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Vom X. internationalen medizinischen Kongreß in Berlin

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Textdaten
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Autor: Oskar Justinus
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Titel: Vom X. internationalen medizinischen Kongreß in Berlin
Untertitel:
aus: Die Gartenlaube, Heft 19, S. 584–585, 611
Herausgeber: Adolf Kröner
Auflage:
Entstehungsdatum:
Erscheinungsdatum: 1890
Verlag: Ernst Keil’s Nachfolger in Leipzig
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Erscheinungsort: Leipzig
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Quelle: Scans bei Commons
Kurzbeschreibung:
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[584]

Die feierliche Eröffnung des X. internationalen medizinischen Kongresses in Berlin am 4. August 1890.
Zeichnung von H. Lüders.

[611] Vom X. internationalen medizinischen Kongreß in Berlin. (Mit Abbildung S. 584 und 585.) Berlin stand während der ersten Augusttage im Zeichen der Schlange, jener Schlange, welche sich um den Stab Aeskulaps windet und mit so klugen Augen ihre beiden Zünglein spielen läßt, deren eines Pathologie und deren anderes Therapie redet.

Eine hochansehnliche Versammlung weilte in seinen Mauern, wie man selten ihresgleichen sah. Nicht der Zahl nach allein, obwohl man 5600 Aerzte einschrieb in die Listen der Theilnehmer; etwa die Hälfte waren Deutsche, unter den übrigen aber waren die Vereinigten Staaten von Nordamerika allein mit 623, Rußland mit 421, England mit 353, Oesterreich mit 139 vertreten, und auch Australien, China, Japan, die Gehänge der Kordilleren, Mexiko, das Kapland und nicht zu vergessen Frankreich, welches dem menschenfreundlichen Zwecke die alte politische Empfindlichkeit unterordnete, stellten zahlreiche Abgesandte. Aus der ganzen Schlachtreihe dieses zum X. medizinischen Kongreß freudig zusammengeströmten Volkes herrschte ein so hingebendes, begeistertes und aufrichtiges Ringen nach Wahrheit, ein so unentwegtes Streben nach Vervollkommnung des Wissens und Könnens, daß jeder einzelne gleichsam geadelt wurde von der großen menschlichen Idee, in deren Dienste er stand.

So fühlte sich die Stadt hochgeehrt durch die Gäste, deren friedliche und menschenfreundliche Arbeiten zur Ausbreitung des Wissens und zum Heile der Menschheit in den einzelnen 18 Sektionen fast ununterbrochen in den Morgenstunden die fleißigen Meister, welche bei ihren Kollegen wieder zu Schülern wurden, zusammenführten. Etwa siebenhundert angemeldete Vorträge hielten Aeskulaps Jünger, die übrigens theilweise recht alte Herren waren, in Athem, und die medizinische Ausstellung mit ihren wunderbaren Präzisionsinstrumenten und Präparaten und technischen Erfindungen und Vervollkommnungen auf dem Gebiete der Krankenpflege nahm die Zeit in Anspruch, welche die Sektionen ihnen etwa freigelassen hatten. Dabei stand noch manches andere auf dem Programm der edlen Gäste: so die Besichtigung von Krankenhäusern, Blindenanstalten und Irrenhäusern, Arbeitshäusern, Schlachtviehmärkten und Kanalisationsbauten, auf welchen Gebieten Berlin unbestritten mit die erste Stufe unter allen Weltstädten einnimmt; erfreut es sich doch infolge seiner Musteranstalten einer verhältnißmäßig sehr geringen Sterblichkeitsziffer.

Damit aber auch die anmuthige Weiblichkeit – außer den acht anwesenden Aerztinnen wohnten etwa vierzehnhundert Damen in der Rolle von Gattinnen, Töchtern oder Schwestern dem Kongreß bei – ihre Rechnung fände, sahen wir Bälle, Ausflüge in die noch immer nicht hinreichend gewürdigte schöne Umgebung Berlins, Sammellokale in der täglich erscheinenden Festzeitung angezeigt, an deren Besitz wie an dem kleinen goldnen Aeskulapstabe im Knopfloch man die Aerzte auf der Straße erkannte. Wir fanden die „Schlangenmenschen“, wie sie der Berliner Volkswitz getauft hat, in allen Typen, gewöhnlich Truppweise in der Nähe von Sitzungszimmern, das Berliner Straßenleben beobachtend oder in offenen Droschken dahinfahrend. Ein wahres Babel von Sprachen war die Reichshauptstadt geworden. und die lateinischen Namen ärztlicher Begriffe bildeten oft das einzige Volapük der verschiedensprachigen Gelehrten. Der Landarzt, der junge Streber, der Geheime Sanitätsrath mit grauem Haar, der schnurrbärtige Militärarzt, der medizinische Forscher, das sind alles Typen, welche man mit einigem Scharfsinn an den umherwandelnden Aerzten zu unterscheiden vermag.

