Von unsern sächsischen Landsleuten im Osten/1. Der Dorfrichter in Amtsthätigkeit
Es giebt Landstriche, welche, obgleich fast mitten in Europa gelegen, doch selbst für das wissensfrohe deutsche Publicum in weiteren Kreisen weniger bekannt sind, als manches weitentlegene Gebiet fremder Erdtheile. Zu ihnen gehört Siebenbürgen, das nur gelegentlich die Aufmerksamkeit deutscher Reisender angezogen und noch keinen veranlaßt hat, seinen Eigenthümlichkeiten in Natur, Cultur und Geschichte mehr zu widmen als etwa einige Feuilletonartikel oder einen Vortrag in einer geschlossenen Gesellschaft. Während der Franzose de Gerando und die Engländer Paget und vorzüglich Charles Bones ihren Landsleuten in eingehenden Werken die Erfahrungen und Eindrücke mitgetheilt haben, welche sie in jenem Lande empfangen, begnügt sich Deutschland noch bis zum Augenblicke mit Uebersetzungen dieser fremden Darstellungen, die doch vielfach gerade das nicht bieten, was dem Deutschen nach seiner Art das Bemerkenswertheste sein müßte, tiefere Einblicke in die Aeußerungen des bunten Volkslebens,*[1] das hier, an der Berührungslinie des Orientes und des Occidentes, seit alten Zeiten sich entfaltet hat.
Die Wiener Weltausstellung hat in dem siebenbürgisch-sächsischen und dem szekler Bauernhause, sowie in den Zusammenstellungen der sächsischen, szekler und walachischen Hausindustrie, endlich in den mit dem höchsten Preise ausgezeichneten photographischen Genrebildern des akademischen Malers und früheren Zeichenlehrers am evangelisch sächsischen Gymnasium in Bistritz Carl Koller weitesten Kreisen Gelegenheit geboten, ihr Augenmerk auch der imposanten Naturfeste der Ostkarpaten zuzuwenden. Das Bild, zu welchem diese Zeilen geschrieben wurden, führt eine Scene aus dem Leben desjenigen Theiles der Bevölkerung Siebenbürgens vor, der durch Abstammung und Sitte, sowie durch seine in einem vielhundertjährigen Martyrium nicht gebrochene Treue zum Deutschthum der Beachtung unserer Leser vorzüglich werth ist.
„Ein siebenbürgisch-sächsischer Dorfrichter in Amtsthätigkeit“, so hat der Künstler sein Bild selbst bezeichnet, und da es, um psychologisch verstanden zu werden, keiner Erklärung bedarf, so wollen diese Begleitworte mehr den culturgeschichtlichen Hintergrund zeichnen, von welchem das naturgetreue Bild selbst sich lebendig und kräftig abhebt.
Die älteste germanische Wanderung nach Siebenbürgen ist in den Fluthen der Völkerwanderung fast spurlos vorübergerauscht. Durch die vom ungarischen König Geisa dem Zweiten veranlaßte Einwanderung wurde die Zahl der deutschen Bewohner Siebenbürgens ungemein gesteigert. Zweck ihrer Ansiedlung war Sicherung des vom Mittelpunkte des Reiches weitentlegenen Gebietes gegen feindliche Nachbarvölker, nicht blos den kaum gegründeten eignen Herd zu schützen, sondern auch dem Reiche zu dienen. Die neuen Colonisten waren Bauern und Kriegsleute zugleich.
Nicht nur der Kampf um das leibliche Dasein ist den flandrischen, sächsischen und niederrheinischen Colonisten in Siebenbürgen nicht erspart geblieben; nicht nur hatten sie sich von Anfang an der Angriffe der auf ihre besondere politische und kirchliche Stellung neidischen königlichen Beamten und geistlichen Würdenträger zu erwehren – auch der Streit im Innern entbrannte schon früh zwischen den reicher und mächtiger gewordenen „Geschlechtern“, die an dem magyarischen Adel bald Sippen und Freunde fanden, und den Gemeinfreien. Mehr als zwei Jahrhunderte hat dieser Streit hier gedauert, bis er sich im Reformationszeitalter zu Gunsten der Letzteren entschied, so daß es auf Sachsenboden einen bevorrechteten Adel nicht geben durfte, und so schroff schlossen zeitweilig die Gegensätze sich aus, daß in manchen Gemeinden ein Adeliger geradezu für unfähig zu einem Amte erklärt wurde.
