Von den Leichenfeldern des Waldes
Von den Leichenfeldern des Waldes.
„… Den Bäumen nimmt der Herbst das Laub,
Der Tod im Walde tost …“ Lenau.
Die Liebe des Deutschen zum deutschen Walde ist mit ein Stück germanischer Stammesart, sie hat, so weit die deutsche Zunge klingt und Sangesbrüder wohnen, poetischen und klangreichen Ausdruck gefunden in dem herrlichen Liede „Wer hat dich, du schöner Wald, aufgebaut so hoch da droben!“ Poeten und Tondichter preisen des deutschen Waldes Schönheit, sie pflanzen mit flammender Begeisterung in die junge Volksseele die Liebe zum göttergeweihten Hain, die mit dem Menschen wächst, groß wird und so lange währen wird, als es deutsche Wälder giebt.
Leider ist eine Zeit des Jammers für den deutschen Wald herangebrochen, eine Zeit der Vernichtung stolzer Baumriesen auf Flächen, die das Auge kaum mehr abzuschätzen vermag. Wo Jahrhunderte hindurch über allen Gipfeln Ruh' gewesen, dröhnt dumpf der Abschlag, ein Massenmorden herrlicher Waldungen hat begonnen, bedungen und erzwungen durch die vernichtende Thätigkeit des Fichtenspinners, auch „Nonne“ genannt, des Schreckens aller Forstleute.
Wohl hat es Nonnenraupen und -schmetterlinge zu allen Zeiten gegeben, aber seit der Mitte der fünfziger Jahre war ein so entsetzliches Massenauftreten dieses Waldverwüsters nicht mehr zu verzeichnen. Damals litten die Waldungen Ostpreußens bis nach Rußland hinein schwer; jetzt, fünfunddreißig Jahre später, haben wir ein Nonnenjahr zu verzeichnen, das zunächst Bayerns Waldungen gräßliches Unheil zufügt. Die stolzen schönen Bestände an Fichten und Kiefern auf der oberbayerischen Hochebene vom „Bayerischen Meere“, dem Chiemsee, herauf bis an die schmucken Anlagen Münchens und die Forste und Wildparke in nächster Umgebung der bayerischen Hauptstadt, dann die Waldungen in Niederbayern, der Oberpfalz und Schwaben sind jäh von den Nonnen überfallen worden und dem Untergange geweiht. Ein Wehschrei ganzer Völkerstämme dringt durch die Lande, vom Lech und der bergfrischen Isar, von den tosenden Gebirgsflüssen und Sturzbächen des Hochlandes, aber auch schon zittert der Klageruf über die blaue Donau und vom Norden herab, vom meerumschlungenen Schleswig-Holstein, von Oldenburg und Schlesien kommt die Trauerkunde, daß auch die dortigen mächtigen Forsten der Vernichtung anheimgefallen sind.
Wer je dem geheimnißvollen Rauschen der wie im Traume flüsternden Bäume lauschte, die Wunderwelt des Bergwaldes die Majestät der mächtigen Forste auf sich wirken ließ und all die Größe und Schönheit in sich aufnahm, dem mußte sich das Herz zusammenkrampfen bei der Kunde, daß auf Meilen in der Runde der ganze sattgrüne Kiefern- und Fichtenbestand rettungslos verloren sei durch die Gefräßigkeit eines einzigen Waldverwüsters. Der Liebe für den deutschen Wald zunächst ist es zuzuschreiben, daß in den Weheruf sich sofort die bittersten Vorwürfe mischten, [606] daß man das Unheil nicht in etwas durch rechtzeitig getroffene Maßnahmen gemindert habe. Was die bayerische Forstverwaltung zu hören bekam anläßlich dieses Unglückes, das vorwiegend den Staat getroffen hat, läßt sich nicht einmal andeuten. Allein was ist menschliches Können und Wollen höherer Gewalt gegenüber! Den Milliarden von Nonnen hätten auch alle Forstleute der Welt nicht den Raubeinfall verwehren können. Zudem haben sich alle Versuche gegen das Massenauftreten der Schmetterlinge als wirkungslos erwiesen.
Ich will versuchen, den Eindruck eines Ganges durch den Hauptherd der Nonnenverwüstung, den Ebersberger Park an der Bahnlinie München-Rosenheim, zu schildern.
Wer in Kirchseeon, dem Sitze einer Anstalt zum Kyanisiren der Lärchenschwellen (eine vom Engländer Kyan erfundene Beizmethode, welche den Eisenbahnschwellen große Dauerhaftigkeit verleiht), die Bahn verläßt, wird verwundert auf das frische Grün der angrenzenden Bestände blicken, das in nichts eine Waldkatastrophe ahnen läßt.
Allein dort an der Straße, die forsteinwärts die Höhe hinanzieht, sind Soldaten des bayerischen Eisenbahnbataillons mit der Aufrichtung von Telephonstangen beschäftigt, und weiter unten wird die Waldbahn ausgesteckt, die in wenigen Wochen an 10000 Tagwerk geschlagenes Holz zur Hauptbahn führen soll.
