Die Lampe der Psyche
Die Lampe der Psyche.
Jn der Verandaecke saß René Flemming und sah auf die vor ihm liegende Wochenrechnung nieder. Er hatte die Ellbogen aufgestützt und hielt seine Wangen mit den Händen umrahmt. Hinter ihm war die gläserne Seitenwand; durch die von Leisten in längliche Vierecke geteilten Scheiben sah man in eine stille Schweizerlandschaft hinaus. Rechts von ihm stand die Hausmauer und links von ihm ward der Blick durch nichts gehemmt als durch einige Holzsäulen, die das Verandadach trugen und das schöne Bild der Gegend hart überschnitten.
[670] Es war ein sonniger Morgen, mit mehr Frische als Wärme in der Luft. Um die Gipfel der grauzackigen Berge, die im Kranze das enge Hochthal umschrankten, zogen, gleich dünnen weißen Schleierfetzen, kleine Gewölle hin und wieder. Die Tannen, die vom winzigen See inmitten der Thalsohle noch ein Streckchen bergan stiegen, standen kerzengerade und regungslos; Winde ließen die Felsenwächter nicht in diese schmale Tiefe. Die Natur hatte hier zu ihrem Bilde nur graue, grüne, weiße Farben gewählt und den leuchtend blauen Himmel darüber gespannt.
Als René Flemming vor vier Wochen angekommen war, hatte er entsetzt zu der Wirtin gesagt: „Auf ein bißchen mehr Originalität glaubte ich doch hoffen zu dürfen. Die Gegend habe ich ja schon tausendmal gesehen. Unter anderem noch zuletzt auf dem Neuruppiner Bilderbogen, den der Sohn meiner Hausfrau hat, und auf dem Oeldruck, der bei meinem Schuster an der Wand hängt. Wissen Sie, meine Gute, hier bleibe ich nicht.“
Und nun studierte er schon die vierte Wochenrechnung. Sieben Tage Pension à 7 Franken – Sonntag den 19. August 5 Liter Veltliner? Donnerstag den 23. noch einmal 5 Liter Veltliner? Er besann sich. Am Sonntag waren ein paar lustige italienische Burschen dagewesen und hatten mit Gesang und Mandoline konzertiert. Und am Donnerstag zogen einige stämmige Kerle vorbei, Holzfäller, die mit rauhen Kehlen beleidigend johlten.
Das Bemühen Renés, die Zahlen der merkwürdig großen Rechnung zu addieren, war ein wiederholtes aber immer vergebliches.
Sein Ohr horchte auf den einzigen Laut, der die Morgenstille durchdrang. Neben dem Hause, rückwärts, da wo die aufsteigende Berglehne einem kleinen Wirtschaftshof Raum bot, hämmerte der Hausknecht an einem Faß die Reifen fest. Er that immer vier Schläge hintereinander, und die hallten stark und klingend durch die Luft.
René pfiff einigemal summend im Takte mit! Die Regelmäßigkeit des Geräusches ärgerte ihn. Plötzlich schwieg es. Aber der Nachhall lag ihm im Ohr und in seiner Phantasie wandelte es sich plötzlich, erhielt einen besonderen Rhythmus und ward ein scharfes, herrisches Motiv.
Er erhob das Haupt, sah einige Sekunden ins Leere, mit einem gesammelten, sehr aufmerksamen Gesichtsausdruck, wie jemand, der nach innen horcht, und griff dann nach einem Bleistift, der neben seiner Tasse gelegen hatte. Die Rückseite der Rechnung bedeckte sich mit Noten.
Unterdessen trat die Wirtin aus der Thür, die vom Innern des Hauses in die Veranda führte. Sie sah ihren Pensionsgast schreiben und wartete respektvoll, wobei sie die Hände vor dem Magen faltete.
Dann, als René den Bleistift fortlegte, kam sie breit und behäbig näher, ein Lachen im glatten Gesicht.
„Frau Wirtin,“ sagte René, „dies ist eine Urkundenfälschung.“
Er wies auf den Kopf der Rechnung, allwo „Hotel und Pension Seehof“ in schloßartiger Pracht abgebildet war, mit einer Terrasse davor, auf welcher ein Springbrunnen emporsprudelte zwischen üppigsten Blumenanlagen. In Wirklichkeit glich das saubere, außen und innen mit hellem Holz getäfelte Haus einem landläufigen Schweizerhaus in etwas größeren Raumverhältnissen und in Wirklichkeit war das kleine Plateau vor dem Hause mit schwärzlichem Steingeröll bedeckt, von wo ein gänzlich ungepflegter, abschüssiger kurzer Pfad zu dem kleinen See hinabführte.
„Wir hoffen eben,“ meinte die Frau, „daß wir’s mit der Zeit einmal so herrichten können.“
„Nun, wenn hier erst ein Springbrunnen ist, komme ich gewiß nicht wieder und so ist dies vermutlich die letzte Wochenrechnung, die ich in meinem Leben an Sie zahle,“ sagte René mit ernsthaftem Gesicht.
„Ach, der Herr Hofkapellmeister machen alleweil Spaß,“ sprach sie. „Sie werden doch noch bleiben?“
Er stand auf und reckte sich.
René Flemming war ein großer, schlanker Mensch; sein heller Sommeranzug, zu dem er keine Weste, sondern ein weißseidenes Hemd mit faltigem Gürtel trug, gab ihm etwas Burschikoses. Sein dunkles Haar, im Nacken kurz verschnitten, lag ein bißchen wirr über der Stirn. Die gebräunten Farben standen dem klugen, energischen Gesicht wohl an; um den feinen Mund, der sich mit schmalen Lippen fest zu schließen pflegte, spielte ein Lächeln und aus den dunklen, großen Augen blitzte fröhlichste Lebenslust.
Er griff in die Tasche und holte eine Hand voll Geld heraus: Gold, Siber, Nickel – französisches und deutsches Geld durcheinander.
„Schauen Sie ’mal nach, Wirtin, ob’s noch reicht.“
Die Wirtin fing an, mit dem Zeigefinger die Zwanzigfrankenstücke herauszusondern.
Renés feines Ohr hörte dann plötzlich ein Rauschen und Knistern. Er wandte sich um.
„Richtig,“ rief er, „diese winterliche Musik konnte nur die eine verursachen.“
Er ging einer Dame entgegen, die in majestätischer Trauerkleidung herankam. Die Dame trug den Kopf, der für die große, volle Gestalt fast zu klein erschien, sehr hoch. Die vorspringende Nase, die lebhaften grauen Augen gaben dem etwas blassen Gesicht einen kühnen Ausdruck, wie auch Gang und Haltung von ungewöhnlichem Sicherheitsgefühl zeugten.
Sie ließ sich die Hand küssen und sah ihm mit einer heiteren, mütterlichen Zärtlichkeit ins Gesicht.
„Guten Morgen, René. Ah, man rechnet? Ein trüber Moment.“
„Ein vollkommen gleichgültiger,“ sagte er lachend.
Die Wirtin hatte sich ihren Betrag herausgesucht. René strich den Rest zusammen und steckte ihn ein. Im Davongehen machte die Wirtin einen nicht sehr anmutigen, aber sehr unterthänigen Knix und sprach ihr: „Guten Morgen, Madame von Eschen.“
„Die arme Frau ist von Ihrer Persönlichkeit und Ihrer rauschenden und glitzernden Trauerpracht immer ganz eingeschüchtert. Einen so vornehmen Gast hat der Seehof noch nie gesehen; Ihr Anblick fordert ja förmlich die schleunige Anlage des hier lithographierten Luxus heraus.“
Hortense von Eschen zuckte die Achseln. „Ich habe kein Talent, mich populär zu machen,“ sagte sie.
„Und ist es denn wirklich nötig, hier in dieser Gebirgseinsamkeit den alten Herrn von Eschen so pomphaft zu betrauern?“ fragte René.
Sie trat an das Geländer der Veranda, lehnte sich mit der Schulter gegen eine der Holzsäulen und seufzte ein wenig.
„Ach, René,“ sprach sie langsam, „wie oft im Leben betrauert man mit heimlichen Verzweiflungsthränen einen Verlust, ohne daß man sich ein schwarzes Kleid anziehen darf. Sie wissen doch, was der Dichter sagt: Gefühl ist alles! Zu dem alten Herrn hat mich keines hingezogen; da ich ihm den innern Tribut der Liebe nicht geben konnte, soll’s an dem äußern der Achtung nicht fehlen. Sie schau’n mich wieder so spitzbübisch an – ja wohl, mein Kind – simple schwarze Wolle thät’s auch und thäte es vielleicht besser. Aber sie kleidet so abscheulich.“
Sie lachten beide.
Hortense nahm ihren zusammengerollten Sonnenschirm wagerecht unter die Achsel und fing an, sich ihre Handschuhe anzuziehen.
„Wohin gehen Sie? Darf ich Sie begleiten? Und wo ist Magda Ruhland?“ fragte René und sah den weißen Fingern zu, die langsam an dem Leder hinstreiften.
„Natürlich sollen Sie mich begleiten, denn Sie haben mir etwas zu beichten. Ich gehe die Straße entlang, denn Sie wissen, ich hasse die Kletterei. Und bei dem Weg zur Sägemühle dürfen Sie mir Adieu sagen; weil dort unten jemand wartet, der Ihnen amüsanter ist als Ihre alte Freundin,“ sagte sie und streckte ihm die Rechte hin, damit er die Handschuhknöpfe schließe.
„Beichten!“ rief er und ein Ausdruck von Unbehagen glitt über sein Gesicht.
„Pst,“ machte sie und fuhr mit ihrer Linken leicht über seine Züge, als wollte sie den unwilligen Ausdruck fortwischen, „mir gegenüber nur keine Selbstherrlichkeit! Ich habe Sie lieb, René, und Sie sind ein toller Junge, der froh sein soll, daß er eine verständige, erfahrene Frau weiß, mit der er alles besprechen kann. Ich fürchte, ich fürchte, Sie haben mir das Herzchen meiner Magda beunruhigt. Und Magda ist – wie soll ich im Gegensatz zu all den glänzenden lustigen, lebensdurstigen Damen Ihrer Welt, der großen Welt und der künstlerischen Welt sagen? – kurz, Magda ist ein schwerer Mensch! – Also? –“
René griff nach seinem Hut und schritt ein wenig ungeduldig neben der Frau her, deren beabsichtigte Einmischung in eine Herzensangelegenheit ihm halb ärgerlich, halb erwünscht war.
„Eins begreife ich nicht,“ sagte er, „daß ich Fräulein [671] Ruhland bei uns in Leopoldsburg nie getroffen habe, nicht einmal in Ihrem Hause, dem sie so nahe steht, offenbar näher noch als ich. Soll ich auf den Verdacht kommen, daß Sie Fräulein Ruhland immer mit der ‚zweiten Garnitur‘ einladen?“
Hortense blieb einen Augenblick stehen und lachte.
„Ihr Selbstbewußtsein ist naiv. Auf den Gedanken kommen Sie gar nicht, daß ich Sie ……“
Er fiel ihr in die Rede.
„Da ich immer so ziemlich die ‚Spitzen‘ unserer Residenz bei Ihnen treffe, kann ich nicht auf den Gedanken kommen.“
„Es giebt überhaupt keine ‚zweite Garnitur‘ für mich. Aber da mein Kreis so groß ist, daß ich niemals alle Bekannten bei mir sehen kann, habe ich sie eingeteilt in Serie 1a und 1b; bestimmend war die Rücksicht auf die vorhandenen oder muthmaßlichen Interessen meiner Freunde. Und da die alte Excellenz Ruhland nicht Musik liebt, lud ich sie zu den mehr wissenschaftlich gefärbten Abenden. Dies ist geblieben für Magda allein, auch nachdem die Excellenz nicht mehr fähig war, auszugehen.“
Sie schritten auf der Straße dahin, die den Thalwindungen folgte und langsam stieg. Wie Coulissen schoben sich die Felsabhänge von rechts und links in das Thal, das sich hochwärts in einer öden Wildnis verlor. Von dort kam ein weißschäumendes Bergwasser, das sich im steinigen Bett neben der Straße quirlend thalwärts stürzte. An den Hängen klebten neben den braunen Holzhütten der Dorfbewohner hier und da weiße Villen. Der kümmerliche Hirtenort hatte seit einigen Jahren begonnen sich in eine Sommerfrische umzuwandeln. Durch den Tannenwald, der den Fuß der Felsen umkleidete, zogen sich gute, neu angelegte Spazierwege. Da auf diesen indes immer ein Steigen und Absteigen nötig war, pflegte Frau von Eschen mit einer erstaunlichen Unermüdlichkeit nur die Hauptstraße zu benutzen.
„Die alte Excellenz; Ihr Ton wird immer beinahe scharf, wenn Sie seiner erwähnen. Es ist die Last, an der Magdas junges Leben trägt,“ sagte er fragend.
Sie war eine schnell denkende und feinfühlende Frau. Sie verstand, daß René über Magdas Verhältnisse genau unterrichtet zu sein wünschte. Vielleicht hatte er noch kein entscheidendes Wort gesprochen und vielleicht war es noch Zeit, ihn davon zurückzuhalten. Denn Hortense von Eschen hielt dafür: besser ein kurzer, großer Schmerz, als ein langes unentschiedenes Hoffen. An dem ersteren kann ein kraftvoller Mensch sich entwickeln und zu freierer Höhe gelangen – an dem zweiten versiegt der Lebensmut. Sie kannte das.
„Eine Last, die Magda sich nie eingesteht, die man ihr nicht tragen helfen kann, von welcher nur der Tod des Alten sie befreien wird. Er war ein Pedant, ein Philister, ein Nörgler und Streber sein Leben lang. Er hat seine Carriere sozusagen ausgetüftelt. In dem ganzen Mann gab es keinen genialen Zug. Er machte auch in früheren Jahren immer den Eindruck wie eine keifende alte Frau. Und sein Weib hat er gequält! Wie es geschah, daß sie ihn einst überhaupt nahm? Was weiß ich. Die Natur hat so ihre Schliche. Werbende Männer und liebende Frauen umgoldet sie zuweilen mit einem gewissen Zauber. Nachher, wenn der Zweck erfüllt ist, der Mann die Gefährtin, das Weib den Gatten fand, fällt der Zauber ab wie Schaumgold. Magdas Mutter war meine Freundin gewesen, sie müßte gerade wie ich jetzt ihre Neunundvierzig oder Fünfzig haben. Aber so recht ausgesprochen hat sie sich nie, trotz der Freundschaft. Als Ruhland das „Große“ erreicht hatte, als er Minister unsres Herzogs wurde und nach Leopoldsburg zog, war seine Frau schon eine Sterbende. Mir kam es manchmal so vor, als ob sie sich über die Kleinlichkeiten ihres Gatten zu Tode geschämt hätte. Und er fing wenige Jahre nachher an, leidend zu werden – da!“
Sie deutete auf ihren Kopf und fuhr fort.
„So ein Gehirn, durch das nie der frische Sturmwind eines großen Gedankens braust, muß ja auch am Ende vertrocknen. Ich war um jene Zeit schon längst im Winter immer in Leopoldsburg, denn meinen Mann, wie Sie wissen, habe ich schon vor zwanzig Jahren verloren und mein alter Schwiegerpapa verlangte, gottlob, nur im Sommer meine Gegenwart in der Eschenhöhener Einöde. Wenn man sich das so vorstellt – nun erst, infolge seines Todes, kann ich einmal ein bißchen in die Welt hinaus, wenn sie grünt und blüht! Und auch für Magda freut mich’s. Sonst war Eschenhöhe ihre einzige Sommerlust. Wenn ich sie nicht immer zwänge, vier Wochen mit mir zu gehen, käme sie nie heraus. Und nur von der Erkenntnis aus, daß sie nachher ihre Pflegerpflicht frischer erfüllt, läßt sie sich zwingen.“
„Kein Wunder, daß sie so ernst ist,“ sprach René. „Ich habe Excellenz Ruhland nur einmal kurz gesehen – als ich nach Leopoldsburg kam, war er noch im Amt. Aber ich darf sagen, ich hatte genug an dem einen Mal.“
„Ja, wäre Ruhland ganz um den Verstand! Aber er hat gerade noch genug, von seinem Lehnstuhl aus, in welchem er gelähmt sitzt, sein Kind zu plagen. Da er in der Ehe nicht eine besondere Quelle des Glücks gefunden, malt er ihr eine Heirat als ein Schrecknis aus, wobei vielleicht auch der heimliche Furchtgedanke mitspielt, daß er seine Pflegerin verlieren könnte. Obenein sind die Verhältnisse karg – die Pension eines Ministers in unserem Herzogtum! Das können Sie sich vorstellen! Magda verdient ein bißchen dazu mit ihrer Malerei. Armes Kind!“
In René Flemmings Gesicht stieg eine starke Röte. Eine lebhafte Bewegung ging über seine Züge. Er wollte etwas sagen. Sie ergriff seinen Arm.
„Halt,“ sagte sie, „ich weiß, was nun kommen soll: daß es für einen Mann, der liebt, eine herrliche Aufgabe ist, einem Wesen wie Magda Sonnenschein ins Leben zu bringen, daß es für einen Mann, der liebt, eine Wonne ist, sie aus der verborgenen Dürftigkeit in den Glanz der Freude und des Genießens zu bringen. Lieber René, die noblen Aufwallungen zieren den Menschen. Sie haben deren alle Zeit reichlich und ich bin sicher, daß Sie sogar Ihr Leben aufs Spiel setzen, wenn es gilt, irgend ein anderes zu retten. Aber ob Sie jeden Tag, Monat um Monat, Jahr um Jahr, endlos die kleinlichen Freudlosigkeiten, den Zwang der Sorge ertragen können – das wag’ ich nicht sogleich zu bejahen.“
„Sie trauen mir wenig zu,“ sagte er mit unsicherer Stimme.
„Das Höchste!“ rief sie, „auf dem Gebiet, auf welches Sie von der Natur verwiesen sind. Daß dies nicht das Gebiet der stillen bürgerlichen Tugenden ist, wissen wir ja.“
Sie atmete ein wenig schwer. Man war doch sacht und stetig gestiegen.
„Und wenn ich es dennoch wagte, mich zu binden?“ fragte er.
Sie setzte sich auf die Bank, die am Wege stand. Er blieb vor ihr stehen.
Hortense von Eschen besann sich ein Weilchen, sie wollte nicht ganz geradeaus sagen, was sie dachte. Sie fühlte genau, was in René vorging. Heftig angezogen von Magda, dem vollkommenen Gegenspiel seines Wesens, schien es ihm unmöglich, seine Macht über ihr Herz unerprobt zu lassen, nicht von ihren Lippen ein Liebesgeständnis flüstern zu hören. Sein Temperament, seine herrische Beanlagung, vielleicht auch ein wenig künstlerische Neugier, die sich unbewußt getrieben fühlt, Seelen zu ergründen – dies alles riß ihn fort. Und doch hörte er daneben in seinem Innern die warnende Stimme des Verstandes und der Redlichkeit, die ihm zuraunte: wird dieser Bund nicht zur Kette werden? meinst du es auch ganz treu mit mir? wird sie dir fortan die Einziggeliebte sein?
Hortense sah wohl und wußte wohl, daß dem Willen eines Mannes in solchen Dingen nicht direkt entgegen zu arbeiten ist. Sie beschloß, bei Magda entsprechende Vorstellungen zu machen. Ehe sie noch dies aussprach, denn heimlich etwas zu thun, war ihr unmöglich – sagte René plötzlich: „Das entscheidende Wort ist gestern schon gefallen. Ich habe nicht gesagt: ‚Magda, willst Du mein Weib werden‘. Aber wir haben begriffen, daß wir uns lieben.“
„Was zwischen Ihnen und Magda so viel wie eine heimliche Verlobung bedeutet,“ setzte Hortense mit ergebenem Kopfnicken hinzu.
Er setzte sich neben die Freundin und beugte sich vertraulich zu ihr.
„Was ich für Magda fühle, glaube ich noch nie empfunden zu haben …“
„Das glaubt man bei jeder neuen Liebe,“ unterbrach sie ihn.
„Ich sehe mit Erstaunen, einer Offenbarung gleich, daß ich von einem Gefühl grenzenloser Achtung, Verehrung, Anbetung zu diesem Wesen voll Reinheit und stiller Größe gezogen werde,“ sagte er mit einer Stimme, die von Leidenschaft bebte. „Und dennoch – selbst in dieser Stunde voll Glück und Erhebung, schreckt mich die Fessel. Deuten Sie mir das.“
Sie lächelte.
„Männer kann man nicht verstehen. Man kann sie nur aus dem Gefühl begreifen. Gebe Gott, daß Magda begreift, daß eine letzte, innerste Freiheit Ihr unantastbares Gut bleiben muß. Daß [674] es in jedem Mann und tausendmal mehr noch in jedem künstlerischen Mann geheimnisvolle Abgründe giebt, in die das weibliche Verstehen nicht hinableuchtet. Daß es ein ganzes, grenzenloses, untrennbares Sichgehören von Seele zu Seele nicht giebt, niemals geben kann. Gebe Gott, daß Magda Sie nimmt, wie Sie sind, und nicht, wie ihr Weibersinn sich denkt, daß Sie sein sollen. An dem Ergründenwollen und an der Begier, das Ideal wie etwas Greifbares zu beleuchten und kennenlernen zu wollen, scheitert das meiste Liebes- und Eheglück.“
René küßte ihre Hand. „Sie sind die klügste Frau, die ich kenne.“
„Weisheit post festum,“ sagte sie lachend, „ich bin auch nicht glücklich gewesen. Ich wollte auch immer zu viel.“
Sie erhob sich und deutete mit ihrem Sonnenschirm auf einen schmalen Weg, der unfern zwischen den mit Tannenbart behangenen, graugrünen Bäumen herauskam und in die Straße mündete.
„Da ist Magda gegangen. Sie kennen ihren Platz. Und noch einmal, Lieber: wenn es möglich ist, löst Euch voneinander! Jetzt kostet es Thränen, später vielleicht Herzblut.“ Dann schlug sie plötzlich, wie sie oft pflegte, einen heiteren Ton an. „Und das sage ich gleich, wenn Ihr verheiratet seid, brechen wir den Verkehr ab. Ich mag nur alte Ehepaare und junge Menschen um mich haben. Junge Ehemänner sind ’was Gräßliches. Ihre Würde hat ihnen den Kopf verdreht. Wenn sie die Frauen anderer dummes Zeug machen sehen, denken sie: ‚ich würde meine Frau so erzogen haben, daß das nicht vorkäme‘; wenn sie einen guten Freund unter dem Pantoffel sehen, denken sie: ‚meiner Frau würde ich nie einen solchen Ton hingehen lassen‘. Sie wissen das Rezept einer glücklichen, verständigen, mustergültigen Ehe auswendig und blicken hochgemut auf alle unglücklichen Ehen herab. Die kleine Macht, einem Weibe und einem Hausstand zu kommandieren, macht sie größenwahnsinnig. Adieu, René!“
Sie schüttelte ihm die Hand und stieg mit Ergebung weiter die Straße hinauf. René sah ihr noch einen Augenblick nach. Die noch immer schöne Frau war seine wahre Freundin, er wußte es wohl. Sie war ehrgeizig für ihn und wollte sein Bestes. Als er vor vier Jahren die Stellung in Leopoldsburg erhalten hatte, war Hortense von Eschen es gewesen, welche die künstlerische Großthat des Herzogs gleichsam ergänzte. Der Herzog, ein fanatischer Musikfreund, wollte in seiner kleinen Residenz eine Oper und ein Musikleben haben, das die Stadt künstlerisch in eine Linie mit den großen Städten rückte. Da er politisch kaum eine Rolle spielen konnte, wollte er in der Kunstgeschichte seiner Zeit die edelste und höchste verkörpern. Seine überreichen Privatmittel gestatteten ihm, seine Träume zu erfüllen. An die Spitze der neuerbauten und mit glänzenden Kräften versehenen Oper berief er den jungen René Flemming, welcher als aufgehender Stern ihm empfohlen war. Hortense von Eschen kannte die Welt und ihre Leopoldsburger. Sie wußte, daß René Flemming auch gesellschaftlich „Mode“ sein mußte, wenn man seine Erfolge für voll nehmen sollte.
Er lachte sie oft aus und sagte, daß Leopoldsburg nur der kleine zufällige Schauplatz vorübergehenden Wirkens sei, und daß nicht Leopoldsburg, sondern die weite Welt den Ruhm zu vergeben habe. Aber sie bestand darauf, daß es zum Behagen seines Lebens nötig sei, freundliche, persönliche Anteilnahme auch in der Nähe um sich zu fühlen. Sie hatte ihn nach und nach mit „ganz Leopoldsburg“, soweit sie es für ihn wichtig hielt, bekannt gemacht. Nun war er nicht der Mensch, andere gleichgültig zu lassen, oder an andern gleichgültig vorbeizugehen. Immer erwuchsen ihm Freunde oder Feinde. So häuften die einen fast kritiklos Vorzüge auf ihn, während die andern nicht einmal seine Jugend und seine Begabung als mildernden Umstand gelten ließen, wenn sie ihn überschäumen sahen. Für alle aber war er „der bunte Hund“ von Leopoldsburg.
Ihm fiel plötzlich ein, welches Gerede seine Verlobung machen dürfte. Ein Schaudern ergriff ihn, er lachte hellauf und drehte sich auf dem Absatz um. Rasch schritt er den Waldweg dahin. Nach zwei Minuten kreuzte eine Erinnerung seine Gedanken, die knappe, charakteristische Melodie von vorhin fiel ihm ein. Er zog die Rechnung mit der Notenskizze heraus und las, was er geschrieben. Seine Lippen formten sich, als wollte er pfeifen, er summte indes nur vor sich hin. Magda Ruhland, die große Veränderung seines Lebens, die bevorzustehen schien, die Warnerstimme Hortensens, alles war so völlig aus seinem Gedächtnis verschwunden, als gäbe es nichts dergleichen auf der Welt.
Der schmale Pfad mit seiner rotklebrigen Erde, die frische Arbeit von Wegebauern verriet, zog sich oft steil bergan, blieb eine Weile in gleicher Höhenlage, fiel jäh, so daß der Absteigende bei jedem Schritt einen Ruck im ganzen Körper hätte fühlen müssen, wäre er überhaupt seiner selbst sich bewußt gewesen, und blieb immer gleichmäßig von dunklen Tannen umrandet.
Eine Gesellschaft von Sommerfrischlern kam daher, zwei Herren im Bergfexkostüm, drei Damen mit hohen Alpenstöcken und kurzgeschürzt, als sollte es geradeswegs auf einen Gletscher gehen; die Menschen wichen zur Seite und ließen René vorbei.
Er hatte sie gar nicht gesehen, sein Blick hatte sie gestreift, aber es kam ihm nicht zum Bewußtsein, daß das Leute waren, die mittags mit ihm an der Table d’hote saßen und daß er sie hätte grüßen müssen.
So schritt er lange dahin, ohne zu merken, ob er steige oder bergab laufe. Plötzlich drang ein starkes Rauschen an sein Ohr. Ein Wildbach tobte aus einer engen Spalte zwischen ragenden, geknickten und umgestürzten Tannen hervor, in seinem steinigen Bett waren rote Stämme wie Schwefelhölzchen zwischen Steinkolosse geklemmt. Das Wasser war ein Bild der Zerstörung. Erst ein Streckchen weiter hatte es sich von der übergreifenden Umarmung des Waldes freier gemacht und schoß unter einem Brückchen dahin. Von ihr aus sah man hinab auf die Sägemühle, die mit ihrem Gehäuse gelber Bretter und ihrem wetterdunklen Blockhaus wie ein Idyll inmitten einer kleinen Lichtung lag. Darüber hinaus verschränkten neue Felsenwände die Welt.
Vor der Sägemühle stand unter einer großen, phantastisch verästelten dunklen Eibe eine Bank. Magda Ruhland liebte den Platz, sie konnte dort lange dem Rauschen des Wassers zuhören, das der Sägemüller in einem Holzkanal aufgefangen hatte, der auf Trägern von Baumstämmen sich geradeaus von der Bergwand bis zum großen Treibrad vorstreckte. Jetzt war das Rad festgestellt und die Wasser rannen teils frei zur Seite ab, teils rieselten sie in Schleiern und Tropfen über das schwarze Rad und seine Speichen.
René hatte die weibliche Gestalt da unten gesehen – im grauen Lodenkleid, das war Magda. Er that einen Juchzer und schwenkte den Hut. Die Menschenstimme verhallte aber in dem Lärm des Wassers. Er lief bergab und stand nach zwei Minuten vor Magda Ruhland. Und als sie sich sahen, wechselten sie beide die Farbe. Er konnte so leicht erröten, wenn er jemand wiedersah, mit dem seine Gedanken sich zweifelnd beschäftigt hatten. Nach Magdas beiden Händen fassend, küßte er sie beide und wiederholt und sah ihr tief in die Augen.
Sie zitterte am ganzen Körper. Wie ein Zaudern ging es durch ihre Seele, dann neigte sie die Stirn und lehnte sie gegen seine Schulter. Es war so viel hilflose Ergebenheit in dieser Gebärde, daß es ihn tief ergriff.
„Magda, meine Magda,“ sagte er innig und schloß sie in seine Arme. Sie ließ sich küssen.
Dann führte er sie weiter, ihren Arm in den seinen legend. Die rauschende Begleitung des Wildbschs war ihm unbequem beim Sprechen. Erst als das tobende Geräusch sich hinter ihnen zu melodischem Gemurmel abdämpfte, fragte er zärtlich: „Mit was für Augen hat mein Lieb denn heute morgen die Welt angesehen?“
Sie erhob den Blick zu ihm und schwieg.
„Mit so unergründlichen und ernsten?“ fragte er weiter. „Und ich dachte, das lachende Glück sollte herausstrahlen.“
„Muß das Glück immer lachen?“ fragte sie leise. „Mir ist es mit tausend Bangigkeiten gekommen.“
„O weh,“ rief er scherzend, „Zaghaftigkeit kann ich nicht leiden. Ich glaube an meinen Stern – ich habe so ein Vorgefühl, daß mir im Leben alles gut ausgeht: in meinem Liebes- wie in meinem Berufsleben. Das mußt Du teilen. Froher Glaube, tüchtige Arbeit, das ist der Sieg! Das macht uns zu Herren des Schicksals.“
Magda Ruhland antwortete nicht gleich. Sie hatte immer das Bedürfnis, vorher schweigend zu überdenken, was sie sagen wollte.
Ihr Gesicht, oval und von regelmäßigen Zügen, trug die Spuren einer schlaflosen Nacht. Ihre blauen Augen waren umschattet, der Mund mit den weichen, schön gezeichneten Lippen fast schmerzlich verzogen. Die Gestalt, schlank und ebenmäßig gebaut, schien von Müdigkeit gedrückt. Weil sie ein wenig Kopfschmerzen hatte, trug sie den Hut in der freien Hand und ließ sich den Bergtannenduft um die Stirn wehen. Ihr kastanienfarbenes Haar war, nach der Mode der Zeit, griechisch und sehr kleidsam geordnet, auch der blütenweiße Stehkragen und der zierliche Schnitt des überaus [675] einfachen Kleides bewiesen, daß sie bei aller Bescheidenheit Wert auf eine gefällige Erscheinung lege.
„Wir haben doch auch mit den uns umgebenden Verhältnissen zu rechnen, die wir weder durch fröhlichen Glauben noch durch tüchtige Arbeit ändern können,“ sagte Magda endlich langsam.
„Aendern können wir sie nicht, aber heiter tragen,“ sprach er. „Herzchen, Du denkst an Deinen kranken Vater und willst mir von ihm sprechen. Nur heraus mit allen schwarzen Gedanken, damit ich sie davonjage.“
„Frau von Eschen hat Dir angedeutet …“ begann Magda.
„So einigermaßen.“
Welche Erleichterung! Magda hatte in schweren Stunden über eine richtige Einleitung nachgegrübelt.
„Papa ist sehr elend,“ sprach sie schnell, als wollte sie das Schreckliche nur erst hinter sich haben. „Wenn er gesund wäre, würde er gütig, liebevoll, bedeutend sein, wie er – ja wie er früher gewesen ist. Und Du dürftest einen gerechten Stolz empfinden, Dich seinen Schwiegersohn nennen zu können. Aber jetzt ist er nur ein Schatten seines Selbst. Er hat kein Gedächtnis mehr für die Ehren und Freuden, die das Leben ihm einst gebracht. Er haßt die Menschen, er kann niemandes Anblick vertragen außer dem meinen und etwa ein paar Menschen, an die er gewöhnt ist, wie Hortense, unseren Freund Nicolai, das Dienstmädchen und den Doktor. Wenn ich ihm sagte, daß ich mich verheiraten wolle – so auf einmal, mit jemand, den er nie sah – das gäbe fürchterliche Erregungen. René, ich hätte gestern Deine süßen Worte nicht anhören dürfen, Dir nicht sagen dürfen, daß ich Dich liebe, denn ich kann Dein Weib nicht werden – noch nicht. Du mußt auf mich warten, lange vielleicht, sehr lange.“
Sie brach in Thränen aus. Sie stand und weinte in ihr Taschentuch. Der eigene Schmerz, die Gewißheit, das holde, schöne Glück, das ihr so nahe schien, noch für unsichere Zeitfernen von sich zurückweisen zu müssen, mischte sich mit der Angst, wie er diese Offenbarung aufnehmen werde. Er würde an ihrer Liebe zweifeln und den Zwang der Kindespflicht nicht ganz verstehen. Er würde voll Leidenschaft das Geschick verwünschen, das ihn zum Warten verdammte. Sie zitterte vor seinem ersten Wort. Wenn es eins des Zornes wäre! Wenn sie ihn verloren geben müßte, den kaum Gewonnenen und namenlos Geliebten!
Er schloß sie in seine Arme und zog ihr das Taschentuch vom Gesicht.
„Nun siehst Du, da können wir gleich den fröhlichen Glauben brauchen, für die Zukunft, an die Zukunft. Vielleicht ist es besser so, auch für mich. Denn ich bin ein schlechter Haushalter gewesen, ich muß es gestehen, es kann sogar sein, daß ich Schulden habe. Und meinem Frauchen will ich doch das Leben leicht und glänzend gestalten. Und das bißchen Namen, das ich habe, ist mir auch noch zu gering. Es sprießt erst eben in Keimen, das Lorbeergrün – und es soll eine ganze, volle Krone sein davon, die setz’ ich Dir dann auf. Ich habe ’was vor – ’was Großes! Mir ist, als müßte ich’s erreichen – ein Musikdrama. Das erzähle ich Dir ein andermal. Nun lache nur, habe mich lieb. Alles andere findet sich. Dein Vater gewöhnt sich an mich. Ich spare und schaffe. Und endlich wirst Du mein, ich Dein.“
Er brachte das alles sich überstürzend hervor und bedeckte Magdas Gesicht mit leidenschaftlichen Küssen.
Sie blieb wie betäubt. Das Erstaunen über seine unerwartete Haltung mischte sich seltsam mit der Glücksempfindung, die seine Leidenschaft ihr gab. Und auch als er sich ein wenig beruhigt hatte, hinderte die ihr eigene Bedenklichkeit sie, ihre Furcht und nachherige Ueberraschung auszusprechen. Sie ahnte nicht, daß ihre Bedenklichkeit ihm gegenüber größte Klugheit war und daß er nichts mehr haßte, als Aufschlüsse über sein Wesen geben zu sollen.
Sie streiften weiter durch den Wald. René war von einem unbändigen Freudegefühl erfaßt; seine Heiterkeit ging wie Sonnenglanz auch auf Magda über. Sie sprachen hundert thörichte und einige verständige Sachen.
Daß man sich in Leopoldsburg nur mit einiger Vorsicht sehen wolle, in Magdas Atelier und in Hortenses Haus, damit die gute Residenz sich nicht vorzeitig über die Verlobung aufrege und diese dann als noch nicht dagewesene Ueberraschung wirke; daß Magda jedesmal in die Oper gehen solle, wenn René dirigiere – sie war so selten dagewesen bis jetzt und zumeist wenn Herr Viebig, der zweite Kapellmeister, am Pult stand, denn Hortense schenkte ihren Logenplatz nie weg, wenn René zu thun hatte. Aber nun wollte Magda leichtsinnig werden und sich manchmal eine Theaterkarte kaufen. Hierüber entstand ein Streit, denn René beanspruchte es als sein Recht, ihr die Karten zu schicken, was Magda nie anzunehmen sich verschwor. Sie versöhnten sich schnell und mit den heißesten Küssen. Dann fragte René mit einer Strenge, die Magda beseligte, nach Nicolai, von dem sie als „ihrem Freund“ gesprochen. Ob es der Maler, der verrückte Nicolai sei.
Ja, er war es und die Freundschaft war durch die Ateliernachbarschaft entstanden.
René zog die Geliebte näher an sich, sie saßen grade auf einem gestürzten Baumstamm nebeneinander am Wege und René hatte mit seinen nervösen, schlanken Fingern ein Farrnblatt zerpflückt. Er warf die Reste von sich und rief: „Das freut mich nun, daß Du mit dem armen Nicolai gut bist. Ich kenne ihn genau, und ich bin einer von denen, die ihm keine Furcht machen. Sonst ist seine feine Seele immer zitternd – überall fühlt sie sich roh angegriffen. Er ist ein besonderer Mensch und er wird nicht verstanden, was schließlich das Alltagslos der Besonderheit ist. Wie er die Welt sieht und wie er sie malt, das wird von vielen komisch gefunden. Mich erschreckt es und dauert es. Nicolai ist nicht robust genug, um das Leben auszuhalten, er wird wund, wenn es sich an ihn herandrängt. Armer Kerl! Die Menschen untereinander, das ist im Grunde etwas Fürchterliches, Herzensliebste! Du hast mit Deinen Frageaugen noch so wenig in das Getriebe geblickt. Ich sage Dir, eine Persönlichkeit haben, heißt tausend Verleumder, Neider und böswillige oder dumme Mißversteher haben. Und keine Persönlichkeit haben, heißt wiederum: nicht leben. Zartheit und Güte allein findet man in dem Herzen, das uns liebt.“
Magda sah ihn glücklich an. Ihr schien es, als habe er gute und kluge Worte gesprochen.
„Und Dir thut die Welt nicht weh?“ fragte sie.
„Zuweilen – ganz kurz. Ich habe kein Talent zum Leiden. Ich schlage wieder, wo es nötig ist, um mir Bahn zu schaffen. Sonst laß ich die Angreifer und den Tagesärger neben mir herlaufen wie ein kläffendes Hündchen, das mich nicht beißt.“
Magda wünschte ihm zu sagen, daß sie ihm eines Tages allen Aerger aus dem Wege zu schaffen hoffe, daß sie ihn ganz verstehen, ganz in ihm aufgehen werde. Aber ehe sie dazu kam, sprang er auf, sah nach der Uhr, und mahnte: „Wir müssen heim.“
Er ging neben ihr, den Hut ein bißchen im Genick, daß die dunklen Haare vorn unter dem Rande hervorquollen, und hakte sie ein.
So schlenderten sie in übermütiger Stimmung dahin, sich loslassend, wenn der schlechte Weg es forderte, sich eiligst wieder erfassend, wenn sie zu Zweit schreiten konnten.
Vor dem „Seehof“ ging Hortense von Eschen schon auf und ab, das freie Haupt mit dem aschblonden Haar durch einen Sonnenschirm schützend, dessen Stiel über ihrer Schulter lag und dessen Rand sie an der einen Seite erfaßt hatte.
„Nun, Kinder,“ sagte sie, „zu fragen brauche ich nichts.“
Magda fiel ihr um den Hals. Ueber den braunen Kopf hinweg sah Hortense in Renés Augen, ernst und bittend. Er nickte ihr ein Versprechen zu. Sicher, Magda sollte den Tag nicht bereuen, er hoffte es von Herzen.
Nun setzten die Beiden ihr auseinander, wie sie die Beschützerin der möglicherweise langen heimlichen Verlobung sein solle.
„Da mutet Ihr mir etwas Schreckliches zu,“ sagte sie voll Unbehagen. „Das wird eine Intimität zwischen uns Dreien geben, die das Ende der Freundschaft heraufbeschwört.“
Das wollte weder René noch Magda für möglich halten.
„Ganz gewiß,“ versicherte Hortense mit ihrer drolligen Ernsthaftigkeit, „ich darf nicht intim werden. Sie sind sozusagen mein Schützling, René – ein dummes Wort, denn ein Mann, der ’was kann, fördert sich immer selbst und die Anteilnahme ist nur Ernte, die sein Können hält. Ja, was wollte ich sagen: also ich habe Sie sozusagen auch lieb, obgleich Sie ein Schlingel sind und es nicht immer verdienen. Und Magda ist mir so ein Vermächtnis von ihrer Mama und ich hab’ Dich auch lieb, Kind – aber intim waren wir schließlich nicht. Seht, so wie ich jemand nahe bin, mit gegenseitigen Rechten, fängt bei mir die Leidenschaft zu regieren an. Ich bin zu herrschsüchtig, es muß nach meinem Kopf und nach meinen Erfahrungen gehen. Und dann ist bald der Krach da.“
„Wir wollen gehorchen,“ bat Magda.
[676] „Im Gegenteil, wir wollen trachten, Ihnen die Herrschsucht abzugewöhnen,“ sagte René.
Sie drohte ihm mit dem Finger.
Daß man an einem solchen Tage nicht mit den anderen Gästen des Hauses zusammen essen konnte, verstand sich von selbst. Hortense ließ einen kleinen Tisch in der fernsten Saalecke herrichten und da nur Champagner unbekannter Marke auf der Weinkarte stand, bestellte sie Asti spumante. Der kräuterige, schäumende italische Wein schmeckte Magda köstlich. Die Jugendfreude, die zu Haus immer gewaltsam niedergehaltene, leuchtete ihr aus den Augen und ihr Lachen erscholl zuweilen klingend durch den Saal. René war ganz verliebt in ihr schönes Lachen und in ihre sanfte schwingende Stimme.
Hortense stieß mit ihnen an.
„Einen Rat, Kind, nimm gleich,“ sagte sie, „so eine heimliche Verlobung bringt Situationen mit sich, in denen René sich Dir wenig widmen kann. Frag’ ihn nie, quäl’ ihn nie, ‚liebst Du mich, liebst Du mich noch‘.“
„Sie sind ein Engel,“ rief René, „einen besseren Ratgeber kann ich meiner Braut nicht wünschen.“
„Mir scheint, Du nimmst im ganzen den Mann gegen die Frau in Schutz,“ sprach Magda, „das finde ich unrecht.“
Hortense sah fest in Renés vor Uebermut lodernde Augen.
„Ich finde,“ sagte sie, „daß die Frauen im ganzen unleidlich wenig Verstand in ihrem Verkehr mit dem geliebten Mann an den Tag legen. Wenn aber ein Mann eine feinfühlige Frau gewonnen hat, eine, die nicht zu viel fragt und nicht zu viel klagt, eine, die blind vertraut, nicht aus Dummheit, sondern weil sie an die Noblesse des Mannes glaubt, dann soll er solchen Schatz mit heiligem Ernst hüten und jeden Tag neu verdienen.“
„So, nun habe auch ich meinen Rat weg,“ rief René lachend.
„Weißt Du noch,“ sagte Magda, „wie Du ärgerlich warst, hier Bekannte zu treffen? Wir sahen es Deinem Gesicht gleich an, als Du ankamst und gedacht hattest, in dem kaum entdeckten Graubündener Bergneste fändest Du niemand und könntest einmal so recht aufatmen. Hortense allein, das wäre noch gegangen, aber das fremde, stille Mädel, das mit ihr war! Du machtest ein schönes Gesicht an mich hin. Und nun ist alles so geworden!“
„Ja, das Schicksal hat mich ereilt,“ seufzte er unartig.
