleich es auch Dieses der göttlichen Vorsehung überläßt, wird die geistliche Trunkenheit nicht in ihm erweckt und empfindet es nicht jenen Wahnsinn, wegen dessen der Apostel getadelt wurde, als man sagte, die vielen Bücher hätten ihn wahnsinnig gemacht.[27]

Dieses sage ich aber nicht, um irgend Einem die Hoffnung abzuschneiden, als ob Demjenigen, welcher nicht bis [353] zur höchsten Vollkommenheit gelangt, keine Gnade von Gott verliehen und ihm kein Trost zu Theil würde!

Sicherlich, wenn der Mensch die Sünden von sich geworfen hat und ihnen gänzlich entfremdet ist, dagegen dem Guten anhängt, so wird er alsbald die Hilfe (Gottes) fühlen. Und wenn er sich ein wenig anstrengt, so findet er in sich den Trost der Sündenvergebung, wird der Gnade gewürdigt und empfängt viele Güter.

Aber er ist doch immerhin nur gering im Vergleich mit Demjenigen, welcher vollkommen der Welt entsagt, das Vorbild der zukünftigen Seligkeit in sich gefunden und Dasjenige ergriffen hat, um dessen willen uns Christus ergriffen hat,[28] welchem mit seinem Vater und dem heiligen Geist sei Ehre und Herrlichkeit in die Ewigkeit der Ewigkeiten, Amen!

(Aus Cod. Mus. Brit. 14633, f. 12—18. Vgl. die griechische Übersetzung, S. 131—151.)


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  1. Mit dieser Abhandlung beginnt die lateinische Übersetzung.
  2. Vgl. Röm 8, 18.
  3. Die folgenden drei Absätze fehlen in der griechischen und also selbstverständlich auch in der lateinischen Uebersetzung.
  4. Am sichersten ist es, auf Besitz und Genuß ganz zu verzichten, weil man sonst leicht sein Herz daran hängt und von Gott getrennt wird.
  5. In anderen Beziehungen, indem man z. B. zwar gegen Arme wohlthätig ist, aber Beleidigungen nicht verzeiht.
  6. Vgl. Luk. 6, 29—30; Matth. 5, 39—42.
  7. Wörtlich: von Vielen, d. h. vom Umgang mit Menschen oder von selbst gefälliger Beschäftigung mit dem Seelenheile Anderer.
  8. Nach einer anderen Lesart: „Wahre sorgfältig das Geringe, damit du nicht das Große von dir stoßest!“
  9. Der Stolz führt zwar nicht unmittelbar, wohl aber mittelbar zur Unkeuschheit, indem er das Gnadenleben in der Seele schwächt oder ertödtet und sie so zum Widerstand gegen die Versuchungen unfähig macht.
  10. Anfänger im inneren Leben können leicht in pseudomystische Irrlehren verfallen.
  11. In der griechischen Übersetzung fehlt der Schluß dieses Absatzes von hier an, ferner die folgenden drei Absätze und der erste Satz des vierten.
  12. II. Kor. 12, 2. 4.
  13. Vgl. I. Kor. 2, 9.
  14. Vgl. Spr. Salom. 25, 16.
  15. Jes. Sir. 3, 22—25.
  16. Vgl. Spr. Sal. 25, 27.
  17. Spr. Sal. 25, 28.
  18. Die beiden folgenden Absätze fehlen in der griechischen Übersetzung.
  19. Kann in Folge eines Wortspieles auch bedeuten: „wegen der Einfalt deiner Hände.“
  20. Pred. Sal. 11, 1.
  21. Der Streit im Rücken oder der äussere Kampf ist die Verwirrung, welche die Beschäftigung mit zerstreuenden Aussendingen in der Seele bewirkt, wodurch diese verhindert wird, den Streit von vorn oder den inneren Kampf gegen sich selbst mit ungetheilter Aufmerksamkeit zu führen.
  22. Wer die Zerstreuung durch äusserliche Geschäftigkeit vermeidet, kann ungestört an seiner Vervollkommnung im inneren Leben und in der Selbstüberwindung arbeiten.
  23. Selbst nicht durch Geschäftigkeit für gute Zwecke.
  24. Das Griechische hat: „Denn für die Vollkommeneren ist sie ein Hinderniß.“ Evagrius wird hier nicht genannt, weil er als origenistischer Häretiker galt.
  25. Hierunter ist das thätige Leben im Gegensatz zum beschaulichen zu verstehen.
  26. Diese beiden Theile sind das thätige und das beschauliche Leben.
  27. Vgl. Apostelgesch. 26, 24.
  28. Vgl. Phil 3, 12.