Zum Inhalt springen

Vom Marschall Vorwärts unter den Lehrern

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Textdaten
<<< >>>
Autor: Wichard Lange
Illustrator: {{{ILLUSTRATOR}}}
Titel: Vom Marschall Vorwärts unter den Lehrern
Untertitel:
aus: Die Gartenlaube, Heft 43, S. 682–684
Herausgeber: Ernst Keil
Auflage:
Entstehungsdatum:
Erscheinungsdatum: 1865
Verlag: Verlag von Ernst Keil
Drucker: {{{DRUCKER}}}
Erscheinungsort: Leipzig
Übersetzer:
Originaltitel:
Originalsubtitel:
Originalherkunft:
Quelle: Scans bei Commons
Kurzbeschreibung:
Eintrag in der GND: {{{GND}}}
Bild
[[Bild:|250px]]
Bearbeitungsstand
fertig
Fertig! Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle Korrektur gelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
Um eine Seite zu bearbeiten, brauchst du nur auf die entsprechende [Seitenzahl] zu klicken. Weitere Informationen findest du hier: Hilfe
Indexseite
[682]
Vom Marschall Vorwärts unter den Lehrern.
Vom Director Wichard Lange in Hamburg.
Zur Geburtstagsfeier eines Gemaßregelten.
1. Die Achse bricht.

Ein alter klapperiger Postwagen fuhr in die große Friedrichsstraße Berlins. Darinnen saß eine Familie, bestehend aus zehn, zwei älteren und acht jugendlichen, Häuptern. Der Mittelpunkt des Kreises, ein breitschultriger Mann von untersetzter Gestalt, hoher Stirn und buschigen Augenbrauen, unter denen ein paar tiefliegende Augen hervorblitzten, betrachtete die hohen Gebäude zur Rechten und zur Linken mit ungewöhnlicher Aufmerksamkeit. Um den scharf zugekniffenen, fast lippenlosen Mund zuckte es bisweilen, als verdrängte ein Gefühl das andere und als wogten große Entschlüsse in der Seele des Mannes. Selbst die feingeschnittene Adlernase verrieth in ihren leisen Bewegungen die innere Unruhe. Das Ziel der Reise lag nahe. Der alte Postwagen bog ein in die Oranienburger Straße. Die letzte Schwenkung, welche man ihm zugemuthet hatte, schien er übel vermerkt zu haben. Er stöhnte und knarrte verdächtig, erlaubte sich reglementwidrige Bewegungen und stand endlich still: die Achse war gebrochen. Der Mittelpunkt des Kreises aber ließ sich nicht wesentlich durch diese Tücke alteriren. Er stand fröhlich auf, zählte wohlgemuth die theuren Häupter seiner Lieben und schritt mit ihnen einem unansehnlichen Hause zu, das seine zukünftige Werkstatt bilden sollte. Hier, in dem ehemaligen Entbindungsinstitute, sollte er die Geister der Jugend hinfort entbinden, die der schulpflichtigen Kindheit und die der Jünglinge, die da berufen waren, die Söhne des Volks zu erziehen und zu bilden, weil „Gott will, daß allen Menschen geholfen werde, und daß sie alle zur Erkenntniß der Wahrheit kommen.“

Diesterweg – denn er war’s, der am 5. Mai 1832 am Morgen, als gerade der Mercur durch die Sonnenscheibe ging, in Berlin einzog – hatte sich bereits in Mörs in Rheinpreußen seit 1820 als ein Meister in der Kunst der Menschen- und Lehrerbildung bewiesen. Sein Ruf durchdrang die pädagogische Welt. An der neuerrichteteten Anstalt in der „Metropole der Intelligenz“ sollte der Hervorragendste und der Beste wirken. Männer, wie der Bischof Roß, Kortüm und Strauß hatten es so gewollt, und der Minister Altenstein hatte es also beschlossen. Und so beriefen sie nach Berlin den Pionier der Volksbildung, über dessen Wirksamkeit am Rhein sich Schmitthenner also geäußert hatte: „Preußen hat am Rhein in Coblenz, Köln und Wesel drei furchtbare Festungen gebaut und ausgebaut zum Schutz und Trutz gegen die Nachbarn und zur Sicherung des Reichs. Aber es hat eine andere aufgethürmt, die ist noch stärker und fester, das ist die Cultur des Volks. An dieser nun hat der Dr. Diesterweg bauen helfen und beim Geniewesen tüchtige Dienste gethan, wie er denn ein ziemlicher Meister ist in Licht und Feuerwerk. Darum hält ihn der Staat in Ehren.“ Er hielt ihn wenigstens damals in Ehren, und der Meister begann seine Wirksamkeit mit aller Energie und aller Begeisterung, wie sie einer großen, sich ganz an eine Idee verlierenden Seele eigen zu sein pflegen.

