Vor der Berufswahl/Die Tierheilkunde

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Autor: Dr. H. Lungershausen
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Titel: Die Tierheilkunde
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aus: Die Gartenlaube, Heft 46, S. 778–779
Herausgeber: Adolf Kröner
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Erscheinungsdatum: 1895
Verlag: Ernst Keil’s Nachfolger in Leipzig
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Erscheinungsort: Leipzig
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Vor der Berufswahl.

Warnungen und Ratschläge für unsere Großen.
Die Tierheilkunde.

Sie war lange verachtet und ist doch endlich zu Ehren gekommen, die alte und neue Schwester der Medizin – die Tierheilkunde. Im Altertume und Mittelalter als unbeachteter Nebenzweig mit ihr verbunden, litt sie an gleichen Fehlern und zeigte nur hier und da die Spur einiger Selbständigkeit. Auch noch lange in der Neuzeit kam sie nicht über die Stufe der tastenden Versuche hinaus, was erst gegen Ende des vorigen Jahrhunderts geschah; von da ab entwickelte sie sich selbständig auf rein wissenschaftlichem Boden und so erfreut sie sich zur Zeit einer wissenschaftlichen Abgeschlossenheit, welche zu den schönsten Hoffnungen berechtigt.

Ueber den eigentlichen Beginn der Tierheilkunde wissen wir nichts Bestimmtes; doch dürfen wir annehmen, daß sie von der Zeit an bestand, wo sich der Mensch nutzbare Haustiere hielt und noch als Nomade auf der Erde umherzog. In geschichtlicher Zeit finden sich die ersten Andeutungen ihrer Existenz bei den Aegyptern, Hebräern und Indern, von welchen uns Darstellungen über Verabreichung von Arzneien an Rinder, Gesetze über Fleischgenuß und tierärztliche Schriften erhalten blieben. Bei den Griechen und Römern erfreute sie sich in der Zeit vor Christus keiner nennenswerten Blüte; nur ein ihr zugehöriger kleiner Teil, die Anatomie, wurde wissenschaftlich von Aerzten behandelt, da damals Untersuchungen menschlicher Leichen nicht üblich waren. Gelegentlich finden sich Notizen über Tierkrankheiten und tierische Operationen bei Schriftstellern und Philosophen, so bei Xenophon, Aristoteles, Cato und Varro. Die praktische Tierheilkunde lag wohl ausschließlich in den Händen abergläubischer Hirten. Uebrigens schlich sich das Element der Fabel vielfach auch in die tierärztlichen Mitteilungen der genannten Autoren ein.

In den ersten vier Jahrhunderten nach Christus bildete sich, wenn auch nur in sehr beschränkter Weise, ein tierärztlicher Stand aus, dessen Vertreter wie Columella, Apsyrtus und Vegetius umfangreiche Schriften hinterließen. Aus der Zeit des Kaisers Constantinus Porphyrogeneta (912–959) stammen mehrere Sammelwerke, die uns das gesamte Wissen des Altertums auf dem Gebiete der Tierheilkunde überliefern. Die tierarztlichen Schriften des Mittelalters sind fast ausschließlich abgefaßt von Stallmeistern und Pferdeliebhabern, betreffen nur das Pferd und haben keinen Anspruch auf wissenschaftliche Bedeutung. Auch die Anatomie des Pferdes von Carlo Ruini blieb ohne Einfluß auf die Tierheilkunde, die selbst in der Neuzeit noch lange daniederlag, bis in der zweiten Hälfte des vorigen Jahrhunderts ein Wendepunkt eintrat.