Magda lachte. Sie wurden sehr lustig und es schien beinahe, als ob Magda einen ganz, ganz kleinen Schwips bekäme.
Es fiel ihnen gar nicht ein, daß etwa die Menschen an der Haupttafel sie beobachten könnten. Hortense fühlte sich immer so ganz hinaus über das Interesse an den X’ens und Y’ns, daß es ihr nie in den Sinn kam, die X’ens und Y’ns könnten sich für sie interessieren. Und wenn auch – es war ihr ganz egal. Ebenso hatte René durch Anlage und Gewöhnung die Fähigkeit, die Nähe beobachtender Menschen nicht zu fühlen. Und Magda sah nichts, dachte nichts als ihr junges, märchenhaftes Glück.
Am Abend dieses Tages stand Magda auf dem Balkon, der wie eine kleine Holzkrippe vor ihrem Zimmer an der Hauswand klebte.
Alles war zur Ruhe gegangen. Im Hochthal zwischen den Tannen herrschte Nacht, die schwarze, harte Dunkelheit, in welche undurchsichtige Körper versinken. Der Himmel darüber aber war, trotz seiner nächtigen Tiefe, gleichsam von innen heraus durchleuchtet. Seine Dunkelheit war klar, als könne der Blick sich ziellos in sie hinein verlieren. Die weißglänzenden Sterne, die ihn durchwirkten, standen in ruhigem Licht. Leises Gewölk lag um die Felsenhäupter und verbarg ihre scharfen Zackenlinien.
Magda träumte in die Nacht hinaus. Ihre Nerven waren noch zu erregt, um schon zur Ruhe kommen zu können. Der glücklichste Tag ihres Lebens lag hinter ihr.
Und ihre Gedanken bauten nun ein ganzes Zukunftsgebäude auf. Sie hatte in ihrem jungen Leben schon zuviel Ernstes erfahren, um zu glauben, daß fortan alle Tage ihr so wonnig lachen würden wie der heutige. Dies war auch schon ausgeschlossen durch die zunächst unverändert bleibenden Verhältnisse.
Aber ein Bild, das auf Goldgrund gemalt ist, macht doch einen andern Eindruck als eines, das vor grauem Hintergrund steht.
Das Bewußtsein, zu lieben, geliebt zu sein, hoffen zu dürfen, mußte alle Pflichten und Geschäfte des Lebens zu einer Spielerei machen. Mit wie neuer Freudigkeit wollte sie sich der Pflege des Vaters widmen, mit wie heißerem Eifer ihrer Kunst nachgehen. Bis jetzt war ihr das Talent, welches sie besaß, nur die Quelle einer für das Behagen ihres Vaters notwendigen Nebeneinnahme gewesen, denn die Pflege des leidenden Mannes, der einen Diener und trefflichste Ernährung brauchte, kostete viel Geld. Aber nun wollte sie noch einmal so viel zu verdienen suchen, um für die Aussteuer zurückzulegen und sich ein bißchen reicher zu kleiden, denn René liebte an Frauen schöne Gewänder. Auch regte sich ein bescheiden ehrgeiziger Gedanke in ihr. In der Dunkelheit der Nacht errötete sie darüber: René sollte sehen, daß sie auch etwas könne. Es war in seiner Gegenwart nur so ganz flüchtig die Rede davon gewesen, daß sie male, Stunden gab und auch schon manches Bild verkauft hatte. Es schien, er hatte kaum darauf gehört. Um so mehr würde er sich freuen, ihr Können achten zu dürfen. Wie glücklich, wie harmonisch sollte die Zukunft werden!
Seine Erfolge, um die sie sich bisher kaum gekümmert, machten ihr Herz vor Stolz erbeben. Sie konnte gar nicht fassen, daß sie jahrelang so gleichgültig über den Namen René Flemming hingehört hatte, der ihr jetzt der schönste, stolzeste, wichtigste von der Welt erschien. Und später würde sie heimlich teil haben an seinen Erfolgen. Er würde sie in seine Arbeiten einweihen, sie würde durch die Götterkraft der Liebe zum Verständnis derselben emporwachsen und im Geiste eins mit ihm sein.
Sie erinnerte sich, von klatschenden Damen zuweilen den Namen Renés mit einem Ausdruck nennen gehört zu haben, als müsse man sich vor ihm bekreuzigen. Er mochte manchen tollen Jugendstreich verübt haben, er gab es selbst zu. So hatte das Schicksal sie ausersehen, sein guter, vielleicht sein rettender Engel zu sein.
Dieser holde und thörichte Mädchengedanke erschütterte sie so sehr, daß Thränen in ihre Augen traten und ihre Seele gleicherweise von Dankbarkeit wie von heiligen Gelöbnissen erfüllt ward.
Wenn es ihr doch nur gegeben wäre, so recht beredt ihm alles zu sagen, was sie empfand! Aber ihre Zunge war nie schnell gewesen, und es schien immer, als schüchtere sie etwas in Renés Wesen ein, als warne sie etwas in seinem Blick, wenn er auf sie gerichtet war, viel von ihren und seinen Gefühlen zu sprechen.
Aber der Wunsch, sich ihm ganz mitteilen zu können, ihr ganzes Innere in das seine überströmen zu können, keine, gar keine Schranke mehr zwischen sich und ihm zu empfinden, wuchs in ihr.
Zu ihrer eigenen Ueberraschung blieb die letzte, die Schlußempfindung dieses Tags, der ihr das Glück gegeben, nicht eine gesättigte Dankbarkeit, sondern ein heißes Sehnen. Die Sehnsucht, sein Wesen, seine Seele, sein Inneres zu erfassen, es halten und zerlegen zu können, wie man ein Kleinod mit tastenden Fingern ergreift.
[689]
Wenn man den Plan der Residenzstadt Leopoldsburg besah, wie er in den Buchhändlerläden aushing, glich er einer grauen Fläche, die von schmalen, weißen Zickzacklinien beinahe verworren durchschossen war. Sie bezeichneten das Durcheinander der Gassen und Gäßchen. Dazwischen lief eine blaue, sanft geschwungene Linie. Das war der Fluß, der die altertümliche Stadt in ungleiche Hälften schnitt. Ein Vorfahr des Herzogs hatte über das bescheidene, flache, in kleinen Wirbeln schnell dahin quirlende Wasser eine sehr anspruchsvolle Brücke bauen lassen. Ihr schwerfälliger Bogen war mit Griechengöttern geschmückt, die ihre runden Muskulaturen recht unverhüllt zeigten. Man sagte, die Herzogin ärgere sich heimlich über diese „Puppen“, wie sie im Volksmund genannt wurden. Allein der Geschmack des Vorfahren mußte respektiert werden und die Herzogin begnügte sich zu sagen, daß die Bildhauer der Rokokozeit „eigenartige“ Künstler gewesen seien. Am nördlichen Ufer des Flüßchens, geradeswegs von der Brücke aus, lag das herzogliche Schloß, ein etwas nüchterner Bau, den des Herzogs Vater ausgeführt. Die prächtigen Anlagen vor dem Schloß, wo ehedem in geradlinigen Reihen Linden gestanden, war eine Schöpfung des Herzogs selbst. Draußen um die Stadt herum zog sich die Ringstraße, eine moderne, boulevardartige Anlage, wo ein Luxuswohnbau neben dem andern inmitten kleiner Gärten lag. An dieser Ringstraße lag auch das Opernhaus, für welches in der Stadt selbst kein Raum gewesen; das frühere, alte Hoftheater war in ein Verwaltungsgebäude verwandelt worden, seine nüchterne Front hatte es ohnedies kaum von den Häusern rechts und links unterschieden. An der Ringstraße wohnte beinahe auch die ganze „Gesellschaft“ von Leopoldsburg, soweit dieselbe nicht Beamtenwohnungen innehatte.
Hinter den Gärten der Ringstraße aber begannen schon die waldigen Vorhügel des nahen Bergzuges, so daß die Residenz von einem hohen, grünen Kranz wie umrahmt war.
Hortense von Eschen besaß ein Palais am Schloßplatz. Es war kein Eschensches Erbe, sie hatte als kinderlose Witwe des ältesten Eschen alle Rechte auf den jüngeren Bruder ihres früheren Gatten übergehen lassen müssen. Der Besitz kam ihr von ihrem Vater und nach ihm behielt es den Namen „das Trachsche Haus“. Das Erdgeschoß hatte sie an den Oberst [690] von Waldheim, den Kommandeur des in Leopoldsburg garnisonierenden Regiments, vermietet, und somit befand sich ein Wachtposten und ein Schilderhaus neben ihrem Hausthor, was ihr sehr wohlgefiel.
Im ersten Stockwerk hatte sie in den großen Sälen und Gemächern alles aufgestapelt, was ihr aus der gräflich Trachschen und der Familie Eschen an Möbeln, Bildern und Silber zugekommen war und was ihr eigenes, nicht geringes Luxusbedürfnis im Lauf der Zeit hinzugetragen. Dies alles, sowie der Besitz des Hauses selbst machte sie sehr ungeduldig. Aber sich von der Last zu befreien, den Ueberfluß zu verkaufen und ein internationales Reiseleben anzufangen, wie sie es ersehnte, dazu war sie wieder nicht energisch genug.
„Es giebt ja Körper von indifferentem Gleichgewicht – ich bin so einer. Wo das Schicksal mich nun ’mal hingelegt hat, bleibe ich liegen,“ sagte sie.
Und so behielten die Leopoldsburger in ihr eine Mitbürgerin, die Geld unter die Leute und Leben unter die Menschen brachte.
Wenn die Saison begann, was in Leopoldsburg mit dem Beginn der Oper nach den Ferien der Fall war, konnte man sicher sein, die Fenster des Trachschen Hauses alsbald vom Lichterglanz der ersten Festlichkeit erhellt zu sehen. Diesmal besann Hortense sich ein wenig.
Die heimliche Verlobung Renés mit Magda Ruhland war ihr eine Art Unbequemlichkeit, in die sie sich hinein verwickelt fühlte. Ihr war es, als trüge sie da eine Verantwortung mit und müßte das Ihrige dazu thun, daß alles sich zum Besten wende. In ihrer regen Phantasie hatte sie schon einen Plan ausgearbeitet: sie wollte Renés Schulden bezahlen – sicher hatte er einige – und Magda eine Aussteuer schenken; die alte Excellenz konnte in eine Anstalt gethan werden, wozu die Pension gerade reichte. Aber sie fürchtete, René würde das nicht annehmen und Magda sich dem letzteren widersetzen. Gern hätte Hortense das arme Kind wenigstens von den äußerlichen Schwierigkeiten befreit. Denn sie sah die Verbindung mit René für Magda als ein sehr unruhvolles Glück an; in der Form der Verlobung vielleicht noch mehr als in der Form der Ehe.
Als Hortense nun die erste Einladungsliste entwarf, fiel ihr ein, daß sie wohl fortan Magda immer mit René zusammen einladen müsse und daß Magda sich dann unfehlbar verraten würde. Sie beschloß, Magda aufzusuchen und ihr zu sagen, daß es wohl gescheiter sei, René und Magda würden, bis eine Veröffentlichung der Verlobung erfolgen könne, ab und zu allein zum Mittagessen kommen.
Während der Heinnreise hatten die beiden Frauen kaum daran gedacht, die kleinen äußerlichen Fragen zu erörtern. René war am Tag nach dem großen Ereignis abgereist, er hatte schon beim Beginn seiner Ferien für den Schluß derselben mit einem Freund eine Reise nach Frankreich verabredet gehabt.
Daß er sie nicht aufgab, daß er das neue jubelnde Glück nicht ausleben wollte, war der erste Schmerz gewesen, den Magda durch ihn erfuhr.
Er hatte ihr gesagt, daß er allein sein müsse, seines Werkes wegen, mit dem er sich trug, daß jenes Freundes Nähe ihm nur alle Reiseunbequemlichkeiten aus dem Wege schaffe, ihn geistig aber einsam lasse, daß hingegen ihre Nähe ihn ganz beschäftige und von seiner Schöpfung abziehe.
Sie erinnerte sich plötzlich deutlich der einsamen Stunden ihrer Mutter. Der Vater hatte im Ministerium zu thun, hieß es dann. So war dies immer und in jedem Beruf dasselbe? Die Frau hat schweigend zurückzutreten?
Ihr Herz faßte aber Hoffnung, daß ihre Nähe René fördern und nicht mehr stören werde, wenn sie sich erst ganz ineinander hineingelebt haben würden.
Und seine Briefe durften ihr den Abglanz seiner Gegenwart bringen!
Er schrieb nur zweimal einige kurze Zeilen, inhaltsvoll zwar durch die ernste, gehaltene Zärtlichkeit, die Magda tiefer beglückte als große und viele Worte. Aber sie hätte aus den Briefen von seinen Gedanken, seiner Arbeit, seinen Reiseeindrücken gern erfahren mögen. Und davon stand nichts darin. Es war, als gehöre Magda nicht in sein Leben, als sei sie etwas außerhalb desselben.
An dem Tage nun, als Hortense sich auf den Weg machte, befand sich Magda in einer namenlosen Aufregung.
Es war der fünfzehnte September. René mußte gestern von seinem Nachurlaub heimgekommen sein, oder gar vorgestern, denn er sollte heute den „Lohengrin“ dirigieren und er mußte doch Proben abhalten. Die ersten vierzehn Tage hatte die Residenz sich mit Schauspielvorstellungen und italienischen Opern unter Herrn Viebigs Leitung begnügt. Für den heutigen Abend war das Theater ausverkauft. Magda hatte sich tagelang vorher einen Platz bestellt und bis zum endlichen Erwerb der Karte eine Aufregung empfunden, als hinge eine Lebensentscheidung daran. Er war da und er war noch nicht zu ihr gekommen!
Sie fiel ihren Schülerinnen durch ihre Hast und Unrast auf und die vier jungen Damen, die je zu zwei an einem Tische saßen, hatten schon gefragt, ob sie krank sei.
Das Atelier befand sich drei Treppen hoch, in einem Prachthause der Ringstraße, das sich eines schönen Treppenhauses mit Oberlicht erfreute. Der Raum lag nach Nordwesten und war eigentlich ein Hinterzimmer der halben Etage, die Ruhlands bewohnten. Es hatte aber einen besonderen Eingang vom Flur. Nebenan, auf der Zwillingsthür stand der Name „Nicolai“, wie auf der ihren „Magda Ruhland“.
Die Ruhlandsche Etagenhälfte bestand aus zwei Vorderzimmern, deren eines die alte Excellenz als Schlafgemach hatte, während das andere der Salon war, an den ein halbdunkles Eßzimmer stieß. In dem einen kleinen Hinterzimmer neben der Küche schlief Magda, das große mit der Thür zum Treppenhaus war eben ihr Atelier. Es hatte zwei große, gardinenlose Fenster. An jedem stand ein länglicher Holztisch, daran zwei Damen nebeneinander saßen, damit sie beide Licht von links bekamen. Zu ihrem Kummer hatten die Schülerinnen von ihren Kolleginnen nur die Rückenansicht, was die Unterhaltung sehr erschwerte. Denn sie verhandelten hier allen Klatsch und alle Ereignnisse ihrer Kreise mit jugendlicher Wichtigkeit. Manchmal gebot Magda Ruhe; aber nur wenn sie zuletzt klagte, es mache ihr Kopfweh, schwiegen die jungen Damen.
Sie waren alle nur hier, um sich Mittwochs und Sonnabends den Vormittag zu vertreiben, und malten für ihre Familienangehörigen Tassen, Fächer, Kästen und Vasen, wobei Magdas nachhelfender Pinsel das Beste that. Die älteste Schülerin zählte dabei nur zwei Jahre weniger als die vierundzwanzigjährige Magda und das ganze Verhältnis ward mehr als ein freundschaftliches angesehen. Magda erhielt auch oft Einladungen in die Familien dieser jungen Damen, aber sie hatte allmählich aufgehört, sie anzunehmen, denn ihrem Feingefühl war es nicht entgangen, daß man Ton und Aufmerksamkeit ein wenig gegen sie herabgestimmt hatte, seit ihr Vater nicht mehr amtierender Minister war.
So unmerklich freilich herabgestimmt, daß eine Natur mit gröberen Organen es gar nicht gespürt haben würde. Magda aber .hatte einen „sechsten Sinn“ für dergleichen.
Im Atelier, nach der Thür zu, hatte Magda einen bescheidenen Versuch gemacht, malerische Behaglichkeit herzustellen. Eine breite Ottomane befand sich in der einen Ecke, ein schöner Ueberwurf war darüber gelegt, aus weißen, blauen und orangefarbenen bunt durchwirkten Streifen zusammengestellt. Und darüber, an der Wand, hingen zwischen Skizzen von Magda und einem Gemälde von Nicolai allerlei orientalische Raritäten. Hortense hatte ein maurisches Tischchen, zwei schöne Stühle und einen Teppich gestiftet, so war die Ecke ganz wohnlich und obendrein durch eine japanische Wand von dem andern Raum abgeteilt.
Ein durchdringender Geruch von Terpentin und Nelkenöl schwebte in dem Raume.
„Ach bitte, Fräulein Ruhland, sehen Sie ’mal, wie scheußlich.“ – „Du, Magda, vorzeichnen mußt Du mir den kleinen Buben, Figuren kann ich und kann ich nicht.“ – „Fräulein Magda, soll ich hier Kasseler Braun nehmen?“ – „Guck ’mal, Magda, mein Edelweiß sieht grad’ aus wie ’n Johanniterstern.“
Nicht so geduldig wie sonst ging sie hin und her und beugte sich über die jungen Schultern.
Er war da! Seit gestern oder vorgestern, und er war nicht zu ihr gekommen!
Während sie das sperrige Edelweiß, das die kleine Sibylle Lenzow auf einen Stein malte, in der Form verbesserte, guckte Sibylle gar nicht zu, sondern sagte, das schwarze Titusköpfchen halb wendend:
„Hans, bist Du auch auf dem Ball bei der Gräfin Wallwitz?“
[691] Johanne von dem Busch erhob keineswegs den Kopf von ihrem Blumenstück, sondern sagte:
„Selbstredend. Was ziehst Du an?“
„Wir sind auch da,“ sagte die dritte junge Dame, die Weinblätter abmalte, welche mit langen Ranken aus einer Vase vor ihr niederhingen. Sie war eine Schwester der vierten Schülerin.
„Die alte Wallwitz giebt ihn wegen der Lilly.“
„Wißt Ihr schon, daß sie den ganzen Winter dableiben soll bei ihrer Großmama?“
„Scharfe Konkurrenz für uns.“
„Sie ist entzückend!“
„Ich finde, sie ist gräßlich.“
„Sieht sie dem Bruder ähnlich?“
„Sehr.“
„Gott! Sibylle! Keine Spur.“
„Sibylle schwärmt für den Lieutenant von Wallwitz.“
„Das ist nicht wahr.“
„Hat der Lieutenant von Wallwitz eine Schwester?“ fragte Magda. Sie kannte ihn flüchtig, von Gesellschaften her, aber sie hatte René und Hortense sehr warm von ihm sprechen hören.
„Ja,“ sagte Sibylle Lenzow, die es als ihre Angelegenheit anzusehen schien, hier Auskunft zu geben. „Weil doch die Wallwitzens auf dem Lande wohnen, soll Lilly hier den Winter mitmachen. Sie kommt frisch aus einer Genfer Pension, wo es einfach himmlisch gewesen sein soll. Lilly hat denn auch ’was riesig Forsches.“
„So,“ meinte Magda, den Pinsel niederlegend. „Zum Kelch kannst Du ein bißchen Neapelgelb nehmen. Aber so wenig, daß Du denkst, es sei zu wenig.“
Eine Minute herrschte Schweigen.
Magda zerbrach sich den Kopf, was sie machen und sagen sollte, wenn René jetzt käme. Die Vorstellung dieser Möglichkeit machte ihre Finger erzittern.
„Gehst Du heut’ in ‚Lohengrin‘, Hans?“ fragte Sibylle Lenzow, sich zurücklegend, denn die Freundin saß am Tisch hinter ihr.
„Denk’ Dir, wie scheußlich, es ist nicht unser Abend,“ antwortete Johanne von dem Busch.
„Pech. Wir gehen.“
Nun redeten die jungen Stimmen wieder durcheinander. Bärwald, der Heldentenor, ward als göttlich gepriesen, als greulich gescholten. Den ganzen Theaterzettel stritten sie durch und endlich und natürlich fiel der Name, der eine! Die Mädchen „schwärmten“ für René. Er solle mit der Kaspari verlobt sein, der Ortrud von heute abend. Die Schwestern wußten es gewiß und Sibylle wußte ganz gewiß, daß es nicht wahr sei. Dann würde sie ein Wort davon bei Wallwitzens gehört haben, denn er sei doch Renés Freund. Dies „er“ trug ihr Neckerei ein und lenkte das gefährliche Gespräch in andere Bahnen.
Das gefährliche Gespräch? War es nicht ein ganz harmloses? Hatten die lustigen und nur mit Vergnügungen beschäftigten Mädchen nicht schon hundertmal so und ähnlich gesprochen? War denn nun alles verändert? Rings nur noch Unfreiheit? War die Heimlichkeit nicht süß, sondern bitter? Magda preßte die Hände zusammen und drückte sie an die Stirn.
Es klopfte. Magda wurde leichenblaß. „Herein!“ riefen die vier jungen Stimmen eigenmächtig, denn hier kam niemand Fremdes und jede Abwechslung war willkommen.
Es war Hortense von Eschen. Sie sah sich sofort von den vier jungen Damen in Malschürzen umringt und wehrte nur ab. Magda stand beiseite und sammelte sich. Sie fühlte sich erleichtert und enttäuscht zugleich.
„Ich denke, es ist schon ein Uhr vorbei,“ sagte Hortense.
„Was, schon Eins?“ riefen die Mädchen.
Die Malschürzen flogen nur so auf den nächstbesten Stuhl. Es galt, keine Minute zu versäumen. Um Eins konnte man in der Ringstraße allerlei interessanten Leuten begegnen, die ihrerseits auch wußten, daß vier gewisse junge Damen dann aus der Malstunde kamen.
Der Lärm vertobte und das Lachen klang die Treppe hinunter.
Magda warf sich an die Brust der mütterlichen Freundin.
„Nun, was ist?“ fragte Hortense.
„Er ist in der Stadt, muß in der Stadt sein und ist nicht gekommen,“ stammelte Magda.
„Er wird eben sehr beschäftigt sein,“ tröstete Hortense. Sie sprach von morgen mittag, ob Magda dann nicht mit René bei ihr speisen wolle und ob das nicht besser sei, als in den großen Gesellschaften zu erscheinen. Sie hatte eigentlich nicht schon morgen das heimliche Brautpaar zu sich laden wollen, aber Magdas schwere Enttäuschung dauerte sie so. Sie wußte ja, wie das Warten auf einen lieben Menschen thut.
Magda fühlte sich sofort freudig getröstet. Es gab nur ein Bedenken: der Vater. Aber wenn Nicolai mit dem Vater essen wollte …
„Frag’ ihn gleich.“
Magda lief auf den Flur und klopfte an Nicolais Thür.
„Sind Sie da? Bitte kommen Sie heraus!“ Und Nicolai kam. Er war ein überlanger schlanker Mensch, mit einem blassen Gesicht von regelmäßigen, fast strengen Zügen, die einen unbewegten Ausdruck hatten. In diesem Gesicht stand ein Paar großer Augen, die stetig blickten, als könnten sie den einmal erfaßten Gegenstand nicht schnell wieder loslassen. Sein blondes Haar deckte nur spärlich das kleine Haupt und an den Wangen zog sich ein dünner Bart steif hin.
Er küßte Hortense die Hand. Er liebte sie, weil sie gut zu Magda war. Er hatte mit ihrer Welterfahrenheit und ihrer Illusionslosigkeit keine Berührungspunkte. Aber seit er einmal gesehen hatte, daß sie sich tief und rein über Kunsteindrücke enthusiasmieren konnte wie ein Kind, seitdem schätzte er sie auch um ihrer selbst willen.
„Was soll ich, Fräulein Magda?“ Dies war seine immer gleiche Frage, wenn sie ihn rief. Es war für ihn so selbstverständlich, ihr zu Diensten zu sein, daß es stets sein erster Gedanke war, obschon sie ihn oft rief, wenn sie ihm eine kleine Freundlichkeit erweisen wollte.
„Morgen mit Papa speisen. Ich soll bei Frau von Eschen zu Tisch sein. Wollen Sie? Papa, wissen Sie, liebt nicht, allein …“
„Aber selbstverständlich. Ich habe Ihnen noch zu danken – Ihre Kathi hat mir heut’ früh wieder den heißen Haferschleim gebracht,“ sagte Nicolai.
„Wir haben Sie gestern husten hören und Kathi ist Ihnen abends spät ohne Paletot begegnet,“ hielt Magda ihm strafend vor.
Er lächelte schmerzlich. Seine Kränklichkeit gewann ihm immer neu ihre fast schwesterliche Fürsorge. Der Gesunde hätte solche nicht empfangen.
Aber der Gesunde hätte vielleicht um eine anders geartete werben dürfen – –
Hortense sah das Bild an, welches über dem Diwan hing und das sie natürlich schon auswendig kannte.
„Es ärgert und fesselt mich immer neu, lieber Nicolai,“ sagte sie.
Das Bild, von einem weißen Rahmen umfaßt, stellte in einer blassen Frühlingslandschaft ätherische, schmalaufgeschossene und steil nebeneinanderstehende Wesen vor, die auf wundersam geformten Instrumenten musizierten. Die Farben ihrer kinderhaften Körper und durchsichtigen Gewänder hoben sich kaum von der Landschaft ab. Vorn lag ein Mann und hörte geschlossenen Auges und verzückter Miene der Musik zu. „Die Stimme des Frühlings“ hieß das Bild.
Ehe noch Nicolai antworten konnte, kam von der Küche her, durch Magdas Schlafzimmerchen, Kathi, die rauhe und wichtige Magd. „Da is ’n Brief,“ sagte sie und hielt Magda ein Schreiben hin, welches vorn am Etageneingang abgegeben war.
Magda nahm es, riß das Couvert ab, das zu Boden fiel, und überflog die wenigen Zeilen.
„Herzensliebste! Vorgestern abend bin ich angekommen, gestern hatte ich zwei Proben zu leiten. Meine Hoffnung, Dich heute sehen zu können, hat sich zerschlagen, denn auf flüchtige Minuten mag ich nicht kommen. Aber ich denke, Du wirst im Theater sein. Voneinander fern, fühlen wir dann doch unsere innerste Zusammengehörigkeit.Nicolai hatte das Couvert aufgenommen, und voll Ueberraschung, die zu jäh war und zu harmlos, als daß er sie hätte unterdrücken können, rief er:
„Das ist ja Flemmings Handschrift.“
Die charakteristischen. Züge, flüchtig hingeworfen und doch in der Eile noch ihre Besonderheit bewahrend, konnte niemand verkennen, der sie einmal gesehen.
„Ich wußte nicht, daß Sie ihn kennen,“ setzte er unsicher [694] hinzu, denn er begriff, daß er etwas Ungeschicktes gethan: man sieht die Handschrift auf den Briefen anderer Leute nicht.
Magda sah ihn an, er Magda. Ihre Blicke wurzelten ineinander. Magda wurde rot.
„Magda hat Flemming kennengelernt, wir trafen ihn auf der Reise,“ sagte Hortense mit oberflächlichem Ton.
Nicolai ließ seinen Blick nicht von Magdas Gesicht. Er atmete kurz, wie jemand, dem die Luft ausgehen will. Magda faßte sich und ergriff Nicolais Hand.
„Also, Sie werden morgen mit Papa essen,“ sprach sie herzlich. „Ich danke Ihnen.“
Er fühlte, es hieß soviel als: gehen Sie nun, ich bedarf der Einsamkeit. Ueber seine Lippen kam kein Wort mehr, er zog sich mit einer linkischen Verbeugung zurück.
Hortense sah ihm nach. „Armer Teufel,“ murmelte sie.
„René entschuldigt sich – er war zu beschäftigt,“ sagte Magda mit unsicherm Ton.
Ihr war, als müßte Hortense dem Brief von außen ansehen, daß so wenig darin stand, und Magda wollte verbergen, daß sie durch die Kürze enttäuscht war.
Die kluge Freundin fühlte genau, daß Magda ihr etwas verbarg. Und obschon sie wußte, daß die Aermste sich nun vielleicht mit einem Phantom stundenlang herumquälen werde, ließ sie ihr das Schweigen. „Das muß durchgemacht sein,“ sagte sie sich philosophisch und verließ Magda.
Diese nahm den Brief wieder vor und las ihn noch einmal. Warum führte er die Gründe nicht an, die ihn abgehalten hatten? Warum beschrieb er nicht den Inhalt all seiner Stunden seit vorgestern? Fühlte er denn nicht, daß dies allein Magda überzeugen konnte, wie es ihm wirklich unmöglich gewesen, zu kommen? Wußte er denn nicht, daß die flüchtigen Minuten, die er verschmähte, ihr immer noch eine unendliche Freude bereitet hätten, daß sie ihn lieber im Fluge als gar nicht sah? Verstand er denn so gar nicht, was einem Frauenherzen wohl und not thut? Daß man ihm mit einem herzlichen, erklärenden, zärtlichen Wort tausend stille Qualgedanken ersparen kann?
Magda fühlte sich verzweifeln. Aber es lag nicht in ihrer Art, sich dann hinzuwerfen zu weinen und zu toben. Sie stand still und starr und fragte sich, ob sie geliebt sei, so wie sie wünschte und begehrte, von ihm geliebt zu sein, und ob es nicht besser wäre, diese Qual durch einen scharfen Schnitt zu enden.
Davor erschrak sie aber so, daß es ihr schien, ihr jetziges Elend sei ein besserer Zustand als der frühere Friede.
Sie ging all ihren Obliegenheiten mechanisch nach. Bei Tisch sorgte sie wie immer für den Vater. Die alte Excellenz saß, sorgfältig in Schwarz gekleidet, im Fahrstuhl. Ruhland hatte ein Gesicht, dessen feine Züge durch Arbeit und Leiden ins Messerscharfe vertieft waren. Der weiße Backenbart endete in den Mundwinkeln und ließ das Kinn frei. Die Augen unter der hohen Stirne lagen tief und hatten einen seltsamen, glänzenden Blick. Er sprach etwas schwer, wie jemand der mühsam seine Gedanken zusammenhält. Seine Krankheit war in ihren Anfangsstadien und schritt langsam vor. Magdas Freunde wünschten Ruhland einen baldigen Tod, damit der Tochter schlimme Zeiten erspart würden.
Magda teilte ihm nie mit, wenn sie einmal abends ausging. Ihre Absicht würde er begriffen haben und darüber verstimmt sein, während er in der That nur nach ihrer pflegsamen Nähe bei seinen Mahlzeiten verlangte. Und die letzte erhielt er um sechs Uhr.
Als Magda sich in ihrem Zimmer für das Theater ankleidete, wich der Druck von ihr, der seit Mittag auf ihr gelegen. Der Gedanke, René bald, wenigstens von weitem zu sehen, gab ihr schon so viel Freude, daß sie den Brief noch einmal hervorholte und ihn wieder las. Jetzt blieb ihr Auge zumeist auf der Stelle haften: „Voneinander fern, fühlen wir dann doch unsere innerste Zusammengehörigkeit“.
Unterwegs nach dem Opernhaus – sie mußte fast die halbe Ringstraße entlang wandern – dachte sie an Renés Erzählungen, mit denen er sie bei der Table d'hôte manchmal unterhalten: von den unglaublichen Schwierigkeiten der Einstudierung einer Oper, von den tausend unvorhergesehenen Hindernissen, die oft noch am letzten Tage entstehen und durch heiser gewordene Primadonnen, fingerkranke Harfenspieler, launische Tenoristen etc. hervorgerufen werden.
Der Septembertag war so schön gewesen, Magda hatte ihn in den Terpentindünsten ihrer Malstube verbracht. Nun er sank und mit einer letzten, zagenden Dämmerung noch eine friedliche Färbung über Himmel und Erde legte, atmete Magda erquickt seine Reinheit. In der freien Luft war ihr immer besser. Sie kam sich froher und gläubiger vor, frischere Lebensquellen sprangen in ihr auf.
Gleich ihr strebten ganze Scharen dem Opernhaus zu, vor dessen weißem Prachtbau elektrische Lampen Tageshelle verbreiteten. Und endlich saß sie auf ihrem Platze, ganz glücklich, ganz erlöst. Draußen im Korridor war ein Zettel angeschlagen gewesen: man kündigte an, daß nicht Herr Meyer den Heerrufer singe, sondern daß infolge einer plötzlichen Heiserkeit dieses Künstlers Herr Reuter heute morgen die Partie übernommen habe. – Nun wußte sie, daß René den ganzen Morgen noch mit dem Ersatzmann studiert haben mußte.
Seltsamer Mensch! Karg mit Worten, sagte er nur die Thatsachen und forderte offenbar, daß sie immer blind an die Unabänderlichkeit derselben glaube.
Dies war nur eine kleine Sache gewesen und Magda hatte sie sich selbst bald erklären können, freilich nach einigen Zweifelsstunden. Wie schwer, ja zu schwer für ein Frauenherz mußte die Zumutung in großen Dingen sein!
Magda sah sich im vollen Hause um. Sie hatte an der rechten Seite in einer Loge einen Platz in der zweiten Reihe bekommen. Drüben, links, saß Hortense, mit ihrem aschblonden Haar und ihrem Sammetkleid, das ein wenig den Hals frei ließ, anzusehen wie eine Schönheit in voller Blüte. Neben ihr saß die kleine Sibylle von Lenzow, mit dem schwarzen Köpfchen, dem pikanten Gesicht, hübsch im rosa Kleidchen. Sibyllens Vater nahm einen der Hinterplätze ein. Der Rest der Loge war auch besetzt – lauter Abonnenten, daher fand sich in ihr für Magda kein Raum.
Man unterhielt sich sehr lebhaft, es war eine festliche Bewegung im Hause. Vor Magda saß der Lieutenant von Wallwitz, die junge Dame in Weiß neben ihm war vermutlich seine Schwester. Er hatte Magda so förmlich gegrüßt, wie ihre flüchtige Bekanntschaft es forderte. Sie aber sah ihn mit Interesse an, fühlte sich ihm nahe und hätte am liebsten ein Gespräch mit ihm angefangen. War er doch „sein“ guter Freund. Hinter Magda, in der letzten Logenreihe, und neben ihr saßen insgesamt drei Damen, die sich über Theaterangelegenheiten mit der Ungeniertheit unterhielten, welche ständige Besucher sich angewöhnen.
„Nie präcise, wenn Flemming dirigiert,“ sagte die eine, „es ist schon fünf Minnten nach.“
„Er charmiert wohl noch mit seiner Kaspari,“ meinte die zweite.
„Heute wollen wir ’mal tüchtig aufpassen – Ihr sollt sehn, sie kokettiert von der Bühne ’runter zu ihm.“
„Ob's wohl zur Heirat kommt?“
„Keine Idee! Das wird wieder werden wie voriges Jahr mit der Bertens: wenn er es satt hat, heißt es mit einemmal, sie hat keine Stimme mehr, oder sie macht nicht genügend Fortschritte, und dann kommt sie fort.“
Magdas Herz klopfte, daß die Spitzen an ihrem Halse zitterten.
Sie hätte den Weibern ins Gesicht schreien mögen: schweigt mit eurem elenden Klatsch!
Plötzlich verdunkelte sich das Haus. Zugleich trat von links, durch eine kleine Thür, René in den Orchesterraum. Während er sich schnell durch die Stühle und grünbeschirmten Gaslampen wand, die ihm für Fuß und Schultern den Weg versperrten, flog sein dunkles Auge suchend über den ersten Rang.
„Er sucht mich!“ jubelte es in Magda und unwillkürlich reckte sie den Kopf und erhob sich ein wenig, damit er sie sähe, was aber natürlich nicht möglich war.
„Ist er das?“ fragte das Fräulein vor ihr den Lieutenant. Der nickte.
Die junge Dame in Weiß nahm hierauf das Opernglas und sah sich den Kapellmeister genau an, der, sobald er auf seinem Schemel stand, nur noch im Wangenprofil sichtbar war, wenn er sich nicht gelegentlich beim Dirigieren den rechts sitzenden Cellisten, Holzbläsern und Hörnern zuwandte.
Magda hörte nichts vom Vorspiel. Sie sah nur die schlanke Gestalt im schwarzen Frack und sah die herrschenden, ausdrucksvollen Bewegungen seiner Arme und Hände.
Als nach dem Vorspiel rauschender Applaus ertönte, errötete sie, als gelte es ihr mit. Der Vorhang ging auf. Magdas Blick suchte unwillkürlich die Kaspari.
[695] Eine Person von aufdringlicher Schönheit, stattlich, große Züge, flammende Augen, in der roten, entfesselten Haarflut ein Diadem von zwei sich verschlingenden und emporzüngelnden Schlangen. Das grüne Sammetkleid und der orangefarbene Mantel umwallten sie königlich. Magda dachte nicht daran, daß das rote Haar eine stilvolle Perücke, daß die köstlichen Farben Schminke seien.
Sie kam sich plötzlich selbst unbedeutend und prosaisch in ihrer Erscheinung vor. Was war sie und was hatte sie zu geben, ihm, der täglich mit der Schönheit und dem Talent umging?! Sie beobachtete die Kaspari unausgesetzt. Und da – ja – ganz deutlich, die Kaspari sah zu René hinab mit einem lächelnden Blick.
„Die Kaspari sucht förmlich was drin, daß die Leute merken sollen, wie sie mit Flemming steht,“ flüsterte es hinter ihr.
Und plötzlich schämte Magda sich, daß sie die Sängerin beobachtet hatte, und fühlte so, als habe sie damit eine Indiskretion gegen René begangen.
Von nun an wendete sie den ganzen Abend dem Werke ihre gesammelte Aufmerksamkeit zu.
Im Zwischenakt pflegte Hortense im Foyer „Cercle zu halten“, wie ihre Freunde es nannten. Sie war da immer von jungen Damen und Kavalieren umringt, denn sie liebte und verstand die Jugend wie keine. „Ein Eckchen in meinem Herzen bleibt immer achtzehn Jahr alt,“ sagte sie. Auch heute konnte Magda nur mühsam zu ihr dringen. Ebenso strebte der Lieutenant von Wallwitz nach der Gelegenheit, seine Schwester vorzustellen.
Natürlich konnte Magda aus ihrem übervollen Herzen kein vertrauliches Wort hervorbringen. Sie mußte sich noch das ihr so völlig gleichgültige Fräulein von Wallwitz vorstellen lassen.
Als aber ihr Auge dem Blick der jungen Dame begegnete, erging es ihr rätselhaft. Wie ein unerklärlicher Schreck rieselte es ihr durch die Adern und ein starkes Gefühl, in dem eine Art Neugier mächtiger war als aufkeimende Abneigung, nahm Besitz von ihr. Das Gesicht prägte sich ihr unauslöschlich ein.
Lilly von Wallwitz hatte dunkelblonde Haare und bräunliche Augen, in deren Iris gelbe Pünktchen flimmerten. Ihre Farben waren zart, die Nase gerade und fein, zarte Brauen wölbten sich wie gezeichnet über den lebhaften Augen. Der Mund war ein wenig groß und in der schneeweißen Zahnreihe, die er beim Lachen sehen ließ, befand sich eine auffallende Stelle. Der Augenzahn an der linken Seite endete kurz und mit zackigem Rand, als habe er durch Fall oder Stoß seine untere Hälfte verloren.
Diese eine dunkle Stelle in dem lachenden Mund gab dem ganzen Gesicht einen unharmonischen Ausdruck. Sie war es auch, die Magda immer nachher vor sich sah.
Lilly sprach einige Worte, wie sie einer jungen Dame, welche die Formen beherrscht, natürlich waren. Nur ihr fast nervöses Lachen und ihre helle Stimme, sowie das Umhersuchen der Augen fielen auf.
Für den Rest des Abends war es Magda sehr unangenehm, hinter ihr sitzen zu müssen. Lilly von Wallwitz kümmerte sich auch gar nicht um den ganzen „Lohengrin“, sie besah sich unausgesetzt den Dirigenten.
Die Scene im Brautgemach ergriff Magda wie noch niemals. Sie ward ihr zum Spiegelbild persönlicher Empfindungen.
Alle Sage ist schließlich Symbol. Magda sah in Elsas Verlangen, „Nam’ und Art“ des geliebten, geheimnisvollen Ritters zu erfahren, das allgemein weibliche Verlangen, das Wesen des Geliebten ganz zu ergründen. Ihr fiel in einer blitzartigen Ideenverbindung die Psyche in dem schönen Märchen des Altertums ein, die mit ihrer Lampe den schlummernden Amor beleuchtet, den sie bisher nicht sehen durfte und der ihr entfliehen muß, weil sie ihn sah.
Bang fragte Magda sich, ob es denn so gefahrvoll sei, in die Tiefe männliche Wesens zu dringen – ob das Erkennen auch immer ein Verlieren nach sich ziehen müsse?
Sie konnte sich nicht beherrschen: beim Abschied Lohengrins weinte sie und da floß manche Thräne, die sich in den Erregungen der letzten Zeit aufgespeichert hatte und nun wohlthätig löste.
Beim Aufbruch mußte sie sich für ihre roten Augen einen spöttischen Blick von Lilly Wallwitz gefallenen lassen. Um nicht etwa mit dem Geschwisterpaar und einem ganzen Schwarm von Bekannten die Treppe hinunter gehen zu müssen, zögerte Magda sehr mit ihrem Mantel und Kopfshawl.
Sie befand sich endlich unter den letzten, die das Haus verließen, traf die erwartende Kathi und ging wie im Traum dahin.
In ihrem Herzen brannte das Verlangen, jetzt allein und im seligen Schweigen mit dem Geliebten zusammen das Gehörte in sich nach- und ausklingen zu lassen. Wie schwer war es doch, auf die volle Zusammengehörigkeit zu warten. Sie malte sich aus, wie sie als Mann und Weib nach solchen Abenden in ihre trauliche Häuslichkeit einkehren würden. Und er?! Empfand nicht auch er sicherlich jetzt dieselbe Sehnsucht nach lösender Gefühlsstille und nach ihrer lieben Nähe?
Magda hörte hinter sich ein Lachen. Die Stimme kannte sie, den männlichen Wohllaut dieses herzlichen Lachens. Sie übertönte jetzt lautes Sprechen anderer Stimmen. Auf dem Fahrdamm, neben dem Bürgerstieg hergehed, um die vielen langsam schlendernden Menschen zu überholen kamen vier Herren von rückwärts her neben Magda vorbei. Zwei in Civil, zwei in Uniform.
„Kommen Wallwitz und Bohrmann auch noch in den ‚Wilden‘?“ fragte die eine Stimme. Ein anderer antwortete etwas mit dem Namen Bohrmann Zusammenhängendes, das Magda nicht recht verstand, denn sie hörte nur die eine Stimme und sah nur die eine hohe Gestalt im Kragenmantel und weichen Filzhut, die nun schon an ihr vorbei war. Die Antwort, die Magda nicht verstanden hatte, erregte das schallende Gelächter der drei Hörer.
Er ging mit Freunden in ausgelassener Stimmung in den „Wilden“, damit war, wie Magda wohl erriet, das bekannte Weinrestaurant „Zum wilden Mann“ gemeint, wo, nach den Schauergeschichten der jungen Malschülerinnen, die jungen Herren der Residenz oft Nächte hindurch zechen und spielen sollten. Vielleicht war das albernes Geschwätz.