Aus solchem äußeren und inneren Kampfe und der harten Arbeit des Lebens, worin das deutsche Volk von den mitwohnenden Stämmen selten Freundschaft erfuhr und seinen Schutz fast ausschließlich nur bei sich selbst und der wechselnden und in der Regel theuer erkauften Gunst der Könige fand, erwuchs die harte, herbe, ernste, abgeschlossene Bauernnatur dieses Volkes, die dem Fremden leicht unliebenswürdig und egoistisch erscheint, auf der aber der Fortbestand seiner Nationalität wesentlich mit beruht. Wer so viele Jahrhunderte lang ununterbrochen auf Vorposten gestanden für persönliche Freiheit, für das Recht des Eigenthums und die politische und kirchliche Gleichberechtigung, Der verliert die Anmuth der Erscheinung, die nur im Sonnenstrahle des Behagens gedeiht, und wird leicht mißtrauisch auch da, wo der Begegnende auf Vertrauen Anspruch zu haben meint. Als der jetzt regierende Kaiser und König sich zum ersten Male in Siebenbürgen befand, wurde er in einer sächsischen Dorfgemeinde von dem Dorfrichter mit den treuherzigen, einfachen Worten begrüßt:
„Willkommen, Herr Kaiser, in unserem Lande!“
Der Fürst – es war damals in der Blüthezeit des Absolutismus – erwiderte: „Ich denke, das Land ist mein Land.“
Der Bauer, schnell gefaßt, antwortete darauf: „Um Vergebung, Herr Kaiser, dieses Land hat der König Geisa unseren Vorfahren verliehen.“
Und als Jemand aus der Suite darauf, allerdings dem Sachsen gegenüber unpassend genug, einwandte: „Aber wir haben’s erobert,“ da spielte Jener den Trumpf aus:
„Ich weiß es; mein Sohn war auch dabei.“
Es liegt ein gewisses starres Rechtsbewußtsein in der Natur [257] des Sachsen und besonders des sächsischen Bauern im Verkehre mit andern Gewalten des öffentlichen Lebens, das wohl zum Schweigen gebracht werden kann, aber immer wieder hervorbricht, das geduldig wartet, bis, wie er sich ausdrückt, „Recht wieder Recht wird“. Unter der Kaiserin Maria Theresia galt der Uebertritt zur katholischen Kirche für ein Mittel, auch wohl einen sonst verzweifelten Proceß zu gewinnen. So hatte eine magyarische Gemeinde, wie die Sachsen glaubten, einen Grenzproceß gegen eine sächsische dadurch gewonnen, daß ein Theil ihrer Bewohner katholisch wurde. Als Joseph der Zweite auf seiner Reise durch Siebenbürgen in die Nähe jener Gemeinde kam und ihre Bewohner zu seiner Begrüßung herbeieilten, drehte sich der Sachse, der ihn fuhr, im Sattel um und sagte: „Herr Kaiser, dies sind die schlechten Leute, die, um einen Busch zu bekommen, katholisch geworden sind.“
Und als der Kaiser erwiderte: „Sie werden ihn auch behalten,“ fiel der Bauer rasch ein: „Oho, das lassen unsere Herren nicht zu.“
Wo das Recht auf friedlichem Wege nicht zu erwarten war oder zu lange ausblieb, da trat auch wohl die Selbsthülfe in rohester Gewaltthat in Wirksamkeit. 1277 verbrannte der Sohn des Richters Alard von Salzburg, welches damals eine sächsische Gemeinde war, mit seiner Freundschaft die Domkirche von Weißenburg mit nahe an zweitausend Menschen, welche sich in dieselbe geflüchtet hatten, mit Reliquien, Kreuzen, geistlichen Gewändern und sonstigen Kirchenschätzen, weil der Bischof im Bunde mit einigen Domherren seinen Vater hatte ermorden lassen. – Als ein szekler Graf dicht an der Grenze der sächsischen Gemeinde Tartlau eine Burg erbaute, lud er zur Einweihung derselben auch die sächsischen Nachbarn ein. Beim lauten Mahle wurde der Burgherr gefragt, wie die Feste heißen werde. „Zwingburzenland“ (Burzenland heißt der Gau, zu dem Tartlau gehört) war die höhnende Antwort. Da erhebt sich der Richter von Tartlau und ruft: „Heißt sie denn Zwingburzenland, so wird sie auch zerstören unsere Hand“ und verläßt mit seinen Genossen die ungastliche Stätte. In einer der nächsten stürmischen Nächte reitet die Sachsengemeinde vor das drohende Schloß, das an folgenden Morgen nur ein wüster Trümmerhaufen mehr ist. Die Schloßthür nahmen sie mit und zeigen sie dem Fremden heute noch in der eigenen „Burg“.
