Vom Ewigen Juden

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Autor: Friedrich Helbig
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Titel: Vom Ewigen Juden
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aus: Die Gartenlaube, Heft 8, S. 128–130
Herausgeber: Ernst Keil
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Erscheinungsdatum: 1874
Verlag: Verlag von Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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Vom Ewigen Juden.

An einem winterlichen Sonntage des Jahres 1542 bemerkten die andächtigen Besucher einer der Hauptkirchen Hamburgs während der Predigt einen Mann von auffallendem Aeußern, welcher der Kanzel gerade gegenüber stand. Trotz der strengen Winterkälte war er barfuß und trug an Kleidern nur ein Paar durchlöcherte Hosen, einen bis zu den Knieen herabreichenden mit einem Strick um die Hüften gegürteten Rock und darüber einen grauen fadenscheinigen Mantel, der bis zu den Füßen hinabreichte. Das ergraute Haar des unbedeckten Hauptes wallte in langen Strähnen auf die Schultern herab. Seine hohe mächtige Gestalt ragte weit über die Umstehenden empor. Er lauschte mit solcher Andacht den Worten des Predigers, daß seine Gestalt unbeweglich schien. Nur wenn der Name Christi von der Kanzel erscholl, verneigte er sich, kreuzte die Arme über der Brust und seufzte tief auf.

Die Erscheinung erregte Aufsehen, und man forschte ihr weiter nach. Da erfuhr man, daß der geheimnißvolle Fremde schon einige Zeit sich in Hamburg aufhalte, in Jerusalem geboren, seines Handwerks ein Schuster sei und sich nenne Ahasver. Er sei, so hieß es, ein persönlicher Zeuge der Kreuzigung Christi gewesen und seitdem am Leben geblieben. Zur Bestätigung dieser seltsamen Mähr erzählte er die Umstände, unter denen das Leiden und die Kreuzschlagung Christi vor sich gegangen, weit genauer, als die Evangelien und heiligen Geschichten. Ebenso genau kannte er die Ereignisse, welche in den nächsten Jahrhunderten nach Christi Tode im Morgenlande sich zugetragen hatten, wußte die Lebensschicksale, das Lehren und Leiden der Apostel. Er führte ein stilles und eingezogenes Leben, war in sich gekehrt und schweigsam, sprach nur, wenn man fragend in ihn drang, und nie sah man ihn lachen. Dabei redete er die Sprache fast aller Länder. Um ihn zu sehen und zu hören, kamen viele Neugierige oft aus weiter Ferne nach Hamburg. Manche luden ihn auch wohl zu sich ein. Dann bekundete er stets eine große Mäßigkeit im Essen und Trinken. Kleine Geldgeschenke nahm er gern an, vertheilte sie aber sofort unter die Armen, indem er angab, selbst nichts zu bedürfen.

Einigen, darunter namentlich dem späteren Bischof von Schleswig, Doctor der heiligen Schrift, Paulus von Fitzen[WS 1], der damals noch in Wittenberg studirte, sich aber besuchsweise bei seinen Eltern in Hamburg aufhielt, gelang es, weiter in das Geheimniß einzudringen, das den Fremden umgab. Diesem erzählte er: Er habe zur Zeit des Auftretens Christi das Schuhmacherhandwerk in Jerusalem betrieben, gleichzeitig aber viel Verkehr gehabt mit den Schriftgelehrten und Pharisäern. Mit ihnen und den Hohenpriestern habe er Jesus, den er für einen Volksverführer gehalten, verfolgt, an seiner Gefangennahme mitgewirkt und das „kreuzige“ über ihn mitgerufen. Als derselbe nun auf dem Gange zum Tode an seinem Hause vorübergekommen, habe er sein Hausgesinde zusammengerufen, damit sie sich Alle an dem Anblick des Verurtheilten laben möchten. Sein kleines Kind habe er selbst auf den Arm genommen, um ihm den Vorüberwandelnden zu zeigen. Da sei dieser unter der Last seines Kreuzes zusammengebrochen und habe sich an die Pfosten seiner, Ahasver’s, Hausthür gelehnt, um ein wenig auszuruhen. Er, Ahasver, sei aber scheltend zu ihm herangetreten und habe ihn gehen heißen. Da habe Jesus sich erhoben, ihn angesehen und also geredet: „Ich will stehen und ruhen, Du aber sollst gehen und wandern immerdar.“ Und von Stund an habe es ihn im eigenen Hause nicht mehr gelitten, er habe sein Kind hingesetzt, sei dem Zuge nachgefolgt gen Golgatha, habe die Kreuzigung mit angesehen und nicht vermocht, in die Stadt Jerusalem zurückzukehren. Ohne Weib und Kind wieder zu begrüßen, sei er ruhelos gewandert von Land zu Land. Als er nach hundert Jahren wieder nach Palästina gekommen, sei Jerusalem ein Trümmerhaufen gewesen. Inbrünstig sehne er sich nach Ruhe und Erlösung.