Durch die verschiedenen internationalen Kriege (Spanischer Erbfolgekrieg 1701–1713, Nordischer Krieg 1700–1721, Siebenjähriger Krieg 1756–1763) hatte sich die Rinderpest fast über ganz Europa verbreitet. Unglaublich klingen die Verluste, welche diese verheerende Seuche verursachte: 1711–14 verendeten 1½ Mill., 1745–52 an 3 Millionen, in Dänemark allein 1745–52 über 2 Millionen Rinder. Der Gesamtverlust an Rindern bis zum Ende des 18. Jahrhunderts in Deutschland wird auf 30 Millionen, in ganz Europa auf 200 Millionen Stück geschätzt und kommt einer Summe von 30 Milliarden Mark gleich. Hierdurch wurden die verschiedenen Staatsregierungen auf die Wichtigkeit der Tierheilkunde aufmerksam, und es entstanden zuerst in Frankreich, bald darauf in vielen anderen Staaten die damaligen Tierarzneischulen. In Deutschland gingen verschiedene dieser Anstalten im Laufe unseres Jahrhunderts wieder ein; zur Zeit besitzen wir davon noch 6, die 1887 zu Hochschulen erhoben wurden. Bei weitem die größte unter ihnen ist die tierärztliche Hochschule zu Berlin mit über 400 Hörern, dann folgen München, Hannover, Dresden und Stuttgart. Direkt mit der Universität verbunden ist allein das Veterinärinstitut zu Gießen. Außerdem bestehen in Deutschland noch an verschiedenen Universitäten veterinär-medizinische Lehrstühle, die aber hauptsächlich nur für Landwirte bestimmt sind.

In früheren Jahren war die erforderliche Vorbildung zum Beginn des tierärztlichen Studiums überall nur sehr gering; sie wurde allmählich gesteigert, ist aber noch jetzt in den einzelnen europäischen Staaten eine sehr verschiedene. In Deutschland wird seit 1878 das Zeugnis für die Prima eines Gymnasiums oder Realgymnasiums verlangt. Gleichzeitig wurde eine Studienzeit von 7 Semestern festgesetzt; doch kann hiervon keines zur Absolvierung der Militärzeit benutzt werden, wie dies bei den Medizinern der Fall ist.

Die tierärztlichen Disciplinen sind so verteilt, daß in den drei oder vier ersten Semestern die naturwissenschaftlichen Fächer erledigt werden; die übrige Zeit bleibt nach einem bestandenen „Physikum“ für die klinischen Abteilungen. Die Vorlesungen und praktischen Kurse, sowie der klinische Unterricht sind ganz nach dem Muster des medizinischen Studiums an den Universitäten eingerichtet, ebenso das im Beginne des 8. Semesters abzulegende Approbationsexamen.

Ein nach zwei oder drei Jahren praktischer Thätigkeit zu bestehendes Staatsexamen berechtigt den approbierten Tierarzt zum Eintritt in den Staatsdienst.

[779] Die einzelnen medizinischen Lehrfächer der Tierheilkunde nehmen Bezug auf alle unsere Haustiere, bei deren prinzipiell verschiedenem Bau und mannigfaltigen Krankheiten die Tierheilkunde ein viel weiteres und verwickelteres Gebiet umfaßt als die Medizin. Man erstrebt deshalb gegenwärtig mit Recht für das tierärztliche Studium die gleiche Vorbildung (Reifezeugnis eines humanistischen Gymnasiums) wie für die Medizin, eine Forderung, deren Erfüllung nicht ausbleiben wird. Nur so kann dem Zudrang zur tierärztlichen Laufbahn als Not- und Brotberuf dauernd Einhalt gethan werden.

Die heutigen Aufgaben der Tierheilkunde sind im Laufe der Zeit sehr umfangreich geworden. Die frühere Forderung, die Heilung kranker Tiere, stellt zur Zeit nur noch einen Teil ihrer heutigen Aufgaben dar. Seit Inkrafttreten des Reichsseuchengesetzes hat jeder deutsche Staat eigene Kreistierärzte mit Ueberwachung und Verhütung der Viehseuchen betraut; an den Grenzen des Reiches haben sogenannte Grenztierärzte die Einfuhr von Tieren zu kontrollieren und die Einschleppung der Viehseuchen zu verhindern.

Da eine Anzahl von tierischen Infektionskrankheiten durch Fleisch- und Milchgenuß auf den Meuschen übergeht und so für ihn gesundheitsschädigend wird und andere Krankheiten den Wert des Fleisches bedeutend herabsetzen, so haben viele Städte bereits seit Jahren öffentliche Schlachthäuser mit Schlachtzwang und obligatorischer Fleischbeschau durch tierärztliche Sachverständige eingerichtet. Es verbreiten sich diese für die menschliche Hygieine so hochwichtigen Anstalten erfreulicherweise in Mittel- und Kleinstädten immer weiter. Ja, es dürfte die Zeit nicht mehr fern liegen, wo im ganzen Reiche obligatorische Fleischbeschau auch auf dem platten Lande, wenn auch dort nur von unter tierärztlicher Leitung ausgebildeten empirischen Fleischbeschauern, allgemein durchgeführt wird, wie es bereits jetzt in verschiedenen deutschen Staaten der Fall ist. Es sind diese Wünsche, die ja hauptsächlich vom Publikum ausgehen, schon aus Gerechtigkeitsgründen billigenswert; denn niemand will schlechtes Fleisch für gutes kaufen, sodann aber auch wegen der Gefährlichkeit des Genusses von Fleisch mit ansteckenden Krankheiten behafteter Tiere (Milzbrand, Tuberkulose etc.) mit Nachdruck zu unterstützen.