Aber dies eine blieb doch, Magda hatte es mit eigenen Augen gesehen, mit eigene Ohren gehört: René ging mit lustigen Freunden in ein Weinhaus und hatte durch sein Lachen übermütige Fröhlichkeit verraten.
Und sie – sie hatte gewähnt, er sehne sich gleich ihr jetzt nach schweigendem Glück! Wie war es nur möglich, wie war es zu begreifen, daß zwei Menschen, die sich lieben, die ihr ganzes Leben einander angehören wollen, zur selben Stunde, nach den gleichen Eindrücken, so ganz, ganz verschieden empfanden?
Drang die Kraft ihrer Sehnsucht denn nicht geheimnisvoll zu ihm und zwang ihn, zu fühlen wie sie?
Hortense schickte Sonntag früh sowohl zu René als zu Magda, die Herrschaften möchten schon um zwei Uhr zu Tisch kommen, sie sei für den Abend zur Herzogin befohlen. Und wenn Hortense zur Herzogin mußte, stärkte sie sich vorher durch einige Stunden der Ruhe. Die hohe Dame war ein Engel an Güte, jedermann konstatierte es mit Ehrfurcht und auch Hortense bewunderte sie aufrichtig. Aber platonisch, so wie man ein klassisches berühmtes Gemälde bewundern kann, das man aber zu erwerben und täglich zu sehen keine Lust hat.
Hortense hatte so gar kein Interesse für Suppenanstalten, Mägdeheime, Krankenpflege. Die Herzogin sah sie als ein arges Weltkind an, doch von der bestrickenden Persönlichkeit der ungewöhnlichen Frau immer neu angezogen, gab Hoheit die Hoffnung nicht auf, hier eine Bekehrung ins Werk zu setzen.
Da Hortense sonst in vollkommener Freiheit alles zu sagen pflegte, was ihr durch den Sinn kam, so ward die bei der Herzogin nötige Beherrschung ihr immer ein bißchen sauer, denn wehthun und die gute Fürstin verletzen wollte sie auch nicht.
Sie „kalmierte“ sich daher immer erst, ehe sie ins Schloß ging, d. h. sie las ein wenig in irgend einer bezüglichen Broschüre, um die Herzogin durch Kenntnis der Kosten und Erträgnisse der Volksküche in N., der Krankenpflegerinnen-Bildungsanstalt in N. N. zu erfreuen. Dies mußte aber unmittelbar vor dem Beginn des herzoglichen Theeabends geschehen, sonst vergaß Hortense alles wieder.
Und darum wurde das heimliche Brautpaar auf zwei anstatt auf fünf Uhr bestellt.
Magda hatte ihren Tag mit dem Vorsatz begonnen, einen Besuch Renés nicht zu erwarten, denn er würde bei Hortense erst die Form eines solchen mit ihr besprechen wollen.
Aber sie hatte sich ausgedacht, daß er ihr ein Briefchen oder ein paar Blumen schicken werde und ungeduldig anfragen würde, ob sie gestern abend stolz und glücklich gewesen und seiner gedacht habe. Sie malte sich aus, was er ihr wohl schreiben werde.
Als aber dann die Stunden rannen, ohne daß ein Zeichen [696] von ihm kam, nahm sie sich vor, nie mehr etwas zu erwarten. Denn ihre Phantasie bereitete ihr die Enttäuschungen – so viel hatte sie ihn schon kennengelernt, daß er nicht der Mann der steten galanten Zärtlichkeit war.
Nicolai war ganz glücklich, als Kathi ihm meldete, daß das Fräulein schon um zwei Uhr fortging. So kam sie früher wieder und blieb nicht den ganzen Abend fort. Denn die Sonntagabende gehörten ihm. Die verbrachte er bei dem leidenden Mann und dem gütigen Mädchen.
Er klingelte schon um halb zwei vorn an der Etagenthür, denn am Sonntag kam er nie in Magdas Atelier, weil es da still und menschenleer war. Er vermied das Alleinsein mit ihr.
„Ich will nur hören, ob Sie noch besondere Verhaltungsmaßregeln zu hinterlassen haben,“ sagte er, da Magda selbst ihm öffnete.
„Nein, Papa ist sehr wohl heute. Ich denke auch, um fünf Uhr zurückzukommen.“
„Wie schön Sie heute sind.“
Magda lächelte strahlend. Sie hatte ein neues Kleid an, von zarter grauer Farbe, und einen großen Strauß von Herbstveilchen im weißen Gürtel.
Sie fragte Nieolai nicht, wie es ihm gehe, sie sah nicht, daß er heute besonders elend aussah.
Ihr Erröten und Flemmings Brief hatten ihm eine Nacht ohne Schlaf bereitet.
Aber nun wartete er, daß sie ihn frage, wie es ihm ergehe. Sonst war die stete Frage seine Qual. Sie erinnerte ihn daran, daß Ehre und Menschlichkeit ihm verboten, um sie zu werben, nur den Versuch zu machen, ihr Herz zu gewinnen. Weil er sie liebte, durfte er gar nicht wünschen, von ihr geliebt zu sein, denn solche Liebe konnte sie nur elend machen. Aber heute wollte er gefragt sein und den Beweis haben, daß keine neuen, störenden Gedanken die Anteilnahme an den alten Freund niederhielten.
Magda fragte nicht. Sie war ganz Vorfreude, ganz blühende Gesundheit, ganz in Schönheit.
Er sah sie so fortgehen und setzte sich zu der alten Excellenz, froh, wenigstens in ihrem Heim sein zu dürfen. –
René war schon da, als Magda in Hortensens Salon eintrat.
Sie fielen einander um den Hals und küßten sich. René nahm ihr Gesicht zwischen die Hände und sah ihr freudig in die Augen. Daß sie gelitten, gewartet und Enttäuschungen gehabt hatte, war vergessen. Ein namenloses Glück senkte Kinderfröhlichkeit in ihr Herz.
Hortense hatte irgendwo hinter Palmen und einer der spanischen Wände gesessen, durch welche der übergroße Saal in kleine Wohnecken geteilt war. Nun kam sie heran und ließ sich Magdas stürmische Begrüßung gefallen.
Es war ihr so rührend, zu sehen, wie das sonst so gehaltene Wesen jetzt zuweilen im Jubel überschäumte, um immer bald schüchtern wieder zu verstummen, als traue Magda sich nicht, an das freie Recht ihrer Freude zu glauben.
Das Mahl wurde so vergnügt wie jenes am Verlobungstag, nur daß sie sich „Sie“ nennen mußten, was augenblicklich ein reizvolles Vergnügen gewährte.
Wenn der aufwartende Diener nicht zugegen war, beichtete Magda von ihren „thörichten“ Gedanken – jetzt, ihm und seinen leuchtenden Augen gegenüber fand sie sie „thöricht“. Wie sie gestern abend sich nach ihm gesehnt und sich eingebildet, er fühle ebenso, und von der grausamen Entdeckung, daß er riesig fidel in den „Wilden Mann“ gegangen sei.
René lachte und erklärte ihr, daß seine Nerven nach solchen Aufgaben zu erregt seien, um in stiller Häuslichkeit sich bändigen lassen zu können; dann bedürfe er eines lärmenden Austobens oder doch wenigstens einer Gesellschaft von fröhlich beschwingter Stimmung.
Als Gegengewicht zur höchsten geistigen Anspannung sei harmlose Lustigkeit, die auch in reine Albernheit ausarten könne, einfach gesundheitlich nötig, während Gefühlsschwelgerei nachher zu Sentimentalität und Nervosität führe.
Magda nahm die Erklärung hin und war dankbar für dieselbe, ohne sich doch in sein Bedürfnis hineindenken zu können.
„Es wird Dich manchmal später kränken,“ sagte er, „aber Du wirst es verstehen lernen und das Sprichwort beherzigen, daß alles verstehen alles vergeben heißt.“
„Ah,“ rief sie lebhaft, „das Sprichwort ist eine Redensart. So viel habe ich schon begriffen. Im Gegenteil scheint mir Liebespflicht und Frauenlos zu sein, daß man verzeiht was man nicht versteht.“
„Bravo!“ sagte René.
„Sieh da,“ bemerkte Hortense, „das Kind bildet sich schon Theorien.“
„Ja – in Deiner Gegenwart kommen mir vernünftige vertrauende Gedanken – aber wenn Du fern bist – –“ sie vollendete nicht. Ihr Auge ging mit einem flehenden, leidvollen Blick über sein Gesicht.
„O Gott!“ murmelte er und nahm ihre Hand, um sie zärtlich zu streicheln.
[709] Bald nach vier Uhr schickte Hortense das Brautpaar fort; man hatte verabredet, daß René unter dem Vorwand, Magda des Sonntagspublikums wegen heimbegleitet zu haben, mit zur alten Excellenz hinauf gehen sollte. Er konnte in Nicolais Gegenwart dann den Kaffee dort mit trinken und so sich harmlos in die Nähe des Leidenden schmuggeln.
Durch die Stadt und in der Ringstraße gingen sie nebeneinander her. Hier und da hatte man Durchblick auf den gelbroten Wald, der sich hinter den Gärten der Ringstraße hügelan zog.
In ihnen beiden ward die Sehnsucht groß, hinaus zu können, denn hierin waren sie vollkommen gleich, daß ihnen die Natur die besten Stimmungen gab. Und ganz zugleich sagten sie: „Könnten wir doch in den Wald!“
Die drollige Gleichzeitigkeit des Ausrufs machte sie beide glücklich.
„Das heißt soviel als: es soll so sein. Nur eine halbe Stunde lang,“ bat er.
Magda dachte gar nicht daran, daß es für fremde Beobachter befremdlich sein konnte, wenn sie allein mit René Flemming im Walde spazieren ging. Die Unschuld ihres Herzens war so vollkommen, daß sie nie an Mißdeutungen dachte. Den ersten Weg, der sich zwischen zwei Villen waldwärts zog, schlugen sie ein. Vor dem klarblauen Himmel stand die ansteigende Wand des Waldes, in welcher sich neben den dunkelgrünen Tannenwipfeln gleich schaumig gebauschten Farbenflecken die gelbroten Buchenkronen erhoben. Höher und ferner waren die Tannenwipfel von dunkelblauen Bogenlinien wie durchzogen – den Schattentiefen zwischen den Baumreihen. Ein kräftiger Geruch von welkendem Laub machte die Luft herbe und charaktervoll. Das Unterholz, das sein sperriges Gezweig zwischen grauen und roten Stämmen breitete, war noch grün, so daß diese wie von Frühlingsschmuck umspielt schienen.
Sie schritten auf einem sacht und schnurgerade ansteigenden Weg dahin, dessen Waldesmauern sich in der Perspective droben fast zusammenschlossen und nur ein kleines weißes Rund des Lichts offen ließen, welches von weitem dem Auge wie eine Verheißung von möglichem Ausblick in die Ferne erschien.
Ihnen begegneten einige Bekannte, die ein wenig erstaunt grüßten, was indes weder Magda noch René bemerkten. Sie gingen fast [710] schweigend zusammen; die vollkommene Zufriedenheit in ihrer beider Seele war so groß, daß sie keine Leidenschaft empfanden und kein Bedürfnis, sich etwas zu sagen.
Renés Gedanken befanden sich plötzlich mitten in seiner Arbeit. Mit geistigem Ohr hörte er auf einmal deutlich die instrumentale Färbung einer Liebesscene zwischen seinem Helden und seiner Heldin, mit sonniger und gesättigter Klarheit stiegen die Klangwellen des Orchesters vor ihm auf, beherrscht von dem süßen Liebesmotiv – –
„Wir sind gleich an unserm Hause,“ sagte Magdas Stimme.
René fuhr auf und sah sie eine Sekunde wie verstört an, als wisse er nicht, wer sie sei und wie sie daher komme. Dann lachte er glücklich auf.
Schweigend war sie neben ihm hingegangen, umgekehrt, zurückgeschritten und er war mechanisch neben ihr gewandert.
„Du Gute, Kluge!“ sagte er. „Die Stelle in meinem Musikdrama streichen wir rot an, die eben geworden ist.“
Sie hatte die ganze Zeit mit dem Gefühl einer Kränkung gekämpft, daß er sie so ganz vergaß. Nun begriff sie, daß sie unrecht that, dergleichen in sich aufkommen zu lassen. Aber weh that es doch, bitter weh, wenn auf diese Weise bald sein Berufsleben, bald sein Innenleben ihn hinderte, sich ihr zu widmen, und schwer war’s, sich stumm darein zu schicken.
„Hier,“ sagte sie und öffnete mit Herzklopfen die Gitterpforte des Vorgartens.
Es war ein so großer und wichtiger Augenblick, daß René ihr Haus betrat und ihren Vater sah. René schaute aber sehr heiter drein, auf seinem Gesicht war noch der Nachglanz der gehabten reichen Eingebung.
Oben in der dritten Etage fuhr Nicolai von seinem Buch auf, darinnen er an dem einen Fenster gelesen, während am andern der Leidende in seinem Fahrstuhl einen leisen Halbschlummer hielt.
Es hatte geklingelt. Das war Magda – genau um fünf Uhr, wie sie gesagt hatte. Er ging hinaus, um zu öffnen, denn er war hier wie zu Hause. Auf dem kleinen Flur war aber auch schon Kathi an der Thür. Wie erstaunten beide, als neben Magda ein Herr draußen stand.
„Flemming!“ rief Nicolai. Sein Gesicht ward fahl und er sah Magda an. Diese fühlte den Blick heute gar nicht, sondern nahm schon Hut und Mantel ab, während René heiter sagte: „Ich habe die Ehre gehabt, mit dem gnädigen Fräulein bei Frau von Eschen zu speisen, und durfte sie nun heimbegleiten. Zur Belohnung für den Ritterdienst bin ich auf eine Tasse Kaffee von Fräulein Ruhland eingeladen. Und es freut mich, daß ich Sie hier treffe, Nicolai.“
Er sah den Maler so sonnig und so ehrlich an, daß dieser in allem heimlichen Schmerz doch seine Neigung für René neu aufwallen fühlte und ihm herzlich die Hand gab.
Sie gingen in den Salon. Magda lief auf ihren Vater zu, umarmte ihn und spracht „Papa, hier ist ein lieber Freund von Hortense, der Dir guten Tag sagen will.“
Ruhland beugte sich vor, seine Augen belebten sich, der Körper ward unruhig und die Hände strichen flach auf den blanken Armlehnen des Fahrstuhls vor und zurück.
„Der soll fort – fort – fort –“ befahl er heftig und nickte mit dem Kopf immer zu dem Wort.
René trat hart an den Stuhl heran, beugte sich über den Kranken, sah ihn fest an und ergriff dabei eine der streichenden Hände.
„Wir kennen uns ja schon lange, Excellenz haben vor vier und einem halben Jahr die Güte gehabt, mich nach meinem Amtsantritt zu empfangen,“ sagte er ruhig. In der That hatte René damals dem Kultusminister Ruhland einen Besuch gemacht und war zwei Minuten so ungnädig empfangen worden, daß er sich schwer geärgert gefühlt hatte.
Die männliche Stimme, der bestimmte Blick schüchterten Ruhland ein. Dies „wir kennen uns schon lange“ beschäftigte ihn. Nach der Art dieser Kranken wußte er oft, daß er nicht ganz Herr seines Gedächtnisses war, und mißtraute sich manchmal selbst.
„Wir kennen uns – wir kennen uns,“ murmelte er halb fragend vor sich hin.
René fühlte bei dem Anblick des kranken Mannes etwas Schreckliches, ein Gemisch von Widerwillen und Ungeduld. Seiner blühenden Kraft war Krankheit etwas Unerträgliches und das Leben hatte ihn noch kein Mitleiden gelehrt.
Er begriff die Richtigkeit von Magdas Entschluß, ihre Ehe noch hinauszuschieben, nun erst völlig. Diesen Leidenden mit in seine eigene Häuslichkeit zu nehmen, wäre ihm unmöglich gewesen.
Magda sah die ernsten Schatten über sein Gesicht gleiten und glaubte, das Mitleid mit ihrem Los betrübe ihn.
Sie fing ein heiteres Gespräch an, trug den Kaffee auf und sagte, daß Herr Flemming doch sehen müsse, was Nicolai gerade male. Dabei wünschte sie heiß, René möge den Wunsch aussprechen, ihr Atelier zu sehen.
René ergriff mit Freuden den Gedanken, daß man die letzte Tagesstunde benutzen möge, Nicolais Arbeiten zu sehen. Es war ihm so erwünscht, aus der Nähe des alten Mannes zu kommen, der steif und vornehm gekleidet wie ein Zerrbild des einstigen Ichs dasaß und ihn feindselig belauerte.
Nicolai war rot geworden und kämpfte mit sich.
„Weil Sie es sind,“ sprach er endlich und fühlte, daß dies eine halbe Lüge war. „Weil ich fürchte, daß es zwischen Magda und Ihnen ein Geheimnis giebt, sollen Sie das meine kennen,“ so hätte er antworten müssen.
„Darf ich mit?“ fragte Magda, die ihrerseits nie in Nicolais Atelier kam. Er brachte ihr herüber, was sie sehen sollte. Er nickte. Hinter seiner überlangen Gestalt hergehend, wirkte René beinahe klein. Magda bemerkte es und René sagte:
„Ja, er ist auch immer in den Wolken mit seinem Kopf.“
Nicolai lächelte dazu und schloß sein Atelier auf. Es hatte, wie das Magdas, zwei Fenster nach Nordwest und die Abendsonne schien gerade voll hinein. Die Wände waren mit Skizzen dicht bedeckt, sonst befand sich keinerlei Schmuck im Raum und an Möbeln nur die nötigen Tische, Stühle, Gerätschaften. Durch die unendliche Sauberkeit und die regelmäßige Anordnung der Ausstattungsstücke hatte der Raum etwas Puritanisches.
Magda war, als liefe ihr ein Frostschauer durch die Adern.
Nicolai rückte die Staffelei am Fenster zurecht und sagte nur: „Hier!“
Sie traten näher und schwiegen beklommen.
„Der Engel des Glückes kommt zum erstenmal zu einem Menschen,“ sprach Nicolai leise. „das war mein Gedanke.“
Im Vorgrund des Bildes sah man ein bleiches Männerhaupt mit geschlossenen Augen und beseligtem Lächeln. Man erriet sofort, daß es das Gesicht eines Sterbenden war. Hinter ihm, das ganze schmale Hochformat des Bildes ausfüllend, stand eine Engelsgestalt in strengen, steifen assyrischen Linien gehalten, die Finger der niedergestreckten Hand berührten die Stirn des Sterbenden. Die Augen des Engels sahen mit einem mystischen und unendlich sicheren Blick zum Himmel empor, über den Beschauer hinweg. Die Farben waren sehr hell, das Ganze wirkte wie eine Vision. Und das blasse, unbewegliche Engelsangesicht hatte eine unverkennbare Aehnlichkeit mit Magda.
„Ihre Bilder fallen einem auf die Nerven,“ sagte René endlich mit halber Stimme.
Er drückte Nicolai heftig die Hand. Magda sagte nichts, aber sie war sehr blaß.
Das lange, betrachtende Schweigen endete Nicolai selbst, indem er, vor innerer Bewegung heiser, vorschlug, Flemming solle doch auch sehen, was Magda male.
„Sie malt so feine, liebe Sachen,“ sagte er.
„Ja,“ sprach René hastig, „das wollen wir.“ Und an der Thür gab er Nicolai nochmals die Hand und sprach: „Adieu, Nicolai. Nehmen Sie tausend Dank. Ich werde zu thun haben an dem Eindruck. Lassen Sie uns bald einmal wieder einen Abend zusammen sein – heut’ kann ich nicht, ich bin bei der Großmutter meines Freundes Wallwitz geladen. Aber morgen, sagen wir morgen abend acht Uhr bei mir.“
Nicolai stand wie versteinert. Man sagte ihm „adieu“ und er hatte es als selbstverständlich erachtet, daß er mit in Magdas Atelier gehen werde.
„Ja, morgen abend …“ stammelte er.
„Wir sehen uns nachher noch,“ rief Magda und lief durch die Etage, um von drinnen ihr Atelier zu öffnen und René einzulassen. Ihr Gesicht glühte vor Freude.
René trat ein.
„Aha,“ sagte er, „hier schaut es wohnlicher aus. Wir durften doch keinen Zeugen haben, wenn ich zuerst in Dein kleines Reich trete. Aber weißt Du: Nicolai ist ein großer Poet und ein [711] großer Maler. Seine Musik ist nicht für die Welt. Und er liebt Dich – der arme Kerl!“
„Es ist so eine besondere, überirdische Liebe,“ sprach Magda mit fast kindlicher Verlegenheit.
„Das wollen wir hoffen,“ rief er lachend. Sein Blick fiel auf eine Staffelei.
„Was ist denn das für eine Geschmacklosigkeit?“ fragte er. und sah den gemalten Kranz von Christrosen und Passionsblumen an, der sich um ein Marmorkreuz schlang, während der Holzrahmen dieses wunderlichen Gemäldes mit einem Dornengewinde bemalt war.
Magda stellte sich davor.
„Schau’s nicht an,“ bat sie errötend, „die Frau Herzogin hat es ausdrücklich so bestellt und ich bekomme fünfhundert Mark dafür. Es soll in das Wohnzimmer der Vorsteherin der Diakonissinnenanstalt. Du begreifst, der hohen Auftraggeberin kann man nichts abschlagen.“
Ja, das begriff René. Aber es ärgerte ihn doch, daß Magda so etwas angefertigt hatte.
„Sieh das hier,“ bat sie und sah mit großen Augen wartend in sein Gesicht.
Sie wußte, sie war keine Künstlerin ersten Ranges, wollte keine sein, aber sie wußte auch, daß ihr manchmal ein anmutiger Einfall zart und schön gelang. Und gerade that die Sonne ihr den Gefallen, gleichsam eine kleine Vorstellung zu veranstalten und das Bild mit ihrem letzten Schein zu beleuchten
Ein bunter Orchideenstrauß stand in einem schmalen hohen Glase vor einer halb überfrorenen Fensterscheibe, die ihm als Hintergrund diente, und durch die Fensterscheibe sah man ein Stückchen Straße, in welcher ein Schneesturm tobte. Es war eine artige Idee, die fremde Tropenblume in den Gegensatz zur nordischen Rauheit zu stellen, und sie war völlig ungesucht zum Ausdruck gebracht. Auch wußte Magda und hatte es von Nicolai bestätigen hören, daß es gut gemalt sei.
„Allerliebst,“ sagte René ein wenig zerstreut. „Du wirst Dein Heim, unser Heim später mit Deiner geschickten Hand hübsch dekorieren.“
„Blumenstücke sind nicht Dein Geschmack?“ fragte Magda mit zitternden Lippen.
„Aufrichtig: nein. O Gott, es kränkt Dich,“ rief er und nahm liebevoll ihre Hand.
„Wie kann mich eine Aeußerung Deines Geschmacks kränken, der sich doch gebildet hat, ehe wir uns kannten, der ein Teil Deines Wesens ist,“ sagte sie tapfer. Aber er sah wohl, es hatte ihr doch weh gethan.
Sie jetzt mit nachträglichen Lobeserhebungen zu trösten, dazu war seine Ehrlichkeit nicht imstande, auch wußte er wohl, sie sei zu klug und feinfühlend, um sich jetzt durch solche nicht eher gekränkt als gehoben zu fühlen. Er legte den Arm um ihre Taille und sprach ernst: „Nicht das, was Du arbeitest, sondern daß Du arbeitest, ist angesichts der Dich umgebenden traurigen Verhältnisse wichtig, befreiend, sittlich.“
Sie sah zu ihm empor. Seine Augen waren liebevoll auf sie gerichtet. Er schien nicht entfernt zu ahnen, daß er ihr etwas gesagt hatte, das ihr allen Boden unter den Füßen wegzog.
„Wenn die Begabung auch noch so gering ist – man muß an sie glauben, um sie üben zu konnen,“ sprach Magda tonlos. „Wenn der Inhalt meiner Thätigkeit denn so ganz wertlos ist, möchte ich sie lieber aufgeben.“
„Liebe! So schroff meinte ich das nicht – ich habe Dir weh gethan – Deine Augen sind naß. Komm!“ Er küßte ihr die Lider. Er zog sie auf die Ottomane und, sie fest an sich ziehend, flüsterte er. „Wir wollen doch meine erste Anwesenheit in Deinem kleinen Heiligtum nicht mit Mißverständnissen trüben.“
Seiner bezwingenden Art gelang es, schnell ein sonniges Lächeln auf ihre Lippen zu locken.
„Wie man empfindlich wird,“ sagte sie, sich eng an ihn schmiegend, „wir thun einander weh, die Welt thut mir weh – es ist, als ob plötzlich mein Herz schutzlos geworden wäre und nun jeden Windhauch spürte. Ich will Dir noch von gestern etwas beichten. Hinter mir saßen Damen, die über Dich und die Kaspari sprachen. Und infolgedessen beobachtete ich diese und sah, wie sie zu Dir hinablächelte. Ich war einige Minuten sehr eifersüchtig, die blendende Schönheit der Dame erdrückte mich. Nachher schämte ich mich.“
Renés Stirn zog sich ein wenig zusammen, er schien peinlich berührt. Dann ward sein Ausdruck heiter und er sprach mit einem festen Ton: „Ein für allemal, Magda – diese Welt, in die mich mein Beruf stellt und die, ich leugne es nicht, einen großen Reiz für mich hat und mit ein treibender Faktor für mein Schaffen ist, diese Welt muß Dich gar nicht beschäftigen. Darinnen ist nicht alles so ideal, wie Ihr das anschaut, und zum Beispiel die blendende Schönheit der Kaspari schrumpft ohne rote Perücke und Schminke sehr zusammen. Ich wünsche nicht und ich will nicht, daß Du mit dieser Sphäre allzuviel in Berührung kommst. Ganz wird es sich später für meine Frau nicht vermeiden lassen. Aber Deine Gedanken soll sie Dir nie beschweren, weder später noch jetzt. Es giebt im Leben eines Mannes so viel, was ein Frauenherz nie begreift. Die Natur hat uns mit gröberen Organen versehen. Da giebt es Versuchungen – Notwendigkeiten – Dinge so äußerlich, die ich von mir abwasche wie den Tagesstaub. – Du aber, Du stehst mir außer allem und über allem. Du bist das Heiligtum, zu dem meine Seele sich flüchtet, wenn sie den reinen Frieden braucht!“
Magda konnte nichts antworten. Seine Worte hatten sie unglücklich und unruhig und stolz und selig gemacht. Er schob sie ganz heraus aus der Welt, darin er jeden Tag seinem Beruf nachging, und, indem er ihr so beinahe jeden Anteil an seinem Leben absprach, erhob er sie zugleich zu seiner Göttin. Sie aber wollte als Weib, als Gefährtin, als Teilnehmende jede Stunde auch seiner Arbeit kennen, mittragen, ihren Inhalt wissen.
Ahnte er denn gar nicht, daß alles, was er ihr sagte, immer Bitterkeit und Wonne in seltsamem Gemisch war!
René hatte gar keine Antwort erwartet, er liebte ihre Art zu schweigen und, wenn er auch ahnte, daß ihr Schweigen oft schmerzliche Gedanken zudeckte, so erwartete er die Kraft von ihr, sich zu einem heiteren Vertrauen zu ihm durchzuringen.
Er streichelte ihren Kopf, der an seiner Schulter lag.
„Sieh,“ sprach er, „wie lange es hier oben bei Dir hell geblieben. Nun ist mit einem Mal der Himmel grau. Ich mag so gern sehen, wenn sich das Licht zurückzieht und von der anderen Seite des Himmels die Dunkelheiten näher wachsen. Die erste Liebesscene meines Helden mit meiner Heldin habe ich auch in die Dämmerstunde gelegt.“
„Erzähle mir davon.“
„Nicht jetzt. Weißt Du, daß Du mir noch gar keinen Kuß gegeben hast?“ Er nahm ihr Angesicht zwischen seine Hände und küßte es mit einer drolligen Aufmerksamkeit, als wollte er jedem Teil sagen: du gefällst mir. Der Stirn, den Augen den Wangen. Sie lächelte dazu.
Und dann den Mund.
Die linde Dämmerung um sie her, die Erlösung von allem Schmerzlichen, das die letzten Minuten gebracht, das Bewußtsein, zum erstenmal mit ihm ungestört allein zu sein – dies alles wirkte auf Magda wie ein Rausch. Sie hing an seinem Halse und ließ sich küssen und in ihr wuchs eine Flamme – und sie sah seine dunklen, lodernden Augen mit einem neuen, heißen Ausdruck auf sich gerichtet. Es war ihr, als wenn Willenlosigkeit und Müdigkeit durch ihre Adern schlichen.
Und jäh fiel ein Schreck in ihre Seele – eine Angst – sie wußte nicht warum – sie entrang sich den sie umklammernden Armen, sie sprang auf und fiel in die Kniee. Mit gefalteten Händen blieb sie so und sah ihn an.
Er stand auf, langsam, wie taumelnd. Aus den Erregungen höchster Leidenschaft herausgerissen, wallte kurz etwas wie Zorn in ihm auf.
Da sah er durch die helle Dämmerung ihre Augen und sah den Blick, in dem ein hinreißender Ausdruck lag: höchstes Glück und vertrauende Bitte.
Er atmete schwer auf. Dann neigte er sich, half Magda sich zu erheben, und als sie vor ihm stand, ohne den rührenden Blick von ihm zu lassen, umfaßte er sie sanft und gab ihr einen leisen Kuß auf die Stirn.
Sie sah ihn fortgehen. –
Zwei Stunden später saß sie mit Nicolai bei ihrem einfachen Abendbrot. Sonst hatten sie immer heiter die Ereignisse der letzten Woche besprochen, was sie gearbeitet, was an kleinen, friedlichen Vergnügungen hinter ihnen lag, und viel hatten sie auch über Gesundheitsfragen gesprochen, wie das bei einem leidenden [712] Mann und der Tochter eines Kranken natürlich war. Magda hatte sich nie mit Nicolai und bei diesen Gesprächen gelangweilt. Heute schienen sie ihr grenzenlos nebensächlich. Nicolai sah, daß sie immer ihre Gedanken anderswo hatte. Aus ihren strahlenden Augen erriet er, wo! Er lenkte endlich das Gespräch auf Flemming, seine hohe Begabung, seinen eisernen Fleiß, der ein so eigenartiges Gegengewicht zu seiner überschäumenden Lebenslust bilde, zu seiner großen Zukunft. Und da war Magda ganz bei der Sache. Auch ging ihr das „Herr Flemming“ und „der Herr Hofkapellmeister“ ganz geläufig von den Lippen, daß Nicolai zweifelhaft ward, ob schon eine Herzensverbindung zwischen ihnen bestehe, und Furcht zu fassen begann, daß vielleicht nur Magda ihrerseits René liebe. Flemming – so wußte Nicolai – war nicht der Mann, sich jetzt schon zu binden. Bei solcher Sachlage fürchtete er bittere Enttäuschungen für Magda.
Es klingelte.
„So spät noch?“ fragte Magda mehr sich als ihn.
Gleich darauf kam Kathi und legte ein großes Briefcouvert auf den Tisch. Es kam von René. Das Format schien anzudeuten, daß ein Büchlein in dem Umschlag sei. Magda öffnete ihn – nicht zu öffnen wäre auffallender gewesen.
Nicolai mußte nun sehen, was sie selbst mit Erstaunen wahrnahm, daß eine Anzahl buchartig zusammengehefteter Blätter, alle von Renés Hand beschrieben, darin gewesen war, außer dem Begleitbrief, den Magda nun zwischen ihren kalten Fingern hielt.
Sie sah zu Nicolai hinüber.
„Lesen Sie,“ sagte er. „Ich werde Sie niemals stören.“
„Was soll der bittere Ton?“ fragte sie.
„Magda,“ rief er ausbrechend, „in Gefahr und Schmerz sollen Sie nicht kommen! Das allein überlebte ich nicht. Ihr Glück soll mich standhaft finden – Ihr Unglück würde aus mir einen Rasenden machen. Sie sind der Engel meines Lebens gewesen. Und ich sollte nicht über Sie wachen, Ihnen nicht in die Arme fallen dürfen, wenn ich Sie einem Abgrund zueilen sehe! Das ist Tollheit, nicht wahr? Das ist barer Unsinn, nicht wahr? Diesem Mann,“ – er deutete auf Renés Brief – „dürfen Sie nicht in Ihrem Herzen Raum gönnen.“
Magda wurde blaß. Sie stand auf.
„Sie wollen Schlechtes von jemand sagen, der Gutes von Ihnen spricht?! Sie wollen eine Indiskretion begehen? Ich will nichts hören,“ sagte sie, bebend vor Zorn.
Er blieb sitzen und sah sie gramvoll an. „Indiskretion! Solch ein leeres Wort in solch inhaltsvollem Augenblick und zwischen uns! O, Magda! Nein, ich will und ich kann nichts Schlechtes von ihm sagen. Aber das will ich sagen: er ist zu gährend noch und wird vielleicht immer zu gährend bleiben, um einem Weibe ungetrübtes Glück geben zu können.“
„Und wenn ich nun lieber mit ihm leiden, als ohne ihn in Frieden leben will!“ rief Magda außer sich.
„So ist es also schon zu spät!“ sprach er tonlos vor sich hin.
Magda begriff, daß sie sich mit ihren Worten verraten hatte.
„Die Rücksicht auf meinen Vater verhindert mich, jetzt schon Renés Weib zu werden,“ sagte sie leise. „Diese Stunde hat Ihnen mein Geheimnis verraten.“
Nicolai neigte das Haupt.
„Ich hab’ ihn immer gern haben müssen – ich will versuchen, ihn nicht zu hassen,“ flüsterte er.
Als er gegangen war und Magda noch ihr kleines Hauswesen geordnet hatte und dann im Bett lag, las sie endlich den Brief. Sie hatte sich das in quälerischer Vorfreude aufgespart, bis kein profaner Laut mehr ihre Andacht stören könnte.
„Du, der meine Seele eigen ist! Ich muß noch zu Dir sprechen an diesem Abend, der nicht der leeren Geselligkeit im Freundeshaus, sondern der weihevollen Arbeit gehören soll. Wie eine Nachfeier soll mir die Arbeit sein für die verlebten inhaltsreichen Stunden, und wie eine Entführung für die Augenblicke, wo ich Dir wehgethan, und für jenen vor allem, wo Dich meine Leidenschaft erschreckt hat. Oft noch, Geliebteste, wird mein Wort und mein Wesen Dich vielleicht kränken, ohne daß ich es ahne, wie auch Du vielleicht oft mir fern bist mit Deinem Erfassen, gerade wenn Du glaubst, mich ganz zu verstehen. Die Geheimnisse einer Mannesseele sind einer Frau so wenig ergründlich, als einem Mann die Seele einer Frau. Jedem bleibt eine letzte Einsamkeit, in die der andere nicht hinein dringen kannn und darf. Kennen wir uns denn selbst so gut, um immer für uns bürgen zu können? Sind wir vor den Ueberraschungen unseres eigenen Wesens sicher? Können wir etwas versprechen? Wir können nur glauben und hoffen. Und ich glaube, daß mein ganzes Innerstes Dir zugethan ist, mit einer großen Inbrunst. Und ich hoffe, daß es niemals im Leben etwas geben kann und wird, das mir möglich machte, das Ideal der Treue zu verletzen. So sehr fühle ich mein Sein an das Deine gebunden, daß ich bis zu Thränen erschüttert werde, wenn ich denke, Du könntest Dich von mir loslösen.
Heute abend ist es mir auch ein Bedürfnis, Dir Näheres von meinem Werk zu sagen, das der Vollendung nahe ist. Hier beigeschlossen findest Du die Dichtung zu meinem Musikdrama ‚Filippo Lippi‘. Obschon der Gang der Handlung und die Umrisse der Charaktere natürlich seit Jahr und Tag geschlossen vor mir standen, ist doch Wort und Ton der Dichtung selbst mir immer zugleich entstanden. Somit ist es eigentlich eine Improvisation, was man im letzten tiefsten Sinn von jeder Dichtung und jeder Komposition sagen kann. In dem Charakter des Filippo Lippi wirst Du einige Züge von mir selbst wiederfinden. Wie hätte ich auch den heißblütigen, leichtsinnigen, emsig schaffenden Mönch-Maler zum Vorwurf nehmen mögen, wenn ich nicht etwas von mir in ihn hineingeheimnissen konnte. Als mir die Lucrezia Buti entstand, kannte ich Dich noch nicht; aber wie wundersam berührt es mich nun, in dieser treuen, in sich abgeschlossenen Frauennatur Aehnlichkeiten mit Dir zu finden.
Die Liebe ist immer die Erlöserin. Sie trägt über alle Abgründe hinüber. Das ist ihre Mission.René.“
Magda las dann bis tief in die Nacht hinein in dem dramatischen Gedicht, das in kraftvollem Aufbau und wundervoller Sprache das Liebesleben und den Tod des italienischen Karmelitermönchs schilderte. Der erste Akt spielte in Florenz und zeigte Lippi eingekerkert von Cosimo Medici, um für diesen ein Gemälde zu vollenden. Vom behaglichen Gefängnis aus spinnt er mit der täglich vorbeigehenden Patriziertochter Lucrezia Buti ein Liebesverhältnis an. Er entflieht und trifft die Geliebte in der Dämmerung inmitten eines festlichen Volkshaufens auf der Piazza della Signoria. Lippis Rivale im Ruhm wie in der Liebe, Pietro di Cosimo, wird Zeuge seines Glücks. Von da an stieg die Handlung zu immer erregteren und größeren Situationen. Man sah in Butis Palast einen Ausschnitt des genußfrohen Kunstlebens jener Tage, sah den Pietro bei einer Bilderkonkurrenz dem Lippi unterliegen, sah das von Pietros Verrat entlarvte Liebespaar in heißem Kampf um Butis Vergebung. Lucrezia sucht sie durch Bitten an das Vaterherz zu erreichen, Lippi durch stolzes Pochen auf seine Künstlerschaft, und das Verbrechen gegen seine Gelübde sucht er von sich zu weisen mit der Anklage, daß man ihm das Mönchsgewand angezogen, da er noch keine Kenntnis der Welt und seiner selbst hatte. Aber der alte Buti sieht den Liebesbund der Tochter mit dem Mönch als eine Ungeheuerlichkeit an. Lucrezia kommt in ein Kloster. Lippi sucht sie verzweifelt. Der Zufall bringt ihm einen Ruf in eben dasselbe Kloster. Er fühlt seine Kräfte schon versagen, denn das von Pietro ihm beigebrachte Gift schleicht in seinen Adern. Aber er malt doch mit höchster Künstlerschaft das Bildnis der heiligen Margarete. Als die Nonnen es sehen, erkennen sie das Antlitz der Lucrezia. So erfährt Lippi ihren Aufenthalt. In der Nacht versucht er die Geliebte zu entführen; sterbend, mit dem stammelnden Gebet: „Gott, laß mich leben!“ bricht er in ihren Armen zusammen.
Magda erriet, daß der Stoff reichen Anlaß zu leidenschaftlicher Musik in den Liebesscenen, zu volkstümlichen Gesängen und Kirchenchören gab. Vor allen Dingen aber ward sie schon durch die Dichtung allein erschüttert, insoweit sie den glühenden Lebensdrang, die überschäumende Freudigkeit im Wesen des Filippo Lippi zum Ausdruck brachte.
Sie fand den Geliebten in dieser Gestalt wieder.
In der Nacht schliefen im Hause zwei Menschen sehr wenig. Die eine nicht – vor Glück, der andere nicht – vor Gram. –
Ungefähr zehn Tage voll reichen Inhalts folgten.
Als Magda am nächsten Tag René wiedersah – es war auf der Brücke vor dem Schloß – errötete er. Sie gingen eine Weile zusammen auf und ab und verabredeten für alle folgenden Tage Spaziergänge im Wald. Magda wollte ihren Dank für die Sendung und den Brief sagen. Als sie schüchtern davon begann – eine innere Stimme schien sie davor zu warnen – sagte [714] er in hochmütigem und oberflächlichem Ton, während er abermals rot wurde:
„Es liegt nichts daran. Man schreibt einmal so allerlei nieder.“
Seine keusche Seele ertrug es nicht, daß laut von Dingen gesprochen ward, die er in stiller Stunde und besonderer Stimmung seiner Verschlossenheit abgerungen hatte.
Magda stand noch zu sehr unter dem beglückenden Einfluß des Briefes, um sich sehr verletzt zu fühlen, sie dachte nur, wie unbegreiflich seltsam er sei, und vermied an den folgenden Tagen wieder von seinem Brief zu sprechen.
Am Sonnabend der Woche fragte eine ihrer Schülerinnen in der Malstunde plötzlich: „Magda, seit wann kennst Du denn René Flemming so genau?“
„Ich?“ fragte Magda entgegen und fühlte sich erschrecken.
„Ja, neulich hat meine Tante Laura Dich mit ihm vorm Schloß gehen sehen und gestern, sagt Papa, seid Ihr im Wald spazieren gegangen.“
Nun lächelte Magda wieder ganz heiter. „Freilich. Ich habe ihn bei Frau von Eschen näher kennengelernt,“ sagte sie, „und es ist sehr anregend, mit ihm über Kunst zu sprechen.“
Die Malschülerinnen wechselten einen Blick.
„Du, Dein Flemming läßt ja bald ’was aufführen,“ sagte Sibylle Lenzow.
Das war Mädchenunart. Sibyllens Freundinnen sagten zu ihr auch „Dein Wallwitz“, und sie sagte zu den Freundinnen „Dein X!“, wenn eine einmal viel mit einem Herrn getanzt oder gesprochen hatte.
Magda geriet in tödliche Verlegenheit; sie konnte die Ungehörigkeit nicht zurückweisen, nicht sagen „er ist nicht mein Flemming“ und „dergleichen schickt sich nicht“. Es wollte nicht von ihren Lippen.
Sie konnte nur thun, als hörte sie nichts, und sich eifrig mit der verpfuschten Malerei einer andern Schülerin beschäftigen.
Am nächsten Mittwoch aber thaten die jungen Damen das äußerste, sie zu quälen. Abends vorher war der Ball bei der alten Gräfin Wallwitz gewesen. Magda hatte mit sehnsüchtiger Vergnügungslust dahin gedacht, wo sie René wußte, und hätte so viel, so viel darum gegeben, mit ihm tanzen zu dürfen. Nun klatschten die Mädchen das ganze Fest durch. Die kleine Sibylle Lenzow mußte sich die unerhörtesten Neckereien gefallen lassen wegen ihres Benehmens mit dem Lieutenant Wallwitz.
„Du warst wie ein Trabant um den Mond, immer um ihn ’rum,“ sagte Johanna von dem Busche, „Großmutter Wallwitz saß da wie ’ne geladene Wetterwolke, denn Du weißt doch, diese Wallwitze, der Lieutenant und Lilly, haben nicht viel, die müssen Millioneser heiraten.“
So ging das in einem Ton fort.
„Großmutter Wallwitz hätte nur lieber auf ihre teuere Lilly passen sollen,“ rief Sibylle und hielt ihren Stein, auf dem das Edelweißbouquet immer noch nicht fertig war, weit von sich ab, ihn wohlgefällig besichtigend, „wie die mit Flemming kokettiert hat! So ’was ist mir noch nicht vorgekommen.“
Magda verbesserte gerade mit ihrem Pinsel Johannas Rosenstück auf der Leinwand und plötzlich schien es, als stände auf der Leinwand anstatt der Blumen ein Mädchengesicht mit lachendem Mund und einer dunklen Lücke in der weißen Zahnreihe.