Dies Alles erzählt uns das Volksbuch vom Ewigen Juden, das als solches in erster Ausgabe, „gedruckt in diesem Jahre“ (1662) zu Leyden und gleichzeitig zu Bautzen erschien. Es gründet sich auf einen Bericht eines der Schüler jenes Paulus von Fitzen, des Westphalen Chrysostomus Dädalus, der diesen nach einer mündlichen Erzählung seines theologischen Lehrers bereits im Jahre hatte 1564 hatte zum Druck gelangen lassen.

Doch war Das nicht die erste schriftliche Erwähnung des wunderbaren Wanderers. Schon im dreizehnten Jahrhunderte hatte ein englischer Chronist, der Mönch Paris (Matthäus Parisiensis) in seiner historia major berichtet, daß ein armenischer Bischof die Nachricht nach England gebracht habe, in Armenien lebe ein Mann, der Jesus noch gesehen hätte. Er sei unter dem Namen Cartaphilus Pförtner des Palastes von Pontius Pilatus gewesen, habe Jesus, als er durch das Thor des Palastes gegangen, mit der Faust in den Nacken geschlagen und spottend zu ihm gesagt:

„Geh’ hin, Jesus, immer geh’ schnell! Was zögerst Du?“

Darauf habe Jesus geantwortet: „Ich gehe, und Du sollst warten, bis ich wiederkomme.“

Alle hundert Jahre befalle diesen Armenier eine unheilbare Schwäche, er liege eine Zeitlang in Ohnmacht, lebe dann aber wieder auf und komme wieder in das Alter, in welchem der Herr zur Passionszeit gestanden habe. Später sei er Christ geworden und habe in der Taufe den Namen Joseph erhalten. Er harre der Wiederkunft Jesu und damit seiner Erlösung.

Das Stillleben in dieser seiner Heimath Armenien mochte ihm später wohl nicht behagt haben; er bricht also auf und beginnt im Anfange des sechszehnten Jahrhunderts als Ahasver seine Wanderung durch Europa, durch die Welt. Denn nach seinem Auftauchen in Hamburg – einige Jahre vorher auch in Böhmen – kommt er rasch nacheinander zum Vorschein in Madrid, Wien, Lübeck, Krakau, Moskau, Paris, Naumburg, Stade, Brüssel, Leipzig und München. In den Niederlanden führte er den Namen Isaak Laquedem; in Spanien bemerkte man ihn mit einer schwarzen Binde auf der Stirn, mit welcher er ein flammendes Kreuz bedeckt, das sein Gehirn ebenso rasch, als es wächst, wieder verzehrt.