Will der Staat den nationalen Reichtum an Haustieren erhalten, dann muß er auch Sorge tragen für eine rationelle Nachzucht. Dieses haben große Staatsmänner schon lange erkannt, und so geht die Errichtung von Gestüten zur Nachzucht von Pferden bereits auf geraume Zeit zurück. Während nun früher die Gestütsdirektoren nur aus pensionierten Offizieren, die sich hierfür interessierten, gewählt wurden, ist man neuerdings hiervon abgewichen und besetzt diese Posten, wenn bis jetzt auch nur in beschränkter Weise, gleichfalls mit Tierärzten, die auf diesem Gebiete wohl nicht mit Unrecht größeres Verständnis beanspruchen dürften. Uebrigens werden an allen Gestüten die tierärztlichen Geschäfte von sog. Gestütstierärzten oder Gestütsinspektoren ausgeführt.

Zur Erzielung leistungsfähiger Rinder sind von hoher Bedeutung die in den verschiedenen Staaten bestehenden Körordnungen, welche auf den Lehren der Tierzucht beruhen und durch Einführung passender Zuchttiere den rechten Weg zur Erreichung gesunder Nachkommen angeben. Kurz, mit Hilfe der Veterinärwissenschaft kann auch zu gunsten der Landwirtschaft noch viel Gutes geschaffen und der heutzutage viel besprochene landwirtschaftliche Notstand gemildert werden.

Zu demselben Ziele führt eine weitere sehr wichtige Aufgabe der Tierheilkunde. Schon Vegetius (im 5. Jahrhundert) sagt, es sei wichtiger, Gesundheit zu erhalten als Krankheit zu heilen. Auch hier giebt die Tierheilkunde durch die Lehre der Diätetik die erforderliche Anleitung. Heute sind die Krankheitserreger vieler tierischen Infektionskrankheiten bekannt, ebenso ihre Lebensbedingungen. Es kann deshalb oft durch hygieinische Einrichtung der Stallungen mit genügender Ventilation, durch diätetische und rationelle Fütterung, sowie Verbesserung des Heus durch Entwässerung sumpfiger Wiesen viel Unheil verhütet werden. – Ferner wurde auf Grund der Lehren der tierischen Physiologie schon vor Jahrzehnten die Fütterungslehre geschaffen, die sich bereits seit Jahren bei einsichtigen Landwirten mit großem Erfolge eingebürgert hat. Doch herrscht gerade auf diesem Gebiete unter der Mehrzahl der kleinen Landwirte, die an dem vom Großvater Ererbten mit eiserner Energie festhalten, noch viel Unkenntnis und Vorurteil. Sollte da nicht der Tierarzt berufen sein, belehrend durch Rat und That einzugreifen und so die zur Zeit so viel beklagte niedrige Rente des landwirtschaftlichen Besitzes bessern und erhöhen zu helfen?

Nur kurz erinnern wir an die Thätigkeit der Militärtierärzte, die zum größter Teil an der Berliner und Dresdner Hochschule in Anstalten, wie die sog. „Pepinière“ der Mediziner, ausgebildet werden und welche für Gesundheit des Pferdebestandes der deutschen Armee zu sorgen haben.

Weiterhin liegt tierärztlichen Sachverständigen die Beaufsichtigung des Hufbeschlages ob. Durch Reichsgesetz ist den Schmieden die Ablegung einer Prüfung als Hufschmied vorgeschrieben; sie werden in vielen Kreisstädten von beauftragten Tierärzten hierzu vorbereitet und ausgebildet. Dies geschieht gleichfalls in den sog. Lehrschmieden, die mit den tierärztlichen Hochschulen verbunden sind.