Da sitzen die neuaufgenommenen Jünglinge im Saale der Anstalt und harren halb freudig, halb ängstlich des Meisters. Er tritt mit schnellen, ja hastigen Schritten mitten unter sie. Die linke Hand ruht in der Westentasche, die rechte fährt in raschen Wiederholungen über die breite und hochgewölbte Stirn. Er setzt sich und richtet durchbohrende Blicke auf die Einzelnen, als wollte er Jeden fragen: „Wer bist Du und was willst Du hier?“ Es entspinnt sich schnell ein lebhafter Dialog. Heraus müssen Alle aus ihrem Häuschen, denn die Macht des Geistes ergreift sie und führt sie in neue, noch nie von ihnen erschaute Welten. Und welche Ueberraschungen erfahren sie in diesen Welten! Der Eine glaubt zu wissen, und siehe, er erfährt, daß er nichts weiß; der Andere hält etwas auf die Vorzüge seines Geistes, und siehe, er erscheint sich selber schließlich einfältig und der Klarheit und geistigen Schlagfertigkeit in hohem Grade bedürftig; ein Dritter glaubt es in der Tugendhaftigkeit schon einigermaßen weit gebracht zu haben, und siehe, er erschrickt vor der Hoheit des Ideals, das der Meister ihm gezeichnet hat, vor den riesigen Anforderungen, die er an den Erzieher stellt, der sich für den Zögling zu heiligen und ihm vorzuleben habe, wie ein vollkommenes und zu allen guten Werken geschicktes Menschenbild sein müsse. Und da gehen sie schließlich hinaus, die Jünglinge, fast verstört und verwirrt. Alle durchdringt nur ein Gefühl, das der geistigen Armuth nämlich; Alle sind sich bewußt, ein heiliges Land betreten zu haben, in welchem nur die größte Arbeitsamkeit und Strebsamkeit, die vollste Hingabe und Aufopferungsfähigkeit des Gemüths, nur Seelenreinheit und Tugendhaftigkeit zum Ziele führen kann. Und sie fangen an zu ringen „mit Furcht und Zittern, daß sie selig werden“. Der Meister läßt ihnen keine Zeit zu Albernheiten und Nichtsnutzigkeiten. Er erfaßt und disciplinirt sie innerlich und läßt sie äußerlich unbeschränkt ihre Wege gehen, alle klösterliche Eingeschnürtheit, alle äußere despotische Knechtung als unverträglich mit der Bildung zur freien Strebsamkeit und Selbstständigkeit vermeidend. Und wenn sie reifer geworden sind und die ersten praktischen Studien unter seinen Augen und seiner unerbittlichen Kritik gemacht haben, dann führt er sie hinein in die Bildungswerkstätte der Kindheit. Er flößt ihnen Respect ein vor der Menschennatur, die da ist ein Strahl aus der unermeßlichen Tiefe des göttlichen Geistes und dabei eine „Repräsentation der Menschheit in eigenthümlicher Mischung ihrer Elemente“.