So war denn die geheimnißvolle Figur des Ewigen Juden, welche den Beinamen Ahasver sich erwarb, auf einmal in der Welt. War die Sage früher da, als die sie tragende Person? Trug man sie erst auf diese über oder ist die Sage erst von der auftretenden Person erfunden worden, sei es aus egoistischem Interesse, sei es aus geistigem Wahne? Wer weiß es? Das Geheimniß aller Schöpfung liegt auch zumeist auf der Entstehung der Sagen. Aus der Bibel stammt unsere Sage nicht. Im neuen Testamente kommt nicht einmal der Name Ahasver’s, geschweige seine Geschichte, vor, im alten wenigstens die letztere nicht. Der Versuch, die Stelle im Capitel 21 des Evangeliums Johannis mit ihr in Beziehung zu bringen, nach welcher Jesus im Bezug auf seinen Lieblingsjünger geäußert haben soll: „Dieser Jünger stirbt nicht, er wird bleiben, bis ich komme,“ ist so gezwungen, daß er jedenfalls erst später gemacht worden ist, nachdem die Sage bereits entstanden war.

Es besteht vielmehr die Wahrscheinlichkeit, daß die Figur und ihr angedichtetes Schicksal eine ursprünglich geistliche Erfindung war, in der Absicht geschaffen, gegenüber dem hier und da auftauchenden Unglauben an die einstige wirkliche Existenz Jesu ein lebendiges Zeugniß zu gewinnen. Auch gehört der Fluch, der Ahasver’s Unglauben folgt, gewissermaßen in das Capitel der Erbsünde. Jedenfalls aber hat sich die Sage bald aus dem geistlichen Gewande herausgeschält. Sie drang ein in das Bewußtsein [129] des Volkes, ganz besonders des deutschen Volkes. Sie wurde, um mit Julius Mosen zu reden, zu einem deutschen Nationalmythus neben der Faustsage, wie einst beim Volke der Hellenen die ihr nah verwandte Prometheussage.

Wenn auch die leibliche Person Ahasver’s selbst nicht mehr zur Erscheinung kam, obwohl Mosen sich erinnert, daß sie zu seiner Jugendzeit noch durch sein voigtländisches Heimathsdorf gegangen sein soll, so entwickelte sich um so mehr die Sagenperson des Ewigen Juden. Der Gedanke des irdischen Fortlebens in Folge einer unseligen That oder gottverhöhnenden Wandels, dem wir hier begegnen, war der germanischen Anschauung durchaus nicht fremd. Er fand sich in vielen anderen Sagen niedergelegt, so in der „Frau Holle“, dem „Wilden Jäger“, „Fliegenden Holländer“, „Ritter Tannhäuser“, und bei so manchen in Burgen und Klöstern nächtig umgehenden Geistern. Lebte doch fast die ganze altgermanische und heidnische Götterwelt, soweit sie sich nicht in ein christliches Gewand einzuschließen vermocht hatte, heimlich in Bergen, in den Lüften und Wässern. Zu ihnen gesellten sich dann allerhand volksthümliche Helden, Fürsten und Könige, nicht fluch-, sondern segenbeladen, von Theodorich und Karl dem Großen an bis hinauf zu den erhabenen Staufenkaisern Friedrich dem Ersten und Zweiten, obwohl die neuere Forschung in ihrer sagenhaften Erscheinung auch in ihnen nur Nachfolger des alten germanischen Hauptgottes Odin erblickt, den das Volksgemüth nicht sterben lassen konnte.

Zuletzt war ja dieser ewige Wanderer nichts weiter als das unstät und flüchtig auf der Welt umherirrende Volk der Juden mit seiner unverwüstlichen Lebenskraft. Wie sehr man das Schicksal dieses Volkes mit der Person unserer Sage in’s Gleiche stellte, ergiebt unter Anderm der Umstand, daß man an die Erscheinung der letztern Unheil und Verderben knüpft, gleichwie man auch jenem Schuld gab, daß es Pest und Seuchen bringe.

So lebte die Sage lange im Volke ihr heimliches Dasein, bis Poesie und Reflexion sich ihrer bemächtigten, und wie diese aus dem Schwarzkünstler Johannes Faust den Träger des Menschengeistes in seinem Streben und Ringen nach Wahrheit und Vollendung zu schaffen verstand, so machte sie auch den armen wandernden Schuster zum Repräsentanten tiefsinniger Probleme.

Auf dieser geistigen Wanderung Ahasver zu folgen, zu sehen, wie er sich da wandelte und fortentwickelte, ist von großem Interesse.