„Na,“ meinte Johanna von dem Busche, die sich behaglich rückwärts gelehnt hatte, um Magda Platz zu geben, „René Flemming reagierte aber auch nicht schlecht. Baron Krausneck sagte noch, das kommt davon, wenn man diese Leute in unsern Salons zu sehr verzieht, sie vergessen jede Grenze.“
„Baron Krausneck sollte sich glücklich schätzen, mit René Flemming in demselben Haus verkehren zu dürfen“ sagte Magda mit blassen Lippen.
„Ach so –“ machte Johanna gedehnt.
„Das finde ich auch,“ rief Sibylle eifrig, „Dein Krausneck ist ein … na, nur immer parlamentarisch, sagt Papa, wenn ich mich mit den Brüdern prügle. René Flemming ist ein großer Künstler und ein himmlischer Mensch und wenn er eine Dame so auszeichnet, wie er Lilly Wallwitz auszeichnete, so ist es ein Ruhm und eine Ehre für sie. Und schließlich wird eine Lilly Wallwitz auch noch lieber einen Mann heiraten den sie liebt, und der vielleicht mal unsterblich werden kann, als irgend einen greulichen Millionär.“
Das Gelächter der andern schnitt der Verteidigerin Renés das Wort ab.
Und wie grausam sie ihn verteidigt hatte – für Magdas Ohren!
Als sie gegangen waren, lächelte Magda in sich hinein.
„Er wird kommen und mit mir über die Mädchen lachen,“ dachte sie.
Und sie wartete.
Aber er kam nicht.
René Flemming verkehrte sonst nicht bei der alten Gräfin Wallwitz, die nur betagte Freunde und Freundinnen zu Whistpartien und kleinen Diners bei sich sah. Aber die Anwesenheit ihrer Enkelin hatte sie veranlaßt, ihrem Enkelsohn, dem Lieutenant Walfried von Wallwitz, zu sagen: alle seine Kameraden und Freunde möchten bei ihr Karten abgeben. Und durch ihre alten Freundinnen hatte sie ein ähnliches Aufgebot an die jungen Damen der Gesellschaft ergehen lassen. Leider hatte sie nicht Hortense von Eschen bei der Organisation des neuen und jungen Lebens in ihrem Hause um Rat gefragt, und auch Herr von Lenzow, Sibyllens Vater, der Magda sehr wohl wollte, hatte zufällig nicht an diese gedacht. So erfuhr René zu seinem Bedauern, daß er Magda auf dem Ball nicht treffen werde, während er es sich sehr reizvoll gedacht hatte, inmitten der Welt das heimliche Einverständnis mit ihr zu fühlen.
Mit mäßigem Vergnügen setzte er sich in den Wagen, denn in seiner beflügelten Arbeitsstimmung schien ihm jeder Abend, den er anderswo als an seinem Schreibtisch und Klavier verbrachte, ein Verlust. Raubte seine Dirigentenpflicht ihm doch ohnehin schon viele Abende.
Aber er hatte es seinem lieben Wallwitz nicht abschlagen mögen, der ihm noch extra gesagt: „Lilly interessiert sich fabelhaft für Dich, Du mußt kommen.“
Walfried und Lilly waren die Kinder eines jüngeren Sohnes, auf den der Grafentitel nicht überging. Das Vermögen der Familie bestand in einem Majorat. Dem jüngeren Sohne hatte die nicht unbemittelte Gräfin ein Gut gekauft – es sollte eine klägliche Scholle sein. Auch hatte sie Lillys Erziehung bestritten und diese war durchaus nicht im Rahmen der väterlichen Verhältnisse. Die Welt sagte, daß die alte verwitwete Gräfin ihren ältesten Sohn nicht sonderlich liebe und ihr gesamtes Privatvermögen bei Lebzeiten für den jüngeren Sohn und seine Kinder aufbrauche.
Nun, René wußte genau, daß wenigstens sein Freund aus der großmütterlichen Tasche eine reichliche Zulage erhielt. Und auch, daß sie ihr ruhiges Leben ganz umänderte der Enkelin zuliebe, mochte ein weiterer Beweis für die Wahrheit der Gerüchte sein.
In den großen kahlen Räumen konnte sich die Jugend breit genug machen. René fand, als er sich ein wenig umsah, daß es den Eindruck machte, als ob die ungenügend vorhandenen Möbel in zwei, drei Räume zusammengetragen waren, die andern Zimmer und Säle aber mehr als dürftig ausgestattet seien.
Er ließ sich von Wallwitz der Dame des Hauses vorstellen, einer großen gebeugten Frau, mit einer Brille vorm knochigen Gesicht und einer unter dem Kinn geschlossenen Haube, die von einer ringsum gleichmäßig dünnen weißen Rüsche umgeben war. An der alterswelken Hand trug die Dame einen sehr auffallenden breiten, vielverschnörkelten Goldring. René sah es, als er die Hand küßte.
Er begrüßte auch Hortense, die wie immer in königlicher Haltung, schön gekleidet, den Mittelpunkt einer Gruppe bildete. Aus diesem Kreis zog Wallwitz ihn fort.
„Lilly will Dich sehen,“ sagte er.
Wallwitz schien auf den ersten Blick der typische Lieutenant, mit seiner schlanken Taille, den breiten Schultern, dem vorschriftsmäßig friserten Blondhaar und dem blonden Schnurrbart im rötlichen Gesicht. Seine blauen Augen waren nicht von Brauen überwölbt, aber das scharf vorspringende und abschneidende Stirnbein ließ doch den Eindruck der Fadheit nicht aufkommen, die fehlende Brauen leicht hervorrufen.
Bei näherem Zusehen bestätigte auch Wallwitz die Thatsache, daß es keine Typen giebt, und daß selbst der gleiche Bildungsgang, der gleiche Ideenkreis, die gleiche Tracht nicht die Spuren der Persönlichkeit zu verwischen vermögen.
[715] Wallwitz schwärmte sehr für Musik und, bei völliger Unkenntnis der Klassiker, natürlich einseitig für Wagner, in dessen Werken er die Motive kannte und mit einer prompten Genauigkeit bezeichnen konnte, als ständen sie im Dienstreglement. Natürlich wurde der Ballabend auch mit dem Marsch aus „Tannhäuser“ eingeleitet, den die Regimentsmusik in einem Nebenzimmer blies.
Unter den Klängen desselben ward René zu dem Fräulein von Wallwitz geführt. Als Lilly den Bruder mit dem Hofkapellmeister herankommen sah, ließ sie ihre Freundinnen und Kavaliere stehen und ging den Männern entgegen.
„Nun endlich!“ sagte sie, „es war sehr unartig, daß Sie uns Sonntag vor acht Tagen einfach sitzen ließen.“
René entschuldigte sich und sah ihr gerade ins Gesicht. Es erging ihm wie allen Leuten: die dunkle Lücke in dem weißen Gebiß zwischen den roten vollen Lippen fiel ihm sogleich auf. Aber ihm war, als gäbe der kleine Schönheitsfehler dem hübschen Antlitz einen pikanten Reiz.
„Ich habe Ihnen die Polonaise und den Kotillon aufbewahrt,“ erklärte sie, „denn ich dachte mir, daß Ihre Unterhaltungsgabe größer sein würde als Ihre Tanzkunst.“
René war an Entgegenkommen gewöhnt, aber dies franke und starke schmeichelte ihm doch ein wenig, besonders auch, weil es ihm von einer verzogenen Dame der ersten Gesellschaft gezeigt ward. Hinter den Coulissen, vermöge des dort herrschenden freien Tons und im Bewußtsein seiner Machtstellung als Dirigent, hätte ihn diese Art und Weise ganz gleichgültig gelassen.
„Lilly hat sich in der Genfer Pension eine erschreckliche Dreistigkeit angewöhnt,“ sagte Wallwitz, der immer noch nicht wußte, ob er sich über sie beunruhigen sollte oder ob er lachen dürfte.
„Wahrscheinlich täuschen Sie sich, gnädiges Fräulein. Ich tanze sehr gern und danke Gott, wenn man nicht die soziale Frage mit mir lösen oder sonstige Bildungsfunken aus mir herausschlagen will. Aber jedenfalls danke ich Ihnen für die Bevorzugung,“ meinte René.
„Bloße Neugier,“ sagte sie lachend und sah ihn mit ihren unruhigen, goldflimmernden Augen so durchdringend an, daß ihm ein wenig schwül ward.
Der Tannhäusermarsch war beendet und jetzt begann die Polonaise. Wallwitz stürzte davon, um Sibylle Lenzow zu holen, mit welcher er den Ball eröffnen und den Reigen anführen wollte.
[725] Wie der Zug der Polonaise nun im großen Saal umging, während in den Thüren zu den Nebenräumen die nichttanzenden Gäste zusahen, begann Lilly das Gespräch mit dem neben ihr schreitenden René.
„Finden Sie nicht, daß es bei Großmama aussieht wie in einem Wartesaal erster Klasse. Ich bin neugierig, ob nachher so viel Stühle da sind, daß wir alle sitzen können,“ sagte sie.
„Die alte Dame, die doch wohl den größten Teil ihrer Einrichtung draußen auf den Gütern ihrer Söhne hat, konnte sich doch unmöglich für die wenigen Wintermonate neu einrichten,“ meinte er.
Lilly fuhr fort, sich über alles zu moquieren, über die sperrigen Kronleuchter mit den langen Lichtern, über die roten Plüschbänke an den Wänden und über das Durcheinander von eigener und gemieteter Dienerschaft.
René erschien dergleichen immer als ein Zeichen von gesellschaftlicher Ueberlegenheit. Er, der aus kleinen, bürgerlichen Verhältnissen Emporgekommene, hätte sich geniert gefühlt, wenn bei einer Gasterei in seinem Hause nicht alles von tadellosem Stil gewesen wäre; die innere Freiheit, selbst mit seinen Gästen darüber zu scherzen, hätte er sicher noch nicht gehabt. Aber er merkte sich den Zug wohl.
Dann stellte Lilly ein förmliches Verhör mit ihm an: wo er wohne, wie er wohne, ob er viel zu thun habe. Und René erzählte nicht ohne Freude an so viel Teilnahme, daß er in der Ringstraße in der Nähe des Opernhauses eine reizende Parterrewohnung habe, daß eine alte Magd seiner verstorbenen Eltern bei ihm Wirtschafterin und Köchin in einer Person sei, und daß er, wenn seine Dirigentenpflicht ihn nicht ins Opernhaus rufe, abends viel daheim bleibe.
Sie besprachen die alltäglichsten Sachen, aber durch die lebhafte Art des Fragens und Hörens wußte Lilly sie wichtig zu machen. Sie hatte auch eine besondere Art, von der Seite ihn anzusehen, die auf ihn wirkte.
René fand, daß sie unglaublich kokett sei, aber es gefiel ihm ungemein, weil sie es mit ihm war.
Sein Gefallen wuchs aber zu einer prickelnden Freude, als er bei den folgenden Tänzen beobachtete, daß Lilly den übrigen Herren gegenüber nicht das gleiche, sprühende Wesen entfaltete.
Er wagte es, sie inmitten einer Polka zu einer Extratour zu holen. „Sie haben mich wahrhaft erlöst,“ flüsterte sie, „Himmel, was giebt es für langweilige Männer bei euch in Leopoldsburg.“
Also er war willkommen und vielleicht sogar erwartet gewesen.
„Der nächste Tanz ist eine Quadrille,“ sagte er, „darf ich mit Sibylle von Lenzow Ihr Vis à vis sein?“
„Ich habe Baron Krausneck. Gut, das machen wir.“
Während der Quadrille geschah nun etwas ganz Natürliches. René, von dem offenkundigen [726] Wohlgefallen Lillys an ihm in seiner Eitelkeit aufgestachelt, fing auch seinerseits an, eine besondere Lebhaftigkeit zu entfalten. Er fühlte mit einem großen Vergnügen, daß seine Erscheinung jeden Vergleich mit allen anwesenden Männern aushalten konnte. Die Persönlichkeit auf einem ernsten Gebiet zur Geltung zu bringen, war Renés tägliches Ringen. Nun erschien es ihm als lustige Spielerei, auf diesem kleinen, flachen Turnierfeld sie ebenfalls durchzusetzen und andere zu übertrumpfen, vielleicht war es auch noch besonders deshalb reizvoll, weil er ein Neuling war.
Lilly hatte sich offenbar von weitem ein bißchen in ihn verliebt – wie junge Mädchen es in einen Künstler thun, der mit Recht oder Unrecht als interessant gilt. Sie sollte sehen, daß er immerhin unterhaltender war als zum Beispiel der hochnasige Krausneck an ihrer Seite. Und so wechselten sie schnelle Worte, bedeutungsvolle Blicke hin und her, als bestehe seit langem ein vertrautes Einvernehmen zwischen ihnen. Sie thaten voreinander, als ob sie sich nur über den ungeschickten Krausneck moquierten, der kein hervorragender Quadrilletänzer war, während in der That das Thema ihren Flüsterworten und bedeutungsvollen Blicken nur der Vorwand war, um diese selbst zu wechseln. Da Sibylle Lenzow ihre Augen meist bei der Nebenquadrille hatte, in welcher Wallwitz tanzte, so fühlten sie sich ganz unbeobachtet und Krausneck trauten sie nicht einmal Verstand genug zu, daß er ihr Benehmen bemerke.
René blieb den ganzen Abend in der glänzendsten Laune. Das reizende Mädchen machte ihm viel Spaß. Und seit er bemerkt hatte, daß sie nur mit ihm so kokettierte, nannte er sie auch nicht mehr kokett, sondern natürlich und wahrhaft.
Beim Cotillon saßen sie in einer Ecke beisammen.
„Ein bißchen versteckt,“ bat Lilly, als sie den Platz suchten, „sonst wird man ewig geholt.“
Aber die Herren, welche stark beleidigt waren, daß die junge Dame in ihrer doppelten Eigenschaft als „Haustochter“ und „neue Erscheinung“ sich ihnen so sehr entzogen und Flemming gewidmet hatte, die Herren holten Lilly fast gar nicht.
Wallwitz hatte im Lauf des Abends flüchtig seiner Schwester zugeraunt: „Die Kameraden klagen, daß Du nur Augen für Flemming hast. Ich bitte Dich – wir sind nicht in einer Weltstadt! Hier wird gleich alles ausgedeutet und besprochen.“
Danach aber hatte er sich nicht mehr darum kümmern können, ob Lilly seine Warnung befolge. Denn er war selbst so vollauf mit Sibylle Lenzow beschäftigt und so voll Sorge und Liebe, daß er genug mit seiner eigenen Sache zu thun hatte.
Die Warnung reizte Lilly, eine noch größere Intimität zur Schau zu tragen. Sie erzählte sogar René lachend davon und sagte, daß es zu ihren Specialvergnügungen gehöre, Klatschbasen zu ärgern und zu entsetzen.
„Ueberhaupt,“ erklärte sie, „es ist mein Vorsatz, mich den Leopoldsburger Winter noch gründlich zu amüsieren. Es ist mein einziger Winter – nachher, o …“
Sie seufzte mysteriös.
„Was ist denn nachher?“ fragte er und nahm ihren Fächer.
„Man wird mich verheiraten,“ sagte sie und nickte in plötzlicher Melancholie vor sich hin.
Er faltete den Fächer auf und zu.
„Doch nur, wenn Sie aus Liebe selbst den Wunsch haben.“
„Wir armen Mädels können nicht immer den Mann bekommen, den wir am liebsten nähmen,“ sprach sie leise. Sie sah ihn an. Er fühlte den Blick und schlug langsam die gesenkten Lider auf, um diesem Blick voll zu begegnen. Und in ihren Augen wie in den seinen stand ein heißer Wunsch.
René aber war sich seines Blicks und Ausdrucks vollkommen bewußt. Obschon ihn das Temperament des kecken Mädchens reizte und ihm eine ungemeine Unterhaltung gewährte, erwiderte er ihren Blick nur mit den neugierigen Hintergedanken „wie weit geht sie?“
„Glauben Sie, daß die Liebe langsam erwächst oder wie der Blitz kommt?“ fragte er langsam, ohne die Augen von den ihren zu wenden.
„Ein Blitzschlag – vollständig,“ flüsterte sie.
René wurde hier von Sibylle Lenzow geholt. Das gute kleine Ding sah in ihm ein höheres Wesen, weil Wallwitz einmal so etwas gesagt hatte, als hielte er Flemming für den berufenen Nachfolger Richard Wagners.
Als er an seinen Platz zurückkehrte, war auch Lilly fort. Ihre Wiedervereinigung erschien dann beinahe eine Freude nach ungeduldig und unnütz verbrachten Minuten. Sie setzten sich unwillkürlich näher zusammen.
Da war es René, als genierte ihn etwas. Er sah suchend umher und erblickte unfern in einer Thür Hortense von Eschen am Arm irgend eines alten Würdenträgers. Sie schaute aufmerksam und, wie es ihm schien, ernst zu ihm herüber.
Ein kurzer Trotz wallte in ihm auf. War er denn in einem Zwang? Hatte er denn die Freiheit nicht mehr, sich mit einer Dame harmlos zu amüsieren, die ihm auf allen Wegen entgegen kam? Das war ja nur ein Scherz, der zu Ende ging mit den letzten Klängen der Ballmusik. Das alles hatte ja mit Magda nichts zu thun. Er fühlte sich plötzlich gereizt gegen Hortense und beinahe auch gegen die ferne Magda. Er erinnerte sich mit einem Mal, daß sie ein trauriges Gesicht gemacht, als er davon sprach, daß er auf diesen Ball gehe. Und ganz grundlos ärgerte er sich.
Er wollte sich durchaus seine Unabhängigkeit beweisen und fand dazu kein anderes Mittel, als mit erhöhter Eindringlichkeit zu Lilly zu reden.
Die letzte Tour begann. Dann war es so wie so aus. Wer wußte, ob er Lilly Wallwitz noch oft wiedersah. Jedenfalls so lustig und so traulich niemals mehr.
„Es war sehr schön heute,“ sprach er „Ich erinnere mich eines gleich animierten Balles in meiner Leopoldsburger Praxis nicht.“
„Und früher? Haben Sie viel glänzende Sachen mitgemacht? Wo?“
„Ach, gar keine. Für mich hieß es immer, studieren und mein kleines Erbe einteilen, daß es so ziemlich für die Studienjahre ausreichte. Ich wollte in jungen Jahren schon auf bemerktem Posten stehen. Da mußte ich mich an die Arbeit halten. In die sogenannte Welt bin ich hier erst in Leopoldsburg getreten,“ erzählte er offenherzig, eingedenk ihrer Offenheit über die Mängel des Hauses.
„Das interessiert mich sehr. Sie müssen mir einmal Ihr ganzes Leben erzählen, auch alles – alles – Schreckliche daraus. Ja?“
Er lächelte über ihre Neugier auf das „Schreckliche“.
„Mein Leben ist viel eintöniger gewesen, als Sie denken. Ich will es Ihnen gern erzählen. Aber die Gelegenheit dazu wird sich schwerlich finden.“
„Sie wird sich finden. Geben Sie mir als Unterpfand, daß Sie Ihr Versprechen halten, die Gardenie aus Ihrem Knopfloch!“
„Sie ist aber schon angebräunt.“
„Das schadet nichts. Und ich gebe Ihnen die Rose aus meinem Taillenbouquet.“ Sie breitete sich den Fächer vor und löste mit einiger Mühe eine Rosenknospe aus dem Strauß, der sich von der Mitte des Leibchens bis zur Schulter erstreckte. René sah zu und sah besonders auf die schönen Schultern.
„So habe wir jeder ein Andenken an den Abend, und wenn ich Sie wiedersehe, werde ich immer fragen: haben Sie die Rose noch?“
Er fand dies nun reichlich kindisch, nahm aber die Blume und sagte „Und ich werde Ihnen immer antworten: ich trage sie bei mir.“
Der Cotillon war aus. Wie ein bunter Schwarm bewegten sich die Paare durcheinander und verloren sich dann in den übrigen Räumen; die einen, um sich zu verabschieden, die andern, um still zu verschwinden. Wallwitz suchte noch einen engeren Freundeskreis zu einer kleinen Schlußplauderei zusammen zu halten.
René wie auch Lilly zögerte; in stillem Einverständnis wußten sie es zu machen, daß sie die letzten in dem großen, kahlen Tanzsaal waren. Ihnen war es, als hätten sie sich noch etwas zu sagen, als könnte der Abend so noch nicht zu Ende sein.
Und als sie sich allein befanden, dicht an der Wand, neben einer Thür stehend, die in das Wohnzimmer der alten Gräfin führte, schwiegen sie doch. René sah das Mädchen lächelnd und erwartend an. Sie hob das Gesicht zu ihm empor und lächelte auch – es war ein unsicheres Lächeln und die goldenen Augen schlossen sich halb. Da, als René so die schwellenden Lippen sah und die Perlenreihe der Zähne mit der kleinen Lücke darin, kam ihm das Verlangen, diesen durstigen Mund einmal, nur einmal mit einem Kuß zu schließen.
Das starke Wagnis, die Gefahr, jeden Augenblick überrascht werden zu können, die Neugier, wie sie die Kühnheit, die sie so sehr herausgefordert hatte, aufnehmen werde, reizte ihn und steigerte [727] sein Verlangen bis zur Unwiderstehlichkeit. Ihm wäre es gewesen, als hätte seine Männlichkeit eine Niederlage erlitten, wenn er Lilly nicht küßte.
Er neigte sich, und schnell und heiß fühlte sie seine Lippen sich auf die ihren pressen.
In dem Stimmengeschwirr nebenan rief man nach Lilly.
Ohne René Flemming noch anzusehen, huschte sie davon. Er wußte nicht, ob er ihr folgen sollte, hatte auch auf einmal keine Lust mehr, noch dazubleiben, und ging durch den Saal in den Flur hinaus. Dort traf er Bekannte, schloß sich ihnen an und ging mit ihnen noch in den „Wilden“, wo er eine Stunde beim Glas Bier in höchst gemütlicher und völlig harmloser Stimmung verbrachte. Das Ballfest war sehr amüsant und für ihn ein ganzer kleiner Roman gewesen, der in dem eroberten Kuß seinen triumphierenden Abschluß gefunden. Innerlich war das Erlebnis für ihn ganz beendet, hatte aber den Wert einer sehr schmeichelhaften Erinnerung, welche ihm die gute Laune erhöhte.
Er schlief traumlos und fuhr am andern Morgen sehr ungnädig auf, als seine Wirtschafterin ihn weckte. Was, jetzt schon aufstehen? Ach ja, er hatte es, bevor er zum Ball ging, ausdrücklich befohlen, man solle ihn früh wecken. Um halb Zehn war eine Probe, vor der ihm graute.
Eine neue Oper, die ein Vetter Seiner Hoheit komponiert hatte, wurde einstudiert. René hatte das erst seinem Kollegen Viebig zuwälzen wollen, aber Hoheit hatten, so gütig wie sie stets waren, zu René gesagt „Mein lieber Flemming, ich hoffe, daß Sie selbst Ihr Interesse dem Werk zuwenden und es mit unsern besten Kräften besetzen werden. Insbesondere könnten Sie, wenn Sie auch der Meinung sind, die ‚Zenobia‘ mit der Lorenzen besetzen.“
René war nun zwar nicht der Meinung, aber man pflegt die von den Wünschen einer Hoheit abweichende nicht auszusprechen. Die Intelligenz der Kaspari, mit welcher letzteren er selbst die Rolle besetzt haben würde, hätte ihm die Arbeit erleichtert, welche mit der von Hoheit protegierten Lorenzen eine wahre Schinderei ward.
Er fuhr in seine Kleider, überflog beim Thee die eingegangene Post und stürzte ins Theater.
Hier umwuchsen ihn die Schwierigkeit seiner Aufgabe, daß er zehnmal dachte, er würde den Kopf verlieren, und dabei durfte er nicht einmal loswettern, denn Hoheit kamen selbst, um der ersten Orchesterprobe zuzuhören. Und obendrein ward ihm der „lebhafte Wunsch“ Hoheits überbracht, das neue Werk Sonntag in acht Tagen oder längstens in zwei Wochen zur Aufführung gebracht zu sehen. So ein „lebhafter Wunsch“ war ein Befehl. Der ganze Probezettel, der schon für die Woche festgestanden, wurde umgeworfen und für den Nachmittag und für jeden Morgen und Abend wurden Proben von „Zenobia“ angesetzt.
René prophezeite sich Verrücktheit als Folge davon, sprach sich gegen die Kaspari gründlich über die Borniertheit der Lorenzen, die schauderhaften Unzulänglichkeiten des Werkes aus und wünschte seinen Beruf zehnmal zu allen Teufeln.
Mittags aß er mit dem Tenor und dem Bariton, um ihnen bei Tisch gesprächsweise einige Lichter über ihre Rollen aufzustecken. Dann schlief er eine Stunde wie ein Toter und verbrachte den ganzen langen Nachmittag und Abend mit Klavierproben, in welchen er mit den Solokräften ihre Partien durchnahm. Abends dankte er seinem Schöpfer, als er im „Wilden Mann“ sein Beefsteak essen und mit guten Bekannten in übermütigen Späßen seinem überarbeiteten Hirn Beruhigung und Gegengewicht gönnen konnte.
Er hatte den ganzen Tag nicht an Magda gedacht, nur als er ins Bett ging, fiel ihm ein, daß er ihr eine Zeile schreiben wolle, um ihr zu sagen, wie er diese ganze Woche schwer beschäftigt sei. Er verschob es bis morgen.
Am andern Morgen fand er einen Brief von Wallwitz neben seiner Theetasse. Da erst fiel ihm die schöne Lilly wieder ein und mit einer kleinen Neugier öffnete er den Brief.
„Lieber Flemming! Du warst gleich nach dem Cotillon Dienstag Abend verschwunden, während wir noch riesig gemütlich zusammen blieben. Eine der jungen Damen, ich glaube es war meine Schwester, machte den Vorschlag, wir unverheirateten Kameraden sollten in unserm Kasino zur Nachfeier einen Nachmittagsthee geben; der Gedanke fand enormen Beifall. Meine gütige Gönnerin, unsere Majorin, erklärte gleich, die Honneurs machen zu wollen. Natürlich wählten wir einen Tag, an welchem keine
große Oper ist. Also Freitag. Ich lade Dich hiermit im Namen der Kameraden ein. Auf Lillys Wunsch spielt unsere Musik aus Deiner ‚Suite‘ den ‚Reigen‘. Dein Wallwitz.“
René fühlte bei dieser letzteren Mitteilung einen kleinen nervösen Schauer. Die schmetternde Militärmusik sollte seinen „Reigen“ verarbeiten, dessen Wirkung von traumhafter Zartheit auf den Geigen, den Holzblasinstrumenten und der Harfe beruhte.
Dann dachte er ungefähr: „Ei, seh’ einer an. Lilly Wallwitz scheint den kleinen Ballroman weiterspinnen zu wollen.“
Er hatte nur gerade im Moment so gar wenig Zeit für solchen Zeitvertreib. Und doch in all der greulichen Arbeit, die so gar nichts Erhebendes hatte und dennoch alle Kräfte anspannte, war das ein amüsanter Zwischenfall.
„Viebig muß Freitag Nachmittag mit der Lorenzen repetieren,“ beschloß er bei sich.
In Gedanken über diese kleine Angelegenheit verloren, vergaß er wieder, an Magda zu schreiben. Abends war der „Freischütz“. Renés Auge überflog jedesmal den ersten Rang, wenn er in den Orchesterraum trat. Von Magda konnte er nichts entdecken. Wohl aber saß Lilly in der äußersten Loge rechts und vorn, so daß er nicht nur grüßen mußte, sondern auch immer das Bewußtsein ihrer Anwesenheit behielt. Sowie er sich nur ein wenig nach rechts wandte, sah er den hellen Fleck, den ihr Kleid im verdunkelten Haus bildete, und sah, daß ihr Opernglas auf ihn gerichtet war.
Freitag morgen empfing er einen Strauß Gardenien, ein Kärtchen hing daran und es stand darauf zu lesen:
René lachte laut und warf das Kärtchen achtlos in den Papierkorb.
Er wußte ganz genau, daß der Spenderin seine „Meister-“, respektive „Künstlerschaft“ ziemlich fremdes Land war und nur die willkommene Etikette freieren Verkehrs.
Indessen stellte er doch den Strauß sogleich ins Wasser und schmückte sein Knopfloch nachmittags mit einer Blume aus demselben.
Dabei fiel ihm etwas Merkwürdiges ein. Im Verkehr mit der ernsten Magda fühlte er alle herrischen Instinkte in sich erwachen und war wie von selbst der Leitende, Belehrende. Von der thörichten kleinen Lilly Wallwitz hatte er sich beinahe lenken und kommandieren lassen. Das kam: hier lieh er sich zu einem Spiel her, dort aber war der Ernst des Lebens!
Und just war ihm so recht ums Spielen. Er hatte den ganzen Morgen wieder Aerger und Plage gehabt.
Im Kasino ging es lustig zu. „Wenn Junggesellen Damen ein Fest geben, ist die Stimmung immer von vornherein eine besondre. Das Außerordentliche des Ereignisses scheint alle Schranken der Steifheit niederzureißen,“ sagte Hortense, die auch anwesend war und gleich auf René traf.
Er widmete sich ihr artig eine ganze Weile und war dabei neugierig, ob sie ihre von ihr prophezeite Herrschsucht bethätigen und etwas über den Wallwitzschen Ballabend sagen werde. Aber Hortense sagte nichts und der Name „Magda“ wurde zwischen ihnen nicht ausgesprochen.
Dann fand er sich mit Lilly zusammen, welche keck fragte: „Wieder eine Gardenie? Gekauft? Geschenkt bekommen?“
„Geschenkt bekommen! Und wenn ich die holde Spenderin nur ahnte, würde ich die kleine Geberhand so küssen“ sagte er und nahm ihre Hand und küßte sie.
Natürlich wollten die jungen Damen tanzen, obgleich sie in Besuchstoiletten waren und die Hüte auf dem Kopfe hatten. Die zum Konzertieren bestellte Kapelle war darauf vorbereitet.
Lilly wollte nach dem „Reigen“ aus der „Suite“ tanzen.
„Mir stehen die Haare zu Berge,“ flehte René lachend, „ich beschwöre Sie, von der Idee abzukommen.“
Aber gespielt sollte der Reigen werden. Alle hörten andächtig zu und klatschten stark Beifall. René jedoch war zu Mut, als liefen ihm Ameisen den Rücken entlang, ein so körperliches Unbehagen machten die brutalen Töne seinen Nerven. Dann überschüttete Lilly, die in schwärmerischer Haltung dagesessen, ihn mit überschwenglichem Lob für das Werk, dessen Geist und äußere Züge er selbst nicht wiedergekannt hatte in der harten Uebertragung.
In ihm war eine Doppelstimmung. Er fühlte ganz wohl, wie geschmacklos, wie gewollt das alles war, und dennoch gab er sich hin und dennoch reizte es ihn.
Er stellte keine Vergleiche an und ihm kam keine Erinnerung [730] an Magdas feines, wortkarges Verständnis. Er dachte überhaupt gar nicht an Magda.
Man war sehr vergnügt, aber für einen Nachmittagsthee schien denn doch, als es Neun schlug, das Ende gekommen. Das Aufbrechen Hortensens und der vier oder fünf älteren Damen, die außer ihr noch anwesend waren, gebot den jungen Mädchen schleunigen Abschied.
Lilly hatte keinen Dienstboten nachgeschickt bekommen, sie besaß ja in ihrem Bruder die natürliche Begleitung. Sibylle Lenzow ihrerseits war im Wagen von Lilly abgeholt worden und hatte ohne weiteres angenommen, daß sie ebenso wieder heimbefördert werden würde. Die Geschwister Wallwitz hatten aber keinen Wagen bestellt, weil Lilly nach Hause gehen wollte – ein Vorsatz, der von der Hoffnung eingegeben war, auf diese Weise vielleicht das Zusammensein mit Flemming zu verlängern.
Während des Theeabends hatte Sibylle einige Andeutungen über die zu Weihnacht bevorstehende Ankunft einer kinderlosen, reichen Tante gemacht, von deren Dasein in der Lenzowschen Familie Wallwitz bisher keine Ahnung gehabt. Dies war eine Angelegenheit von höchster Wichtigkeit für ihn und Sibylle. Wenn das eine Tante war, der man die Hergabe des zur Heirat nötigen Vermögens zutrauen konnte, so durfte am Ende doch noch zur Aussprache kommen, was bis jetzt noch immer unausgesprochen zwischen ihm und Sibylle schwebte. Er war daher von dem Wunsch bewegt, Sibylle nach Haus bringen zu dürfen, um mit ihr unterwegs über die Tante zu sprechen.
Als die Vier, die sich wie natürlich zusammengefunden hatten, vor dem Kasernenthor standen, gingen zunächst die zwei jungen Damen voran. Diese Einteilung behielten sie bei, so lange Bekannte dicht vor oder hinter ihnen waren.
Die Kaserne lag an den Abhängen eines der die Stadt umgebenden Hügel und man hatte noch fast zwanzig Minuten zu gehen, bis man in die Ringstraße kam.
Als man sich derselben näherte, wandte Lilly sich mit einer Frage an den hinter ihr gehenden René. Er antwortete und kam einen Schritt vor und so verschob sich die Gruppierung und sie gingen paarweise.
An der Ecke des von der Kaserne her in die Ringstraße hineinführenden Weges sagte Lilly: „Höre, Wallfried, ich fände es bei dem Nebelwetter unsinnig, wenn wir erst alle Sibylle heimbringen wollten. Nicht, Schätzchen, Du nimmst es nicht übel, wenn Wallfried Dich allein in Deine Johannesstraße bringt? Herr Flemming begleitet mich heim – ich hoffe wenigstens.“
Eine Sekunde zögerte Wallwitz. Es wäre so viel natürlicher gewesen, mit der Schwester zu gehen und Flemming Sibylles Begleitung zu überlassen. Aber er sagte sich dann: ich vertraue die Schwester dem Freunde.
„Sie bieten mir nicht den Arm an?“ fragte Lilly, als sie allein gingen.
„Es ist in Leopoldsburg nicht Sitte, morgen würde die ganze Stadt davon sprechen,“ antwortete er.
„Ja!“ sagte sie und ließ ihren Schleier herunter. „Wer kennt mich denn schon hier so genau?“
Er gab ihr den Arm und drückte ihn leise. Die Luft war von abendlichem Oktobernebel gesättigt, der wie eine weiße Wand die Ferne vermauerte und die nächsten hundert Schritt weit wie eine Krepphülle um die Gaslaternen lag. Die Quadersteine auf dem Bürgerstieg waren blank vom nassen Niederschlag. Ab und zu rollte auf dem Fahrdamm eine Droschke vorüber; in den Häuserwänden standen die hell erleuchteten Fenster wie gelbe Dominosteine auf dunklem Grund.
Die beiden späten Spaziergänger – denn sie hatte schweigend einen unnötig weiten Weg gewählt, sprachen nur wenig zusammen und die ganze Welt hätte jedes Wort hören können.
Aber dennoch lag es auf ihnen wie Reiz und Spannung von etwas Verbotenem. Ihre Stimmen waren unklar und ihre Gespräche nichtig. Die Antwort des einen auf die Bemerkung des andern hatte meist weder Sinn noch Zusammenhang. Sie wurden sich dessen nicht bewußt.
Ihr Weg führte sie am Opernhaus vorbei. „Hier wohnen Sie?“ fragte Lilly.
René zeigte bald danach das Haus. Seine Fenster waren erleuchtet. Er hatte gesagt, er würde nach acht Uhr heimkommen.
Sie standen einen Augenblick still und sahen die hellen Fenster an. – Und dann gingen sie sehr schnell bis zum Hause von Lillys Großmutter, wo René sich im Vestibül sehr förmlich verabschiedete und Lilly seinen Blick vermied.
Zu Hause blieb René lange so zerstreut, daß er nicht wußte, was er zunächst beginnen wollte.
Endlich setzte er sich an den Schreibtisch. Ihm war eingefallen, daß Magda seit vielen Tagen keine Nachricht von ihm hatte. Er schrieb:
„Liebe Magda! Bis zu dem Tag, wo die unglückliche ‚Zenobia‘ heraus ist, darfst Du gar nicht auf mich rechnen. Die unfreudige Arbeit drückt so auf meine Laune, daß wir doch keine liebe, schöne
Stimmung zusammen haben würden. Versäume nicht, an jenem Abend ins Theater zu kommen, damit Du ermißt, wie viel Langeweile und Mühe ich hatte. Dein René.“
Nach diesem Brief, den er sofort zur Post tragen ließ, war ihm so leicht und frei ums Herz, als ruhe er von großer Pflichterfüllung aus.
Am andern Morgen zeigte er einen hinreißenden Eifer bei der Probe. Er befeuerte die Künstler, die verzagen wollten.
„In die unklare Aufgabe Klarheit zu bringen, sei unser Ehrgeiz! Seht, Kinder, bei solchen Sachen kann man beweisen, daß wir nicht nur reproduzierende Künstler sind,“ sagte er.
Und wenn seine Hand mit dem Dirigentenstab sich erhob, so war sie wie ein ehernes Merkmal der Sicherheit für alle.
Hoheit kamen und waren so entzückt, daß sie zum Regisseur äußerten: „Unser Flemming ist doch ein einziger Mensch.“ Und in seiner frohen Laune, die schon die Bewunderung des fürstlichen Vetters im Geist vorweg genoß, versprach der Herzog René die Mittel zu einer Musteraufführung von Wagners Nibelungenring, welche, wie er wußte, Renés heißer Wunsch für diesen Winter war.
In allen Pulsen fühlte René Thatkraft, Freude, weiteren Schaffensdurst klopfen. Das Gelingen erfüllte ihn immer wie mit einem prickelnden Rausch. Ihm war es, als würfe sich ihm der Reichtum des Lebens so üppig entgegen, daß er nur mühelos zuzugreifen brauche.
In der Mittagspause fand er ein Briefchen auf seinem Schreibtisch.
„Jemand, der den brennenden Wunsch hat, die Stätte einmal nur sehen zu dürfen, wo der Meister schafft und lebt, wird heute abend um sechs Uhr kommen, einen kurzen Blick in das Heiligtum werfen und wieder still von dannen gehen.“
Es war dieselbe Handschrift wie auf der Karte, die den Gardenienstrauß begleitet hatte. René hatte solches Herzklopfen, daß seine Finger, die das Briefchen hielten, zitterten.
Er dachte Verworrenes: nein, das ist ja undenkbar – welcher Wahnsinn – eine Kühnheit, die unaussprechlich gefährlich ist – ein dummer Backfischstreich ohne Ueberlegung – überspannter Hang zur Romantik – so weit, nein, so weit kann sie nicht gehen – –
Diese Gedanken wirbelten wie lauter zerhackte Sätze durch seinen Kopf.
Er faßte kurz den Entschluß, nicht zu Hause zu sein. Dann den andern: jetzt gleich bei der alten Gräfin einen Besuch zu machen und dabei Lilly zu verstehen zu geben, daß sie im Begriff gewesen sei, durch eine wahrscheinlich ganz unschuldige, romantische Idee sich in große Gefahr zu begeben.
Dann sagte er sich, er wisse ja gar nicht, ob die Briefschreiberin Lilly Wallwitz sei; zu dem Gardenienstrauß hatte sie sich mit klaren Worten ja nicht bekannt.
Es war so bequem, vor sich selbst zu thun, als wisse er’s nicht.
Plötzlich fiel ihm ein, daß er in seiner öffentliche Stellung sehr oft schon Damenbesuch empfangen hatte. Noch neulich war die junge Pastorin Windermann bei ihm gewesen und hatte gefragt, ob er wohl ihren kleinen Knaben unterrichten könne, der das reine musikalische Wunderkind sei. Und erst vorige Woche hatte er Frau von Palzow mit ihrer Tochter empfangen, um die Stimme der schönen, jungen, armen Dame auf ihre Bühnenfähigkeit zu prüfen.
Im Grunde war es etwas so Einfaches, daß nur die unnötig thörichte Form der Anmeldung als auffallend blieb.
Nachdem René seine Gedanken auf diese Weise in Ordnung gebracht und sich bewiesen hatte, daß er nichts Voreiliges thun dürfe, sondern einfach abzuwarten habe, wer sich als diese überspannte Verehrerin entpuppe, ordnete er seine Arbeiten so, daß er von sechs Uhr an ein Stündchen frei hatte.
Schließlich: er war nicht der Hüter junger Damen, die ein [731] Abenteuer suchten. Dieses hier, das sagte er sich mit heiterer Ruhe, hatte er nicht eingefädelt.
Aber seine heitere Ruhe wich doch einer unerträglichen Spannung, als er gegen Sechs heimkam und seine Zimmer durchschritt, sie auf ihre gefällige Ordnung prüfend.
In seinen Ohren brauste es. Er mußte ein Glas Wasser trinken, um seine Nerven zu beruhigen.
Er hatte genau dasselbe Gefühl wie damals, als er zuerst den Dirigentenschemel bestieg und die erste Oper leitete. Ihm fiel die ganze Situation so deutlich wieder ein, daß er plötzlich das rosige, dicke Gesicht des ersten Hautboisten wieder vor sich sah und die Glatze des Mannes, über die von hinten her Haarsträhne nach vorn gekämmt waren, die nun wie Sardellen aussahen. Die Oper aber war „Die Weiße Dame“. Noch hing der Theaterzettel eingerahmt in irgend einer Ecke des Musikzimmers.
„Komm, o holde Dame, sag’ an, wie ist Dein Name.“ Der Tenor damals hatte „einen Knödel im Halse“ gehabt und René hörte ihn im Geist deutlich singen:
„Komm o ho holde – he Da – hame.“
Die elektrische Klingel ließ ihren schrillen Ton erbeben.
René fühlte, wie ihm Knie und Hände zitterten.
Nein, es war nicht möglich, sie konnte es nicht sein, sie würde es nicht sein – –
Er hörte, wie die Wirtschafterin, die auf den Besuch vorbereitet war, die Außenthür öffnete – zum Verzweifeln langsam öffnete. Dann ein Kleiderrauschen auf dem Korridor.
Die Thür öffnete sich.
Die zögernd eintretende Gestalt war verschleiert. Aber René erkannte sie doch.
Er ergriff die beiden Hände und zog die unsicher Schreitende weiter ins Zimmer hinein, dem Licht zu.
„Wie gefährlich,“ murmelte er, „welche holde Thorheit.“
Lilly schlug den Schleier zurück und warf mit der gleichen Bewegung ihren Mantel ab.
„Was wagt Liebe nicht!“ rief sie.
[741]
In gewissen Zwischenräumen empfand die Herzogin das Bedürfnis, sich den Interessen des hohen Gemahls teilnehmend und fördernd zuzuwenden.
Sie hielt dies für ihre Pflicht als liebende Gattin, und als solche sich vor der Welt zu zeigen, war sie stets ängstlich bemüht. An die Heirat des herzoglichen Paares hatte sich seinerzeit ein arger Zeitungsklatsch geheftet: man sprach davon, daß die Tochter des kleinen, mediatisierten Fürsten eine Neigung zu dem Arzt ihres Vaters im Herzen getragen habe; man wollte wissen, daß auch der Herzog sich nur widerwillig zu einer Ehe habe bestimmen lassen und daß bei der Wahl schließlich die Freundschaft mit gesprochen, die ihn mit dem fast berüchtigt lebenslustigen Vater der jetzigen Herzogin verband. „Wenn ich denn ins Joch soll,“ sollte er gesagt haben, „wähle ich die Prinzessin Agathe, die hoffentlich ein wenig von dem Temperament und Esprit ihres Vaters geerbt hat.“ Der Herzogin waren diese Klatschereien nicht verborgen geblieben, und da sie in Wahrheit keinerlei andere Neigung im Herzen gehabt als die schüchterne und dankbare für den, der ihr Gatte geworden, so fühlte sie das nicht immer glücklich zum Ausdruck gebrachte Bedürfnis, dem Hof etwas zu „beweisen“. Daneben war sie jahraus jahrein besorgt, zu bethätigen, daß der leichtsinnige Ton am Hof ihres Vaters nicht auch ihr, einer regierenden Fürstin Ton sei, und ergab sich einer christlichen Wohlthätigkeit, bei deren Formen, Grenzen und Geist sie längst nicht mehr Herrin, sondern das Werkzeug ihrer „Helfer“ war.