Neueren Datums und mehr sagenhaft ist Folgendes. Eine sächsische Gemeinde hatte viel zu leiden von der bösen Nachbarschaft einer walachischen und sah in fortwährenden Feuersbrünsten, deren Entstehung sie dieser zuschrieb, ihre Habe verzehrt. Vergebens war Warnung und Drohung und unsicher die Aussicht auf gerichtlichen Schutz, da die Nachbargemeinde nicht auf Sachsenboden lag. Da brennt es an einem stürmischen Abend wieder einmal. Das Feuer wird gelöscht. Aber der Richter „warnt“, das heißt beruft die Geschworenen. Die Rosse werden gesattelt, von der Brandstätte nehmen die ernsten Reiter die glühenden Brände, und fort geht’s im nächtlichen Sturme zur Nachbargemeinde, die, an allen Ecken und Enden angezündet, in wenig Augenblicken in Asche sinkt. Seither hat die Sachsengemeinde lange Zeit Ruhe gehabt.
Dieses Selbstgefühl in der Bauerngemeinde fand seine Nahrung in der politischen Verfassung der Ansiedler, deren Grundzüge so alt sind, wie die Einwanderung, und die, von Ungarns Königen und Oesterreichs Kaisern, wenn auch nicht ohne Einschränkungen, behütet, dem magyarischen „Parlamentarismus“ ein Dorn im Auge geworden, so daß er jetzt eben den kühnen Versuch macht, die Liebe zum gemeinsamen Vaterlande für die nichtmagyarischen Nationalitäten aus der Asche alles dessen zu destilliren, was ihnen bisher werth und dem Staate nützlich gewesen. Der Richter der Dorfgemeinde hatte seinen Sitz in der Gauversammlung neben dem „Königsgrafen“, und im Stuhle gehörten zum Stuhlamte außer den gelehrten Herren, die am Vororte saßen, die „Stuhlgeschworenen“ oder „Stuhlherren“ aus den bedeutenderen freien Bauerngemeinden, welche zuweilen so gewaltig waren, daß, wenn sie heimritten, der Königsrichter sich nicht geschmäht fühlte, ihnen in den Sattel zu helfen.
Wie der hohen Aristokratie, so ist es dem freien Bauern von Haus aus eigen, die Formen des äußeren Umganges strenger zu ordnen und zäher festzuhalten. Wo beides sich lockert, da ist es ein Zeichen einer in ihrer rechten, guten Bauernart herabkommenden Gemeinde. Die Form hält hier oft allein noch das Wesen empor. Die „aufgeklärten“ Leute nennen das zuweilen altfränkisch; wer tiefer sieht, erkennt unter der starren Rinde einen wohlbehüteten gesunden Kern. Der siebenbürgisch-sächsische Bauer redet seines Gleichen mit „Ihr“ an; die selbstständigen Gemeindeglieder sind „Bürger“, nicht „Leute“; der Gemeindeausschuß wird „Herren“ titulirt; der Dorfvorsteher (in Deutschland Schulze oder Bürgermeister, hier „Honn“, „Graf“ oder „Richter“ genannt) heißt „ihre Weisheit“; die Communität, das Amt und die Geschworenen (d. h. Beisitzer des Gemeindeamtes) nennt man „ehrsam“. Wer unverheirathet ist und keinen eigenen Hausstand führt, wird geduzt, gehört zum „jungen Volke oder Gesinde“ und der Einzelne heißt noch gut altdeutsch „Knecht“ oder „Magd“, auch wenn er in keinem fremden Dienstverhältnisse steht. Der „Borger“ ist das Executivorgan des Richters und führt – wie der Richter selbst – einen oft geschälten Haselstab als Zeichen des Amtes. Er „warnt“ die „Zehntschaften“, in welche die politische Gemeinde sich gliedert, wie die kirchliche in Nachbarschaften, und an deren Spitze die Zehntmänner stehen, und besorgt den ehrlichen Trunk, von welchem, häufiger als gut thut, die Arbeit des Amtes und der Communität begleitet oder geschlossen wird. Ganz wie in Tacitus’ Erzählung versammeln sie sich langsam; dann aber sitzen sie bewundernswerth fest auf den harten Holzbänken, mit ernsten Mienen, oft scheinbar theilnahmlos, während Richter und Schreiber den Gegenstand den „Herren“ „vorgeben“, oder ein Kläger, der zuvor seine „Zunge gelöst“ haben muß (d. h. durch Erlegung eines kleinen Geldbetrages das Recht zu sprechen sich erwirkte), sein Begehren vorbringt. Darauf langes Schweigen, denn schnell zur Sache sprechen ist unschicklich; endlich eine kurze Frage und rascher Spruch. Nur wo das „Recht“ oder, wie überall in der Welt, der persönliche Vortheil in’s Spiel kommt, werden der Worte mehr und gehen die Wogen von Rede und Gegenrede höher, bis endlich die Entscheidung fällt, die der diplomatische Vorsitzer häufig so lange hinausschiebt, bis die Kämpfer müde und die Kehlen durstig geworden und Niemand mehr Lust hat, den Beschluß anzufechten, wenn auch so, wie ihn der Vorsitzer endlich verkündigt, die Mehrheit für ihn vielleicht mehr als zweifelhaft schien.