Die Reihe dieser Ahasver-Dichter und -Denker beginnt mit Christian Schubart und endet mit Robert Hamerling. Novelle, Roman, Ballade und Epos haben sich seiner bemächtigt; ja selbst über die Bühne ist er gewandelt, der ewige Wanderer, und fand dort in der dämonisch angelegten Natur Ludwig Devrient’s einen vortrefflichen Interpreten.

Der Schubart’sche Ahasver füllt die gräßliche Oede seines Lebens damit aus, daß er Todtenschädel in wahnsinniger Freude von sich wirft, daß sie hüpfen und splittern, darunter die Schädel seiner Eltern, seines Weibes, seiner Kinder. Die Vernichtung tritt in allen Gestalten zu ihm heran; er empfindet alle ihre Qualen bis zum letzten Moment, zum – Tode, der jedoch nie eintritt. Im Gegensatze zu ihm ist der Ahasver von Alois Schreiber ein empfindungsloser Schatten, dem die Ruhelosigkeit seines Dahinstürmens jeden Genuß, jede Theilnahme an den Leiden und Freuden der Erde versagt. Bei Lenau wird er zur Folie tiefsinnigen Weltschmerzes, der in der Erde nur eine Lüge des Paradieses, immer nur den „alten Tand von Blüthentreiben und Zerstören im öden Spiele“ sich wiederholen sieht. Auch Wilhelm Müller gewinnt in dem ruhelosen Wanderer ein Bild der Verödung, der Qual des übersättigten und nur noch im Tode Ruhe suchenden und Ruhe findenden Lebens. Aehnlich läßt Gustav Horn seinen Ahasver nur leben, um die Unzulänglichkeit des bloßen Lebens quälend zu empfinden, um zu erkennen, daß das Leben nichts ist als ein immerwährendes Sterben, daß der Tod kein Unglück, sondern eine Wohlthat der Menschheit ist. In dieser Erkenntniß erfüllt sich bei ihm der Fluch, da er, der Lebemann, der nichts mehr haßte als den Tod, sich der Hoffnung hingegeben hatte, Christus, der Auferwecker des Lazarus, werde den Tod abschaffen, und im Grolle über diese Enttäuschung den zum Tode Schreitenden verhöhnt hatte. Klingemann, der sein Drama Ahasver nach Horn’s Novelle bildete, findet in der Sage die Idee der Läuterung der Menschheit zur unumgänglichen Freiheit durch das Leid: „Sie, die Sage, wäre dann das höchste religiöse und zugleich poetisch-tragische Mysterium, sowie Christus selbst als der echte Vermittler des Irdischen zum Ueberirdischen erscheint und den ewigen Wanderer auf sein kommendes Reich verweist.“

Lebhaft gefesselt von dem Träger unserer Sage wurde auch Goethe. Er faßte wiederholt den Gedanken, ihn zum Helden eines Epos zu formen, in welchem „die hervorragendsten Punkte der Religions- und Kirchengeschichte zur Darstellung kämen“. In „Wahrheit und Dichtung“ giebt er seine Auffassung des Verhältnisses des jüdischen Schusters zu Jesus. Das Epos selbst, obwohl er wiederholt darauf zurückkommt, kam jedoch nicht zu Stande. In den wenigen „Fetzen“ – wir gebrauchen hier sein eigenes Wort – seines Fragments „Der Ewige Jude“ hebt sich nur der tiefsinnige Gedanke der Wiederentsendung Christi zur Erde über das niedrige Niveau der Burleske. Auch bei Schiller mag zu der geheimnißvollen Figur des Armeniers im „Geisterseher“ der armenische Ahasver, Cartaphilus, Modell gesessen haben.