Jene kurzen, programmmäßig vorher ausgearbeiteten Beweise von Anteilnahme an einer Sache, zu der die Herzogin ihrer Veranlagung nach gar keine seelische Beziehung gewinnen konnte, wirkten immer ungemein frostig. Es war ungefähr so, als hätte die Herzogin bei der Frage an ihre Oberhofmeisterin: „Liebe Gräfin, was habe ich heute alles zu thun?“ anstatt der Antwort: „Um elf Uhr wollten Hoheit die Gnade haben, den Pastor Bücking zum Vortrag über das Diakonissenheim zu empfangen und um zwölf Uhr hatten Hoheit huldvollst den Volksküchen einen Besuch in Aussicht gestellt,“ die andere Antwort empfangen: „Von elf bis zwölf Uhr dachten Hoheit sich gnädigst für Musik und Seine Hoheit den Herzog zu interessieren.“
Die ganze Umgebung der Herzogin und die Damen, welche zu näherem Verkehr herangezogen wurden, wurden allemal von einer gewissen Angst ergriffen, wenn ein solcher „Beweis von geistiger Uebereinstimmung der hohen Gatten“ in Aussicht schien, denn die Sache ward immer ungeschickt angefangen und endete mit einer Verstimmung des Herzogs.
Die Herzogin überraschte den Herzog mit einem Konzert in ihren Gemächern, in welchem Künstler sangen, die gerade beim Herzog mißliebig geworden waren, und [742] ließ Kompositionen vortragen, die den Herzog zu Tode langweilten.
Oder die Herzogin gönnte der Oper unverhofft ihren Besuch an Abenden, wo der Herzog gern ungestört in seiner kleinen Loge und dem daran stoßenden lauschigen Salon geblieben wäre und wo ein Werk aufgeführt wurde, das die Seele der Herzogin beleidigte.
So war ihr letzter „Teilnahmebeweis“ ein unerwarteter Besuch gewesen, als Verdis „Traviata“ gegeben ward. Und selbstverständlich mußte die hohe Dame den Gatten darauf aufmerksam machen, welchen Schmerz es ihr bereite, in einem Kunstinstitut, das den geistigen Stempel von Seiner Hoheit empfange, ein solches unmoralisches Werk aufgeführt zu sehen.
Der Herzog wetterte nach solchen Vorfällen und meinte, ob denn niemand seine Gemahlin in solchen Fragen berate, und wozu denn die Oberhofmeisterin da sei.
Allein er hatte gut reden: es stand im Pflichtenprogramm der Herzogin, daß „die intimen seelischen Beziehungen zwischen ihr und dem Gemahl mit Zartheit zu pflegen und der Einmischung der Hofchargen zu entziehen seien.“
Und für die Aeußerungen dieser „seelischen Beziehung“ nahm sie keinen Rat an.
Die bevorstehende Aufführung eines Werkes des hochfürstlichen Vetters war eine neue Gelegenheit für die Herzogin, ihrem Gemahl „eine Freude“ zu machen. Die Spötter am Hof behaupteten, in jedem Quartal genüge sie einmal dieser Pflicht, und somit war für das letzte Quartal dieses Jahres noch ein solches Ereignis in Aussicht gewesen.
Eine Zeit lang hatte die Herzogin den Plan gehabt, zur ersten Aufführung der „Zenobia“ einen berühmten Dirigenten heimlich einzuladen und Seiner Hoheit die Ueberraschung zu bereiten, daß anstatt Flemmings ein hochberühmter Mann den Taktstock führe. Alle Welt zitterte: der in Aussicht genommene Mann gehörte musikalisch einer vollkommen anderen Richtung an; Flemming würde sich tödlich beleidigt fühlen und dem Herzog sofort die Bitte um seine Entlassung senden, der Herzog würde alles vor der Aufführung erfahren – denn an eine Verwirklichung der Idee war aus künstlerischen Gründen ja gar nicht zu denken – und es würde ein schönes Unwetter geben.
Zum Glück erkrankte die Lorenzen und an dem nun etwas hinausgeschobenen Aufführungstag war jener Dirigent verhindert.
Die Herzogin war trostlos. Der erste Einfall hatte schon so viel Mühe zu denken gekostet. Woher einen andern nehmen?
Da kam Hortense und brachte der Herzogin einen Beitrag für den Christlichen Jünglingsverein. Die Kluge hatte durch die Oberhofmeisterin von der Dirigentengeschichte gehört, und da sie fürchtete, Hoheit könne einen andern Einfall von ähnlicher Naivetät und ähnlicher Beleidigung für René Flemming aushecken, so wollte sie vorbeugen.
„Ich möchte von Hoheit einen gütigen Rat erbitten,“ sagte sie, als sie die heiteren Blicke der Herzogin sah, mit denen diese das empfangene Geld überflog.
„Gern, liebe Eschen,“ antwortete die Herzogin gnädig, die von der Autorität und Tiefgründigkeit ihrer Ratschläge felsenfest überzeugt war.
„Da die ‚Zenobia‘ hinausgeschoben werden mußte, möchte ich der Hofgesellschaft gern Gelegenheit geben, Einiges aus dem Werke kennenzulernen. Man brennt vor Ungeduld. Ob Seine Hoheit es wohl unbescheiden fände, wenn ich auf einer Soiree durch Flemming einiges spielen ließe? Auch könnte Bärwald, der den Aurelianus singt, seine große Scene vortragen.“
Die Herzogin seufzte befriedigt.
„Liebe Eschen,“ sagte sie wichtig, „ich nehme jede Verantwortung auf mich und verspreche, mit meinem Gemahl für eine Stunde auf Ihrer Soiree zu erscheinen.“
Hortense versicherte, auf so viel Gnade gar nicht gefaßt gewesen zu sein, und schied vergnügt.
Die Herzogin aber, mit ihrer schleppenden Sprache, sagte bei der Tafel zu ihrem Gemahl, daß es ihr Wunsch gewesen sei, auch ihrerseits das künstlerische Unternehmen zu fördern – der Herzog erschrak – und daß sie deshalb die liebe gute Eschen bestimmt habe, eine Soiree zu geben, in welcher Flemming und Bärwald einiges aus ‚Zenobia‘ vortragen würden – der Herzog atmete auf. Er küßte seiner Gemahlin diesmal aufrichtig dankbar die Hand und betonte die Genugthuung, die es ihm gewähre, sich in diesem seinen Kunststreben völlig eins mit der Gefährtin seines Lebens zu wissen. Die Herzogin sah befriedigt alle Anwesenden an.
Hortense lachte, als man ihr das wieder erzählte, und versicherte, daß es in der That der Einfall der Herzogin gewesen, nahm aber den sichtlichen Unglauben nicht übel.
Nun hieß es sich tummeln – halb Leopoldsburg kam wegen dieser Soiree in Aufregung. Sogar Magda. Denn, daß sie hierbei, wo ihr Verlobter sich glänzend zeigen sollte, nicht fehlen dürfe, verstand sich von selbst für Hortense; obenein hatte die Herzogin Magdas noch neulich lobend erwähnt und erklärt, das symbolische Blumenstück mit den Dornen, Passionsblumen und Christrosen sei ein Meisterwerk.
„Putz’ Dich heraus, Kind,“ schrieb Hortense ihr, „damit die Herzogin, wenn sie Dich anspricht, kein Mitleid fühlt. Du weißt, das Mitleid unserer guten Hoheit kann sich sehr kränkend äußern.“
Magda that etwas Großartiges: sie ließ sich ein neues seidenes Kleid machen, das erste, seit ihr Papa „a. D.“ war. Sie tröstete sich immerfort damit, daß sie ein solches Stück nachher als junge Frau doch hätte haben müssen.
Die Wichtigkeit und Freude dieses Ereignisses konnte sie nicht allein tragen. Nicolai mußte die Stoffproben besehen und seinen Rat geben. Er war dabei so glücklich, als sollte er selber zu Vergnügen und Glanz gehen. Nach unendlichen Zweifeln entschloß Magda sich, unter der Zustimmung Nicolais, für Hellblau. Das Machen und der Besatz durften nicht viel kosten. Die Schneiderin saß zwei Tage im Atelier und Magda half tüchtig. Sogar Frau Sekretär Böhmer, die Flurnachbarin und Wirtin Nicolais, kam und machte Knopflöcher und zog Reihfäden aus.
Am festlichen Abend selbst war die ganze Etage einstimmig der Ansicht, daß Magda wundervoll aussehe. Die lichte Gestalt, von blauem Seidenschimmer umgeben, hatte ein sonderbares Publikum um sich: die treue Kathi mit einer frischen weißen Schürze und auf Socken, um durch keine rauhe Berührung das köstliche Kleid zu verderben, die Frau Böhmer mit den Mienen der Sachverständigkeit und endlich den vor Freude strahlenden Nicolai, der den Lichteffekt auf dem glänzenden Faltenwurf studierte. Aber sie waren alle sehr glücklich; die Hauptperson und ihr Publikum.
Daß Magda den Geliebten mehr als acht Tage nicht gesehen, war wie ausgelöscht aus ihrem Gedächtnis. Sie bebte vor Freude auf die kommenden Stunden. –
Das Trachsche Haus erstrahlte in Licht, und das Vestibül war wegen der zu erwartenden allerhöchsten Herrschaften mit Lorbeeren und Blumen wunderbar geschmückt. Oben in den Sälen war es schon sehr voll. Magda konnte schwer bis zu Hortense vordringen, und als sie sich ihr gerade nähern wollte, eilte die Hausfrau davon. Man hatte ihr das Zeichen gegeben, daß der Wagen der herzoglichen Herrschaften nahe, und sie hatte dieselben im Vestibül zu empfangen, unter dem Beistand des unten im Hause wohnenden Oberst von Waldheim.
Oben entstand eine drängende Bewegung. Magda fand sich neben einigen bekannten Damen bald eingekeilt, als die Gesellschaft zur Ruhe kam und eine Gasse für die Hoheiten gebildet hatte. Nun erst sah Magda ein bißchen umher.
Hier in der Menge der weißen, gelben, hellblauen und rosa Kleider, die zum Teil von Putz reich glänzten, schien sich die strahlende Pracht ihres eigenen Gewandes zur Bescheidenheit zu verflüchtigen. Aber das machte Magdas Laune nicht sinken. Eher schon, daß sie gar nichts von René sah.
Drüben stand Lilly von Wallwitz, vorn in der Reihe. Sie war sehr keck angezogen, in lebhaftem Gelb, und opalisierende Schmetterlinge waren an ihrer Taille, ihren Schultern, auf ihrem Rock befestigt.
„Die Wallwitz hat wohl gedacht, es sei Maskerade,“ sagte eine Dame. Eine andere antwortete: „Das Kleid ist aus Paris und es ist neueste Mode.“
Magda mußte immer hinsehen.
Dann wurde es still, man verneigte sich, die Hoheiten passierten. Alles drängte nach zum Musiksaal.
Dort war ein Podium errichtet, darauf ein Flügel stand.
Die Herrschaften nahmen Platz, hinter ihnen, soweit der Raum gestattete, die übrige Gesellschaft. Die Mehrzahl der Herren mußte zu ihrer Freude in den anderen Zimmern und Sälen sich verteilen. [743] Das Konzert konnte beginnen. Hortense erbat die gnädige Erlaubnis dazu von der Herzogin, und alsbald betrat René das Podium. Er hatte sich an der einen Seitenwand des Saales mühsam entlang drängen müssen.
Magda empfand einen kurzen Augenblick Unbehagen. Ihr schien es, als sei René durch das Podium von der Gesellschaft getrennt, als gehöre er nicht zu ihr, jetzt, da er so „auftrat“. Sie erinnerte sich ganz genau, von welch hohem Standpunkt aus früher ihr Papa auf alle ausübenden Künstler herabgesehen. Sie wunderte sich, wie ihr das so anflog. Und sie lächelte wehmütig in sich hinein: was würde ihr Vater sagen, wenn er wüßte, daß sie für Geld malte! Plötzlich wallte noch ein kleiner nachträglicher Trotz in ihr auf gegen die einstigen Ansichten des Papas. Die hatten sich ihr unbemerkt so eingeprägt, daß sie offenbar Spuren in ihrer Seele hinterließen. Sie pochte innerlich darauf, daß sie auch zur „Kunst“ gehöre, und bat René im Geist die kleine Vorurteilsanwandlung ab.
Nun begann er zu spielen. Er hatte so recht die Kapellmeisterart, den Flügel zu behandeln: mit etwas hartem Anschlag, aber ungemeiner Klarheit des Vortrages. Auch wußte er dem Instrument wahrhaft orchestrale Macht und Färbung des Tones abzuringen. Er spielte aus der Partitur.
Das eigentlich musikalisch Großartige seines Vortrages verstanden keine zehn Menschen im Saal.
Als die „Zenobia“-Ouverture beendet war, richtete die Herzogin einige leutselige und verständnislose Worte an René. Er ließ sie mit ergebener Höflichkeit an seinem Ohr vorbeigehen.
Dann sang Bärwald eine endlose Sache in einer sehr befremdenden Deklamation, worauf René noch den Triumphmarsch spielte, unter dessen Klängen in der Oper Zenobia von Aurelian den Römern vorgeführt wird.
Die Herzogin überschüttete ihren Gemahl mit Komplimenten, als habe er die Oper komponiert und soeben selbst gespielt. Als das letzte Wort der Bewunderung gesagt war, atmete sie auf und die ganze „Zenobia“ fiel bei ihr gleichsam wie in eine Versenkung.
Die Herrschaften hielten Cercle, nahmen noch eine Erfrischung an und zogen sich zurück. Nur der Erbprinz Arthur, des Herzogs Neffe, blieb und setzte jedermann in Verlegenheit durch seine Witze über das Werk des hohen Komponisten.
Magda hatte langsam den einen Sorgengedanken in sich auftauchen gefühlt: was René wohl leidet!
Aber allmählich kam ein freierer Ton in die Gesellschaft. Magda hoffte inbrünstig, daß René sie suchen und daß es sich so machen würde, daß sie zusammen an einem der kleinen Tische zu sitzen kämen, die inzwischen im ersten Saal aufgestellt wurden. Zu vieren und sechsen konnte man sich beliebig zu einander finden. Sibylle Lenzow hatte sich an ihren Arm gehängt und ihr zugeflüstert, daß sie Wallwitz heute abend näher kennenlernen müsse, sie solle mit ihnen zu Tisch gehen.
Da endlich trafen sie auf René. Er grüßte sehr artig und mit einer Unbefangenheit, die Magda beinahe kränkte. Sie hätte gewünscht, ein Aufblitz seiner Augen, ein besonders freudiger Ton seiner Stimme würde ihr sein Vergnügen verraten. Sibylle war kein gefährlicher Zeuge. Er überflog nicht einmal mit einem prüfenden Blick ihre Kleidung und sie hatte sich doch für ihn geschmückt.
„Es ist das erste Mal, daß ich Sie spielen hörte, Herr Hofkapellmeister,“ begann Magda.
„Meine Damen,“ sagte er und faltete die Hände, „wenn noch irgend jemand ein Wort zu mir von der ‚Zenobia‘ spricht, geschieht ein Unglück.“
Er sah wahrhaft verzweifelt aus. Sibylle lachte.
„Was hat die Herzogin zu Ihnen gesagt? Ich konnte sehen, daß Sie so ein versteinertes Gesicht machten und sich nachher besonders tief verbeugten?“ fragte sie.
„Die Herzogin hat mir gesagt, ich sei noch zu jung, um ganz die hohe Ehre zu würdigen, die mir zu teil werde durch das Einstudieren des erhabenen Werkes, bemerkte aber noch zu Höchstihrem Gemahl, dem Herzog, ich verdiene solche künstlerische Aufmunterung und werde gewiß in ihr den Antrieb zu weiterem ernsten Streben finden.“ René sah dabei Magda mit lachenden Augen an.
„Und der Herzog?“ fragte Magda glücklich, daß er es von der komischen Seite nahm.
„Der Herzog hat mir, als er dies hörte, so kraftvoll und sprechend die Hand gedrückt, wie nur eben er es kann.“
„Essen Sie mit uns? Wir sind mit dem Lieutenant Wallwitz verabredet,“ sagte Sibylle.
„Unglücklicherweise bin ich verpflichtet, Bärwald ein bißchen ins Schlepptau zu nehmen. Er ist zum erstenmal in der Gesellschaft. Wir haben uns mit einigen Herren verabredet.“
„So weit hätte er die Vorsicht nicht zu treiben brauchen,“ dachte Magda enttäuscht und malte sich aus, wie schön es wäre, wenn sie jetzt an seinem Arm als seine Braut durch die Räume gehen könnte. Die Heimlichkeit war doch schwer zu tragen.
„Ich bedaure dies um so mehr,“ setzte René hinzu, „als man so selten das Vernügen hat, Fräulein Ruhland in Gesellschaften zu treffen.“
Dabei sah er Magda herzlich an. Ihr schien sehr viel in diesem Blick zu liegen. Er ward ihr zu einer kleinen Entschädigung.
Bald nachher fand sie sich mit Sibylle, Wallwitz und dem Intendanten von Rechenbach an einem Tisch. Rechenbach war nur der Schatten eines Beamten und trat nur in die Erscheinung bei Repräsentationsgelegenheiten oder bei Budgetfragen. Der Herzog spielte selbst den Oberleiter. Unter dem Ministerium Ruhland war Rechenbach vortragender Rat gewesen, freilich kein Beamter nach Ruhlands Sinn. Von jener Zeit her hatte Rechenbach viel Sympathie für Magda, in der er ein Opfer väterlicher Tyrannei sah. So erwies er ihr bei den seltenen Gelegenheiten, die sich ergaben, viel Aufmerksamkeit.
Das Stimmengeschwirr, die Hitze, die große Helligkeit und die innere Aufregung machten Magda ganz schwindlig. Auch spähte sie immer umher, ob sie nicht zwischen den vielen glatzköpfigen grauen, schwarzen, blonden, gestriegelten Köpfen den einen gewissen dunklen Kopf herausfinden könnte.
„Unser Kapellmeister hat sich da ja eine ganz weiberfeindliche Ecke gebildet,“ sagte Rechenbach. Magda drehte den Kopf nach der bezeichneten Ecke, konnte aber doch nichts sehen. Aber es that ihr wohl, daß René, da er nicht mit ihr zusammensitzen konnte, jede andere Dame verschmäht hatte. –
Die Gesellschaft, welche sich auf dem Wallwitzschen Ball und nach dem Offiziersthee sehr über Lillys Betragen aufgeregt hatte, konnte sich beruhigen – oder vielmehr hätte Gründe gehabt, sich noch mehr zu entrüsten. Denn um René Flemming kümmerte sie sich gar nicht, aber sie saß mit Johanna von dem Busche und vier Lieutenants an einem Tisch und entwickelte gegen alle vier eine Lebhaftigkeit, die man herausfordernd nennen konnte. Sie war sprühend von Uebermut; die Herren kamen von einem Entzücken in das andere und versicherten, „so etwas“ von „Verve und Chic“ sei in Leopoldsburg noch nicht dagewesen. Lilly war schon deshalb so lustig, weil René keine Dame führte. Sie hatte ihm nur die allerältesten Jahrgänge erlaubt. Es that ihr wohl, daß er, da er nicht mit ihr zusammensitzen konnte, jede andere Dame verschmäht hatte. –
Später geschah es, daß Lilly auf Sibylle zuflog und sie küßte und nebstbei dem Bruder die Hand gab. Walfried war sehr befriedigt, daß seine lebhafte kleine Schwester heute ihre Keckheiten an eine andere Adresse richtete als an die Flemmings. Solche starken Kokettierverhältnisse ohne Ernst und Ziel waren ihm verhaßt. Sie raubten in seinen Augen einer Dame den Zauber der Vornehmheit und brachten den Mann in Gefahr, sich wirklich und hoffnungslos zu verlieben. Wenn sie aber jedesmal mit einem andern so wichtig that, mochte man es für ein noch ungezügeltes Restchen Mädchenwildheit nehmen.
Magda stand am Arm des Herrn von Rechenbach noch daneben, man hatte eben erst den Speisesaal verlassen.
„Pardon,“ sagte Sibylle, „Ihr kennt Euch nicht: Lilly von Wallwitz – Magda Ruhland, meine Freundin,“ schloß sie mit etwas starker Betonung.
Die braungoldenen Augen schlossen sich ein wenig und ein hochmütiger Blick flog über Magda hin.
„Mir ist doch so – – ah, wir sahen uns einmal in der Oper,“ bemerkte Lilly halb fragend.
Für einen Augenblick fühlte Magda wie ein gereiztes Schulmädel. In eiskaltem Ton sprach sie: „Ich erinnere mich nicht.“
Und erinnerte sich nur zu genau an dieses aufdringliche, schöne Mädchengesicht.
Lilly dachte nicht daran, sich zu ärgern. Ueber die ablehnende [744] Haltung von Damen sah sie mit vollkommener Gleichgültigkeit hinweg. Sie ging weiter und traf auf René Flemming. Magda sah es und ihr fiel das Gerede der Malschülerinnen ein. Sie fühlte einen großen, ängstlichen Schmerz in sich aufwallen – die Eifersucht.
„Guten Abend, Herr Hofkapellmeister,“ sagte Lilly laut. Und zwischen den Zähnen, leise, aber das Gesicht strahlend zu ihm erhoben, flüsterte sie: „Ist diese Komödie nicht unmenschlich amüsant?“
Er küßte ihr die Hand.
Magda sah mit klopfendem Herzen zu. Behielt er diese Hand nicht unnötig lange zwischen seinen Fingern? Suchte sein Auge nicht mit einem besonderen Blick dies lachende Gesicht?
„Nein,“ dachte sie gequält, „ich kann die Heimlichkeit nicht mehr ertragen. Diese Lilly würde nicht wagen, so zu ihm aufzublicken, wenn sie wüßte, daß ich seine Braut bin.“
Wie konnte sie ahnen, daß Lilly, die den ganzen Abend vorsichtig sich von Flemming fern hielt, gerade ihretwegen, für sie zum Schauspiel, jetzt einen Augenblick lang die Intimität mit ihm sichtbar werden ließ! Denn irgend jemand hatte ihr erzählt, daß René Flemming manchmal mit diesem Fräulein Ruhland spazieren gehe oder gegangen sei.
„Nun, Du gefeierter Mann,“ rief Wallwitz hinüber, „man sieht Dich ja gar nicht! Komm und begrüße die Damen!“
Lilly nickte Flemming noch zu und drängte sich weiter.
„Ich habe schon das Vergnügen gehabt, die Damen zu begrüßen,“ sagte René, indem er herzutrat. In seinem Ton lag beinahe Feindseligkeit und sein Gesicht war verfinstert.
„Auf großen Gesellschaften ist er immer schlechter Laune,“ bemerkte der Intendant und klopfte ihn auf die Schulter.
„O, vorhin war er ganz umgänglich,“ rief Sibylle.
„Freilich bin ich schlechter Laune,“ sprach er, nervös die Handschuhe fester zwischen den Klapphut zwängend, „es ist das dritte Mal binnen vierzehn Tagen, daß man mich zum Opfertier der Geselligkeit macht.“
„Du,“ sagte Wallwitz lachend, „laß nicht an uns aus, was die Klavierspielerei und eine gewisse hohe Dame wahrscheinlich verschuldet haben! Auf unserem Ball warst Du sehr vergnügt.“
„Was hat ihn plötzlich so verstimmt?“ fragte sich Magda gequält.
„Ich gehe. Und Du, Wallwitz? Sehen wir uns noch?“ fragte er.
„Nein,“ dachte Magda verzweifelt, „so kann und will ich nicht den Abend enden lassen.“
Mit großer Kühnheit, obwohl ihre Stimme ein wenig bebte, sagte sie: „Es ist sehr lange her, daß Sie Nicolai nicht besuchten. Er klagte darüber. Da Sie der einzige sind, der etwas Sonnenschein in sein Leben bringt, werden Sie seine Hoffnung, Sie bald zu sehen, nicht zu unbescheiden finden.“
René verstand, was sie meinte. Seine Stirn war feucht, er vermied Magdas Blick.
„Wenn meine Zeit es gestattet, komme ich. Aber wahrscheinlich nicht vor der ‚Zenobia‘,“ sprach er.
„Dies erinnert mich, wie lange ich nicht persönlich nach Ihrem armen lieben Papa, meinem früheren hochgeehrten Chef, sah,“ bemerkte Rechenbach.
„Meine Damen! Herr Intendant,“ sagte René und verbeugte sich wie vor ganz Fremden oder vor Ihrer Hoheit.
Er trat zurück und verschwand.
Magda mußte sprechen, dem Intendanten von ihrem Vater erzählen, dann mit noch gleichgültigeren Menschen plaudern und lachen, dann Hortense sagen, als diese ihr begegnete, daß sie sich vortrefflich unterhalten habe.
Hortense zwar sah sie zweifelnd an. Das abgespannte Gesicht mit dem gezwungenen Lächeln sah ihr nicht danach aus, als sei es von fröhlichen Eindrücken belebt.
„Ich bin es nur nicht mehr gewohnt – die vielen Menschen und das lange Herumstehen,“ sagte Magda auf den forschenden Blick hin.
Und dann suchte sie die Garderobe. Aber auf dem Wege dahin hing sich ihr Sibylle Lenzow wieder in den Arm.
„Sag’ mir offen, aber ganz offen,“ fragte sie, „wie hat Dir Walfried gefallen?“
Magda wußte im Augenblick gar nicht mehr, daß der Lieutenant von Wallwitz diesen Vornamen trage.
„Wer?“
„Na – er!“
„Er hat mir einen sehr angenehmen Eindruck gemacht, er scheint ernst und energisch,“ sagte Magda mit Ueberzeugung. Jede andere Ansicht hätte Sibylle ihr auch tödlich übelgenommen.
„Nur angenehm!“ rief Sibylle. „Er ist fabelhaft bedeutend. Er wird eine enorme Carriere machen. – Ach Gott, wenn Tante nur ein Einsehen hat.“
Auf diese geheimnisvolle Andeutung erwartete Sibylle Fragen und war bereit, nach einem Schwur des Schweigens, Magda alles anzuvertrauen. Aber Magda war’s nicht nach Fragen zu Mute.
Sie fuhr mit ihren Enttäuschungen nach Hause und mochte zusehen, wie sie morgen sagen wollte: es war sehr schön.
–
– – – – – – – – – – – – – – –Wenn in Leopoldsburg ein Gerücht umging, brauchte es keine acht Tage, um alle Kreise zu durchsickern. So hörte auch Hortense von Eschen bald, daß Magda Ruhland und René Flemming zusammen genannt wurden, weil man sie einigemal mitsammen hatte spazieren gehen sehen. Es war an einem Theeabend der Herzogin, daß Hortense davon erfuhr.
Bei der hohen Dame wurde in aller Liebe und Güte recht viel geklatscht. Das Interesse am Seelenheil der Unterthanen war so lebendig, die Furcht stets wach, daß der eine oder die andere auf einen Abweg geraten oder nur das Decorum verletzen möge. Die Personalkenntnis ging bis auf die Hoflieferanten und letzten Beamten hinab.
„Ich höre, meine liebe Eschen,“ sagte die Herzogin, „daß unser Hofkapellmeister – er ist ja wohl Ihr besonderer Schützling – sich mit unserer armen lieben Magda Ruhland verloben wird, oder daß die Leute glauben, er habe diese Absicht. Wissen Sie etwas davon?“
Hortense erschrak und beschloß augenblicklich, daß die beiden dem heimlichen Zustand ein Ende machen müßten. Ein langes Hin- und Herreden sollte der lieben Magda nicht den Schmelz und die Weihe der ernsten Sache rauben. Sie antwortete:
„Allerdings, Hoheit, will es auch mir scheinen, als ob Flemming eine keimende Neigung für Magda im Herzen habe. Ob eine Verbindung daraus entsteht, wer kann das wissen! Solche Fragen sind zu zart, als daß man bei den Beteiligten selbst einmal horchen könnte. Auch wissen die ,Leute‘ immer viel genauer, was vorgeht, als die Besprochenen selbst. Es wäre aber reizend, wenn uns der Winter diese Verlobung brächte.“
Damit hatte sie nach ihrer Meinung diplomatisch gesprochen.
„Eigentlich,“ sprach die Herzogin in ihrer schleppenden Art, „ist ein Hofkapellmeister keine standesgemäße Partie für eine Tochter Seiner Excellenz Ruhland. Aber der Herzog sagt, in unseren Zeiten sei das Genie hoffähig und adle, und Flemming könne nicht nur ein unsterblicher, sondern auch ein sehr reicher Mann werden. Unser Vetter wird ihm sicherlich eine Auszeichnung verleihen, nach der ,Zenobia’, der Herzog wird darauf dringen. Und das Kreuz unseres Hauses hat Flemming ja Neujahr schon bekommen …“
Sie seufzte. Die Damen waren ganz einer Meinung mit Ihrer Hoheit. Mit zwei solchen Auszeichnungen im Knopfloch und begnadet von der Gönnerschaft Seiner Hoheit, konnte Flemming immerhin als passende Partie für die Tochter eines Ministers a. D. gelten.
„Und dann,“ sprach die Herzogin langsam weiter, „glaube ich, daß es dem guten Flemming recht zu wünschen ist, daß er in die soliden Bahnen der Ehe einlenkt. Freilich, der Herzog sagt, solche Genies darf man nicht nach gewöhnlicher Moral messen.“
Sie sah ihre Damen ernst an. Wenn Seine Hoheit auch zuweilen etwas sagten, das sich mit den strengen Grenzen, welche der Moral an den Theeabenden gezogen wurden, nicht vertrug, so waren diese Ausnahmeansichten doch zu respektieren, eben weil sie von Seiner Hoheit kamen.
Die Damen bewunderten den weiten humanen Blick Seiner Hoheit und wußten so viel Geniales und Entschuldigendes von René Flemming zu erzählen.
Hortense lachte in sich hinein und sprach mit einer Miene, von der niemand entnehmen konnte, ob sie von Spott oder von [746] Nächstenliebe geprägt war: „Ja, es ist ein wahres Vergnügen, einen Menschen, wie René Flemming, loben zu dürfen.“
Sie sandte aber sofort am andern Morgen zu Magda und René und ließ sie zum Frühstück um ein Uhr laden, die einzige Stunde, wo man Wochentags ganz sicher war, von René keine Absage zu empfangen.
Magda kam zuerst, blaß und gedrückt.
„Nun, Liebe, was ist das, Du läßt Dich seit langen Tagen nicht sehen? Du hast wohl Renés wegen keine Zeit mehr für Deine alte Freundin,“ sagte Hortense liebevoll.
Es lag natürlich nicht in ihrer Absicht, die zarte Seele Magdas durch Mitteilung des Klatsches zu kränken. Diesen dachte sie aber René nicht vorzuenthalten und hatte vor, ihm, beim Abschied etwa, einiges darüber zu sagen. Beiden zusammen aber wollte sie klar machen, daß eine heimliche Verlobung in Leopoldsburg doch ein größeres Unding sei, als man sich damals in den Bergen vorgestellt hatte.
Auf Hortensens Anrede hin erwiderte Magda leise: „Ich habe René seit vierzehn Tagen, seit Deiner Soiree, nicht gesehen. Er schrieb mir einmal und sagte es mir dann noch bei Dir, daß er mit der ,Zenobia‘ sehr beschäftigt sei. Gottlob, morgen abend endlich wird sie aufgeführt. Aber siehst Du, Hortense, ich war so albern, ich dachte, am Ende spricht er doch einmal vor – ich wäre ja mit fünf Minuten zufrieden gewesen – deshalb ging ich gar nicht aus.“
Ueber Hortensens Gesicht ging eine Bewegung – es huschte darüber hin wie Bitterkeit. Sie kniff die Augen zusammen.
Vierzehn Tage bescheidenen, aufreibenden Wartens lagen hinter Magda. Vierzehn Tage lang hatte sie bei jedem Tritt, der auf der Treppe knarrte, gedacht: er ist es! Bei jedem Glockenton freudig gebebt. Und war jeden Abend müde, enttäuscht, mit ungeweinten Thränen in den brennenden Augenlidern auf ihr Bett gesunken, mit dem klammernden Gedanken: vielleicht morgen!
„Ach ja,“ sagte sie mit leichtem Ton, „der Beruf der Männer ist der Todfeind von uns Frauen. Da heißt es eben, sich gedulden. Aber je weniger man ihnen darüber vorklagt, je weiter kommt man. Das ist bei allen egal: Offiziere, Beamte, Künstler – erst kommt immer die Berufspflicht – dann wir. Aber siehst Du, Herzchen, da sie die Resultate ihrer Arbeit doch der geliebten Frau zu Füßen legen, da sie es ist, die den Ruhm, das Avancement, das erhöhte Einkommen mitgenießt, und alles ihrerseits ohne weitere Sorge als das bißchen Alleinsein genießt, so darf es im Grunde gar nicht schwer für sie sein, auf die liebe Gegenwart des Mannes zu verzichten.“
Die gescheiten Worte, der heitere Ton wirkten sehr wohlthätig auf Magda. Es klang so wahr und schien jetzt, da René gleich bei ihr sein würde, so leicht zu glauben.
Und da war er auch schon. Eine leise Röte flog über sein Gesicht, als er Magda sah. Aber er kam heiter auf sie zu, im Innersten erfreut, sie zu sehen.
Er nahm ihre Hand, streichelte sie und sagte: „Ich bin ganz unartig gewesen. Du mußt mir vergeben. Aber siehst Du: wenn ich nur denke, es wartet jemand auf mich, das erscheint mir wie ein Zwang und macht mich nervös. Es war lieb und gescheit von unserer verehrten Freundin, uns heut’ zusammen einzuladen.“
Er war sehr froh. Er hatte gedacht, in Magdas Nähe würde ihm unbehaglich sein, er würde sich bedrückt fühlen. Denn auf der Soiree bei Hortense war ihm ein fürchterliches Gefühl gekommen, als er die beiden, die ihn liebten, so nahe bei einander gesehen, und da er sich nicht eingestehen wollte, daß dies Gefühl Beschämung sei, hatte er es vor sich selbst verdecken wollen und war ungeduldig, feindselig geworden gegen – die Unschuldige. Hier aber, heute, that ihre Gegenwart ihm geradezu wohl. Er hatte keine Anwandlung von Schuldbewußtsein, sondern ihm war beinahe wie jemand, der von einer Reise nach Hause gekommen ist.
Vor allen seinen drolligen Erzählungen über die Schrecknisse der „Zenobia“-Zeit kam Hortense gar nicht dazu, von Verlobung zu sprechen oder auf die Unterbringung des alten Ruhland in eine Anstalt hinzuwirken.
„Nun siehst Du wohl, Magda,“ sagte er einmal, „ich bin der Sklave dieser barbarischen Königin gewesen und hatte mit dem allerbesten Willen keine Zeit, Dich zu besuchen.“
„Aber Zeit, zum Ball und zum Offiziersthee zu gehen, hattest Du,“ sprach Magda herb.
Es entfuhr ihr so. Sie hatte es in den langen Tagen des Wartens hundertmal gedacht. Es war ihr wie eine Formel geworden, die in ihren Gedanken mechanisch immer wieder kehrte.
„Soll das ein Vorwurf sein?“ fragte René und sah sie an.
Vor der Feindseligkeit, die jäh erwacht aus seinem Blick sprach, erschrak sie so, daß es ihr war, als fühlte sie körperlichen Schmerz.
„Bitte,“ sagte Hortense herzlich, „keine Erörterungen.“
Sie nahmen sich zusammen, René unterdrückte seinen Zorn, dessen blinde Ungerechtigkeit er erkannte und den er dennoch gähren fühlte; Magda bereute sogleich, das Wort gesagt zu haben, obgleich sie fühlte, es war nur gerecht gewesen.
„Gottlob,“ sprach Hortense weiter, „ist mit morgen abend die Last abgeschüttelt. Nach der Vorstellung ist noch große Soiree im Schloß. Der hohe Vetter will die Begeisterung von uns gleich brühwarm genießen.“
„Das ist mir nun furchtbar, daß ich mich da morgen abend im Zwang der Etikette bewegen soll: ich lechze nach Einsamkeit oder Ungebundenheit nach großen Anstrengungen. Kann ich mich nicht drücken?“ fragte René.
„Um keinen Preis.“
„Und das ist nun schön,“ sprach Magda, „daß ich, solange Du in Leopoldsburg bleibst, als Papas Tochter bei solchen Gelegenheilen mit Dir zu Hof geladen werden werde. Ich weiß aber ganz gut, daß dies nur bei unserem kleinen, so von persönlicher Anteilnahme bestimmten Hofleben der Fall ist. Wenn Du später in einer ganz großen Residenz bist, werde ich einfach die nicht hoffähige Künstlersgattin. Aber das soll mich nicht anfechten. Es wird so beglückend sein, unbeachtet nur Dir zu leben.“
Sie hatte es so liebevoll gesagt und glaubte sicher, in ihren Worten könne nichts, aber auch gar nichts liegen, das ihn zu verletzen imstande wäre.
Und doch sah sie ihn erblassen und sah eine gewisse nervöse Bewegung seiner Lippen, die sie schon oft beobachtet hatte. Dieser kurzen Unruhe folgte dann ein Ausdruck wahrhaft eiserner Verschlossenheit.
Von diesem Augenblicke an war es nicht möglich, mit René noch ein Gespräch zu führen. Er antwortete zerstreut und hatte merklich nie zugehört.
Die Frauen begriffen nicht, was in ihm vorging.
„Ich muß es ihr sagen, ich muß es ihr sagen,“ das war der einzige, bohrende Gedanke, der sich plötzlich bei René festgesetzt hatte, als Magda so harmlos von ihrem künftigen Zusammenleben sprach.
„Uebermorgen oder Sonnabend komme ich zu Dir,“ sprach er beim Abschied und vermied ihren Blick.
Hortense ging mit ihm durch den Salon, während Magda, wie erstarrt von unbestimmter Angst, am Eßtisch sitzen blieb.
„Ich muß Ihnen sagen, René,“ begann Hortense, „daß man sich schon mit Magda und Ihnen beschäftigt. Sie sind ein paarmal am hellen Tag spazieren gegangen. Natürlich verlobt man Sie.“
„Die verwünschten Leopoldsburger,“ sprach er und ballte die Faust.
Hortense zuckte die Achseln.
„Sie sind so, wie alle Welt ist, unsere guten Leopoldsburger,“ sagte sie. „Ein Spaziergang im Sonnenlicht vor aller Augen wird mißliebig besprochen. Das Unrecht, das verschleiert im Dunklen geht, bleibt eben verborgen.“
Er sah ihr fest in die Augen. Wußte sie? Nein. Denn herzlich fuhr sie fort: „Und deshalb, René, laßt die doch einmal beschlossene Sache publik werden. Heiratet! Ich werde alles thun, Magda zur Trennung von ihrem Vater zu bestimmen. Denn, daß Ihre Jugendfröhlichkeit, die Ihnen ungetrübt für Ihr Schaffen nötig ist, nicht durch das Zusammensein mit einem solchen Kranken gestört werden darf, versteht sich von selbst.“
„Lassen Sie uns selbständig unsere Angelegenheiten entscheiden,“ sprach er mit harter Stimme. „Ich liebe hierin keine Einmischung, auch von Ihnen duld’ ich keine.“
Sie sah ihm traurig nach. Ihre klugen Augen schauten bis auf den Grund seiner Seele.
[757]Magda wartete wieder. In die „Zenobia“ Aufführung zu gehen, fühlte sie sich außer stande. Sie wußte, die ganze Situation würde ihr wieder so unbarmherzig zeigen, daß sie außerhalb des Kreises stand, der das Leben und Wirken Flemmings umfaßte.
In den martervollen Stunden der letzten Zeit war ihr klar geworden, daß sie nur den Frieden finden könne, wenn sie vor aller Welt ihr Recht auf den geliebten Mann anerkannt sah.
Als sein Weib würde sie die Dinge besser ertragen. Für die Entbehrungen und Selbstüberwindungen, welche ihr die Zeiten auferlegten, wo sein Berufsleben ihn ganz hinnahm, würde sie doch immer durch das Bewußtsein entschädigt werden, ihm in seinen Freistunden die unentbehrliche Gefährtin zu sein.
Auch war endlich, wohl durch die Gespräche der Malschülerinnen, in ihr der weibliche Wunsch erwacht, laut sagen zu können er ist mein! Und die fragenden Blicke des treuen Freundes, den ihre Unbedachtsamkeit zum Mitwisser gemacht, wurden ihr unerträglich. Vor den Schülerinnen, vor ihren Dienstboten, vor den Bekannten, die gelegentlich vorkamen, nach dem Befinden der armen Excellenz zu fragen, vor ihnen allen konnte sie lächeln und ruhig sprechen. Nur vor Nicolais großen hellen Augen, die mit unbeirrter Stetigkeit auf sie gerichtet waren konnte sie nicht sorglos glücklich scheinen. Und Nicolai hatte bemerkt, mußte bemerkt haben, daß René seit so vielen, vielen Tagen nicht gekommen war.
Gewiß, der Zustand mußte ein Ende nehmen. Es war eine Thorheit gewesen, ihn überhaupt für durchführbar zu halten.
So begann sie denn, von selbst darüber nachzusinnen, in welcher Form sich die Pflichten gegen den Vater mit ihrem Recht auf Glück vereinen ließen. Und sie nahm sich vor, mit René herzlich offen darüber zu sprechen.
Sie las in der Zeitung, daß die „Zenobia“-Aufführung glänzend gewesen, daß der geniale Dirigent einen Triumph ohnegleichen gefeiert habe und daß der fürstliche Komponist und Gast des herzoglichen Hauses am Abend selbst noch den Orden vom grauen Bären dem Herrn Hofkapellmeister überreicht habe. Magda hatte eine kleine kindische Freude. Der Orden – sie kannte ihn – war besonders schön, wie stattlich René damit aussehen würde. Sie war ja eine Beamtentochter und von ihrer Kindheit her gewöhnt, Orden für etwas Erstrebenswertes anzusehen. Dann fiel ihr ein, daß René doch seine Auszeichnungen nie trug.
„Wenn ich einst erst wirklich etwas geleistet haben werde,“ sagte er einmal, „wenn ich das Ziel erreiche, das mir vorschwebt, dann ist mein Name mir ein größerer Schmuck als alle Sterne und Kreuze es sein können. So lange ich aber noch der junge Anfänger bin, können mich auch die Orden nicht zum Meister stempeln.“
Am Tage nach der Aufführung kam er nicht. Auch den ganzen Sonnabend vormittag nicht. Später, als es schon dunkelte, kam Hortense. Sie wollte hören was die beiden miteinander ausgemacht hatten, und war peinlich berührt, [758] zu hören, daß René noch nicht gekommen sei. Mit ihrer nie versiegenden Güte und Gewandtheit schwatzte sie Magda allerlei von der Soiree vor und sättigte das durstige Herzchen mit rühmenden Berichten von der Würdigung, die der geliebte Mann erfahren.