Der Mensch ist wie eine Blume im großen Garten Gottes. Er ringt, das, was der Schöpfer in ihn hineinlegte, aus sich heraus zu gestalten. Nichts kann aus ihm „gemacht“ werden; er muß sich entwickeln „nach dem Gesetz, wonach er angetreten, und kann sich nicht entfliehen“. Der Erzieher hat zu wachen, daß keine schädlichen Einflüsse hemmend und störend auf die Werdelust einwirken, welche jedem Kinde innewohnt. Er hat für Licht und Luft zu sorgen; er hat gesunde Nahrungsmittel zu bieten, so zu bieten, daß überall Maß gehalten werde und daß durch die Aufnahme der geistigen Nahrung der Geist selber erstarke und sich lustig entwickle, wie die Pflanze an einem wohlgeschützten und gepflegten, nahrhaften Platze im Garten. Das Lernen in wirkliche geistesnährende und geistesentwickelnde Assimilation zu verwandeln, das ist Methodenkunst; den Zögling dahin zu bringen, daß er selbst denkt und urtheilt, daß er im Stande ist, kräftig und energisch auszuführen, was Vernunft und Gewissen von ihm fordern, sein Gemüth zu richten vom Irdischen und Vergänglichen auf das Ewige und Unvergängliche, den Entschlnß in ihm anzuregen, in dem großen Schulhause, auf der Erde, sich seinem göttlichen Vorbilde so viel als möglich zu nähern, ihn endlich auszustatten mit praktischer Tüchtigkeit für dieses Leben und seinen irdischen Beruf und seine physische Kraft zu wahren und zu stärken – das ist Erziehungskunst. Und in diese Kunst suchte der Meister, der die Meißel vortrefflich zu führen verstand, seine Jünger recht tief einzuweihen. Er brachte sie auf eine Bahn, die der einigermaßen Tüchtige unmöglich wieder verlassen konnte, verurtheilte oder begnadigte sie zu des „Weiterschreitens Qual und Glück“ und lehrte sie ruhelos ringen nach den höchsten Idealen der Menschheit. –

2. Er trägt die Büste Pestalozzi’s.

Der 12. Januar 1846, der hundertste Geburtstag Pestalozzi’s, kam heran. Große Seelen sind auch immer in unbeschränktem Maße dankbar. Er, der Meister, schrieb von den Erfolgen, die er errang, recht wenig auf seine Rechnung und recht viel auf die des schweizerischen Liebeshelden, bei dem alle deutschen Lehrer in die Schule gegangen sind und dessen Werk von Niemand mehr gefördert worden ist, als von unserem Marschall Vorwärts. Wie hätte er es unterlassen können, auf den Geburtstag Pestalozzi’s hinzuweisen und zu einer erhebenden Feier aufzufordern! Wir kamen zusammen im Englischen Hofe in Berlin und saßen an gemeinschaftlicher Tafel. Herrlich ertönte die Musik und kräftige Männerstimmen sangen:

„Meine Brüder, welche Zeit
Hat uns Gott gegeben!
Um das Allerhöchste Streit,
Kampf auf Tod und Leben.
Sollen wir in träger Ruh
Säumig sie verpassen?
Nein, ihr Brüder, immerzu:
Nur nicht locker lassen!“

[683] Herz und Mund förderten die schönsten Ideen zu Tage. Er aber ergriff schließlich die Büste Pestalozzi’s und trug sie im Saale umher. Eine feierliche Procession erfolgte. Sein Herz floß über von Verehrung und Dankbarkeit, und unvergeßliche, das ganze Sein bis auf das Mark erschütternde und zur Treue und zur That entflammende Worte entströmten seinen Lippen. Die Feier rauschte vorüber. Wir jungen Männer aber fühlten in tiefster Seele, was Pietät, was Dankbarkeit sei, und wir nahmen uns vor, treu zu bleiben, auch wenn sie Alle untreu würden, und für die freie Entwickelung der Menschennatur und die Entwickelungsfreiheit der cultivirten Menschheit, für die Pestalozzi den Kampf auf dem Gebiete der Erziehung eröffnet hat, unser Leben voll und ganz einzusetzen.