Und wie vielerlei sind die Wanderziele, die dem abgehetzten Meister von der Ahle angedichtet worden sind! Während in der alten Sage, auch bei Schubart und Goethe, die Wiederkunft Christi auf Erden seiner Wallfahrt ein Ziel setzt, soll er nach Ludwig Köhler wandern, bis die Freiheit in die Welt kommt, bei Zedlitz, bis „die weiße Friedenstaube der Arche Noäh wiederkehrt, bis von Land und Meer der Freude Jauchzen tönt, die Wuth gebunden und der Haß versöhnt, in neuer Liebe sich die Völker küssen“, was ungefähr mit dem goldenen Zeitalter Elihu Burritt’s zusammentreffen wird. Weit schlimmer ergeht es ihm bei Oelckers, der ihn nicht eher rasten läßt, bis das Ende der Zeit überhaupt gekommen ist, und der dabei die Qual seines Daseins noch dadurch verschärft, daß er ihn das Schicksal aller seiner Nachkommen voraussehen läßt. Nach Julius Mosen’s Auffassung würde der Zeitpunkt seiner Erlösung dann einzutreten haben, wenn die Menschheit sich mit dem Christenthum völlig versöhnt haben wird, denn er erblickt in Ahasver, den er zum Gegenstande eines längeren, viel Geist sprühenden Gedichts gemacht hat, die im irdischen Dasein befangene Menschennatur, gleichsam den in einem Einzelwesen verleiblichten Geist der Weltgeschichte, der erst im unbewußten Trotze, dann endlich mit deutlichem Bewußtsein dem Gotte des Christenthums sich entgegenstellt. In ähnlicher Weise ist es bei Sue, der aus dem weiland Schuster sogar eine Species von Socialdemokraten gemacht hat, der Zeitpunkt, in welchem der christliche Liebesgedanke seine allgemeine Verbreitung gefunden und die Aufhebung aller Classenunterschiede herbeigeführt haben wird. Andersen, der in ihm einen zur Erde gestiegenen Engel, Ahas, den Engel des Zweifels, erkannt hat, läßt ihn nicht eher zur Ruhe kommen, d. h. zum Himmel wieder zurückkehren, als bis die Entwickelung der Menschheit derart gewachsen und fortgeschritten ist, daß das zweifelnde, verworfene Geschlecht der Kinder Eva’s in Kraft und Wahrheit dem Himmel zugeführt ist. Es ist darnach also die Himmlischwerdung der Menschheit das Ziel der Erdenwallfahrt Ahasver’s. S. Heller, der die umfangreichste dichterische Wiedergeburt der Sage geliefert hat, sieht den Höhepunkt der menschlichen Entwickelung schon da erreicht, wo der Cultus des freien Menschenthums als höchste und letzte Religion in der Menschheit oder doch zunächst in ihren höchsten geistigen Vertretern herrscht. Diesem Culminationspunkte schritt die Menschheit schon seit Erfindung der Buchdruckerkunst, der Entdeckung der neuen Welt rüstig entgegen; er ist aber nach Heller bereits eingetreten in der Person Goethe’s, des echten Menschen. Sonach läßt Heller seinen geplagten Wanderer bereits die ersehnte Ruhe finden, die ihm fast alle Anderen versagen.

Um seine Wanderung daher einigermaßen zu versüßen, hat der galante Sue ihm eine ewige Jüdin in der Person jener Herodias beigesellt, die einst das Haupt Johannes des Täufers um einen Tanz begehrte und um dieser glaubenslosen Unthat willen der gleichen Flucht der Ruhelosigkeit verfiel.

In anderer Weise bringt Levin Schücking in einer prachtvollen Episode seines Romans „Der Bauernfürst“ den Ewigen Juden in Verbindung mit dem fliegenden Holländer und dem wilden Jäger – drei Geächtete, von denen der Eine der Erde, der [130] Andere dem Wasser, der Dritte der Luft angehört, im feindlichen Gegensatze zu einem alle Drei beherrschenden Vierten, dem Satan, dem Herrn des Feuers. Auch Heller läßt am Ausgang seines Gedichts Ahasver einen Bund schließen mit Faust und Don Juan. In ihnen incarnirt sich „die Menschheit in ihrer Zauberblüthe“, denn sie vertreten dieselbe in den drei Richtungen des Glaubens (Ahasver), des Denkens (Faust) und der Kunst (Don Juan), richtiger wohl der Sinnlichkeit, des Lebensgenusses.