Dazu schien die Lampe so still und von der Straße her drang kein Geräusch herauf, daß es war, als gäbe es nur friedliche Stimmungen in der Welt.
Mit einem Male kam Kathi herein, die bei der sonnabendlichen Reinigung des Ateliers beschäftigt war.
„Der Herr ist da, der vor ’n paar Wochen ’mal mit Ihnen kam. Er will aber nicht hier vorn ’rein. Sie sollen in das Atelier kommen,“ bestellte sie, eine höfliche Bitte Renés auf ihre Art zurecht legend.
Magda schnellte empor.
„Ich erwarte Dich zurück,“ sagte Hortense.
Sie hatten beide das Gefühl, daß René in außerordentlicher Angelegenheit komme. Aber sie sprachen sich nicht mit einem einzigen Wort darüber aus. –
René war durch den regnerischen Oktoberabend langsam daher gekommen. Der Regen troff auf seinen Schirm, die Räder der Wagen spiegelten sich auf dem nassen Fahrdamm wieder.
Das leise Geräusch der auf das Schirmdach fallenden Tropfen that ihm merkwürdig wohl. Es war so gleichmäßig, so unendlich, so beruhigend.
Er hatte am Morgen nach der „Zenobia“ zu Magda gehen wollen. Allein der hohe Komponist ließ ihn zum Dejeuner laden. Der hatte einen plagenden Enthusiasmus für René gefaßt, und als Hintergrund all der Leutseligkeit kam der Wunsch heraus, Flemming möge eine Partitur, das jüngste Musenkind der Hoheit, die sich natürlich im Reisegepäck befand, auf die mutmaßliche Wirkung ihrer Instrumentation ansehen und frei Verbesserungen anbringen, wo es ihm passend scheine. Wie war das lästig gewesen!
Und am Freitag nachmittag, da hatte seine Zeit noch etwas anderes in Anspruch genommen – – –
Heute morgen hatte er Probe gehabt, für die Oper am Sonntag abend.
Er rechnete sich das vor, um es Magda alles zu sagen, alles!
Seine Füße waren ihm schwer, als er die Treppen emporstieg. Oben besann er sich ein Weilchen. Vorne anklingeln konnte die lästige Folge haben, daß er Besuch bei Magda fand, oder doch den kranken alten Mann.
Er dachte gar nicht darüber nach, daß das Atelier um diese Stunde verschlossen sein und daß sein Klopfen dort niemand hören würde. So war er auch gar nicht erstaunt, daß man ihm aufthat.
Das Atelier war grell erleuchtet. Von der Mitte des Plafonds hing ein kahles Gasrohr herab, an dessen beiden Armen je eine offene, breite Gasflamme brannte, wie in einen Fabrikraum. Der Estrich war noch feucht von den Wasserströmen, die sich darüber ergossen hatten und aufgewischt worden waren. Die Ecken der Decke waren auf die Ottomane geschlagen, oben auf dieselbe hatte Kathi das maurische Tischchen getürmt, das seine durch Schnörkel miteinander verbundenen Beine emporstreckte. Die beiden Fenster guckten blank und schwarz auf den unwohnlichen Raum.
Kathi, hochgeschürzt, einen Besen in der Linken, fragte erstaunt, was der Herr wolle. Der Mann in dem großen Kragenmantel und mit den dunklen Augen unter dem Hutrand kam ihr bekannt vor.
„Ich bitte das gnädige Fräulein, mich hier einige Minuten empfangen zu wollen,“ sagte er.
„Hier wird geputzt,“ erklärte Kathi, „mein Fräulein ist vorn.“
„Bitten Sie dennoch das gnädige Fräulein, sich gütigst herbemühen zu wollen,“ bat er.
Kathi hatte ihn inzwischen erkannt und ging nach vorn.
Er blieb einige Minuten allein. Er besann sich gar nicht, wie er beginnen solle, was er sagen wolle, dazu fühlte er sich außer stande. Die unabwendbare Gewißheit, daß er sprechen müsse, lähmte seine Erfindungskraft, ließ ihm alle Umwege als außer aller Möglichkeit liegend erscheinen. Was gradeaus vor ihm lag, langsam von der Seite zu erreichen, war so wenig seine Art, daß ihm nicht einmal der Gedanke kam, dies harte Geradeaus könne brutal erscheinen.
Da er solange innerlich mit dem beschäftigt gewesen, was nun über seine Lippen mußte, kam ihm, in der völligen Versenkung in die eigene Lage, nicht einmal Mitleid mit der ihren.
Sie trat ein. René fühlte, wie ihm das Herz zu schlagen begann – er fühlte es eigentlich mit Ueberraschung, denn er hatte geglaubt, ganz Herr der Situation zu sein.
In einiger Entfernung von ihm stand sie still. Ihr Gebahren war unbewußt – es war von demselben Instinkt beeinflußt, der das Wild die Gefahr wittern läßt.
Er ging auf sie zu und nahm ihre Hände. Das grelle Licht fiel von seitwärts auf Magda und ihn und gab so scharfe Schlagschatten, daß sie beide dachten „wie bleich ist sie!“ – „wie bleich ist er!“
„Du fühlst, daß ich in besonderer Angelegenheit komme, Magda?“ begann er.
„Ja,“ sagte sie mit unklarer Stimme. Er schwieg einen Augenblick. Ihm war so sonderbar: er fand so gar keine Worte für das, was er sagen wollte. Es war, als wenn irgend eine Fähigkeit in seinem Kopf aussetzte. Mühsam besann er sich.
„Hast Du mein Fernbleiben ganz allein auf Rechnung meiner Arbeit gesetzt?“ fragte er weiter.
Und wieder sprach sie: „Ja!“
Es kam ganz freudig versichernd von ihren Lippen und in ihren Augen leuchtete es lebhaft auf. Er sollte nicht denken, daß sie empfindlich und mißtrauisch sei. Dies freudige „Ja“ erschütterte ihn.
„Magda, liebe gute Magda, mich hat noch anderes ferngehalten. In mein Leben ist ein Neues, Unerwartetes getreten – ein Rausch – ich kann Dir nicht beschreiben, wie es ward und wie es wuchs – wie es über mich kam, ungewollt und ungerufen,“ sprach er.
In ihre Augen trat der Ausdruck der Angst.
„Siehst Du,“ fuhr er fort, Wort um Wort sich abringend, „ich habe es nicht geglaubt, daß es möglich sei – daß mir mitten in die heiligen, ergebenen Empfindungen für Dich ein neues Gefühl hineinfahren könne – daß ein anderes Weib zwischen uns zu treten vermöchte.“
Magda sah ihn an, ihre Lippen öffneten sich ein wenig, sie taumelte.
Er umfaßte sie und half ihr sich in den nächsten Stuhl setzen.
Er wartete, daß sie sprechen sollte, denn ihre Lippen bewegten sich. Aber es kam kein Laut hervor. Und die großen Augen starrten ihn mit immer dem gleichen Schreckensausdruck an.
Die Sekunden rannen.
„So – so liebst Du eine andere?“ fragte Magda heiser.
„Ich weiß nicht – ist das Liebe? Ist es ein Taumel?“ Er ging auf und ab, daß von seinen hastigen Bewegungen die offenen Gasflammen ins Flackern kamen. „Mitten in dem Wonnerausch, den die Liebe dieses leidenschaftlichen jungen Geschöpfes mir giebt, habe ich die Empfindung, die Ahnung, daß es eines Tages ein Erwachen voll grauen Elends geben kann. Aber Magda – sie, die mit ihrer alle Schranken niederreißenden Liebe mein Herz gesucht hat – Gott weiß es, sie das meine, nicht ich das ihre – sie hat soviel gewagt für mich! Die Ehre gebietet mir, in diesem Falle nicht an die Zukunft, nicht an das Erwachen zu denken, sondern nur daran, daß ich ihr mein Leben anbieten muß.“
Er stand vor Magda still.
„Und deshalb, Magda, – deshalb kann ich mein Dir gegebenes Wort nicht halten und deshalb stehe ich hier und bitte Dicht verzeih’ mir, wenn Du kannst. Ich sollte sagen: verzeih’ dem Schuldigen. Aber ich will nicht lügen – mir ist nicht, als läge Schuld auf mir. Kommt das später? Oder bin ich nicht schuldig? Ich weiß nur, ich konnte nicht anders.“
Magda sah vor sich hin, ihre Wangen waren fahl.
„So ist nun alles aus – aus – aus,“ sagte sie tonlos und strich mit der Hand flach durch die Luft, als stehe da etwas, das weggewischt werden sollte.
Diese Gebärde zerriß ihm das Herz. Er kniete neben Magda nieder und umfaßte sie.
Da legte sie ihre Wange auf sein dunkles Haar und ruhte lange still dort aus.
Er fühlte, wie es an seiner Schläfe naß niederrann. Die Thränen tropften aus ihren Augen.
„Magda,“ murmelte er mit erstickter Stimme, „theure liebe Magda!“
„Ich habe Dich sehr lieb gehabt,“ sprach sie langsam.
Dann richtete sie sich auf. Er sah angstvoll in ihr verstörtes Gesicht.
„Und – Du wirst nun – eine andere heiraten,“ sagte sie. – „Bald?“
[759] „Ich weiß es nicht. Ich glaube – ich mußte aber doch erst Dich gesprochen haben. O Gott!“
Er verbarg erschauernd sein Gesicht an ihrer Schulter. Er fühlte in diesem Augenblick erst ganz klar, wie grenzenlos dies Herz ihn liebte. Und ein wonnevoller Schmerz zitterte durch seine Seele.
„Wer ist es?“ fragte sie weiter, so eintönig wie ein Sterbender, der keine Kräfte mehr hat.
„Du wirst es später erfahren. Quäle Dich nicht so sehr,“ bat er. Seine Augen waren naß. Er hielt die kleinen kalten Hände, als wollte er sie zwischen den seinen wärmen.
„Ich weiß, wer es ist,“ sagte sie und durch ihre Glieder flog ein fieberisches Zittern. Sie nickte vor sich hin – sie sah den lachenden Mund mit der Zahnlücke vor sich – unerträglich, unerträglich – – –
Er erschrak vor diesem Wort, aber er that keine Frage. Eine lange Pause entstand.
Magda dachte so viel. Und er kniete noch immer neben ihr und sah mit unaussprechlicher Sorge in ihr Gesicht. Sie fühlte seinen Blick gar nicht. Sie dachte, wie wunderlich es doch sei, daß seine Ehre ihm gebiete, jene zu heiraten, die sich in sein Leben gedrängt hatte, mit eigenwilliger Begehrlichkeit. Und wie wunderlich es sei, daß seine Ehre ihm nicht gebot, ihr selbst sein Wort zu halten. Wenn da ein Konflikt war, warum löste der sich zu ihrem Unglück und nicht zum Unglück der andern? Wenn eine weinen sollte, warum sie, die in starker, reiner, selbstloser Liebe gestrebt haben würde, der gute Engel seines Lebens zu sein – warum nicht die andere, mit der er schon jetzt, schon in dieser Stunde ein Erwachen voll Elend fürchtete? – –
War denn das möglich, daß in einem Menschenherzen auf einmal alle Liebe und alle Erinnerungen an die Eigenschaften, welche diese Liebe erweckt haben, auslöschen können – –
„Magda,“ sagte er mit sanfter Stimme. Er wollte sie aus den qualvollen Gedanken erwecken, die er über ihre Stirn ziehen sah, denn da gruben sich tiefe Schmerzensfalten ein.
Sie schreckte auf und sah ihn an. Ihr Blick versenkte sich tief, tief in seine Augen.
„Nun werde ich Dich nie mehr sehen,“ sagte sie endlich leise.
Er erschrak sehr. Er war gar nicht darauf gefaßt, ein solches Wort zu hören. Vor seiner Phantasie hatte, als er sich diese Unterredung ausgemalt, eine Scene voll heftiger Klagen, Vorwürfe, Thränen gestanden. Ihr Herz, das Herz einer Frau konnte nicht fassen, was geschehen war, so sagte er sich, und sie würde ihn mit Fragen martern und mit Bitten um weitausholende Erklärungen. Und, so dachte er, ihre weibliche Neugier würde feindlich wach werden, sie würde ganz genau wissen wollen, wann, wo, wie er von der neuen Liebesgewalt erfaßt worden sei. Die Vorstellung, daß er eingehend über das Geschehene sprechen müsse, hatte ihn immer aufwallend feindselig gestimmt. Er fürchtete, ungerecht und heftig zu werden, wenn sie ihn so quälen werde.
Denn er war einer von denen, die wohl eine sinnlose That begehen, aber ihr nachher nicht ins Gesicht sehen können.
So hatte er es für zweifellos gehalten, daß sie heute in heftigem Zorn voneinander scheiden würden. Aber wie etwas ganz Selbstverständliches hatte auch die Gewißheit späterer Versöhnung vor seinem Geist gestanden.
Ebensowenig wie er einst bei Zwistigkeiten mit seiner Mutter, oder bei einem Gram, den er ihr bereitete, daran dachte, daß ihn dies von dem Herzen scheiden könne, das ihm das nächste auf der Welt war, ebensowenig hatte er gedacht, daß irgend etwas je sein Dasein ganz von dem Magdas loslösen könne. Nur die Form ihrer künftigen Zusammengehörigkeit würde sich verändern, nicht das Wesen derselben.
„Du willst mich aus Deinem Leben stoßen?“ fragte er eindringlich.
Ihre willenlose Ergebenheit in das Geschick hatte ihn maßlos erschüttert. Daß sie nicht einmal den Versuch machte, ihn jener anderen abzuringen, konnte er gar nicht fassen. Die höchste Liebe schien hier beinahe der höchsten Gleichgültigkeit verwandt, denn anders als in kampfloser Preisgabe des Glücks konnte Gleichgültigkeit sich auch nicht äußern.
„Ich?“ fragte sie mit einem herzzerreißenden Lächeln entgegen.
„Mein Gefühl für Dich ist dasselbe geblieben,“ versicherte er zärtlich, „ich sehe in Dir die treueste Schwester. Und diese liebe, engelsgute Schwester bitte ich: bleibe mir, was Du mir warst.“
„Schwester!“ wiederholte sie bitter.
Ihr müdes Auge ging in dem Raum um. Dort, wo der umgestürzte Tisch auf der Ottomane lag, blieb der Blick nachdenklich haften und wanderte dann langsam über den feuchten Estrich, über die umherstehenden Stühle und die an der Mauer lehnende zusammengeklappte spanische Wand.
Die breiten platten Gasflammen fuhren sacht zischend aus ihren Brennern. In den blanken schwarzen Fenstern spiegelte sich der Raum wieder. René sah dort deutlich noch einmal die Frauengestalt, die da vor ihm zusammengekauert im Stuhle saß.
Er wußte, welche Erinnerungen das Auge hier suchte – ihn selber überfluteten sie wie brennende Scham. Damals, als ihn seine Liebe für Magda beinahe hatte die Besinnung verlieren lassen, damals sah die zarte, stille Abenddämmerung in das Gemach. Jede Minute jener Stunde stand wieder deutlich vor ihm.
Und ihr bitteres „Schwester“ ließ ihm das Rot in die Wangen steigen.
Er erhob sich. Unwillkürlich stand sie auch auf.
Sie legte die Finger der Rechten gegen die Schläfe.
„Darf ich um etwas bitten?“ fragte sie.
Er nickte wortlos.
„Laß es schnell sein – schnell!“
Er verstand, was sie meinte, aber antworten, auf diese herzzerreißende Mahnung antworten – nein, das konnte er nicht.
Allerlei unklare Empfindungen überschwenglicher Art zogen durch seine Seele: daß Magda sich bald zum Frieden durchringen und ihm treue Freundschaft schenken möge, daß er Lilly lehren wolle, sie wie eine Heilige zu verehren, daß er, soweit es ihm noch möglich sei, ihr Sonnenschein in das Leben tragen wolle und ihr vor allem dadurch wohlthun müsse, daß er ihr immer zeige, er achte sie höher als alle Frauen dieser Welt. –
Er hätte in diesem Augenblick die Sterne vom Himmel herunter holen mögen, um ihr wohlzuthun, und wußte doch, daß sein Bleiben oder Gehen, sein Reden oder Schweigen ihr gleicherweise wehthun müsse.
„Lebe wohl!“ sagte sie.
„Darf ich morgen herkommen und sehen, wie es Dir geht, und Dir sagen, wie die Angelegenheit sich gestaltet?“ bat er. Es kam ihm so natürlich vor, mit ihr nun alles beratend zu besprechen, sie genau wissen zu lassen, wie sein Schicksal ward, ihr immer mehr von sich zu sagen, als alle fremden Leute erfahren würden.
Sie schüttelte den Kopf.
René nahm ihre Hand und hielt sie lange in der seinen.
Er fühlte, er dürfe Magda nun nicht mehr quälen, ihr kein Versprechen abzuringen suchen und nicht von ihr verlangen, daß sie ihm erlaube, sie wiederzusehen. Aber er fühlte auch, daß er, von innerstem Seelenzwang getrieben, ohne ihre Erlaubnis wiederkommen werde, müsse.
Sie wußten sich nichts mehr zu sagen. Und doch stand er immer noch wie angewurzelt vor ihr und konnte die Hand nicht lassen.
„Geh’!“ bat sie leise.
Er küßte ihr die Stirne – wie damals, als das Abendrot durch das Fenster glomm und er von ihr schied, heiligste Liebe für sie im Herzen.
Magda sah ihn auf die Thür zugehen und sah, wie er sie öffnete. Er stand noch eine Sekunde zögernd.
Einen Herzschlag lang war es Magda, als fasse sie ein Schwindel, als sei alles nur ein Traum gewesen, als müsse er sich wenden und sie ihm dann mit einem Jubelschrei in die Arme fallen.
Die Thür schlug zu. Er war fort.
Magda stand eine Weile unbeweglich. Ueber ihrem Haupt zischten die Gasflammen. Plötzlich kam es ihr vor, als schmerzte sie das. Sie legte die Hand flach oben auf ihr Haar.
Langsam ging sie vorwärts, der Thür zu, ihm nach.
Dann hob ein zitternder Seufzer ihre Brust. Sie kehrte um und ging durch den Raum in ihr Schlafzimmer, schritt weiter, entgeistert, mechanisch, durch die Küche, an Kathi vorbei, durch die Stuben und sah Hortense nicht. Sie hatte ganz vergessen, daß die da war. Und ging zu dem alten Manne, der in einer dämmerigen Zimmerecke teilnamlos dasaß.
Sie kniete neben ihm nieder und nahm seine Hand. Sie beugte ihr Haupt herab und legte ihr Angesicht auf diese Hand.
Und wenn der Mann mit den unklar verschwimmenden Gedanken auch nicht mehr wußte, was Herzensnot ist, und wenn von seinen Lippen auch kein Wort des Trostes mehr kommen konnte, [760] und wenn in seiner Seele nicht einmal mehr recht das Bewußtsein lebte, die da neben ihm kniete, sei sein Kind, sein unglückliches, tödlich leidendes Kind – es war doch eine lebenswarme Vaterhand, die Magda umklammerte – es war doch die einzige Stätte auf der großen, weiten Welt, von welcher niemand Magda vertreiben konnte, die ihr kein anderes Weib, kein neues Gefühl streitig machen durfte.
Sie preßte diese Hand fest und fester gegen die Augen. Und die Wärme, die sie fühlte, schmolz die Starrheit hinweg – es war, als wenn das Blut, das sie in den Adern dieser Hand klopfen fühlte, ihr sagte: wir sind eins! Du stammst von mir! Ein Wesen, zu leiden wie ich!
Ihre Thränen begannen zu fließen, immer stärker und unaufhaltsamer. Ein Schluchzen ging zitternd durch ihre Gestalt. Sie fiel auf den Boden nieder, und ihre Hände unter der Stirn verschränkend, brach sie in wildes Weinen aus.
Hortense, die ihr schweigend zugesehen, neigte sich über sie und hob sie auf. Sie brachte die wie von Krämpfen durchbebte Gestalt auf das Sofa. Sie holte Wasser herbei und kühlte die heiße Stirn und die roten Augen. Sie ließ mit sanftem Zwang die Schluchzende Wasser trinken – die Zähne schlugen klappend gegen das Glas.
Dann nahm sie Magda in ihre Arme und hielt die allmählich in ohnmachtähnliche Erschöpfung Fallende still an sich.
Sie rührte mit keinem Fragewort an den Schmerz der verstörten Seele.
Aber wer jetzt in dieses Antlitz geschaut hätte, das sich über die Weinende beugte, der würde die schöne, vornehme, weltgewandte Frau nicht wiedergefunden haben. Neubelebt durch den Eindruck dieses tiefen edlen Herzenswehs auf ihr Gemüt, standen in ihren Zügen wieder deutlich zu lesen die Wahrheiten ihres Lebens. Und die hießen: unlöslicher Gram um einst verlorenes Glück, herbe Bitterkeit über menschliche Grausamkeit!
Wohl eine Stunde verging so.
Der Wärter des alten Ruhland kam mit einer Frage. Hortense winkte ihm Schweigen.
Sonst keine Störung und rings die Stille des Grabes.
Endlich regte Magda sich und schlug die Augen auf. Sie sah Hortense an.
„Es ist aus,“ flüsterte sie. Hortense nickte. Ihr brauchte Magda kein Wort zu erzählen, keine Silbe. Ihrer hellseherischen, schmerzerfahrenen Seele war es, als sei sie Zeugin gewesen.
So oder so – die Form, die vorgebrachten Gründe, ob er mit Brutalität oder mit Schonung den Schlag geführt, es war gleich – Hortense wußte, daß René seiner Braut gesagt habe, daß er sie verlassen müsse.
Magda setzte sich aufrecht hin.
„Er muß eine andere heiraten. Die Ehre, sagt er, gebietet es ihm,“ sprach sie.
Und wieder nickte Hortense. Sie dachte, welche andere das sei, und erschrak doch. Denn für so weitgehend, für so folgenschwer hatte sie die von ihr beobachtete Beziehung zwischen Lilly und René nicht gehalten.
„Wie schwer ist das zu verstehen!“ rief Magda plötzlich, wieder in Thränen ausbrechend.
„Mein liebes Kind,“ sagte Hortense und sah mit bohrendem Blick in das Licht der Lampe, „dies gehört zu den Dingen, die man nie versteht, weil sie außer aller Berechnung sind und weil sie mit keinen Gründen erklärt werden können. Sie gehören für ihn selbst, der ihr Opfer so gut ist wie Du, zu den dämonischen Ueberraschungen der Natur. Nur daß für ihn im Augenblick dabei die höchste Wonne und für Dich das schwerste Leid das Los ist. Wenn Du erst solange wie ich das Leben beobachtet hast, wirst Du mit Schmerz, doch ohne Erstaunen die Zerstörungen erkennen, die von der Leidenschaft hervorgerufen werden. Da verläßt ein großer, ernster, alternder Mann plötzlich die Gefährtin seines ruhmvollen Gelehrtenlebens, deren Sorgfalt und Liebe er allein den stets ungestörten Arbeitsfrieden und damit indirekt seine Erfolge verdankt; warum? Er wirft sich an eine junge, hübsche, gewöhnliche Person weg, über seinen Namen, sein Familienglück besinnungslos hinwegschreitend. Dort siehst Du eine Frau, die jahrelang pflichtgetreu und still ihren Kindern und ihrem Gatten lebte, ihrem Hause entlaufen, hinein in die Welt mit einem Mann, der sie vielleicht nach wenig Wochen schnöde verläßt. Männer und Mädchen siehst Du in das Elend, ja in den Tod gehen, wenn ihrer Vereinigung Hindernisse in den Weg gelegt werden von klugen Eltern, die voraussehen, daß die beiden zusammen unglücklich werden müssen. Sie alle empfinden es, bewußt oder unbewußt, daß das Wesen und Ende solcher Leidenschaften Unglück, Elend ist. Sie haben es hundertmal an nahen Beispielen gesehen und davon gelesen. Und sie trotzen allem! Der heiße, augenblickliche Wunsch, einander zu gehören, reißt sie über alles hinweg. Die Liebe, die Achtung, die solange und heilig jemand für eine andere gehegt hat, sind wie weggeblasen. Ja, selbst die Begriffe von Ehre und das Urteil über die Moral verschieben sich. Ein Mann verzeiht einem Weib, das er so begehrt, Schritte, Thaten, die er der höher Geachteten und früher Geliebten nie verziehen hätte.“
Sie seufzte schwer auf. Ihre Wangen waren blaß und ihre Augen glühten.
Alles erwachte in ihr, was sie einst selbst gelitten, als sie, die Vielbegehrte, Vielgeliebte, sich von dem Manne verlassen sah, der lange und heiß um ihren Besitz gestritten und sie dann um einer schalen, hübschen koketten Frau willen aufgegeben hatte.
„Aber es ist vergebens, sich zwischen zwei werfen zu wollen, die von solcher Gewalt zu einander gerissen werden. Die Natur läßt ihrer nicht spotten. Und dennoch, Magda – wer nur das feste, kalte Herz dazu hätte, der müßte bei solchem Ereignis gar nicht weinen. Denn ein Bau, der auf solcher Grundlage aufgebaut ist, zerfällt schnell genug. Die Besinnung kehrt wieder und damit die Kritik über sich selbst und die Gefährtin dieses Bundes. Ich habe noch nie einen Mann dauernd glücklich gesehen, der ein Weib so verlassen konnte. Er hat die Elemente zu immer neuen Leidenschaften und immer neuen Enttäuschungen in sich.“
Ein triumphierendes Lächeln spielte um ihre Lippen. Sie gedachte des zerfahrenen Lebens des Mannes, um den sie gelitten, den sie vielleicht immer noch liebte und um dessen willen sie nicht wieder geheiratet hatte. In ihrer kurzen Ehe war sie nicht sonderlich glücklich gewesen und dann, als junge Witwe, hatte sie gedacht, in jenem Mann das Glück zu finden.
Sie sprach kaum mehr für Magda, sie sprach für sich. Das jahrelang verschlossen Gehaltene kam heraus.
„Und doch – woher sollte man wiederum das Recht nehmen, zu verdammen? Die Natur hat dem Weibe andere Fähigkeiten gegeben als dem Manne und die schönste derselben ist das Verzeihen! Eine liebende Frau, die das weiß, die müßte sich immer sagen: es ist klüger, die Schleier über den letzten Abgründen der Mannesseele nicht zu lüften. Wenn sie weiß, daß er tüchtig ist, und wenn sie weiß, daß er ehrlich ist, sollte sie tapfer ihn ertragen, wie er sie erträgt. Jeder achte die Art des andern.“
Das hatte sie sich hundertmal gesagt, als es für sie – zu spät gewesen.
Magdas Seele blieb an dem Wort „Verzeihen“ hängen.
„Ich weiß nicht, ob ich verzeihen kann. Ich weiß nicht, ob ich zürne. Ich weiß nichts,“ sagte sie, „es ist über mich gekommen wie ein Schreck, dem ich nicht entrinnen kann. Und ich kann nicht aufhören, ihn zu lieben.“
Sie weinte linder.
„Du wirst gerächt werden,“ sprach Hortense, „er wird bald genug mit dieser Lilly unglücklich sein. Schon die Kämpfe, die er um sie wird führen müssen, werden seinen Stolz beleidigen. Die alte Wallwitz wird die Ehe, die ihr sicher nicht standesgemäß erscheint, nicht ohne weiteres zugeben. Und Lilly selbst – ich kann mir gar nicht denken, daß sie es unter einer sieben- oder neunzackigen Krone thut – es paßt so gar nicht zu ihr. Jedenfalls wird sie, nachdem das erste Glück verflogen ist, ihn mit Unzufriedenheit und Sensationslust quälen, dafür kenne ich sie. Und meine Menschenkenntnis trügt mich selten.“
„Nein,“ rief Magda, von neuem in Thränen ausbrechend, „das laß mich nicht denken, daß all mein Jammer nicht einmal für sein Glück notwendig war. Wenn ich leiden soll, so will ich es für ihn zum Heil – nicht aber zu seinem Unglück.“
„Gott weiß, ob er nicht eines Tages wieder kommt,“ sagte Hortense.
Magda starrte vor sich hin.
„Ich soll ihm eine Schwester sein,“ murmelte sie. „Er bat mich darum. Ich weiß nicht, ob ich es kann."
Sie erhob das Haupt und sagte fester: „Das eine aber weiß ich, ich könnte sein Weib doch nicht mehr werden. Ich [762] kann nur einem Mann gehören, in dessen Seele mir alles, alles offenbar ist.“
Hortense umarmte sie und stand auf. „Martere Dich nicht mehr mit dem, was Du könntest und nicht könntest. Liebe, das Leben allein lehrt Dich das, heute weißt Du es noch nicht. Denke still über alles nach, was ich Dir sagte, vielleicht kommen Stunden, wo Du es begreifst.“
„Du willst gehen?“ fragte Magda bang, als sie sah, daß Hortense sich nach ihrem Mantel suchend umthat.
„Muß ich nicht endlich?“
Magda fürchtete sich vor der Einsamkeit. Sie hätte gemocht, daß die kluge, liebevolle Freundin noch stundenlang fortgesprochen hätte.
Aber Hortense hatte noch ein gutes, letztes Wort auf den Lippen. Sie wußte genau, womit man ein unglückliches, vergehendes Frauenherz aufrichtet und nährt.
Als sie Magda an der Thür noch einmal umarmte, flüsterte sie in ihr Ohr: „Er kann Dich vielleicht im Leben noch einmal sehr brauchen. Er wird es bald erfahren, daß solches Herz ein Schatz ist, den man nicht alltäglich findet. Und da Du jetzt von ihm scheidest, gieb ihm noch ein Großes mit: die Pflicht, Dich um Deiner Haltung willen zu achten!“
Magda schritt in ihr Zimmer zurück. Ihre Haltung war gebeugt, ihr Antlitz fahl und die Augen brannten.
Aber es war doch in ihnen ein wehmütiges Licht.
Und die blassen Lippen murmelten vor sich hin: „Er wird mich vielleicht noch einmal brauchen.“
[773]Unter all den vielen Gaben, welche die Natur so verschwenderisch in Renés Wiege gelegt, befand sich eine ganz prosaische. Und doch war sie es vielleicht, dank deren er in immer gleicher Frische und Fröhlichkeit seine anderen entfalten konnte. Er besaß einen köstlichen Schlaf! Ob er nach lustigem Gelag spät nachts heimkam, ob er beim Morgengrauen erst sich von seinem Schreibtisch erhob, ob er im Coupé der Eisenbahn saß oder in dürftigen Sennhütten nächtigte – sowie er sich hinlegte und die Augen schloß, schlief er felsenfest und traumlos.
In der Nacht aber, welche der Unterredung mit Magda folgte, fand er zum erstenmal in seinem Leben keine Ruhe.
Er grübelte immer wieder über ihr Benehmen nach. Seine energische Natur konnte nicht fassen, daß man so stillzuhalten vermochte, daß Magda sich nicht wild aufgebäumt, daß sie ihm nicht Worte der heftigsten Anklagen gesagt.
Zuweilen zog etwas durch seine Gedanken, was einer leisen Geringschätzung gleichkam, und er sagte sich: welch eine Passivität!
Aber dann wieder wuchs eine unbestimmte Angst in seinem Innern. Der Schlag war so jäh für Magda gekommen, daß er sie vielleicht nur betäubt hatte. Aus der Betäubung erwachend, würde sie die Kraft zum Zorn, ja zum Haß finden!
Nicht nur die Gedanken, auch die Gefühle mancher Menschen leiden an „Treppenwitz“. In einer ersten Großmutsaufwallung können solche Naturen vergeben, was sie nachher doch mit immer wachsenden Bitterkeit erfüllt. Oder die Ueberraschung, das völlig Unerwartete erstickt zunächst die richtende und kritisierende Stimme, die sich nachher um so lauter erhebt. So konnte es auch Magda geschehen. Mit stillem Duldermut, ohne Anklage, ohne Schmähwort hatte sie das für sie Unerhörte hingenommen. Wer wußte, ob die Bitterkeit nicht nachwuchs und ob nicht jetzt schon ihr Herz voll von Anklagen und Mißachtung für ihn war?
Die Vorstellung, daß sie gering und feindlich von ihm denken könne, glich einer Demütigung für ihn.
Er war gewohnt, ungerechter Feindschaft und wirklichen Antipathien keck die Stirn zu bieten. Sie freute ihn, denn er hätte gar kein Mensch sein mögen, der von jedermann verstanden und „nett“ gefunden worden wäre.
Aber gehaßt zu werden, geringer geachtet zu werden, wo er geliebt worden war, das ertrug er schwer, von Männern wie von Frauen. Von Magda, schien es ihm, würde es ihm so unerträglich sein, daß es ihm das Dasein vergiften könne.
Ihre herzzerreißende Bitte klang ihm im Ohr nach: „Laß es schnell sein – schnell.“
Und diese Mahnung machte ihm sein Vorhaben nicht leichter und freudiger. Er hatte geglaubt, Magda in furchtbaren Kämpfen seine Freiheit abringen zu müssen und von ihr allmählich zu ertrotzen, daß sie die Notwendigkeit seiner Vermählung mit einer andern begriff. Dadurch, daß sie selbst ihn nun [774] antrieb, diese zu beschleunigen, ward ihm die Pflicht noch beängstigender. Der Reiz des größten Hindernisses war gefallen. René hatte ganz allein in Magdas Liebe für ihn solches erblickt. An Hindernisse äußerer Art dachte er gar nicht. So über alle Maßen er auch in Lilly verliebt war, die Notwendigkeit, sie zu heiraten, erfüllte ihn nicht mit fraglosem Jubel. Ihm bangte davor, seinem Leben eine feste Gestalt zu geben.
In der heimlichen Verlobung mit Magda hatte er gar keine Fessel gefunden, der Termin ihrer endlichen Vereinigung schwebte in so unbestimmten Zeitfernen. Und dann war Magdas ganzes Wesen und ganze Persönlichkeit so gar nicht aufdringlich oder störend. Es war ihm vom ersten Augenblicke an gewesen, als seien sie vertraut zusammen aufgewachsen, als habe er sie von je gekannt, als könne sie nie etwas thun, das sich nicht in vollkommener Harmonie den Bedürfnissen und dem Geschmack seiner Seele anschlösse.
Die kleine Lilly war ein aufregendes Persönchen, und alles, was sie umgab, die glänzende Familie, die vielen Standesrücksichten, verhieß viel Störung in seiner Arbeit.
„Laß es schnell sein – schnell!“ Ja, gewiß. Nun war es am besten, sich ohne Besinnen in die Ereignisse hinein zu stürzen. Morgen schon. Nein, morgen abend hatte er eine große Oper zu dirigieren. Da durfte er seine Nerven nicht mit anderen Dingen aufregen, da hieß es, sich still halten.
Aber Montag mittag – gewiß. René kannte die Hausordnung bei Lillys Großmutter genau. Von vier bis fünf nachmittags schlief die alte Dame. Er wollte dann zu Lilly gehen und mit ihr besprechen, ob er seinen Antrag unvermittelt bei der alten Dame anbringen oder erst ihren Bruder dafür gewinnen solle, der ihn, daran zweifelte er nicht, mit offenen Armen als Schwager aufnehmen würde. Und Magda sollte dann sofort und von ihm selbst erfahren, daß die Sache in Ordnung sei.
Plötzlich fiel ihm ein, daß sie gesagt hatte: ich weiß, wer es ist. Sie hatte ihn doch nie mit Lilly zusammen gesehen. Wie wunderbar! „Ja,“ sagte er sich, „Frauen, die wahrhaft lieben, haben noch einen Sinn mehr als andere Menschen.“
Er erinnerte sich der Qual, die so deutlich in Magdas Angesicht zu lesen stand. Und in der Dunkelheit der Nacht verbarg er noch sein Gesicht in der Hand.
Er hatte zum erstenmal in seinem Leben eine edle Frau wahrhaft leiden und durch sich selbst leiden sehen. Eine große Scham kam darüber in seine Seele, denn ihm war, als habe er eine Rohheit begangen, indem er in das Innerste eines Herzens sah.
Leiden, das war ihm etwas, das man verbarg, daran man weder mit Blick noch Wort rührt. Er selber war einer von denen, die lieber in stummer Qual vergehen, ehe sie einem Menschen ihr Leid enthüllen. Und so war ihm, als begehe er brutale Zudringlichkeit, wenn er ein anderes Wesen leiden sah. –
Die Nacht verging ihm so und auch der andere Morgen, den er thatenlos in grübelnden Gedanken in seiner Wohnung verbrachte.
Als er am Abend den Orchesterraum betrat, vergaß er, daß Lilly im ersten Rang saß und einen Blick von ihm erwartete. Es fiel ihm erst während der Ouverture ein, als er in der Doppelthätigkeit, die jedes Menschen Hirn in besonderen Momenten hat, wahrnahm, daß da oben ein großer heller Fächer sich immer hin und herbewegte. Ohne hinzusehen nahm sein Auge doch von seitwärts den lichten Punkt und die Bewegung wahr.
Es erregte ihn unwillig. So viel Takt und Kunstverstand sollte sie doch haben, daß man nicht während der „Oberon“-Ouverture lebhaft den Fächer gebraucht.
Seine Truppen merkten bald, daß er nervös war. Aber sie waren wohlgeschult und ihm ergeben und erzwangen sich ihrerseits die Aufmerksamkeit des Dirigenten. René vergaß, der Kaspari ein Zeichen zu geben; sie aber mit ihrer nie versagenden Sicherheit setzte trotzdem richtig ein. Er bemerkte nun seine Unterlassungssünde, lächelte dankbar zur Sängerin hinauf und war fortan ganz bei der Sache.
Für einige Zeit kehrte seine unbefangene Fröhlichkeit ihm ungetrübt wieder und er grüßte auch mit aufstrahlendem Blicke zu den Wallwitzens hinauf.
Dennoch war es ihm am Montag morgen unmöglich, zu arbeiten; er zählte die Stunden, bis es halb vier war und er sich auf den Weg zu Lilly machen konnte.
Die Sonne verschwand schon hinter den westlichen Höhen, aber der Himmel war taghell und lichtblau. Ein herber Wind fegte durch die Straßen, Renés Mantel flatterte und er mußte seinen Hut halten.
Da er Lilly am Morgen durch einen Boten hatte sagen lassen, daß er komme – sie verkehrten durch Notensendungen, denen ein verstecktes Zettelchen beigefügt ward – empfing ihn ihre Jungfer schon im Flur und meldete mit halb vertraulichem Lächeln, daß das Fräulein im Spielzimmer sei. Es war das kleine Gemach, wo die Gräfin ihre Whistpartien hielt. Dort stand ein grünbezogener Spieltisch mit den in seinen Rand eingelassenen Geldnäpfen vor einem altmodischen Sofa. Glasschränke mit alten Silberstücken und seltenem Porzellan hinter den Scheiben hatten an der Wand gegenüber Platz. Von der Decke hing ein merkwürdiger Kronleuchter herab, aus gläsernen grünen Blättern und weißen Callablüten, in denen immer frische Lichter steckten.
René trat ein. Lilly saß am Fenster in einem riesigen Ohrenlehnstuhl und las in einem französischen Roman. Sie legte das Buch umgewandt mit offenen Seiten auf das Fensterbrett, hielt sich mit auseinander gebreiteten Armen an den Lehnen, legte den Kopf zurück und spitzte die Lippen. Das hieß so viel als: komm her, gieb mir einen Kuß und sag’ mir guten Tag.
René kam heran und folgte der stummen Einladung flüchtig.
Sie rückte dann in die eine Ecke des Lehnstuhls. Es konnten ganz wohl zwei Menschen darin nebeneinander sitzen. René zwängte sich an ihre Seite, umfaßte sie und sagte:
„Weißt Du, liebes Kind, daß ich Dich eigentlich um Verzeihung bitten sollte?“
„Wofür? für große Sünden? Wir wollen ’mal sehen, ob wir gnädig sein dürfen. Also los mit der Beichte!“
„Es ist nur eine Unterlassungssünde. Ich hätte schon vor drei Wochen, weißt Du, nach jener Stunde, da Du wie eine schöne Fee aus dem Märchenland in mein armes Zimmer tratest, thun müssen, was nun nicht länger aufgeschoben werden soll. Aber – Gründe – –“ Er stockte. Ihm verbot ein starkes Gefühl, davon zu sprechen, daß er nicht frei gewesen. Wenn auch Magdas Name nicht genannt wurde – so schien sie ihm doch schon entweiht, wenn er nur in unbestimmten Ausdrücken von dieser Liebe sprach.
„Nun was denn, was denn?“ fragte sie sehr ungeduldig.
„Bei Deiner Großmama um Dich anhalten,“ sagte er.
Sie sprang auf. Aber sie fiel ihm nicht um den Hals, sondern lachte nervös. „O Du meine Güte, was für pedantische Ideen. Unser heimlicher Liebesfrühling ist ja so reizend,“ rief sie.
„Nein, mein Kind,“ sprach er ernst und stand in stolzer Haltung vor ihr, „ich darf Dich und Deinen Ruf keinen Gefahren aussetzen. Ich will nicht, daß der in Leopoldsburg immer wache Klatsch sich unserer Namen bemächtigt. Ich will nicht, daß Deine Großmama nachher sagt: die Leute hatten schon zuviel davon gesprochen, ich mußte mich darein finden. Ich will freudig von ihr als Enkelsohn angenommen sein, das bin ich Dir und mir schuldig. Es handelt sich nur darum, daß wir besprechen, ob ich Deiner Großmama schreiben soll, oder ob wir Walfried als unseren Freiwerber gewinnen.“
Lilly stand verlegen da. Sie hielt die eine Hand mit der anderen erfaßt und strich mit dem Daumen der Rechten an den Fingernägeln der Linken herunter, als wollte sie diese blank polieren.
„Ach,“ sagte sie leichthin, „laß doch das! Wie kommst Du auf den Einfall? Das verlange ich ja gar nicht. Du bist ein Künstler und brauchst noch Freiheit.“
René sah sie erstaunt und unsicher an. Soviel Selbstlosigkeit hatte er hier nicht erwartet. Und der Ton klang auch nicht, als entstamme das Wort liebevoller Rücksicht auf ihn.
Ein merkwürdiges Gefühl kam über ihn. Es war, als gehe er auf Sumpfboden, als könne die Erde unvermutet unter ihm hinwegweichen. Er war nicht der Mann, sich auf solchen Unsicherheiten tastend vorwärts zu schleichen.
„Du liebst mich?“ fragte er plötzlich scharf.
„Ueber alle Maßen,“ rief sie und fiel ihm um den Hals, „ich habe es Dir tausendmal gesagt und so innig bewiesen.“
Sie küßte ihn, einmal, mehrmals, wie toll. Aber seine Lippen blieben geschlossen, seine Haltung erwartend.
„Also was meinst Du,“ fragte er, „soll ich direkt an Großmama schreiben?“
Sie hielt ihre Hände noch in seinem Genick gefaltet und wiegte seinen Kopf im Uebermut ein bißchen hin und her.
„Du lieber, dummer Mensch,“ sagte sie zärtlich, „als wenn [775] das so einfach wäre. Ich sage Dir, Du würdest auf den fürchterlichsten Widerstand bei Großmama stoßen.“
„So bitten wir Walfried, unser Bundesgenoß zu sein.“
„Ach – das ist alles so kompliziert! Walfried weiß ja auch, daß ich wegen des dummen Geldes und aus Gott weiß was sonst noch für Rücksichten übers Jahr Gräfin Ponsdorff werden soll,“ erzählte sie in klagendem Ton.
Von all diesen Hindernissen hatte René nichts geahnt. Ihre Aufzählung, noch mehr aber, daß Lilly sie ihm gegenüber nicht gleich, nicht längst erwähnt, beleidigte seinen Stolz.