Es entstand der Gedanke, für die Waisenerziehung im Pestalozzi’schen Sinne durch Errichtung von Pestalozzistiftungen zu wirken. Er fiel auf fruchtbaren Boden, und an verschiedenen Punkten des deutschen Vaterlandes blühten derartige Anstalten auf – schöne Denkmäler jener erhebenden Feier! Zur Gründung derselben war natürlich die Beihülfe Vieler erforderlich. Ein Gesuch um Unterstützung gelangte auch an die höchste Stätte. Es wurde abschlägig beschieden. Der Geist, so hieß es, der sich in Diesterweg’s Bestrebungen und namentlich in der Pestalozzifeier kund gegeben, sei nicht der Pestalozzi’sche Geist, und man werde seine Unterstützung so lange zurückhalten, bis man die Ueberzeugung gewonnen habe, daß man es sich zur alleinigen Aufgabe mache, „in wahrer christlicher Liebe und Selbstverleugnung die Idee der Waisenerziehung verwirklichen zu helfen.“

Wie war uns jungen Leuten denn? War das keine christliche Liebe und Selbstverleugnung, die sich in der ganzen und vollen Hingabe Diesterweg’s an die erziehliche Aufgabe der Gegenwart, an seinen Beruf kundgab, die ihn in der frühesten Frühe an den Arbeitstisch und zu der rastlosesten Anstrengung zum Wohle der Kindheit und des Lehrerstandes trieb, die ihn 1820 den festen Entschluß fassen ließ, abzusehen von der Wirksamkeit an den Gelehrtenschulen und Angesichts der geistigen und materiellen Noth des Volks mit allen Kräften, die ihm Gott verliehen, für die Bildung des Volkes zu wirken? War das nicht Selbstverleugnung, welche Diesterweg trieb, sich als einen geringen Schüler des Mannes hinzustellen, dessen Menschenliebe die Quelle der heutigen Volkserziehung geworden ist und der trotz aller welterbarmenden Liebe und Hingabe dennoch der Unchristlichkeit bezichtigt wurde?

Es war eine andere Zeit gekommen. Auf das Ministerium Altenstein folgte das Ministerium Eichhorn. Das Hegelthum beherrschte nicht mehr die Geister, sondern hatte einer orthodoxen, sogenannten neulutherischen Richtung Platz gemacht, und diese Richtung, welche mit dem Pestalozzi’schen Principe der freien Entwickelung und der Erziehung zur Selbstthätigkeit und Selbstständigkeit, zur geistigen Freiheit des Individuums in unversöhnlichem Gegensatze steht, gelangte zur Macht und zu einem Alles bestimmenden Einflusse.

3. Die Achse bricht wieder.

Es traten in Berlin Vereine für das Wohl der arbeitenden Classen in’s Leben. Es gebührt dem Jugendschriftsteller Ferdinand Schmidt die Ehre, in Betreff ihrer Errichtung und Förderung bestimmenden Einfluß ausgeübt zu haben. Die Leute, welche sich zum Wohle des Volks zusammengethan hatten, hielten gar lebhafte und bewegte Versammlungen. Es nahte eine neue Zeit. Schon waren die Sturmvögel im Anzuge. Und sie benützten jede Gelegenheit, sich bemerkbar zu machen. So auch die Versammlungen des Vereins für das Wohl der arbeitenden Classen. In einer besonders stürmischen Sitzung war der Präsident, ein Bürgermeister Berlins, nicht vorhanden. Hatte er geahnt, was kommen werde? Diesterweg, der Vicepräsident, präsidirte gezwungen und nothgedrungen. Die Versammlung nahm einen für die damalige Zeit auffälligen, ja unerhörten Verlauf. Die Zeitungen verkündeten das Schreckliche. Diesterweg hatte am Präsidententische gestanden: die Achse knarrte.

Im Jahre 1845 feierte man im Tivoli bei Berlin unsern Pädagogen, der vor einundzwanzig Jahren das Seminardirectorat in Mörs übernommen hatte. Die Sturmvögel hatten sich auch diese Gelegenheit nicht entgehen lassen. Wieder berichteten die Zeitungen; wiederum hatte Diesterweg an der Spitze gestanden: die Achse knarrte zum zweiten Male. Vor den Jünglingen im Seminar erschien mitunter ganz plötzlich, wie ein Dieb in der Nacht, ein kleiner, freundlicher Mann mit geröthetem Gesichte. Alle freuten sich über seine Erscheinung und beantworteten gar gern seine Fragen, die Menschenfreundlichkeit, Wohlwollen, geistige Tüchtigkeit und Gelehrsamkeit verriethen. Er stand offenbar mit unserm Meister in dem freundschaftlichsten Verhältnisse und Einer freute sich, wenn der Andere erschien. Dieser Mann, der Schulrath Lange, blieb plötzlich aus und an seine Stelle trat eine breite, vierschrötige Gestalt mit einem Auge und sehr entschlossenen, aber auch geistvollen Zügen des Antlitzes. Die Jünglinge betrachteten diesen Wechsel mit Bangen; denn der Meister hielt sich verschlossen und still; ja er scheute offenbar jede Begegnung mit dem neuen Schulrath Otto Schulz. Der Mann zeigte sich übrigens leutselig und freundlich; aber der Meister verschwand, und das war genug, um Alle mit banger Besorgniß zu erfüllen.