Das Präsidialrecht ist groß; auf dem „Herrn“, dem „Honnen“ ruht die schwere Verantwortlichkeit für Feld und Gemeinde, und so läßt man es hingehen, wenn er zuweilen nach dem auch altmagyarischen Grundsatze die Stimme nicht zählt, sondern wägt. Vieles ordnet er auch selbstständig; doch weiß er, daß es bedenklich wäre, die Communität übermäßig lange nicht zu berufen. Die Gemeinde würde darin eine „Verschätzung“ sehen und bei der nächsten Wahl den Schuldtragenden es entgelten lassen. Daß er recht und gerecht regiere und ohne Furcht vor der Rache des Bestraften, dafür versichert die Gemeinde ihm Stall und Scheune gegen Brandschaden und sieht es in der Regel lieber, wenn er die Zügel zu straff als zu locker führt. Vor seinem Hause errichtet sie den Pferch, in den auf verbotener Weide betretenes Vieh gesperrt wird, bis der Eigenthümer es mit Strafe „löst“. Seiner vielen Mühe bester Lohn ist die Ehre; denn der Gehalt, den er in Baargeld bezieht, ist kaum nennenswerth, und das „Loos“ und das „Freithum“, das er genießt, d. h. bei jeder Auftheilung von Gemeindeeigenthum, besonders Wald und Wiese, ein Doppeltheil und die Befreiung von allen Gemeindelasten, sind auch nur eine geringe Vergütung für viel Mühe und Aergerniß und die in der Regel damit verbundene Vernachlässigung der eigenen Wirthschaft. Die größte Gefahr für ihn liegt in der allzu häufigen Gelegenheit zum Trinken; denn in Siebenbürgen wird im Bauernleben schlechthin Alles, Kauf und Verkauf, Geburt und Begräbniß, Recht und Unrecht, trinkend vollendet, und es braucht eine „starke Natur“, hier ohne Schaden mitzuthun oder zu widerstehen. Ernst, wie die Arbeit auf dem Felde und wie das Wort in der Rathsstube, nimmt der sächsische Bauer im Amte auch das Trinken. Wie die alten Senatoren Roms auf ihren Prunksesseln bei dem Eindrange der Gallier, so sitzen diese Bauern nach beendetem Rathe auf ihren Plätzen und empfangen nach Alter und Würde der Reihe nach das Glas aus der Hand des credenzenden „Borgers“, des Verwalters über die irdene Eimerkanne. Auszutrinken gilt für unanständig; aber die Summe der einzelnen Züge läßt nichts zu wünschen übrig, und es ist gut, daß in der [258] Regel erst nach gefaßten Beschlüssen die „Wirthschaft“ ihren Anfang nimmt.
So spinnt in schwerer Arbeit und kargem, zweifelhaftem Genusse auch das öffentliche Leben des sächsischen Bauern in seiner Gemeinde sich ab. Ob es ein Leben der Freiheit sei, darüber zu entscheiden, steht kaum Jemandem anders zu als ihm selbst. Jedenfalls aber ist es dieser Bauer gewesen, der im Lande die stattlichsten Dörfer gebaut, seine Kinder ausnahmslos zur Schule geschickt, dem Staate der pünktlichste Steuerzahler gewesen, die wenigsten seiner Söhne der Wehrpflicht durch die Flucht entzogen und, wo König und Vaterland gerufen, allezeit seine Treue zu Beiden auch durch mehr noch als die bloße Schuldigkeit erwiesen, obwohl er schon seit lange wenig Dank dafür zu ernten gewohnt ist.
- ↑ * Diesem Volksleben droht im gegenwärtigen Augenblicke eine schwere Gefahr, über welche unsere Leser in einer unserer nächsten Nummern eingehendere Mittheilungen erhalten werden. D. Red.