„Nun“ sagte er, „so werden wir es gegen Großmama, gegen Walfried und gegen alle Welt durchsetzen. Ich habe keine Grafenkrone und keine Million. Aber ich heiße René Flemming.“
Seine Augen flammten und sein Mund verschloß sich herb. In dieser Minute durchglühte ihn stolz das Bewußtsein seiner Begabung und ihm war, als könne er dem Mädchen da schon alles greifbar bieten, was er doch erst der Zukunft abgewinnen sollte.
„Ja,“ sprach sie und umschlang ihn fester, „Du bist ein großer Mann und ich bin fabelhaft stolz auf Dich. Aber siehst Du, so schlankweg mit der Heirat – das geht nicht so – Großmama wird sagen: einen Künstler liebt man, aber heiratet ihn nicht.“
René stieß sie zurück. Alles in ihm spannte sich an zu einer furchtbaren Aufmerksamkeit. Er bohrte seine Blicke in ihr Gesicht. Er beugte sich vor und sein Atem ging schwer.
„Und Du?“ fragte er, „und Du?“
Vor seinen Blicken gab es kein Entrinnen und kein Lügen.
„Wir können es ja im Lauf des Winters überlegen – man muß – nichts – überstürzen ..“ stammelte sie.
Und ein tiefes Rot stieg ihr ins Gesicht. Da begriff er.
Ein heiserer Laut entfuhr ihm.
Sein Antlitz ward grau und sein Mund verzerrte sich. Seine Augen waren mit so fürchterlichem Ausdruck auf sie gerichtet, daß sie zitternd einen Schritt zurückwich.
Diese Auseinandersetzung fand sie so fatal und überflüssig. Was fiel ihm denn ein? Es war doch so reizend gewesen, mit dem Bewußtsein der heimlichen Liebe lustig in den Tag hineinzuleben und alle steifleinenen Leopoldsburger innerlich auszulachen. Daß man, wenn man Lilly von Wallwitz heißt und kein Vermögen hat, nicht einen jungen Kapellmeister heiratet, der vielleicht eines Tages sehr berühmt wird, das war doch eine so grenzenlos selbstverständliche Sache, daß es nur verwunderlich blieb, wie ein so gescheiter Mann überhaupt andere Ideen fassen konnte.
Sie sah ihn an, halb furchtsam, halb neugierig. Sein Gesicht hatte sich furchtbar verändert; von Zorn entstellt sah es beinahe häßlich aus. In ihr regte sich Mitleid.
„Um Gotteswillen“ dachte sie, „der arme René hat es tragisch genommen! Er wird sich nicht vorstellen können, wie er ohne mich leben soll. Er wird jeden anderen Mann übern Haufen schießen, der sich mir naht. Oder er wird sich selbst ein Leids anthun“
Es überrann sie schaurig angenehm. Ihre Eitelkeit schwelgte in hoher Wonne. Doch zugleich erwachte in ihr die Klugheit, die zur Vorsicht mahnte. Ein so heftiger Mensch wie René, der sie offenbar so rasend liebte, konnte eine That begehen die einen Eklat hervorrief. Und das wäre ja gräßlich gewesen – wegen Großmama und wegen der Welt! Ein Ausdruck zärtlicher Nachsicht trat in ihr Gesicht. Er, dem keine Wimper zuckte und der sie immerfort beobachtete, sah diesen beinahe gnädigen Ausdruck.
„Sprich!“ rief er, „wage zu sagen, was Du dachtest.“
Der Ton empörte sie. Ein hochmütiger Trotz wachte in ihr auf und ließ sie alle Klugheit vergessen.
„Ich dachte mir, Du wüßtest das mit Ponsdorff. Und deshalb bin ich gar nicht auf die Idee gekommen, daß Du die Eitelkeit haben könntest, eine Wallwitz ….“
Sie kam nicht weiter. Er hatte ihr Handgelenk gepackt und schüttelte es, daß ihre ganze Gestalt bebte.
„Wenn Du gedacht hast, daß ich ein Schurke bin …“
Er konnte sich die Worte kaum abringen.
„Und hast mich geküßt – und hast mir gesagt, Du liebst mich – pfui, pfui!“
Er ließ sie los. Vor Entsetzen und Angst halb ohnmächtig, fiel sie in die Kniee.
„René!“ stammelte sie.
„Ich verachte Dich!“ sagte er laut und ging hinaus. –
Sie blieb einige Minuten liegen und bohrte ihre Blicke in das Teppichmuster. Dann stand sie auf, warf sich in den Lehnstuhl und dachte nach. Ihre Augen funkelten.
Ein Mensch hatte gewagt, ihr zu sagen, daß er sie verachte!
Dieser Mann, zu dem sie mit ihrer Liebe großmütig herabgestiegen war, hatte sich unterfangen, sie zu mißhandeln.
Anstatt dankbar zu sein, daß er in dem sterbenslangweiligen Leopoldsburg ein romantisches Abenteuer erleben durfte, leitete er aus demselben einen albernen kleinbürgerlichen Anspruch auf ihre Hand her.
Als ob man immer den oder die heiratete, in die man verliebt war. Das ging ja leider nicht an in dieser verzweifelten Welt! Das hätte René sich doch sagen müssen, anstatt mit seinem tragischen Benehmen ihre so amüsante Heimlichkeit ein für allemal zu beenden!
Von nun an konnte man ja in dem dummen Leopoldsburg umkommen vor Langweile.
Aber wie fein von ihm: er hatte eine große, vornehme Partie machen wollen, glaubte sie am Ende gar reich! Das hätte seiner Eitelkeit wohl gepaßt.
Sie atmete befriedigt auf. Seine Enttäuschung hierüber, das war wenigstens eine Strafe für ihn.
„Wie er mich wohl haßt von nun an,“ dachte sie, „der verzeiht keine Demütigung! Aber gedemütigt hat es ihn,“ schloß sie triumphierend.
Plötzlich zuckte ein Schreck durch ihr Herz. „Er wird sich an mir rächen,“ sagte sie sich, „er hat mich in der Hand, er hat Briefe von mir!“ Ihre Glieder bebten. Eine namenlose Angst kam über sie. Ihre Gedanken, die immer so erfinderisch waren, begannen eine förmliche Jagd nach rettenden Einfällen.
Dabei wurde ihr körperlich ganz elend. Thränen der Feigheit rannen ihr aus den Augen.
Wenn er sie verriete – sich einem Freund anvertraute – oder gar Walfried – – Großmama würde sie verstoßen, sie müßte zurück auf das armselige, väterliche Gut, Ponsdorff konnte davon hören und sich zurückziehen!
Lilly zitterte am ganzen Körper. Ihr ward sehr übel. Sie schloß die Augen.
Ja, das war es: Walfried und er durften sich nie mehr, oder nur als Feinde begegnen! Das war Rettung. Mochte er irgend einem andern sich vertrauen, oder durch kleine Blicke und Andeutungen auf hinterlistige Art ihrem Ruf schaden – o, Lilly wußte, wie das gemacht wurde – das war egal! Klatsch wird geglaubt und auch nicht geglaubt und läßt sich nicht beweisen.
Nur Walfried durfte nichts erfahren! Oder doch?! Vorbeugend, gruppiert, die Wahrheit unwahr sagen?!
Ihm einen Roman erzählen, daß sie René geliebt, daß sie mit sich gekämpft, kurz, unterlegen sei und sich dann mutvoll und groß zu der doch nötigen Entsagung durchgezwungen, daß er sie aber wegen dieser beschimpft habe – – ja, so würde es gehen.
Walfried würde ihn fordern, man würde ein paar Kugeln in die Luft schießen und die erwünschte Feindschaft war zwischen den beiden hergestellt. Und René war nachher in Leopoldsburg unmöglich.
Der Gedanke versetzte sie in einen wahren Rausch.
Die Ausführung verhieß Leben und Sensation. Nur etwas erleben, erleben! Das war ihr steter, durstiger Wunsch. Und konnte es nichts Lustiges sein, mußte es etwas Spannendes, Aufregendes, Gefährliches sein!
Wenn ein Mann wie Walfried sich plötzlich und feindselig von dem Verkehr mit René zurückzog, wenn dunkle Gerüchte entstanden, daß er irgend etwas Unschönes begangen haben müsse – – ja, dann würde er unmöglich werden und begreifen, daß man einer Lilly Wallwitz nicht sagt: ich verachte dich.
Sie baute sich ein ganzes, thörichtes Gerüst von Vorstellungen auf, dessen Fundament der Wahn war, René sei aus sich selber nichts, sondern nur infolge der gnädigen Laune der „Gesellschaft“, welche an seiner interessanten Erscheinung Gefallen gefunden, ein Modegegenstand, den eben diese Gesellschaft jeden Augenblick in das Nichts zurückfallen lassen könne.
Sie rechnete auf den Geist der Kameradschaft unter den Offizieren und glaubte zu wissen, daß, wenn einer von René abfiel, keiner mehr mit ihm verkehren würde. Und wenn erst die Offiziere ihn verfemt hatten, war es – nach Lillys Idee – aus mit einem Menschen.
[776] Es galt aber, keine Zeit zu verlieren – jede Stunde brachte Gefahr. Wer konnte wissen, ob René Flemming nicht schon unterwegs zu Walfried war, um diesem zu sagen: „ich habe ein Recht auf Deine Schwester, ich will sie zum Weibe, ihr müßt sie mir geben, oder …“
Sie lief zur Thür, neben welcher sich ein Glockenzug befand, und riß daran. Die Jungfer kam.
„O Gott, gnädiges Fräulein, fehlt Ihnen ’was?“ fragte das Mädchen und sah die blassen entstellten Züge ihrer jungen Herrin an.
„Ja, mir ist nicht wohl. Ich will meinen Bruder sprechen. Fahren Sie mit einer Droschke nach der Kaserne – er soll gleich kommen – aber sagen Sie nichts – an – Großmama.“
Lilly schwankte. Ihr war in der That sehr elend. Die innerliche Aufregung, die ohnmächtige Wut zusammen mit der Angst, hatten ihre Wangen und ihre Lippen entfärbt.
„Soll ich nicht lieber zum Doktor laufen?“
„Nein – nein – mein Bruder soll kommen.“
Die Jungfer, die sich über dies plötzlich veränderte Aussehen ihres Fräuleins ihre Gedanken machte und annahm, daß ein Streit mit Herrn Flemming dahinter stecke, rannte davon.
Lilly kauerte sich wieder in ihren Stuhl. Im Vorbeigehen hatte sie sich in der Spiegelseitenwand des Glasschrankes angeschaut. Zwischen den silbernen Theetöpfen und Tafelaufsätzen sah sie ihr Gesicht und empfand fast eine Genugthuung, wie bleich es aussah.
Nun war die heftigste Spannung vorbei – der erste Schritt geschehen, um sich zu retten und zu rächen. Eine gewisse Erschlaffung kam über sie und sie fing an zu weinen.
Mitten in ihre, aus Sorge und Wut gemischten Gefühle kam dann ein Bedauern darüber, daß nun alles aus sei. Es war doch riesig nett und lustig gewesen und er hatte so etwas Bezauberndes an sich. Sie rechnete es ihm als Schuld an, daß er durch seine alberne Heiratsidee alles geendet. Daran schloss sich die Vorstellung, daß er sie gar nicht geliebt habe, sondern daß bei ihm nur alles Berechnung gewesen, um eine große Partie zu machen.
Und sie preßte ihre Stirn gegen die Polsterlehne und ballte vor immer wachsendem Zorn die kleinen Fäuste. „Walfried soll kommen, Walfried!“ sagte sie sinnlos vor sich hin.
René ging zur Thür hinaus und auf die Straße. Mit großen, stetigen Schritten ging er vorwärts. Bekannte grüßten, er sah es nicht. Die Equipage Seiner Hoheit fuhr vorbei, er machte nicht Front. Er ging vorwärts, immer vorwärts.
Der Himmel war jetzt weiß geworden, aber seine klare Farblosigkeit mußte sich bald mit der Dunkelheit der nahen Dämmerung vollsaugen. Es war die licht- und schattenlose kurze Zeit zwischen Tag und Abend, in welcher René aus der Stadt und in den Wald hineinschritt. Er bemerkte nicht, daß ein starker Sturm hinter ihm her wehte und seinen Mantel zu einer Muschel formte, in der er, halb schreitend, halb geschoben, sich vorwärts bewegte. Sein Hut flog ihm vom Kopfe, er fühlte es nicht.
Ein Peitschenschlag hatte seine stolze Seele getroffen und sie erzitterte noch von der Schmach und dem Schmerz.
Mit tiefen Zweifeln, nicht ohne das Bewußtsein, wie viel er opfere und wage, nur der Stimme der Ehre und Dankbarkeit gehorchend, hatte er diesem Mädchen sein Leben dargeboten und sie – sie hatte es gar nicht gewollt! Sie forderte und verdiente diese Dankbarkeit für ihre Liebe gar nicht. Er war in ihren Augen gar nicht der Mann gewesen, von dem man eine ehrenhafte Haltung erwartet. Er war ihr gerade gut genug erschienen zu einem – Roman.
Diese jähe Entdeckung fiel wie ein Wassersturz auf ein Strohfeuer. Jedes Fünkchen von Empfindung für Lilly war in ihm erloschen. Nur eine ganz brutale Lust durchbebte ihn, die Freude, grenzenlos verachten zu dürfen, und die Genugthuung, es ihr gesagt zu haben.
Ein Schauer, der an Angst grenzte, durchrann ihn, als er daran dachte, welches Herz er um dieser willen gekränkt hatte. Daß er das reinste und zuverlässigste Glück, welches sein Geschick ihm bisher gegönnt, daß er Magda hätte für immer verlieren können um einer Lilly willen!
Jeder Zug des Leides, den er in Magdas Angesicht gesehen, ward ihm gegenwärtig und ward eine Ursache mehr, die andere zu verachten.
Langsam gewann die Vertiefung in Magdas Seelenzustand die Oberhand über seine häßlichen Gedanken an Lilly. Er versuchte, sich ganz in dies gebeugte, schmerzgeprüfte Frauenherz hineinzudenken.
Er wußte ja unerbittlich klar, daß es durch ihn gemartert worden war. Aber dennoch sah er ihr Schicksal als etwas Unpersönliches, Allgemeines an und empfand nicht sowohl Reue, als ein ernstes, beinahe andachtsvolles Interesse an diesen Leiden.
„Sie ist ein völliges Weib,“ sagte er sich, „und Weib sein, heißt eine Märtyrerin sein.“
Er prüfte sich mit einer Klarheit, die gar keine Selbsttäuschung zuließ, über seine Empfindungen für Magda. Diese Aufwallung für Lilly, die wie ein Sturmwind gekommen und vorübergegangen war, hatte keinen höheren Wert gehabt als ähnliche kleine Abenteuer, die sein Jugendleben schon mit sich gebracht. Nur, weil es soviel Flitterwerk um sich gehabt: weil es eine junge Dame aus der großen Welt gewesen war, seines Freundes Schwester, nur deshalb hatte er geglaubt, dies Abenteuer anders ansehen und anders enden zu müssen.
Er wusch es fort aus seiner Erinnerung, so gänzlich, daß nur die heimliche Wunde blieb, die sein Stolz durch Lillys Auffassung seiner Persönlichkeit erfahren. Er stellte bei sich fest, daß es eine von den schönklingenden Phrasen sei, die sich im Gebrauchsfall nicht bewähren, wenn man sagt: „Jemand, den ich verachte, kann mich nicht verwunden.“
Eine so grenzenlose Verachtung wie die für Lilly hatte er noch nie gefühlt und dennoch, dennoch überrann es ihn immer neu, wenn er sich sagte, sie habe sich nur mit ihm amüsieren wollen. Jemand zu verachten und es ihm nicht fort und fort zeigen und sagen zu dürfen, das war ihm ein schreckliches Gefühl, weil es nach immer neuer Sättigung vergebens lechzte. Alle bösen Instinkte wurden in ihm wach und er wünschte zehnmal in aufwallender Wut, sie hier vor sich zu haben, um ihr fürchterliche Sachen sagen zu können.
Ihm war auch, als sei die ganze Welt ihm zuwider und als sei in ihr nichts Achtens- und Liebenswertes als Magda allein. Er dachte immer inniger an sie. Er sah ihre treuen klugen Augen vor sich. „Jede Qual vermehrt unser Wissen,“ sagte er sich, „so wird auch Magda hiernach das Leben gereifter ansehen. Sie wird vielleicht künftig, wenn ich in Gefahr wäre, von einem neuen Rausch erfaßt zu werden, mich anlächeln und sagen: ‚Weißt Du noch – damals – wie schnell das verflog?‘“
An ihrem treuen, wissenden, geduldigen Herzen mußte es sich köstlich ruhen lassen. Nur eines – eines durfte sie nicht erfahren – später vielleicht – jetzt brannte die Wunde der Demütigung noch zu tief. Er konnte ihr nicht sagen, daß Lilly ihn nicht zum Gatten gewollt habe! Mochte Magda mit ihrem feinen Gefühl selbst erraten, daß er auf irgend eine Weise die Erkenntnis gewonnen, Lilly habe nur gespielt.
Er fühlte sich so völlig mit Magda vereinigt, daß ihm gar nicht mehr zum Bewußtsein kam, es sei ein Trennungswort zwischen ihnen gesprochen worden, und noch weniger wandelte ihn die Furcht an, sie könne es als ein ewig geltendes ansehen. –
Seit langem war es völlig Nacht geworden. Am schwarzblauen Himmel standen Sterne, aber der rasende Sturm trieb manchmal lockere, tiefhängende Wolken darüber her, welche die Luft mit feuchtem Atem sättigten. Der Weg, dem René mechanisch folgte, war zwischen den schwarzen Wänden des Waldes ganz gut erkennbar.
Der Sturm tobte in dem kahlen Geäst der Buchen, es war ein beständiges Knistern und Knattern in der Luft über seinem Haupt, doch René nahm es nicht mit Bewußtsein wahr. Das Geräusch war ihm wie eine selbstverständliche Begleitung seiner Gedanken. Er merkte erst auf, als sich die Töne über ihm plötzlich veränderten. Aus dem Buchengehege war er in den Tannenwald gekommen, und die Natur stimmte plötzlich eine ganz andere, eine majestätisch rhythmische Musik an.
Ein Rauschen, wie von andonnernden Meereswogen, ging durch den Tannenwald, und wie beim Zurückfluten der Wasser in dem tosenden Lärm immer eine Pause bangen Schweigens entsteht, so ließ auch der stoßweise daherfahrende Sturm den Wipfeln knappe Atempausen, um ihr Nadelgefieder zu schütteln, das er scharf nach West gestrichen.
Dazwischen ein unheimliches Knarren und Krachen. Die biegsamen Stämme der jungen Bäume wurden klappend gegeneinander [778] geschlagen, das Holz der alten bog sich stöhnend und richtete sich knarrend wieder auf.
René horchte, versuchte seine Gedanken auf Magda zurückzulenken, horchte wieder und sah sich plötzlich in einer anderen Welt. –
Durch die Säulenhallen des Tempels der heiligen Margarete zog eine Nonnenschar. Tief und mächtig brauste die Orgel, aber klar gegliedert hob sich ein achtstimmiger Doppelchor von ihren Tonwogen ab. René hörte genau die Frauenstimmen und zwischen ihnen die seiner Heldin, der Lucrezia Buti. Wuchtige Posaunenklänge trugen den Chor. Das Ganze stand vor ihm wie ein lichter Bau mit schlanken Säulen und farbigen Glasfenstern, auf dem monumentalsten Fundament.
Doch jäh zerriß die fromme Stimmung: Filippo Lippi, der bebend hinter einer Säule geharrt, trat vor. Er hörte die Tenorstimme des Mönchs ganz deutlich deklamieren. Die Geigen und Oboen stimmten ein vibrierendes Motiv an, und verzehrendes Liebesverlangen bebte in der Musik.
René hatte Thränen in den Augen; eine tiefe Rührung hatte ihn ergriffen.
Brausend rauschte hoch über ihm der Sturm weiter.
Die Naturgewalt einer übermächtigen Liebe, die das Leben und den Tod besiegt, durchglühte ihn. War es eigenes Fühlen, war es die Liebe seines Helden? Unentwirrbar verschmolz sein Dasein in eins mit dem jener Geaalt, der sein Schaffen Leben gab.
René ging immer hastiger. Seine Gedanken arbeiteten mit unerhörter Sammlung und Schnelligkeit. Er unterschied nicht mehr, ob das wogende Tönen um ihn Stimmen der Luft waren, oder ob sie ganz allein in seiner Vorstellung erklangen.
So verflossen Stunden.
Und plötzlich merkte René auf: ein mattes Licht blinkte nahe vor ihm, ein Pferdewiehern und ein Hundegebell hob laut an und verflog schnell in der Luft, denn der Sturm stieß den Schall vor sich her. Von einem Kirchturm schlug es mit blechernen Tönen zehn – mit ungleicher Stärke kamen die Schläge bis zu René.
Er war fünf Stunden gewandert, der Schweiß rann ihm von der Stirn, seine Kniee bebten von der großen Anstrengung. Er wußte nicht, wo er war.
Aber wohl war ihm! Und frei, weit, groß war’s ihm in der Brust.
Nur fünf Stunden? Es war ihm, als seien Tage verflossen, als habe der Herbststurm, der über ihn daherbrauste, eine neue Jahreszeit auch in seine Seele geweht. Er fühlte sich unbeschreiblich reich.
Als er dem Licht näher kam, begriff er, wo er war. Oft im Sommer fuhr er mit guten Bekannten hier hinaus. Der große Marktflecken war mit Leopoldsburg durch eine Sekundärbahn verbunden, die sich durch Hügeleinschnitte hierher wand. Im Wirtshaus „Zum Posthorn“, das vor dem Ort am Walde lag, ward bei solchen Ausflügen fröhliche Einkehr gehalten.
[789] René guckte ins Fenster des Wirtshauses. Die vielteiligen Scheiben waren von drinnen beschlagen, aber er erkannte doch, daß da noch Menschen saßen.
„Der Herr Hofkapellmeister,“ rief der Posthornwirt erschreckt. René sah ein wenig unheimlich aus: leichenblaß, leuchtende Augen, das Haar an der Stirn klebend, ohne Hut.
„Na, na,“ sagte er, „ich bin kein Gespenst, Posthornwirt. Ich bin so in Gedanken daher gelaufen und den Hut hab’ ich auch verloren. Sie müssen mir schon ein Zimmer herrichten für die Nacht und die Frau muß mich mit allem versehen, was ein anständiger Christenmensch braucht. Und aufgetischt, Posthornwirt – Wein her!“
„Frau, Frau!“ rief der Wirt zur Thür hinaus. Er hatte behende Bewegungen noch von seiner Kellnerzeit her und trug einen großkarrierten Jackettanzug. Denn die Posthornwirtin, die ihn als Witwe geheiratet hatte, nachdem er bei ihr Kellner gewesen, war stolz auf sein städtisches Ansehen und die bunten Krawatten, die er trug. Den Gästen war er wegen dieser angeflogenen, unechten Eleganz weniger angenehm.
Der Apotheker, der Holzsägemüller und der Schullehrer hatten ihre Skatkarten niedergelegt und sahen sich den späten Gast an, der wie ein Riese wirkte, als er da so in der niedrigen Wirtsstube stand, umzogen von dem Tabaksqualm, der lagenweise im Raum schwebte. Die Wirtin erschien. Sie hatte die stattliche Haube schon abgelegt, die sie tags trug, und ihre grauen Zöpfchen waren wie Spiralen um den Hinterkopf gelegt. Ihr Gesicht, das durch eine Stumpfnase und einen breitlachenden Mund sehr vergnügt wirkte und ihrem Geschäft sehr zu statten kam – denn Wirte müssen immer guter Laune scheinen – verklärte sich, als sie René sah.
„Nein, aber die Ueberraschung!“
„Wirtin, grüß Gott!“ sagte René und schüttelte ihr die Hand. „Was macht die Gretel, immer noch so hübsch und artig? Ich möchte einen Wein haben und ein bißchen ’was zu essen. Und Schreibpapier, eine ganze Menge! Wenn keins sonst im Hause ist, laßt mich ein Schreibbuch von der Gretel haben.“
„Wir haben doch Briefbogen mit Ansicht,“ sagte der Wirt.
René warf seinen Mantel ab. Er ging hin und her. Es war ihm unmöglich, zur Ruhe zu kommen.
Die Skatspieler rechneten ab und empfahlen sich.
Der Wirt versuchte mit einer Serviette die schlechte Luft zum Fenster hinauszuschlagen. Dadurch wurde René eigentlich erst auf sie aufmerksam.
„Ich könnte mich oben hinsetzen in die Schlafstube,“ sagte er.
Alles sollte flink gehen: das Feuer anheizen, die Lampe zurecht machen, das Essen und das Zimmer bereiten. Die guten Leute liefen, was sie konnten.
Inzwischen schrieb René in der Gaststube einen Brief.
[790] „Magda, meine teure Magda! Die Sache, von der Du weißt, ist ganz und für immer vorbei. Ich habe Dich wieder, Du hast mich wieder – aber das ist nicht richtig gesagt, denn im Innersten war ich Dir nicht verloren. Ich bitte Dich um eines: frage mich nicht, frage mich nie, wie es kam, daß ich jetzt verachte, was mich gestern noch so hinnahm. Es war ein Rausch, er ist verflogen. – Ich bin hierher gelaufen, der Zufall, der Wind, meine Gedanken haben mich hergeweht. Morgen oder übermorgen gehe ich heim. Das Wandern war so reich. Dann sehen wir uns wieder, zehnfach beglückt, unsere Zusammengehörigkeit aus Gefahr gerettet zu sehen, zu wissen, daß sie alles überdauert. René.“
Dann band er dem Wirt auf die Seele, diesen Brief morgen mit dem ersten Zug nach Leopoldsburg gehen zu lassen. Er hinterließ die strengsten Befehle, daß man ihn morgen nicht wecke und vor seiner Stubenthür jedes Geräusch vermeide, und ging in das Zimmer, das für ihn zurecht gemacht war.
Die halbe Nacht hindurch schien das Licht aus den Fenstern dieses Zimmers. –
Der Brief aber ging am andern Morgen um sechs Uhr nach Leopoldsburg und wurde in den Vormittagsstunden Magda überbracht.
Sie saß thatenlos in ihrem Atelier. Der helle Himmel sah herein und um die Giebel der Nebenhäuser heulte der Wind. Es schien, als bliese der kalte Herbsttag seinen frostigen Atem durch die Fensterritzen.
Auf der Säule neben der Staffelei mit einer frisch hergerichteten Leinwand stand ein großer Strauß gelbbrauner Chrysanthemum. Magda sollte für eine befreundete Dame einen Entwurf zu einem Ofenschirm machen, die Blumen und die Farben dafür waren ihr vorgeschrieben worden.
Aber Magda konnte sich nicht aufraffen, die Arbeit zu beginnen. Sie nannte sie bei sich selbst handwerksmäßig und unfrei. Ihr Gemüt klammerte sich mit immer neuer Bitterkeit an die Geringschätzung, welche René für ihre Malerei gezeigt. Er hatte ihr alle Freude daran verdorben.
Manchmal freilich sagte sie sich, daß auch sein Beruf ihm genug der Lohnarbeit bringe und daß er auch noch jüngst eine „Zenobia“ habe dirigieren müssen.
Welcher Künstler, welcher Kunsthandwerker – ja selbst, welcher Berufsmensch darf immer nur die Aufgaben erfüllen, die er sich aus freiem Enthusiasmus erwählen würde!
Aber der Verstand mochte noch so laut sprechen, die Arbeitskraft blieb gelähmt.
Auch fragte Magda sich oft: wozu noch fleißig sein? Die Freudigkeit, mit welcher sie nach ihrer Heimkehr aus der Schweiz geschaffen, war zerstört, weil ihr Zweck und Ziel entwunden waren, der Zweck, Geld zu verdienen für das Ziel ihrer Vereinigung mit René.
Einst hatte sie auch gearbeitet ohne dies Ziel. Sie hatte stark gestanden, stand sie auch im Schatten. Denn sie wußte nicht, wie anders, wie wonniger es sich im warmen Sonnenlicht des Glückes atmet. Nun wußte sie es und empfand den Schatten so sehr, daß in ihr kein freudiger Wille mehr erblühen konnte.
Eine völlige Gleichgültigkeit gegen das Leben hatte sich ihrer bemächtigt.
Da kam Renés Brief.
Sie las ihn und nach der ersten besinnungslosen Freude kam ein neues Entsetzen über sie.
Das war schon wieder vorbei?! Dahingerast über ihn wie ein Wirbelwind?!
Und deshalb hatte sie leiden müssen, deshalb war das Schwerste über sie gekommen, was einer liebenden Frau begegnen kann? Daß eine neue Leidenschaft ihn erfaßt hatte, mußte sie begreifen, und Hortense hatte mit so vielen klugen Worten und Beispielen dargethan, daß es nichts Unbegreifliches sei, wenn der Lebenslauf eines Mannes jäh durchkreuzt werde von solchem Ereignis.
Aber daß solche Leidenschaft so schnell, so ganz wieder aus seinem Herzen verschwinden konnte – das war der neue Schrecken, den Magda empfand.
Welch ein Rätsel – der Mann! Und er schob gleich ihre möglichen Fragen von sich, lehnte ab, noch ehe er wußte, ob sie es versuchen würde, Aufklärungen zu erhalten, ihr solche zu geben. Er berief sie einfach wieder an sein Herz. Er forderte – nach solchen Ereignissen! – das blinde Vertrauen von ihr, sie solle glauben, daß er im Innersten seiner Seele ihr gar nicht untreu gewesen.
O, wenn sie das glauben könnte! Wenn sie bescheiden genug blieb, sich daran genügen zu lassen –
Eine kurze, himmlische Freude erfaßte sie. Aber ihr war, als müsse sie sich derselben schämen. War das nicht im Grunde eine unwürdige Feigheit von ihr – war’s nicht der geheime Gedanke, lieber mit dem Teilbesitz dieses Mannes sich zu begnügen, ehe sie ihn ganz verlor …
Und in ihrem sich aufbäumenden Stolz beschloß sie, sofort etwas zu thun, was ihr jedes Schwanken und jede Feigheit abschnitt.
Sie antwortete und ließ den Brief sogleich in Renés Wohnung tragen. Wenn er heute oder morgen heimkam, sollte er ihn gleich finden. Ihr Brief lautete:
„Mein lieber René, ich will nichts vor Dir verbergen. Also auch nicht, daß ich Dich immer noch liebe und niemals einen anderen Mann lieben kann. Aber das Trennungswort, welches Du zu mir gesprochen, scheidet uns für immer. Daß Du von einer neuen Liebe erfaßt wurdest, war entsetzlich. Noch mehr aber raubt mir das mein Vertrauen, daß diese neue Liebe so schnell verging und sich in Verachtung wandelte. Ich drücke mich gewiß nicht glücklich aus, ich meine so: ich verstehe, daß man einer Täuschung unterliegen kann; aber ich denke, wenn Dein Wille stark genug gewesen wäre, der Versuchung eine Weile zu widerstehen, hättest Du rechtzeitig erkannt, daß keine wahre Leidenschaft, sondern nur ein Rausch Dich erfaßt hatte. Mir wäre dann all das Entsetzliche erspart geblieben und auch Dir. Denn ich weiß, daß Du leidest, weil Du mich leiden machtest. Nur durch Willensstärke können Gefahren vermieden werden, die unser gemeinsames Leben elend machen müßten. Ich sehe, daß Dir diese Willensstärke fehlt, und darum bitte ich Dich, mache gar nicht erst den Versuch, mich wiederzusehen. Ich zürne Dir nicht, dazu bin ich zu schwach und unglücklich. Aber wir müssen einander entsagen.
Magda.“
Kaum war der Brief fort, so ward Magda von den quälendsten Zweifeln über seine Berechtigung erfaßt.
„Ich hätte ihn erst Hortense zeigen sollen, erst mit ihr über die neueste Wandlung in Renés Herzen sprechen müssen. Ich verstehe auch dies vielleicht nicht,“ sagte sie sich bang.
Der Ton ihres Briefes konnte ihn beleidigen. Wie durfte sie ihm sagen, gerade ihm, daß ihm Willensstärke fehle, der durch die Kraft seiner eisernen Arbeit schon mit achtundzwanzig Jahren an einer Stelle stand, die andere mit vierzig erreichen?
Nein, sie hätte schreiben müssen! ich verstehe Dich nicht, deshalb fehlt mir das Vertrauen, neben Dir zu stehen.
Vielleicht würde Hortense ihr alles erklärt haben.
Zehnmal kam ihr die Versuchung, den Brief zurückholen zu lassen und erst mit der Freundin zu sprechen.
Aber zwei Dinge hielten sie ab: die Furcht, daß ihre Feigheit sie zum Selbstbetrug verführen möchte, und dann die Erkenntnis, daß tausend kluge Freundesworte nicht die Kraft haben, Erfahrung zu fördern und Vertrauen zu stärken.
Aus ihr selbst mußte es geboren werden! Und dies hielt Magda für unmöglich.
Ein Wort ihres Mädchens riß Magda aus ihrem brütenden Zustand. Als sie Kathi mit ungeheuer viel Lärm die Holztische an die Fenster rücken sah, sprach sie ärgerlich:
„Du bist so laut Kathi; was soll das überhaupt?“
„Heut’ ist ja Malstunde,“ sagte Kathi. Magda erschrak. Heute sollte sie das Geschwätz der jungen Damen über sich ergehen lassen! Welche unaussprechliche Last! Sie überrechnete die Zeit, ob Kathi noch hinlaufen und absagen könne. Unmöglich! Aber wie gerufen kam in diese Erwägung hinein eine Absage. Johanne von dem Busche und die zwei malenden Schwestern ließen durch ein und denselben Boten absagen.
Seltsam, aber sehr willkommen. Wer wußte, welch ein Vergnügen die Mädchen abhielt.
Eine halbe Stunde später kam mit der Post eine Briefkarte der Frau von Lenzow, worin sie wegen der vielen gesellschaftlichen Zerstreuungen, die Sibylle genoß, davon absah, ihre Tochter zunächst weiter Malunterricht nehmen zu lassen.
Der frostige Ton, der wenig verständliche Grund erschreckten Magda. Da war etwas vorgegangen – man hatte etwas gegen sie – – –
[791] Sie sann und sann. Vergebens!
Da that sich die Thür auf. Sibylle Lenzow kam herein und stürzte auf sie zu und fing sofort jammervoll zu weinen an.
„Was hast Du, Sibylle, fasse Dich doch!“ bat Magda.
Thränen sehen, Klagen hören – heute, wo sie selbst jeder Kraft entbehrte! Nein, nur das nicht!
„Ich erwartete Dich gar nicht, nach der merkwürdigen Absage Deiner Mutter,“ sprach sie.
Sibylle stand und hielt die Fäuste an den Augen.
„O was sind es für Menschen, o was sind es für Menschen!“ stammelte sie.
Magda nahm ihr die Hände vom Gesicht. Die braunen Glacefinger waren ganz naß.
„Was ist denn geschehen?“ fragte sie. „Hat Lieutenant Wallwitz sich mit einer andern verlobt?“
Sibylle hörte sofort auf zu weinen.
„Nein,“ sagte sie stolz. „Zwar, es weiß noch niemand außer Papa und Mama, aber Du sollst es erfahren, wenn Du mir schwörst, bis Sonntag zu schweigen. Wir haben uns Sonnabend morgen verlobt, meine Tante giebt das Geld. Walfried hofft, daß seine Großmama nicht dagegen ist. Bis Sonntag wird alles geordnet sein, dann steht es in der Zeitung.“
„So hast Du doch alle Gründe, glücklich zu sein,“ sagte Magda und gab der kleinen Braut einen herzlichen Kuß. Sie hatte das offenherzige Ding lieb. „Dann begreife ich auch, daß Du nicht weiter malen willst.“
„O, es ist nicht deshalb,“ rief Sibylle, „das ist ja gerade das Schändliche! Und Gründe zum Glücklichsein habe ich auch noch nicht. Ich glaube, es schwebt ’was Gräßliches in der Luft.“
Nachgerade wurde Magda nervös. Sie nahm Sibylle bei der Hand.
„Komm,“ sprach sie, „setz’ Dich dahin und erzähle!“
Sibylle setzte sich, knöpfte ihren Paletot auf und zog die Handschuhe aus.
„Nun!“ mahnte Magda ungeduldig. Sie stand vor der Kleinen.
„Ja weißt Du denn nichts, gar nichts? Hast Du denn keine Ahnung, was los ist? Was die Leute sagen?“
Magda schüttelte ein wenig den Kopf. Aber ihre nervöse Ungeduld verwandelte sich in dumpfe Angst.
„Sie sagen,“ begann Sibylle in schwindelerregender Schnelligkeit sprechend, „daß Du ’was mit Flemming hast. In der Schweiz haben schon irgend welche Leute, ich glaube ’ne Freundin von ’ner Cousine der Deggenburg, Euch gesehen – Arm in Arm im Wald, es ist hierhergeschrieben worden – neulich. Und Du bist ein paarmal mit ihm hier spazieren gegangen. Die Frau Doktor Behrens hat ’mal im Vorbeigehen gehört, daß Ihr Du zu einander gesagt hättet. Und die alte Deggenburg, die doch Flemming vis-à-vis wohnt, hat aufgepaßt, weil doch schon mal das Gerücht lief, und sie sagt, sie habe ’mal um sechs, oder mehrfach um sechs eine schlanke, verschleierte Dame in das Haus gehen sehen, und sie schwört, das warst Du!“
Magda wurde kalkweiß. Sie stand und dachte nichts und wußte nichts zu sagen.
„Und Papa sagt, er traue Dir nichts Schlechtes und Abenteuerliches zu, und er glaube bestimmt, daß Du, wenn es so wäre, bloß wegen Deinem Vater noch nicht heiratest und daß Du regelrecht mit Flemming verlobt und nur unvorsichtig gewesen bist. Aber Mama sagt, es giebt ja so viele Verhältnisse, die eine lange heimliche Verlobung nötig machen – sie selbst war zwei Jahre lang heimlich mit Papa versprochen, bis er seinen Assessor gemacht hatte; aber, sagt Mama, eines schickt sich nicht für alle und Du, als mutterloses Mädchen, dürftest nicht heimlich verlobt sein und keinen Anlaß zu Gerede geben. Ach Magda, siehst Du, deshalb sollen wir nicht zum Malen kommen und es soll erst abgewartet werden, was weiter passiert.“
„Aber,“ begann Magda mit einem Lächeln, das wie Bitterkeit um ihre Lippen spielte, „das Fräulein von Deggenburg und die Frau Doktor Behrens kennen mich ja gar nicht.“
„Ach das ist doch dem Klatsch einerlei, ob er sein Opfer kennt oder nicht.“
In Magda war eine dumpfe Verzweiflung. Wenn ihr etwas widerfuhr, war ihr nächster Zustand immer der einer völligen Hilflosigkeit. Ihr war, als müsse sie sich rund umsehen, woher der Schlag käme und wo der Schutz dagegen sei.
„Wenn ich den Brief nicht geschrieben hätte,“ dachte sie, „dann könnte ich jetzt stolz sagen: ja ich bin mit ihm verlobt!“ Gewiß würde er in eine sofortige Veröffentlichung ihres Bundes gewilligt haben.
Sie hatte sich selbst alle Brücken zur Wiederherstellung ihres gefährdeten Rufes abgebrochen.
Aber gleich regte sich eine andere Stimme in ihr mit der Gegenfrage:
„Würdest Du aus Furcht vor dem Gerede der Welt gethan haben, was Du aus Vertrauen nicht vermagst – Deine Hand in seine legen?“
„Nein, nein, nein!“ sagte sie ängstlich laut vor sich hin.
Sie fühlte auch, wenn sie René zu Wehr und Schutz anrufen wollte, so durfte und konnte sie das trotz ihres Briefes.
Aber neben ihm zu stehen im Leben, dies schien ihr trotz ihres Mangels an Mut unmöglich!
„Ich kann mich nicht verteidigen,“ sprach sie vor sich hin.
„Aber ich könnte es,“ rief Sibylle, „und ich kann es doch nicht. Ach Magda, ich habe noch längst nicht alles vom Herzen runter. Seit Montag nachmittag lauf’ ich damit ’rum. Denk’ Dir das – seit Montag nachmittag! Ob ich’s Dir sagen soll und ob Du ’was helfen kannst? Insofern ist ja der Klatsch über René Flemming und Dich ein Glück, denn sieh, wenn ich auch weiß, daß Du nicht die verschleierte Dame warst, so ist es doch sicher, daß Du mit René Flemming gut Freund bist. Er darf und er soll mir meinen Walfried nicht totschießen! Grade wo Sonntag Verlobung sein soll!“
Sie warf sich auf die Ottomane und weinte laut.
„Was redest Du von Totschießen?“ fragte Magda am ganzen Leibe zitternd. „Ich flehe Dich an, sprich deutlich!“
Sibylle richtete sich auf, schluchzte sehr und schnupfte sich lange aus. Ihre Augen waren ganz rot.
„Montag nachmittag wollt’ ich zu Lilly gehn – Lilly war gleich gar nicht nett, als sie das von mir und Walfried hörte, sie thut immer so großartig, als ob sie mehr wäre und mehr wisse als ich – ja und trotzdem ging ich Montag ’mal hin. Und als ich in die Stube kam, wo sie saß, war sie wie besessen und hatte Weinkrämpfe und schrie immer ‚Walfried soll kommen!‘ Aber dabei hielt sie mich am Kleid fest, als ich die Großmama holen wollte. Walfried kam denn auch. Und da – nein, Magda, so ’was Schändliches kannst Du Dir gar nicht denken, da sagte Lilly einfach, ich sollte ’raus gehen, sie habe allein mit ihm zu sprechen.“
Die Kränkung empörte Sibylle noch so, daß sie ihr Taschentuch in ein Knäuel zusammendrückte vor nachträglichem Zorn.
„Ich stehe ihm doch jetzt näher als seine Schwester! Das sieht doch wohl jeder ein. Aber ich dachte an Mama, die Lilly auch greulich findet, seit wir sie näher kennen; denk’ Dir, sie schlägt auch gegen Mama einen belehrenden und blasierten Ton an. Und Mama sagt: es dauert ja nur die paar Monate mit der Lilly, nachher geht sie weg und um der alten Wallwitz wegen soll ich so lange lieber zehnmal stillschweigen als einmal auftrumpfen. Na und da ging ich in die andere Stube. Aber ich war so wütend und ich will nicht, daß jemand Geheimnisse mit Walfried hat, und da hab’ ich gehorcht.“
„Sibylle – –“
„Na ja – gehorcht, so viel ich konnte! Und da hab’ ich viel gehört – leider nicht alles und nicht im Zusammenhang. Aber es war gräßlich, wie Walfried im Zorn war. Lilly scheint ein bißchen in René Flemming verliebt gewesen zu sein – dabei ist doch gar nichts. Vorigen Winter sagte Frau von Eschen erst noch: ‚Das ist die Modekrankheit unserer Novizen‘. Und er thut doch immer so, als wenn es ihm egal sei. Sie sagen, er wirft die Briefe in den Papierkorb, die er so bekommt. Lilly ist ’mal bei ihm gewesen, sie sagt, es habe ihr keine Ruhe gelassen und sie habe es in romantischer Neugier gethan. Dabei ist schließlich doch auch nichts, man sollte es eigentlich der Deggenburg ’mal unter die Nase reiben. Warum soll man nicht ’mal hingehen und einen Freund besuchen; freilich hätte Lilly es mir sagen können, ich wäre gern mitgegangen. Aber gerade darüber schien Walfried so in Wut.“
Magda fiel beinahe neben Sibylle auf den Sitz nieder. Ihre Kniee trugen sie nicht mehr. Sie zog die eifrig Redende an sich und streichelte ihr das schwarze Haar.