Das Jahr 1847 kam in’s Land. Eine Untersuchungscommission erschien. Der Director blieb im Kämmerlein und ließ Alle untersuchen, die Lust dazu hatten. Wer hätte etwas Anderes finden können, als eine wohlorganisirte und eigenthümlich geleitete Schule, einen Kreis begeisterter und strebsamer Jünglinge, ein geeinigtes und anhängliches Collegium? Dennoch wurden die Gemüther wie durch Gewitterschwüle geängstigt und zusammengepreßt. Die Jünglinge steckten die Köpfe zusammen und erzählten von gar sonderbaren Fragen, die der eine Untersuchungsrichter in Betreff ihres Directors an sie gerichtet habe. Dieser Eine unterrichtete auch die Seminaristen. „Es sei keine Kunst,“ so redete er zu ihnen, „tüchtig zu antworten bei einem solchen Lehrer, wie ihr Director einer sei; er wolle sehen, ob man auch unter der Führung einer geringeren Größe zu folgen wisse.“ Und so fragte er, und die Antworten erfolgten, wie die Fragen lauteten, und die durch böse Ahnungen gefolterten Seelen gaben sich einer wunderbaren Naivetät und Offenherzigkeit hin. Die Augen des so innig Verehrten leuchteten; sein Antlitz lächelte: er erkannte die Seinen. Man sollte anklagen und mußte doch laut loben. Fast schien es, als seien die Untersuchenden die Angeklagten. – Und dennoch! Einige Monate gingen vorüber. Am Eingange in die erste Etage des Hauses Nr. 29 in der Oranienburger Straße standen die Worte: „Diesterweg in Amtsgeschäften zu sprechen um 12 Uhr“. Eine jugendliche Hand hatte dabei bemerkt: „Leider nicht mehr!“ Die Achse war wieder gebrochen. Im Juli 1847 wurde der Meister seines Postens enthoben.

4. Am Hafenplatz.

Und jetzt wohnt der Meister in einem hübschen Hause am Hafenplatz. Und vor ihm liegt das Denkmal auf dem Kreuzberge, welches an das Kreuz erinnert, an welches das nicht volksthümliche Preußen bereits genagelt war, und an den gewaltigen Sprung, den das volksthümliche Preußen vom Kreuze herab that und der so kühn war, daß der größte militärische Genius unserer Zeit dadurch von seiner Höhe herabgestürzt wurde. Der Geist, welcher den pädagogischen Altmeister stürzte, hat sich seinen Ausdruck gegeben in den bekannten preußischen Regulativen, deren Forderungen alle dem entgegen stehen, wofür er ein langes Leben hindurch gerungen und gearbeitet hat. Er hat diese Regulative bekämpft mit aller Schärfe und Energie seines Geistes; er ist auch am Hafenplatz nicht müde geworden, für die Geltendmachung des Princips der freien, organischen Entwicklung in der Schule und im Leben zu wirken. Er ist aus dem letzten Unfalle unversehrt hervorgegangen, wie damals an der Ecke der Oranienburger Straße. Geblieben ist ihm seine volle Arbeitskraft, seine geistige Frische, die Liebe seines Herzens zur Menschheit, die ihn stets getrieben hat, gegen sein eigenes Interesse für Wahrheit, Recht und Menschenwohl, für Freiheit und Freimachung der Geister zu kämpfen und zu dulden. „Er durfte nur wie Andre wollen, und wär’ nicht leer davon geeilt.“ Geblieben ist ihm endlich die Liebe zu unserer Nation, der er gern zu einer wahrhaften National-Volksschule, die an die Stelle der Confessionsschule zu treten hätte, verhelfen möchte. Er schätzt nach wie vor mit Lessing das Streben nach Wahrheit höher als die Wahrheit selber, haßt die Charakterlosigkeit, Lug und Trug und sucht die Lehrerwelt anzufeuern zu selbstständiger ruheloser Strebsamkeit. Er sucht ihnen, den Lehrern, eine bessere Stellung zu erringen, der Schule eine gedeihliche Unabhängigkeit zu erkämpfen.