Zum Schluß gedenken wir noch der gerichtlichen Bedeutung der Tierheilkunde. Ueber Kauf und Tausch von Haustieren bestehen zur Zeit in allen deutschen Staaten, ja in vielen Kreisen und Landschaften zahlreiche im Prinzip ganz verschiedene Gesetze und Ausnahmebestimmungen. Oft ist dadurch geriebenen Händlern Gelegenheit zu Betrug geboten. Hier fällt der Tierheilkunde die Aufgabe zu, für das der Vollendung nahe bürgerliche Gesetzbuch einheitliche und leicht verständliche Gesetze zu schaffen, durch deren sachgemäße Anwendung Tierärzten Gelegenheit geboten ist, zur Vereinfachung umständlicher Prozesse und Ersparung hoher Klagekosten beizutragen.

So sehen wir denn, daß die verschiedenen Aufgaben der Tierhilakunde weit über das hinausgehen, was man unter dem Begriff der einfachen Heilkunde versteht. Aus diesem Grunde hat man vielfach für den Namen Tierheilkunde den umfassenderen Tiermedizin oder Veterinärmedizin in Vorschlag und Anwendung gebracht.

Zur Erledigung der großen Annzahl von Lehrfächern, welche oben nur in kurzen Zügen angedeutet sind, scheint zur Zeit ein Studium von sieben Semestern nicht mehr zu genügen, und es wird deshalb von tierärztlichen Autoritäten eine Studienzeit von acht Semestern, welche übrigens schon jetzt die meisten Schüler zurücklegen, erstrebt. Die Studienkosten berechnet Dr. G. Schneidemühl in seiner Schrift „Die tierärztliche Laufbahn im Deutschen Reiche“, die wir Interessenten zur Belehrung empfehlen, für das Jahr auf mindestens 1500 Mark, wobei aber Bücher, Instrumente, Prüfungsgebühren und Kleidung nicht berücksichtigt sind. Hierzu kommen noch die Ausgaben für das Militärjahr.

Trotz der mit jedem Jahrzehnnt erhöhten Ansprüche ist die Zahl der Studierenden mit jedem Jahre gestiegen. Sie betrug z. B. im Wintersemester 1876/77 im ganzen Reiche 266, 1890/91 dagegen 1002! Dementsprechend vermehrte sich auch die Anzahl der approbierten Tierärzte, so daß der alte Ruhm, der tierärztliche Beruf gewähre verhältnismäßig früh eine auskömmliche Stellung, gegenwärtig beträchtlich gesunken ist. Infolge des allgemein vermehrten Andranges zum tierärztlichen Studium wird es auch erklärlich, daß die früher besonders in Süddeutschland üblichen Unterstützungen an Schüler verschwunden sind. Immerhin wird aber auch jetzt für tüchtige Tierärzte besonders durch die in weiten Gegenden neu entstehenden Schlachthäuser neuer Raum zu ersprießlicher Thätigkeit eröffnet.

Leider ist trotz Fortschreitens der Wissenschaft und Erhöhung der Ansprüche die finanzielle Stellung der Tierärzte in Deutschland die alte geblieben. Im Gegensatz zu Preußen, das beamteten Tierärzten nur 600 bis 900 Mark festes jährliches Einkommen gewährt, stehen die meisten übrigen Staaten, wo die Verhältnisse besser liegen. Hieraus erhellt, daß die beamteten Tierärzte in der Hauptsache auf Privatpraxis angewiesen sind. Für Privattierärzte haben viele Gemeinden sog. Wartegelder von 300 bis 900 Mark jährlich ausgesetzt. Die Besoldung der Schlachthaustierärzte, denen Privatpraxis meist untersagt ist, ist sehr verschieden und richtet sich besonders nach dem Dienstalter; doch dürften 2000 Mark das Mindeste darstellen. Mit Pensionsberechtigung angestellt sind die beamteten Tierärzte in Preußen nicht, dagegen in den meisten übrigen Staaten, was auch wohl überall in den Schlachthöfen der Fall ist. Ebenso verhält es sich bei den Militärtierärzten, denen neben ihrem Gehalt noch Privatpraxis gestattet ist.

Sollten diese wenigen Zeilen dazu beitragen, alte Vorurteile besonders unter den gebildeten Klassen zu beseitigen, vor leichtfertigem Beginn des tierärztlichen Studiums zu warnen und ihm junge tüchtige Leute zu gewinnen, dann haben sie ihren Zweck nicht verfehlt. Dr. H. Lungershausen.