Die blanken Telephonstangen werden zum Führer in das Nonnengebiet, ein schmales Sträßlein biegt auf der Berghöhe ab, durch einen Wildzaun abgesperrt. Roth- und Rehwild mag dieses Parkthor abhalten, die vom Forstamt vorgezeichnete Grenze zu überschreiten, die gefräßige Nonne nicht. Schon erscheinen einzelne Fichten sonderbar weißlich, wie mit Mehl bespritzt, über das schmutziges Wasser gegossen wurde. Am Baumstamme sitzen die Falter wie angeklebt, doch noch vereinzelt. Wir haben das Parkthor hinter uns und wandern unter klatschendem Regen die tiefausgefahrene Straße quietschenden Fußes weiter. Ein schmaler Waldweg, links und rechts eingefaßt von kolossalen Baumriesen! Schon macht die Färbung stutzen, die Wipfel sind nicht grün, sondern rostbraun – dann aber baumabwärts nichts als dürre, abgestorbene Aeste, von weißen Flechten behangen, zum Himmel gestreckten Armen gleich, von denen das Gewand wallend herabhängt. Wie es so eigen durch diese unzähligen Bäume tropft!
Der Regen träufelt ohne Hinderniß von der Krone hindurch auf den Boden, der besäet ist mit abgestorbenen Nadeln; kein Ast mehr im grünen, erquickenden Behang, sondern gelbweißlich oder schmutziggrau, und so der Stamm bis herab zur Wurzel! Bei näherem Zusehen ergiebt sich, daß Hunderte und Tausende von Faltern Stamm und Aeste belagern. Der Landregen zwingt augenblicklich das Insektenvolk zur unfreiwilligen Ruhe, aber trockene warme Luft macht es schwirren, und in weißen Wolkenschwärmen zieht es wäldermordend weiter. Es erfüllt bei regnerischer Witterung auch der auf einem Hügel aufgestellte „Exhaustor“, der statt „Ausschöpfer“ eigentlich „Einhaucher“ genannt werden sollte, seinen Zweck als Nonnenfänger nicht. Ein seltsamer Anblick, dieser rothbehalste Exhaustor, dem zur Seite zwei Lokomobilen, eine zur [607] Erzeugung des elektrischen Lichts und eine zur Hervorbringung des starken Luftstroms, stehen. Das viereckige Gerüst, das den Reflektor des elektrischen Lichtes und den Trichter des Exhaustors trägt, steht einer Guillotine ähnlich, und im Grunde genommen ist der „Einhaucher“ auch ein Werkzeug, um die Verbrecher in Massen umzubringen. Wenn der Lichtstrahl der elektrischen Bogenlampe - die früher in einer Höhe von 25 Metern angebracht war, jetzt nach mehrmaligen Versuchen auf 8 Meter Höhe heruntergesetzt ist - das Waldesdunkel bei gutem Wetter erhellt, schwirren die Milliarden von Schmetterlingen in unheimlichen Schwärmen hervor und theils unmittelbar auf die Lichtgarbe, theils auf das von der Lokomobile erzeugte Rauchgebilde zu. Aber nicht immer gelingt das Masseneinfangen, nur jene Schwärmer, die vom Luftzug des „Einhauchers“ erwischt werden, verschwinden in dem weiten Halse des Apparates und werden unten in Säcke gestampft und vernichtet. Man glaubt, mit solchen Versuchen an 100- bis 200000 Falter während einer Nacht von 1/2 9 abends bis 2 Uhr früh vernichten zu können.
In der That soll der „Exhaustor“ noch die beste Vertilgungswirkung besitzen, während zahlreiche andere Vorschläge ohne praktische Bedeutung sind. So will der eine im Walde große mit Honig und Aepfelmus bestrichene Tücher als Fangmittel ausgebreitet wissen, ein anderer will die Schmetterlinge durch Steinkohlentheerrauch vernichten, ein dritter empfahl, mehrere Regimenter mit Vogeldunstgewehren auszurüsten und den Nonnen militärisch entgegenzurücken. Unter Leitung des Chefs der bayerischen Forstverwaltung, Ministerialrat v. Ganghofer, haben in einzelnen Revieren Versuche mit Waldleuchtfeuern und „Nonnenlichtern“ (Zinkfackeln) stattgefunden, von denen letztere sich als praktischer erwiesen, da das intensive Licht die Schmetterlinge aus den höchsten Beständen anlockt, ohne daß die Luft wie bei den Leuchtfeuern besonders erwärmt wird. Um aber die zu Tausenden herbeifliegenden Thiere zu fangen, muß eine große, mit Klebestoff bestrichene, durchscheinende Leinwandfläche aufgespannt werden. Alle diese Maßnahmen sind eben Versuche, die endgültig nicht abgeschlossen sind. Glücklicherweise scheint die Natur selbst als beste Helferin bei der Vernichtung der Nonnen auftreten zu wollen. Man hat beobachtet, daß der Durchfall (eine bekannte Raupenkrankheit) viele Raupen vernichtete, und tatsächlich konnte man vielfach den üblen Geruch verfaulenden Gewürmes wahrnehmen. Ein anderer Beobachter hat eine Menge getödteter Puppen gefunden, welchen Schlupfwespen entschlüpften - Verlassen wir den Exhaustorhügel, so gelangen wir nach kurzer Wanderung durch eine junge, völlig abgefressene Kultur zum Forsthaus „Diana“; abseits von demselben stehen drei Blockhütten, in welchen zu je 60 Mann die Holzarbeiter kampiren. Für gebirglerische Bedürfnisse bieten die Hütten genügende Bequemlichkeit, und die jeweils schichtfreien oberländler Holzer kochen inzwischen den kräftigen „Retzel“ (Schmarrn, Mehlspeise), der lange vorhält und eben warme Kost ist, indeß die Arbeiter aus anderen Gegenden sich an Speck und Fleischspeisen halten, die nicht immer zu haben sind. Während im Forstenrieder Park über 400 Holzhacker arbeiten, ist im bedeutend größeren Revier zu Ebersberg eine ganze Armee von Holzknechten in vollster Thätigkeit, den Wald dem Erdboden gleich zu machen.