Immer noch arbeitet er wie ehedem; ja, obgleich er dem ihm eigenthümlichen Boden entrissen ist, aus dem er stets reichliche [684] Nahrung für seinen Geist und Anregung zu neuer That sog, so nimmt er sogar noch Theil an den methodischen Bestrebungen der Gegenwart und erfreut die vorwärtsstrebende Lehrerwelt nicht allein durch die Lichtblitze und Leuchtkugeln seiner rücksichtslosen Kritik, sondern auch noch durch eigene Schöpfungen, wodurch er die überaus zahlreichen Produkte seines Geistes noch immer zu vermehren weiß. Wer kennt sie nicht? Wer ist nicht durch sie angeregt und belehrt worden? Wer unter den strebsamen Lehrern hat nicht seinen anregenden, läuternden und erhebenden Einfluß verspürt? Sein Geist steht da in voller Blüthe, während der Leib fast als ein zu armseliger Träger dieses Geistes erscheint. Und diesen Leib schont der gegen sich rücksichtslose Mann in keiner Weise. Kaum kann er sich überwinden, dem nagenden Zahne der Zeit irgendwelchen Einfluß einzuräumen. Eine Lehrerversammlung ist in Potsdam. Er muß hinüber und mitten unter denen sein, die sich im Dienste der Sache versammeln, der er sein reiches Leben gewidmet hat. Auf der Rückreise versagt im Wartezimmer der wackelige Stuhl seinen Dienst. Er fällt und bricht den dritten Finger der rechten Hand. Der Finger blieb steif; aber er hinderte ihn nicht, mit der verstümmelten Hand die Feder eben so eifrig zu führen, wie sonst. Und jetzt, am 29. October d. J., tritt er ein in sein sechs- und siebenzigstes Lebensjahr.[1]

Diesterweg.
Marmorbüste von Albert Wolf.

Die Anerkennung, welche er im Alter in den oberen Regionen nicht gefunden, ist ihm unten zu Theil geworden. Die Stadt Berlin wählte ihn zu ihrem Stadtverordneten und wiederholt in die Kammer hinein. Seine Wirksamkeit als Abgeordneter und seine Parteistellung sind bekannt. Diesterweg ist freilich kein Politiker, sondern durch und durch Pädagoge. Schule und Erziehung bieten die eigentliche Stätte seiner Wirksamkeit; die deutsche Jugend und die deutsche Lehrerschaft genießen die Früchte seiner Saat. Darum ist es in der Ordnung, daß die deutschen Lehrer ihn nicht erst sterben lassen, um dem Todten zu räuchern, sondern ihm einen Theil der schuldigen Dankbarkeit schon bei seinen Lebzeiten abtragen und sich dadurch selber ehren. Das charakterlose und furchtsame Gesindel unter den Lehrern wird sich freilich hüten, dem Mißliebigen kund zu thun, was es für ihn empfindet; aber die Charaktervollen treten gottlob hervor. Sie haben von Meisterhand eine Büste anfertigen lassen, deren Bild hier wiedergegeben ist. Mögen sie diese Büste mit denselben Gefühlen nur tragen, wie er dereinst Pestalozzi’s Büste getragen hat! Auch in weiteren Kreisen regt sich’s, und die deutschen Lehrer werden dem deutschen Manne hoffentlich ad oculos demonstriren, „daß Dankbarkeit auf Erden nicht ausgestorben sei“.



  1. Ein ausführliches Lebens- und Charakterbild Diesterweg’s brachte die Gartenlaube bereits 1857, Nr. 10 und 11.