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Vision (Tucholsky)

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Textdaten
Autor: Kurt Tucholsky
unter dem Pseudonym
Peter Panter
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Titel: Vision
Untertitel:
aus: Die Weltbühne. Jg. 20, Nr. 32 vom 7. August 1924, II, S. 238.
Herausgeber: Siegfried Jacobsohn
Auflage:
Entstehungsdatum:
Erscheinungsdatum: 7. August 1924
Verlag: Verlag der Weltbühne
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Erscheinungsort: Berlin
Übersetzer:
Originaltitel:
Originalsubtitel:
Originalherkunft:
Quelle: Scan auf Wikimedia Commons
Kurzbeschreibung:
Vision aus Das Lächeln der Mona Lisa, 1929
Eintrag in der GND: {{{GND}}}
Bild
Bearbeitungsstand
fertig
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Vision

Heute haben wir den 28. Juli dieses Jahres, der Autobusführer sitzt vorn am Steuerrad und wendet den schweren, langen Wagen, als ob es ein kleiner Zweisitzer wäre. „AX“ steht vorn dran. Ich weiß doch nicht genau … und frage den Schaffner. Der Schaffner sagt nett und höflich Bescheid: Nein, nach der rue Grenelle muß ich von da hinten, mit dem andern Wagen abfahren. Danke.

Das wäre also 1924. Und was hätte der Omnibusschaffner, der da auf diesem pariser Omnibus, mit mir gemacht, wenn wir uns heute vor acht Jahren begegnet wären?

Der Omnibusschaffner hätte — vor Angst, aus Pflichtbewußtsein, nach Kommando — auf mich geschossen. Sein Fahrer wäre, um mich zu fangen, vorsichtig den Graben entlanggekrochen, wäre alle paar Minuten regungslos auf dem Bauch liegen geblieben, hätte gewartet — und dann, an der nächsten Biegung, wäre er vorgesprungen und hätte mir sein Bajonett in den Magen gestoßen, da, wo ich jetzt meinen Spiegel trage. Der Mann auf der Metro, der mir vorhin das Billett geknipst hat, hätte befriedigt das Gewehr abgesetzt, wenn ich drüben die Arme hochgeworfen hätte und dann hinter dem deutschen Graben verschwunden wäre … Vor acht Jahren.

Und ich, ich war verpflichtet, meinem Milchhändler, der mir morgens immer so nett auseinandersetzt, was es Neues gibt, den Kolben auf den Kopf zu schlagen, wenn ich ihn erwischt hätte; ich mußte meinem Kollegen vom ‚Quotidien‘ das Seitengewehr durchs Gesicht ziehen, und ich hatte dafür zu sorgen, daß die schöne Frau Landrieu ihren Mann nicht mehr zu sehen bekam. Vor acht Jahren.

Das war meine Pflicht, das war ihre Pflicht.

Aber jetzt sind wir alle wieder friedlich, sagen uns freundlich Guten Tag, sie zeigen mir den Weg, ich drücke ihnen die Hand, grüße und unterhalte mich, werde ins Theater begleitet und führe nette Konversation über alles Mögliche. Nur über diese eine Sache nicht. Nur über diese eine einzige Kardinalfrage sprechen die Menschen fast gar nicht, ungern, zögernd:

Ob sie sich morgen wieder Messer in die Köpfe jagen, morgen wieder Granaten (mit Aufschlagzünder) in die Wohnstuben schießen, Herrn Haber konsultieren, damit er ein neues Gas erfinde, daß die Leute, wenn irgend möglich, Professor, total erblinden läßt … Und darüber, daß sich morgen Alle: Omnibusschaffner, Metrokontrolleur, Universitätslehrer und Milchhändler, in eine tobende, heulende Masse verwandeln, die nur den einen Wunsch hat, aus den Berufsgenossen der andern Seite einen stinkenden Brei zu machen, der in den Sandtrichtern verfault …

Morgen wieder? Morgen wieder.