"Der Tod tost im Walde!" klagt Lenau. Ein ächzend Sterben ist es auch, wenn ein Baumriese nach dem andern prasselnd stürzt und dumpf am Boden aufschlägt. Wie eine Staubwolke wirbelt es dann empor zum trüben Himmel, die Nonnen verlassen den gefällten Baum, nachdem sie ihn gemordet. Ein düsteres, ernst stimmendes Bild! Auch die munteren Sänger verlassen den Forst, nur Meisen piepsen noch zuweilen in einem Geräumte, wo die Holzfäller noch nicht zu schlagen begonnen haben. Auf den neuerrichteten Telephonlinien haben sich ganze Schwärme von
Schwalben niedergelassen, vielleicht hat Mutter Natur sie dorthin kommandirt.
Von seiten der Regierung ist ebenso wie vom Generalkomitee des Landwirtschaftlichen Vereins alles aufgeboten worden, eine Verminderung des Insektes herbeizuführen; bis Anfang August waren hierfür 31 000 Mark zu Versuchen ausgegeben. Im Vorjahre haben die Maßnahmen zur Verminderung der Nonne allein im Ebersberger Park 4000 Mark gekostet, und trotzdem ist gerade dieser mächtige Forst verloren. Ueber die Frage, ob kahlgefressene Föhren- oder Fichtenbäume lebensfähig bleiben und die Nadeln wieder wachsen, wenn nicht im nächsten Jahre abermaliger Raupenfraß eintritt, wird viel verhandelt und eine endgültige Beantwortung ist wohl nicht gefunden. Daß der Ebersberger Park niedergelegt wird, könnte füglich als eine Verneinung obiger Frage betrachtet werden.
Inzwischen kommen die Hiobsposten auch von den Gegenden am Ammersee, dem Main und aus dem Hochland selbst, und noch ist kein Ende dieser Landplage abzusehen. Möge es gelingen, ihrer Herr zu werden, den „Tod, der im Walde tost“ zu vertreiben und neues Leben und Grünen zu schaffen!
- ↑ Unsere Abbildung führt die „Nonne“ vom Anfange ihres Daseins an in den verschiedenen Stufen ihrer Entwicklung vor. An dem Kiefernstamme sitzen die eben aus dem gemeinsamen Eineste geschlüpften Räupchen (a). Sie erscheinen zu Anfang des Mai, winzig kleine, schwarze Dingerchen, die nun nesterweise zwei bis drei Tage lang auf ein und demselben Flecke sitzen bleiben und im Frühjahrssonnenschein sehr rasch wachsen. Diese Raupenhäufchen nennt man „Spiegel“, ihre Vernichtung heißt in der Jägersprache das „Spiegeln“.
Nach dieser ersten Ruhepause gleich beim Eintritt in die Welt kriechen die schon bedeutend größer gewordenen Raupen den Baum hinan und beginnen an dessen Nadeln ihre verderbliche Thätigkeit. Nach rasch aufeinander folgender mehrmaliger Häutung ist die nun ausgewachsene Raupe (b) bräunlichgrün, mit blauen und rothen Warzen, und trägt auf dem zweiten Ring einen schwarzen, hinten blau, seitlich weiß gesäumten Fleck. Anfang Juli steigt die Raupe wieder den Baum hernieder, sucht sich einen passenden Riß in der Rinde und verpuppt sich dort, sich mit losen Fäden befestigend (c). – Kurze drei Wochen, und der schöne Falter sprengt die Hülle und fliegt im Tageslicht. Der Nonnenschmetterling hat sehr hübsch gezeichnete, schwarzweiße Flügel und rosafarbigen, schwarzgeringelten Hinterleib. Das Weibchen (d1 und d2) ist bedeutend, um gut 11/2 cm größer als der männliche Falter (d3), welch letzterer sich durch seine schönen buschigen, doppelt gekämmten Fühler sofort kenntlich macht.