Alle Theilnehmer aber, die Damen und Ehrengäste eingeschlossen, vereinigten sich bei den allgemeinen Versammlungen, deren erste, diejenige, welche am 4. August den Kongreß eröffnete, der Künstler in unserem Bilde festgehalten hat. Der Schauplatz war der große Cirkus Renz, und dies kann niemand wunderlich erscheinen, der bedenkt, daß Hippokrates, der Vater der Medizin, zu deutsch „Rossebändiger“ heißt. Aber abgesehen davon hätte man in Berlin keinen herrlicheren, einheitlicheren, weihevolleren Raum finden können als diesen, nachdem die Hand namhafter Künstler ihn für diesen Zweck hergerichtet hatte. Neben der vor einem nischenartigen Bau aufgestellten Rednerbühne erhob sich vor der vortrefflich gemalten Ansicht des Hauptsaales aus den Thermen des Caracalla eine von Westphal modellirte Riesenstatue des Aeskulap, auf einem vergoldeten Throne sitzend, und gewissermaßen als Priester zu den Füßen des alten Gottes der Heilkunst sprachen die größten, um die Medizin hochverdienten Männer, Virchow, der Engländer Joseph Lister, der weltberühmte Vertreter der antiseptischen Wundbehandlung, und, das ganze Gebiet der Bacteriologie geistvoll zusammenfassend, der Direktor des hygieinischen Instituts Robert Koch, unter dem begeisterten Zuruf der die herrlichen Räume bis zu den letzten Galerieplätzen füllenden gelehrten Gemeinde.

Wohl an siebentausend Köpfe zählte die Versammlung, die da im Lichte von ungeheueren Bogenlichtlampen und großen Gaskronen – den Zutritt des Sonnenlichts hatte man in der großartigen, durch Tempelbauten mit plastischem Schmuck, Flaggenreihen und Blumenkronen geschmückten pantheonartigen Rotunde abgesperrt – beisammen war: vielfach strahlten Goldtressen, Epauletten, Orden und Ehrenzeichen, und die hellfarbigen Roben der Damen unterbrachen das schlichte Dunkel der Herrenkleider. Die inhaltreichen goldenen Worte, welche Virchow an die Festversammlung richtete, die Reden des Generalseketärs des Kongresses, Dr. Lassar, des Staatsministers von Boetticher, welcher im Namen des Kaisers und der Reichsregierung sprach, des Kultusministers Dr. v. Goßler, des Oberbürgermeisters von Forckenbeck, welche den Kongreß mit erhebenden Worten willkommen hießen, die Ansprachen der Vertreter des Auslandes in englischer, französischer, italienischer, ungarischer, russischer und portugiesischer Sprache – Aretäos, der Vertreter Griechenlands, sprach sogar lateinisch, – fesselten und begeisterten fünf Stunden lang die hochgespannte Zuhörerschaft, welche nur eine einzige Pause fand, um sich an den fünfzehn angebrachten Büffetten zu erfrischen. Nach dieser übertrug Prof. Virchow das Präsidium dem herzoglichen Augenarzt Karl Theodor in Bayern, dessen schöne junge Gattin und Mitarbeiterin als eine höchst anmuthige Erscheinung auffiel und der hocherfreut mit den Ausdrücken höchster Bescheidenheit das ihm übertragene Ehrenamt annahm.

Die Tage ernster Arbeit, fröhlichen Schauens und Genießens sind nun vorüber für die ärztlichen Gäste: diese haben sich wieder zerstreut, dahin und dorthin, jeder bereit, in seiner Heimath den Keim des Fortschritts, welchen er in sich aufgenommen, zum Wachsen und zum Gedeihen zu bringen. Möge es an reichem Erfolge nicht fehlen, und der X. internationale medizinische Kongreß gesegnet werden als ein guter Schritt vorwärts auf dem Wege der menschlichen Wohlfahrt! Oscar Justinus.