Hamerling, der neueste aller dieser Ahasver-Poeten, stellt ihn in Gegensatz zu Nero, dem eigentlichen Helden seines Poems „Ahasver in Rom“. Hier in Nero unermessener Lebensdrang, dort bei Ahasver unermessene Todessehnsucht. Beide erfüllen trotz dieser Gegensätze insoweit eine Mission, als sie gemeinsam arbeiten an der Entwickelung der Menschheit, denn diese bedarf, um rascher fortzuschreiten, namentlich in Zeitaltern, wo Ueberlebtes und todtreif Altes mit neuen Lebensformen ringt, solcher Titanen der Zerstörung wie Nero. Der in ihm vertretenen negativen Macht der Zerstörung tritt in Ahasver dann das Unzerstörbare positiv entgegen und bereitet in der hervorgerufenen Erkenntniß seiner Ohnmacht seinen Sturz vor. Dies Unzerstörbare, das zu vernichten keine Kraft stark genug ist, das „wie ein Phönix aus ewigen Verwandelungen sich erhebt, das aus erloschenen Daseins Ueberresten die Funken neuer Lebensblüthe lockt“, ist, wie Hamerling meint, die ewige Menschheit. Das Spiegelbild, der Vertreter derselben ist danach Ahasver. Seine Todessehnsucht ist nur die Ruhesehnsucht der ewig ringenden, nie zum Frieden kommenden Menschheit. Es ist also nicht mehr der ewige Jude, sondern der ewige Mensch. Die Consequenz dieser Auffassung führte den Dichter dahin, Ahasver auch so alt sein zu lassen, wie die Menschheit. Deshalb identificirte er ihn mit dem ersten Menschen, mit Kain, der den Tod in die Welt gebracht.

So hat im Laufe seiner poetischen Wanderung und Wandlung der Schuster von Jerusalem sein Pharisäerthum, Judenthum und Christenthum abgeworfen und sich endlich zum ewigen Menschen gewandelt. Bewundernswerth ist hierbei namentlich die stetige Steigerung, die sich in diesem Processe ausspricht. Rechnet man hinzu, wie außerdem in allen Denen, welche sich dichtend und denkend in die Sage versenkten, dieselbe nach den verschiedenartigsten Seiten hin – rollen doch Andersen und Heller die ganze Weltgeschichte vor unseren Blicken auf – befruchtende Gedanken angeregt hat, Gedanken, welche in ihrer Zusammenfassung ein eigenes philosophisches System, eine Art Ahasver-Philosophie darstellen, die sich in dem Schlußsatze gipfelt, daß Tod und Leben eigentlich Eins sind – so wissen wir nicht, ob wir nun noch die Sage oder nicht vielmehr die schöpferische Beweglichkeit des menschlichen Geistes bewundern sollen, der aus dem unscheinbaren Samenkorne ein so reiches Leben zu locken verstanden hat und uns gleichzeitig dafür bürgt, daß die geistige Wanderung Ahasver’s noch nicht beendet ist. Immer noch wird die alte wunderliche Figur die Folie abgeben für neue Gedanken und Axiome, immer von Neuem werden wir ihm in dem Wunderlande der Poesie begegnen, dem müden Waller mit seinem harten, furchenreichen Gesichte, seinen tiefglühenden Augen mit den darüber herabhängenden buschigen Brauen, den weißen strähnigen Haaren, im schleppenden zerfetzten Gewande, wie er dahin geht durch die Welt, ohne Ruhe, ohne Rast weiter – und weiter.

Fr. Helbig.


Anmerkung. Ausführlicher ist derselbe Gegenstand von dem Verfasser in einer Abhandlung in Heft 196 der „Sammlung gemeinverständlicher wissenschaftlicher Vorträge“, herausgegeben von R. Virchow und Fr. von Holtzendorff (Verlag der Lüderitz’schen Buchhandlung) behandelt, auf welche wir Freunde des Stoffes hinweisen.

D. Red.



Anmerkungen (Wikisource)

  1. Gemeint ist Paul von Eitzen