„Du liebes Kind,“ murmelte sie, „Du gutes Kind!“
[792] „Und dann hörte ich Walfried immer mit so rauher, halblauter Stimme sagen – ach Magda, die Stimme hör’ ich Tag und Nacht! – ,Gerade er! er! er! aber Rechenschaft soll er mir geben – blutige.‘“
Sie verbarg schaudernd ihren Kopf an Magdas Schulter.
„Nicht wahr, so dumm sind wir beide nicht, wir wissen, was das heißt. Walfried wird ihn fordern. Ach, er schießt ihn tot!“
Sie schrie es heraus und umkrallte Magdas Oberarm mit ihren Fingern.
Magda fühlte plötzlich keinen Schmerz mehr. Eisige Ruhe überkam sie. Ihre Gedanken waren ganz klar.
„René Flemming ist verreist,“ sagte sie. Ihre ruhige Stimme, ein gewisses Etwas in ihrer Haltung wirkte so bezwingend auf Sibylle, daß sie sogleich auch ihrerseits mehr Ernst als Jammer empfand.
„Ich weiß es,“ sprach sie, „ich bin seit Montag nachmittag mindestens schon zwölfmal die Ringstraße entlang, an seiner Wohnung vorbei gegangen. Montag und gestern abend war kein Licht da. Und einmal sah ich den Lieutenant von Keller hineingehen in Flemmings Wohnung. Ich wartete von fern. Keller kam gleich wieder heraus. Keller ist Walfrieds Intimus. Gewiß sollte der die Förderung überbringen. O Gott, er schießt mir Walfried tot!“
Dieser immer wiederkehrende Refrain marterte die Hörerin aufs äußerste.
„Es könnte ja auch sein,“ sagte Magda und ihre Hände falteten sich fest, fest ineinander, „daß Walfried ihn erschösse – –“
„Gott – ja,“ sprach Sibylle in naiver Hoffnungsfreudigkeit.
„Glaubst Du denn,“ sagte Magda schwer, „daß das so leicht ist, einen Freund erschießen – meinst Du nicht, daß Leben oder Sterben gleich schrecklich sein kann – daß nicht beide leiden?“
Sibylle fand vor Entsetzen kein Wort. Die Sache trat in eine neue, noch schrecklichere Beleuchtung für sie.
Magda holte tief Atem.
„Höre mir genau zu,“ begann sie mit strengem Ton, während aus ihren blassen Zügen alles Leben gewichen schien, „vielleicht irrst Du Dich und Deine Phantasie hat halb erhorchte Sachen unheilvoll durcheinander gemengt. Das wird sich ja binnen vierundzwanzig Stunden zeigen, denn René ist gestern abend spät heimgekommen oder kommt heute morgen. Dann wirst Du vor Deiner Verlobung Walfried beichten, daß Du gehorcht hast.“
„Das hatte ich so wie so vor, Magda. Ganz gewiß. Mich drückt das Bewußtsein und die Heimlichkeit schon gräßlich!“ versicherte sie weinerlich.
„Und doch,“ fuhr Magda in immer demselben Tone fort, „mußt Du sie der Welt gegenüber immer tragen. Verstehst Du, immer! Wir wissen nicht, ob Wallwitz und Flemming sich schlagen werden, und alle unsere Versuche, etwas Gewisses zu erfahren, werden unnütz sein, denn dies gesteht kein Mann ein. Aber wenn sie es thun, gethan haben, dann, das merke Dir genau, darf auch nicht einmal das Gerücht davon unter die Leute kommen. Es könnte ja ganz ungefährlich verlaufen, nicht wahr? Aber wenn es bekannt wird, bekommen sie Festung!“
Sibylle nickte vor sich hin. Das begriff sie völlig. Die Sache erschien ihr immer fürchterlicher. Daran hatte sie noch gar nicht gedacht, an die Festungsstrafe. O, in welchen Gefahren war ihr Brautstand!
„Ich schwöre es Dir, daß ich schweigen werde,“ sagte sie fest. „Aber ich darf heut’ nachmittag und morgen und oft wiederkommen und mich aussprechen? Ich will Dir’s nie vergessen, wenn Du mir beistehst, Magda. Und Sonntag lad’ ich Dich zur Verlobung ein, ich setze es durch. Und dann wird wohl der dumme Klatsch verstummen.“
„Laß das –“ wehrte Magda ab. Der Klatsch, der sie betraf, erschien ihr jetzt als etwas so Geringes.
Sibylle ging.
Magda trat an das Fenster und schaute in den kalt klaren Tag hinaus. Von drüben her grüßte der Wald, der den Horizont verschrankte. Grün und braun standen die toten Farbentöne vor dem lichten Himmel. Der Wald schien näher gerückt, keine zitternde Sommerwärme durchwebte die Luft und gab der Ferne weiche Linien. Hart und herbe war das Bild der Natur.
Magda legte die Stirn gegen die kühlende Scheibe.
In ihrem Ohr lag noch immer der unerträgliche Nachhall der weinerlichen Mädchenstimme, die klagte: „er soll mir meinen Walfried nicht erschießen!“
Mit gramvollen Augen, thränenlos sah Magda ins Unbestimmte hinaus.
Ihre Lippen waren fest verschlossen. Und in ihrem Hirn kreiste der eine Gedanke: „Und wenn der andere ihn tötet?!“
Seit jenem Tag, an welchem Nicolai erfahren, daß Magda René liebe, hatte er versucht, sich durch Arbeit zu betäuben. Seine zarte Gesundheit verbot ihm, stundenlang vor der Staffelei zu stehen oder zu sitzen und den Pinsel zu führen. Gleich that ihm Rücken und Lunge weh.
Er hatte diesen Zwang, unendlich langsam arbeiten zu müssen, nie als etwas Lästiges empfunden. Die Not drängte ihn nicht, schnell verkäufliche Sachen in nie abbrechender Reihenfolge anzufertigen. Die Zinsen eines bescheidenen Kapitals genügten seiner Anspruchslosigkeit völlig. Wenn jemand von seinen Bekannten die Summe Geldes gekannt hätte, mit welcher er jährlich auskam, er würde sich unaussprechlich gewundert haben.
Nicolai war aber zufrieden. Um sich größere Lebensgenüsse zu verschaffen, hätte er Konzessionen machen, sich mit Kunsthändlern feilschend einlassen müssen. Das hätte seiner Seele wie Roheit weh gethan und er fand eben den besten Lebensgenuß darin, sich alle Roheit fern zu halten.
„Mein Körper ist zu schwach, um das Gefäß einer robusten Gesinnung sein zu können,“ sagte er manchmal.
Ganz selten ward ihm die Freude, daß er ein Bild verkaufte, obschon das Schaufenster der Kunsthandlung, wo er in großen Zwischenräumen etwas ausstellte, immer von Menschen belagert war, wenn „ein Nicolai“ darin erschien.
Aber wenn dies sich ereignet hatte, faßte Nicolai eine scheue Zuneigung für den Käufer. Wer ihn verstand, müßte sich innerlich ihm nahe fühlen, in einer Geistesgemeinde mit ihm stehen, dachte er. Er war zu ängstlich und zu verschlossen, sich jemand aufzudrängen oder eine flüchtige geschäftliche Begegnung festzuhalten und zu weiterem Verkehr auszubauen, und so gelang es ihm nie, mit einem dieser Käufer in Beziehung zu treten. Doch konnte er sich freuen und Herzklopfen bekommen, wenn er einem begegnete.
Er legte sich dann tausend Fragen vor: ob der Besitzer des Bildes noch in einem nahen geistigen Verhältnis zu demselben stehe? Ob er mit der Zeit noch tiefer hineinsehen gelernt habe? Oder ob die Freude erkaltet sei?
Seine Kollegen schätzten ihn und sein Können ganz besonders. Sie respektierten auch seine Selbständigkeit ganz außerordentlich und trösteten sich, soweit sie in sich selbst einen Mangel daran verspürten, damit, daß er bei besserer Gesundheit auch wohl weniger unberührt von der leidigen Notwendigkeit, sich zu drücken und zu bücken, geblieben wäre. Sie sagten auch von ihm: er malt seine Bilder nicht, er träumt sie.
Und in der That, wer ihn in seinem Atelier so sitzen sah, in seiner feinen, leisen Malweise die Leinwand mit wunderlichen Gebilden bedeckend, konnte ihn wohl für einen Träumer halten.
Er war in diesen Stunden ganz glücklich, er lebte in einer anderen Welt und von der Wirklichkeit um ihn blieb nichts in seinem Erinnern als die Liebe für Magda.
Sein bestes Bild, das, welches er für sein bestes hielt, „Die Stimmen des Frühlings“, hatte er ihr geschenkt. Und seit sie es freudig angenommen, war ihm, als sei ein Teil von ihm immer bei ihr, als bestehe zwischen ihnen ein untrennbares geistiges Band.
Niemals dachte er daran, daß sie lieben, heiraten, fortgehen könne. Das stille Leben, das sich seit vier Jahren so immer gleichmäßig abgesponnen, mußte, so meinte er, immer dauern. Es schien so natürlich und so ihnen allen gemäß, daß Nicolai nicht einmal die Furcht bekam, es könnte sich je verändern.
Im Sommer, wenn Magda mit Frau von Eschen aufs Land ging, gönnte auch er sich vierzehn Tage Waldluft, die er in einem Försterhaus in den nahen Bergen verbrachte. Mehr gestattete seine Kasse nicht.
Aber er hätte auch gar nicht länger fortbleiben mögen. Er wußte, was Sterben heißt, was ewige Trennung und Nimmerwiedersehen bedeutet. Er hatte all die Seinen hingehen sehen, ein unglückliches Geschlecht, das geboren ward, um hinzusiechen. Er wollte sich keinen Tag Magdas Gegenwart und Nähe rauben.
[794] Er war immer ernst und nachdenklich, aber eigentlich niemals traurig. Er verlor sich nie in sentimentalen Klagen oder ohnmächtigem Aufbäumen gegen sein Geschick. Still in das Unabänderliche ergeben, sog er aus allem reine, unausgesprochene Freude: aus dem Zufall, der ihm Magda zur Nachbarin und Freundin gegeben, aus der Gunst, nicht hungern zu müssen und malen zu können, was er wollte, ja sogar aus seiner Krankheit, die ihm Magdas liebevolle Fürsorge eintrug.
Seine Wirtin glaubte manchmal, ihn beklagen zu müssen. Sie war eine gute, aber etwas wichtigthuende Person, deren Gatte in der Hofkanzlei einen Posten als Bureauvorsteher bekleidete. Infolgedessen sprach die Frau Böhmer immer von „Seiner Hoheit“ und „Ihrer Hoheit“, als sei sie täglich in persönlichem Verkehr mit den Herrschaften und als werde das Budget des herzoglichen Hauses von ihrem Manne bestimmt und im Gleichgewicht gehalten.
Aber wenn sie mit ihrem zudringlichen Mitleid ankam, setzte ihr Nicolai auseinander, daß man nie die Blicke auf diejenigen gerichtet halten müsse, die es besser hätten, sondern daß man nach unten zu schauen habe, wo größeres Elend und wahre Not sei.
Nein, er fand kein Recht, sich unglücklich zu nennen. Ein Leben, das mit harmonischer Arbeit und mit einer reinen Liebe ausgefüllt ist, bleibt immer beneidenswert, auch wenn der Träger desselben weiß, es kann kein langes sein.
Lang oder kurz – es kommt auf des Daseins Inhalt an. Achtzig Jahre voll Gesundheit und Unzufriedenheit sind weniger als dreißig voll innigster Harmonie.
Nicolais Seele war von einer wahrhaft vornehmen Zufriedenheit erfüllt – erfüllt gewesen, bis zu dem Tag, wo er erfuhr, daß Magda einen andern liebe.
Da kam eine quälende Unruhe über ihn. Er wollte sich nicht gestehen, daß dies Eifersucht sei, und redete sich ein, daß nur Sorge wegen Magdas Liebeswahl ihn erfülle. René Flemming? Gerade diesen hatte sie erkoren, der durch seinen Beruf und persönliche Veranlagung der wenigst Geeignete war, sich stetigem und ergebenem Frauendienst zu widmen! Und Nicolai, der so wenig von den Bedürfnissen eines Frauenherzens wußte, dessen feine fast weibliche Psyche nicht befähigt war, einen Mann wie Flemming ganz in seiner Wirkung auf Frauen zu beurteilen, Nicolai verstand die Wahl einfach nicht. Gewiß, René Flemming hatte etwas Bestrickendes, er selbst erlag immer dem Zauber seiner sonnigen Persönlichkeit – aber daß Magda diesem Mann ihr Leben anvertrauen wollte – nein, das begriff er doch nicht.
Aber als er nun das strahlende Glück in Magdas Angesicht las, als sie so schön erblühte, daß es schien, als sei bisher all ihr Jugendreiz versteckt gewesen, gelang es ihm, seine Unruhe zu bemeistern und in seiner grenzenlosen Ergebung für Magda dem Manne dankbar zu sein, der ihr diese Sonnenzeit gab.
Um nicht zu viel zu grübeln, um alles, was sich an bitterem Schmerz etwa regen und das Gleichgewicht seiner Seele stören wollte, gar nicht aufkommen zu lassen, fing Nicolai an, gegen alle seine Gewohnheit eifrig zu arbeiten.
Sein großes Bild „Das Glück küßt zum erstenmal die Stirn eines Menschen“ stand fertig auf der Staffelei. Er suchte nach einem knappen Titel dafür und war noch gar nicht mit sich einig, ob er es ausstellen solle. Der Engel trug doch ihre Züge und er bedachte, daß man dies bemerken könnte.
Er fing sogleich ein anderes an. Er arbeitete nicht nach dem Modell, sondern fand für seine visionären Gestalten in seinen mit Aktstudien gefüllten Mappen immer die nötige anatomische Grundlage. Jetzt wollte er eine „Sommernacht“ malen. Zwischen den Stämmen eines Waldes, der vom silbernen Mondlicht wie durchwirkt erschien, sollte eine hohe, blasse Frauengestalt hervortreten, mit einem schwülen Liebeslächeln auf den Lippen. Aber die Gestalt sollte transparent sein, einer mystischen Erscheinung gleichen.
Er hielt sich jeden Morgen viele Stunden an die Arbeit und sein Husten ward ärger.
Frau Böhmer, die trotz ihrer bedeutenden Stellung gern ein wenig mit Kathi klatschte und alle Hausbewohner abfällig beurteilte, klagte sehr, daß Herr Nicolai wieder Blut aushuste. Während sie ihn bemitleidete, wußte sie ihre christliche Opferwilligkeit für ihn in ein ausgezeichnetes Licht zu stellen. –
Da sah Nicolai, daß der Sonnenschein von Magdas Stirn entwich und daß ihr Wesen in wartende Unruhe geriet. Er merkte, auch ohne aufzupassen, daß René nicht kam und daß Magda nicht ausging, daß sie sich also nicht sahen.
Eine große Angst kam in sein Herz. Er ging jeden Tag wohl zehnmal hinüber, um nach dem alten Ruhland zu sehen, und seine Augen hafteten dann voll Sorge und mit unausgesprochenen Fragen auf Magdas Gesicht. Er ahnte nicht, daß er ihr damit eine große Qual bereitete. Das Anrecht seines Herzens an ihren Kümmernissen war ihm etwas so Selbstverständliches, daß ihm nicht der Gedanke kam, er sei zudringlich mit seinen Frageblicken.
Er schlief keine Nacht mehr ruhig und sein Befinden verschlechterte sich mehr und mehr.
Und seit Sonnabend abend wußte er gewiß, daß Magda ein großes Unglück zugestoßen sei. Er hatte Frau von Eschen auf der Treppe gesehen, sie war ohne den gewohnten freundlichen Gruß an ihm vorbei weiter hinabgegangen. Ihr Gesicht war abgespannt gewesen und erschien sehr alt.
Nicolai fragte an der Etagenthür an, ob es dem alten Herrn schlechter gehe, aber Kathi sagte, es gehe wie gewöhnlich. Und dem gnädigen Fräulein? Das Fräulein sei nicht wohl.
Er wußte genug.
Von einem thörichten Gefühl getrieben, ging er wieder fort, in den Abendnebel hinein, und wanderte vor Renés Fenstern auf und ab. Von drinnen her leuchtete so friedlich eine Lampe.
Nicolai war, als müßte er mit der Faust gegen das Fenster schlagen, daß es zersplittere, und müßte hineinrufen: „Was hast Du ihr gethan?“
In seinen Adern brannte Fieber. Kaum schleppte er sich wieder heim. Seinem Atem that der klebrige Nebel unsäglich weh.
Er wagte am anderen Tag eine Frage an Magda. Sie schüttelte nur den Kopf und hörte nicht einmal, daß Nicolais Stimme rauh war, daß seine Brust sich mühsam hob.
[805] Die Zeit schlich hin. Nicolai malte, so lange das Licht ins Fenster schien, und schon stand die erste Skizze, mit ihren dunklen und doch durchsichtigen Farben wunderbar anzusehen, fertig auf der Staffelei.
Am Morgen, wo Sibylle Lenzow bei Magda war, begann er auf einer großen Leinwand nach der kleineren Skizze die Umrisse mit Bleistift hinzusetzen. Er brauchte nie Kohle und ließ die feinen Bleilinien ruhig zwischen den dünn aufgelegten Farben stehen. Er hörte nebenan Stimmengemurmel. Mehr drang nie durch die dicken Mauern. Er erinnerte sich, daß heute Malstunde sei, und hoffte, daß diese für Magda Zerstreuung bedeute.
Sein Ohr horchte manchmal auf den Wind, der draußen schneidend pfiff.
Ihm war ganz besonders schlecht heute zu Mute, aber doch auch ganz anders wie sonst. Er begriff seinen Zustand gar nicht. Es war, als läge etwas Hartes, Heißes, Schweres in seiner Brust.
Sein Arm fiel schlaff nieder – es war ihm unmöglich, ihn in der ausgestreckten Stellung zu halten.
Lange saß er still und wartete, ob ihm nicht wieder wohler werden möchte. Er setzte den Schwankungen seiner Gesundheit eine unendliche Geduld entgegen.
„Es ist der böse Ostwind,“ sagte er sich.
Nebenan wurde es still. Er hatte aber gar nicht den gewohnten Lärm gehört, den die jungen Damen beim Fortgehen machten, ja es schien ihm, als sei nur ein schneller Schritt an seiner Thür vorbeigekommen, anstatt ihrer vier.
Merkwürdig; auch in der Ruhe ward ihm nicht besser.
Er wollte doch klingeln und Frau Böhmer um etwas heiße Milch mit Emser Wasser bitten, denn er hatte das Gefühl, als säße da etwas, das hinuntergespült werden müsse.
Er stand auf. Vor seinen Augen ward es schwarz. Schwankend kam er bis an die Klingel. Kurz schrillte die auf.
Ein Fall erschütterte den Estrich und ward als dumpfer Ton unten und nebenan gehört.
Zwei Minuten vergingen.
„Fräulein Ruhland – Fräulein – –“ gellte die Stimme der Frau Böhmer durch das ganze Stockwerk.
Magda hatte am Fenster gestanden, die Stirn gegen die kühlende Scheibe gepreßt.
Aufschreckend lief sie dem Rufe nach, kam in des Freundes Atelier und stand erstarrt.
Da lag er und aus seinem Munde quoll ein Blutstrom.
Das Ende war da, das der Arzt und das er sich selbst immer prophezeit hatte.
„Nicolai!“ schrie sie auf und kniete neben ihm nieder.
Sein Gesicht war bläulich, aber während Magda es noch bang anstarrte, erlosch die unheimliche Färbung langsam und machte einer tödlichen Blässe Platz.
[806] Frau Böhmer war eine entschlossene Person. Sie holte den Wärter von Magdas Vater.
Mit geschickten Händen, sanft und sicher hoben sie ihn auf und trugen ihn auf sein Bett im Zimmerchen neben dem Atelier.
„Zum Arzt!“ befahl Frau Böhmer dem Mann. Der Wärter rannte davon.
Nicolai lag still. Er schien bewußtlos. Sein Atem war schwer und röchelnd.
Magda hielt seine Hand.
Niemand rührte sich. Die Böhmer war draußen und beriet mit Kathi, was man thun könne, aber ohne daß sie zu einem Schluß kamen.
Das helle Tageslicht umleuchtete die hohe, magere Stirn des Sterbenden. Sein Gesichtsausdruck war friedlich. Nur schienen alle Züge verschärft und verlängert.
So mochte mehr als eine halbe Stunde hingegangen sein.
Dann kam der Wärter mit dem Arzt. Es war nicht der Medizinalrat Schönchen, Ruhlands und auch Nicolais Arzt, sondern ein fremder junger Mann, die erste beste Hilfe, die der Wärter gefunden hatte.
Hierüber fühlte Magda eine Enttäuschung. Ihr war, als hätte der liebe alte Schönchen helfen können, helfen müssen, schon allein weil er Nicolai so sehr schätzte.
„Der Mann ist ein Sterbender,“ pflegte Schönchen von ihm zu sagen, „aber bei ihm verliert das Wort Krankheit allen Schrecken, sie ist ihm nur der unabänderliche Weg zur Auflösung, den wir alle gehen müssen. Seine Resignation grenzt an Erhabenheit.“
Und der Arzt, der den teuren Kranken so verstand, blieb fern!
Mit fast lauernden Blicken bewachte Magda das Thun des Fremden.
Sie sah wohl, er untersuchte mit zarter Sorgfalt; der Wärter hatte unterwegs schon in großen Umrissen erzählt, um was es sich handele, und die nötigsten Medikamente waren im Vorbeifahren gleich eingekauft worden.
Der Doktor war noch ein junger Mann, aber wohlbeleibt. Auf seinen Wangen stand ein kurz geschorener Bart, der die Haut durchscheinen ließ und am Kinn lang und spitz auslief. Auch das Haupthaar war abgeschoren.
Durch den mit Gold eingefaßten Kneifer sahen scharfe helle Augen.
„Es ist Doktor Magius,“ flüsterte der Wärter Magda ins Ohr.
Mit großer Vorsicht flößte Magius dem Sterbenden Kampfer ein. Der scharfe Aether verflüchtigte sich als durchdringender Geruch. Nicolai seufzte und schien leichter zu atmen. Er schlug die Augen auf, und als er Magdas Angesicht so nahe über sich fand, daß sein Blick in den ihrigen traf, ging ein mattes Lächeln über sein Gesicht. Magda glaubte zu fühlen, daß die Hand, welche sie hielt, versuchte, die ihrige zu drücken. Herzlicher und fester umschloß sie daher mit ihren Fingern diese kalte Hand.
Wie glücklich er aussah!
„Wie fühlen Sie sich?“ fragte Magda.
„Matt – aber ganz wohl,“ sagte er atemlos und kaum hörbar.
Der Doktor schrieb an einem Rezept.
Magda hörte, wie nebenan jemand stark an die Atelierthüre klopfte.
Sie legte die Hand Nicolais schnell und vorsichtig auf die Bettdecke nieder und ging, um zu öffnen. Aber der Klopfende war ungeduldig gewesen, er machte die Thür auf, ehe das „Herein“ ertönte.
Magda fuhr zurück. Der, den sie hier am wenigsten erwartete, stand vor ihr: René Flemming. Und im hellen Tageslicht, dem er das bestürzte Gesicht zuwandte, sah sie, wie bleich, wie scharf seine Züge waren. Er schien gealtert in den wenigen Tagen.
„Du hier?“ sprach er verwirrt.
Sie hatten sich seit jener erschütternden Stunde, wo René sein Wort glaubte zurücknehmen zu müssen, nicht mehr gesehen. Aber beide dachten mit keinem flüchtigen Gedanken jener Stunde. Sie sahen einander ängstlich an.
„Was – was wolltest Du bei Nicolai?“ fragte sie, denn sie sah an seinem Ausdruck zu klar, daß es ihm peinvoll war, ihr hier zu begegnen. Und in seinem Brief hatte er von der Freude des Wiedersehens gesprochen.
„Ich –“ begann Rene, „ich will Nicolai allein sprechen.“
„Du willst ihn bitten, Dein Sekundant zu sein?“ fragte Magda und sah ihn forschend an. Es war, als habe eine Gewalt, deren sie nicht Herrin werden konnte, ihr diese Frage auf die Lippen gelegt.
Er zuckte zusammen.
„Wie kommst Du auf dergleichen? Nein! Nein, sage ich. Sieh mich nicht so an,“ sagte er, seinen Ton bis zur Rauhheit steigernd.
Aber vor ihrem durchbohrenden Blicke wandte er das Auge scheu zur Seite – er, der jeden kühn und frei anzusehen pflegte.
„Ich weiß es doch …“ sprach sie.
„Ich sage aber nein. Quäle mich nicht mit Deinen Phantasien! Wo ist Nicolai? – Ich muß ihn sprechen,“ sagte er, über Magda hinsehend.
„Nicolai liegt im Sterben,“ sprach sie ganz leise.
René fuhr zurück und hielt sich mit der Hand an dem Thürpfosten.
„Das jetzt! Gerade jetzt!“
„Willst Du ihn nicht sehen?“ fragte Magda.
Ein Schauer durchrann ihn. An jedem andern Tag, zu jeder andern Stunde, aber heute – – –
„Ich kann nicht!“ wollte er sagen und schämte sich. „Bin ich denn ein Feigling?“ dachte er zornig gegen sich selbst.
„Ja,“ sagte er leise.
Magda schritt voran. „Es ist doch wahr,“ dachte sie immerfort. „Er wird es nicht zugeben und wenn ich auf meinen Knieen um die Wahrheit bäte. Es ist aber doch wahr!“
Sie stand in der Thür zu Nicolais Schlafzimmerchen still und ließ Raum neben sich, daß René zu ihr treten konnte. Das Bett stand der Thür gegenüber und es waren nur zwei Schritte Entfernung. Doktor Magius saß am Bett, mit dem Rücken gegen die Thür. Er hatte nebenan die Flüsterstimmen, wie ihm schien in heftiger Wechselrede, vernommen und hörte nun die Schritte. Er wandte sich um.
„Flemming!“ sagte er überrascht.
Sie kannten sich genau, Magius gehörte dem Kreis der jungen Männer an, die abends im „Wilden Mann“ verkehrten.
René fühlte zum zweitenmal einen seltsamen Schauder durch seine Adern rinnen. Gerade diesen Arzt traf er hier am Sterbebette. – – Es war dem Doktor Magius eine besondere Mission zugedacht, von welcher derselbe zur Stunde freilich noch keine Ahnung hatte.
Welch ein Zufall! Es ward René zu Mut, als äfften ihn feindliche Truggestalten. Er schüttelte die Empfindung gewaltsam ab.
Nach einem festen Händedruck mit dem befreundeten Arzt trat er einen Schritt vor.
So also, so sah der Tod aus?!
René hatte noch nie einen Sterbenden gesehen und diesen da sah er nicht mit klaren, verständnisvollen Augen an.
Er sah nicht den majestätischen Frieden auf der hohen Stirn, er sah nur die dunklen Schatten in den eingefallenen Schläfen. Er ahnte nichts von dem Gefühl völligster Versöhnung, welches im Herzen des Sterbenden thronte, er sah nur, wie mühsam die Brust sich hob. Er sah nicht das stille Lächeln um die Lippen, er sah nur die scharfen, leidvollen Züge.
Und mit dem Entsetzen, das ihn erfaßte, glühte zugleich seine eigene, trotzige Lebenskraft auf.
„Nicht so enden – nein, so nicht!“ dachte er verzweifelt.
Er trat zurück und ging in das andere Zimmer. Hier stellte er sich vor dem Bild mit dem hehr schreitenden Engel auf. Ihn beherrschte das instinktive Gefühl, daß er sich fassen müsse, daß er Magda ein unbefangenes Gesicht zu zeigen habe, daß er fortgehen müsse, gleich, schnell. Jetzt glaubte er, sich bemeistert zu haben und genugsam Herr über seine Stimme zu sein, daß sie nicht mehr bebe.
Er wandte sich ein wenig. Und ein dämonisches Verlangen befiel ihn, den Sterbenden noch einmal zu sehen. Er stand von fern und starrte ihn an.
Magda kam zu ihm.
„Willst Du hier bleiben?“ fragte sie sanft.
Er fuhr auf.
„Nein, nein! Ich habe keine Zeit – ich nähme Dir gern die Aufgabe, hier zu wachen, ab – aber ich kann nicht – gewiß nicht. Ich habe wichtige Geschäfte. …“
Er brach ab.
Auch vielleicht Geschäfte des Todes – vielleicht seines eigenen Todes! dachte Magda entsetzt.
„René!“ rief sie leise und umklammerte seine Hand.
[807] Er wollte die Hand von sich stoßen und zur Thür schreiten. Aber Magda ließ ihn nicht.
„René!“ flehte sie noch einmal. Sie wußte nichts zu sagen, sie durfte nichts sagen. Er mußte ihren Ton, ihre Herzensangst verstehen.
Und er verstand sie nur zu gut. Sein Wesen war aus den Fugen – es gab nur ein Mittel, es wieder aufzurichten: Rauhheit, Härte.
„Laß mich!“ sagte er und stieß sie zurück.
„Geh’ nicht so von mir!“ bat sie. Ihr Angstblick war ihm unerträglich. Ihr Jammer verzehnfachte seine schmerzliche Erregung.
„Genug – was willst Du? – wir sehen uns morgen wieder – dann sprechen wir über Deinen thörichten Brief,“ sagte er. „Leb’ wohl!“
Das kurze Staunen, von dem sie sich erfaßt fühlte, benutzte er und floh hinaus.
Er sprach von dem Brief? In plötzlichem Einfall? Oder war dies der Grund seines rauhen Tones? Und verbarg sich nicht ein anderes, schreckliches Vorhaben hinter seiner Rauhheit?
Von Zweifelsgedanken gepeinigt, kehrte Magda an das Krankenbett zurück. Der Doktor erhob sich.
„Ich gehe jetzt,“ sagte er leise. „In einer Stunde komme ich wieder. Sie können inzwischen noch einmal Kampfer geben. Aber Sie wollen doch nicht allein...?“
„Der Wärter meines Vaters kann mitwachen und Frau Böhmer wird gewiß so gut sein, nach meinem Vater zu sehen,“ sprach Magda.
Die Böhmer, welche gerade wieder von ihrer Küche her ins Zimmer trat, nickte zustimmend.
Magda begleitete den Arzt nicht zur Thür, sie fragte nicht, auch nicht einmal mit einem Blick, ob noch Hoffnung sei. Auch dachte sie nicht mehr daran, nach Schönchen zu schicken.
Es war ja vorbei, rettungslos! Und Gott mochte dem edlen Freunde nun ein ruhiges Sterben schenken!
Sie setzte sich auf einen Stuhl neben das Bett, so daß sie Nicolai voll ins Gesicht sehen konnte, und nahm wieder seine Hand.
Er fühlte es sogleich und schlug die Augen auf.
Jetzt gab er sich keine Mühe mehr, seine Liebe zu verbergen. Mit einer andächtigen Zärtlichkeit sah er in das geliebte Gesicht.
Und Magda fand die Heldenkraft, ihm liebevoll zuzulächeln, bis seine Lider wieder herabsanken.
Dann fiel die Maske von ihrem Antlitz. Ein unendliches Weh, eine tödliche Angst lag wieder auf demselben. Morgen vielleicht, um eben diese Zeit, lag René da wie der arme Nicolai! Gebrochen und sterbend! Aber nicht mit heiterem Frieden in der Seele, sondern mit dem Trotz gegen das Geschick, das ihn, den Lebensfreudigen, zum Tod verdammte, das ihn, den Vielgeliebten, ohne Liebestrost sterben ließ!
„Wenn ich ihn nicht verstand,“ dachte Magda, „sein Richter durfte ich nicht sein – das nicht! Ich durfte ihm nie Mangel an Willensstärke vorwerfen, es ist das Schlimmste, was man einem Mann sagen kann!“
Wenn sie ihn niemals wiedersah als einen Lebenden! Wenn dies ihr Abschied gewesen war für ewig!
Der Sterbende bemerkte an dem Zucken ihrer Hand, daß sie schluchzte.
Er hielt ihre Hand mit seiner letzten Kraft ein wenig fester. Er sah die Weinende an.
Sie fühlte den Blick und neigte sich nieder zu ihm.
Welche heilige Dankbarkeit in seinen Augen für die Thränen, die nicht um ihn flossen!
„Nicht weinen,“ flüsterte er, „es thut nicht weh – das – Sterben.“
Sie begriff seinen Irrtum und ihre Thränen flossen heftiger, jetzt mit um ihn, der sie so treu geliebt.
Die Trauer um den gegenwärtigen Verlust und die Angst um den gefürchteten vermischten sich miteinander und ließen sie jede Haltung verlieren.
Nicolai aber sah sie an. Seine Augen glänzten und in sein Herz zog selige Freude. Sie hatte ihm also viel mehr Liebe gegeben, als er je zu hoffen gewagt – er war ihr also teuer gewesen – sie weinte – nicht aus Mitleid, sondern aus verzweifeltem Kummer!
Der Wahn durchglühte seine Seele und trug sie wie auf Sehnsuchtsfittigen in hohe, reine Gefilde.
Mit der Wonne dieses Glaubens durfte er hinweg gehen! Selige Ahnung – die ihn einst geheißen hatte, jenes Bild mit dem Engel des Glücks zu malen!
Nun war es Wirklichkeit geworden und als der Engel stand Magda neben ihm und brachte ihm das Glück.
Seine Augen richteten sich himmelwärts. Sie schienen nicht die Decke der Stube zu sehen, sie schienen durch weite Räume in die Unendlichkeit zu blicken.
Magdas Thränen versiegten. Sie faltete die Hände. Ihr Herz ward von Schauern der Andacht durchbebt. Sie begriff, wen sie verlor, was sie verlor. Gestern noch hatten diese blassen Lippen sie gefragt, was sie betrübe. Morgen würden sie nichts mehr fragen. Ein treues Herz weniger für sie in der Welt fortan – – –
So kam der Tod zwischen Gestern und Morgen und wischte mit seiner Geisterhand ein Menschendasein hinweg von den Tafeln des Lebens. Und morgen konnte es geschehen, daß eben diese furchtbare Hand ein anderes Leben auslöschte …..
Alle Stimmen des Stolzes und des Verstandes schwiegen in Magda. Sie wußte nur dies eine: wäre sie jetzt mit René allein gewesen, sie wäre in seine Arme gefallen und hätte ihm gesagt: „Ich liebe Dich! Lebe! ich will Dich ertragen, wie Du bist!“
Nicolai schien leiser zu atmen und sich erleichterter zu fühlen. Die Lebenskräfte gingen rasch zurück, die körperliche Not ward geringer.
Eine lange Stille trat ein.
Magda sah ihn aufmerksam an. Sie dachte über ihn nach. Er war ein Mensch gewesen, der jenseit aller Versuchungen stand. Es gab keine edle Eigenschaft, die ihm nicht natürlich gewesen. Er war vornehm, rücksichtsvoll, wahr, treu – ein Mann, wie ihn eine Mädchenphantasie sich ausmalt.
Vielleicht, ohne daß Magda sich dessen bewußt geworden, hatte sie ihre Anforderungen an das Wesen des Geliebten nach diesem Beispiel gestellt, das ihr seit Jahren täglich nahe war. Und heute erst fragte sie sich, ob man das Maß für andere nach einer solchen Erscheinung nehmen dürfe.
Seit Nicolai denken konnte, trug er sich mit dem Bewußtsein, daß er jung sterben müsse. Welche Einwirkung mußte dies Bewußtsein nicht auf seine Entwicklung gehabt haben! Er mußte immer davor zurückgebebt sein, seine kurze Spanne Leben mit Kämpfen und Unschönem zu trüben. Er mußte immer darauf bedacht gewesen sein, sich harmonisch zu fühlen mit allen und allem, damit er bei jähem Scheiden keinen Groll in unversöhnten Herzen hinterlasse. Er hatte die Eigenart seiner Persönlichkeit nie kühn an der einer anderen messen können, denn er wußte, daß ihm die nächste Stunde den Kampf abschneiden könne.
Ein niedrig beanlagter Mann hätte versucht, seinen Groll auf das Geschick in tollen Lebensfreuden und im Haß auf Begünstigtere zu entladen.
In Nicolai hatten sich alle edlen Keime zur höchsten Vollendung entwickelt. Sein Wesen war geblieben wie lauteres Gold.
Durfte ihm das so sehr zum Ruhme angerechnet werden? Und dem anderen der Mangel solcher Unantastbarkeit so sehr zur Schuld?
Nein, tausendmal nein! Wen die vollen Ströme des Lebens rauschend umfluten, der kann es nicht hindern, daß sich in sein Gewand Tang und Algen verstricken. Nur wer so einsam steht, wie dieser Sterbende stand, mag mit unbeflecktem Kleide von hinnen gehen.
Magda sah den Freund an. In ihren Blicken war ein neues Licht aufgegangen. Der da lag, hatte ihr eine Lehre gegeben, und sie gelobte sich, daß sie ihr unverloren bleiben solle.
Er atmete unhörbar … in plötzlich erwachender Angst rief sie ihn laut an.
„Nicolai!“
Er öffnete die Augen und sah sie an. Sie las in diesem Blick, daß er bei vollem Bewußtsein war.
Seine Lippen bewegten sich. Sie legte ihr Ohr fast an die selben, um zu hören.
„Geliebte Magda!“
Sie vernahm es wie einen fernen leisen Hauch und sie neigte sich über ihn, seine Stirn zu küssen.
[808] Seine Züge waren wie verklärt, seine Augen geschlossen.
Magda fand keinen Schrecken in diesem Anblick. Der vollkommene Friede, der über dieser Leidensgestalt schwebte, nahm ihr jedes Grauen.
Er aber atmete immer sachter. In seinem Ohr war ein feines fernes Singen und Klingen, so seltsam, als käme es von den Fiedeln und Flöten, die von den Märchenwesen auf dem Bild „Frühlingsstimmen“ gespielt wurden. Sie nahten sich jetzt seinem Lager, er sah sie alle deutlich mit ihren steilen Linien und ihren blassen Körperchen, und all die Augen, die er gemalt, sahen ihn an – fremde, wunderliche Augen mit abgrundtiefem Blick.
Er wollte es Magda sagen, aber der Wille dazu verschwamm ihm. Die Sommernacht trat zu ihm und küßte ihn auf die Stirne, er sah ganz deutlich durch ihre dunkle transparente Gestalt hindurch. Und es war ihm, als sähe er in die Ewigkeit hinein. Wie lange blaue Lichtbänder spann sich ein Farbenstrom von ihm aus und hinein in die Unendlichkeit. Er folgte diesem Strom, es war, als wenn er auf ihm dahin schreite, und schnell und leicht, wie Menschenfüße sonst nicht schreiten. Und dann sah er fern und ganz klein am Ende einen gelb leuchtenden Punkt. Es schien wie ein Thor und gelbe Lichtfluten quollen heraus. Eine große Sehnsucht kam ihm, durch dieses Thor eingehen zu dürfen.
Plötzlich schreckte seine Seele auf. Eine jähe Angst befiel ihn. Es schien aus seiner Brust etwas herauszuquellen, daran er ersticken sollte. Er riß die Augen auf.
Sein Blick erkannte mit letztem aufblitzenden Bewußtsein Magda.
Sein Gesicht färbte sich dunkel – kurze Schreckenssekunden lang. Dann erblaßte es wieder und ein tiefer, tiefer Atem entfloh den Lippen. Sie sogen keinen neuen wieder ein.
Auf dem bleichen Gesicht stand ein Lächeln. Nicolai war tot.
Er war zurückgesunken in die große, ewige Stille, aus der das Leben kommt und in die es geht.
Am Dienstag abend mit dem letzten Zuge war René aus dem Wirtshaus zum Posthorn nach Leopoldsburg zurückgekehrt. In den Taschen seines Mantels steckten Papierbündel, die sich mit den seltsamsten nur ihm verständlichen Hieroglyphen bedeckt zeigten. Seine Gedanken waren mit völligster Sammlung auf seine Arbeit gerichtet, wieder einmal gingen die Erscheinungen und der Lärm der Außenwelt eindruckslos an ihm vorüber. Der Egoismus der künstlerischen Schaffensfreude hatte sich seiner in solchem Grade bemächtigt, daß er nur flüchtig dachte, er wolle Magda erst aufsuchen, wenn er sein Werk beendet habe. Da seine Phantasie dies Werk nun beinahe ganz umfaßte und jedes Wort, jeder Ton fertig vor ihm stand, so blieb ihm also nur noch die technische Arbeit des Niederschreibens. Und in einer ganz merkwürdigen Täuschung, die ihm daraus erwuchs, daß er in einer reichen, einheitlichen Stimmung bei solcher Arbeit blieb, kam es ihm vor, als sei das nur eine ganz kurze, schnell erledigte Sache, die ihn nicht lange von Magda fernhalten werde. Daß sie solches Fernbleiben als neuen Schmerz empfinden könnte, fiel ihm gar nicht ein. Denn der Grund war der heiligste und wichtigste, den es für einen Mann geben kann: eine Arbeit, in welcher er sein Können vollkommen auszusprechen hoffte.
Noch mit dem Hut auf dem Kopf und den Mantel auf den Schultern setzte er sich in seiner Wohnung an den Schreibtisch und bat Herrn von Rechenbach, bei Seiner Hoheit Fürsprache einzulegen, daß man ihm kurze Muße und Freiheit gäbe zur Vollendung seines „Filippo Lippi“. Er war ganz sicher, morgen darauf die Antwort zu empfangen, daß Seine Hoheit ihm bestes Gelingen wünsche und dringend bäte, er möge alle Dirigentenpflichten so lange ruhen lassen, bis das Werk vollendet sei.
Dann gab René sich einem wahren Wonnegefühl hin und genoß die freudige Arbeitsstille der kommenden Tage schon vorweg. Er kramte sein Arbeitsmaterial zurecht und glättete und ordnete die merkwürdigen Blätter, die er aus dem „Posthorn“ mit heimgebracht. Dabei kam ihm die Post zu Gesicht, die seit zwei Tagen eingelaufen war und die seine Wirtschafterin unter einem riesigen Briefbeschwerer so gut aufgehoben hatte, daß sie fast versteckt geblieben wäre, wenn René nicht eben den Briefbeschwerer für die losen Blätter gebraucht hätte.
Ein Brief von Magda? Etwas wie Unbehagen überflog ihn. Gewiß eine Antwort auf seinen Brief aus dem „Posthorn“. Sie würde sich nun vielleicht lang und breit über die Sache aussprechen, die für ihn schon wie ein Stück Vergangenheit war, an das man sich um keinen Preis mehr erinnern lassen möchte. Sein scheuer und leicht beleidigter Stolz rettete sich am liebsten hinter Schweigen – da war er am sichersten, daß man seine Wunden nicht anrührte.
Er wog den Brief in der Hand und dachte einen Augenblick daran, ihn gar nicht zu öffnen. Aber dann fiel ihm ein, daß Magda ihn nie mit zudringlichen Erörterungen gequält und daß wahrscheinlich in diesen Zeilen nichts zu lesen sein werde als das jubelnde Glück, ihn wieder zu haben. Er bat Magda seine kurze, selbstische Aufwallung ab und erbrach den Brief mit zärtlicher Behutsamkeit.
Seine Augen wurden groß und auf seine Stirn trat eine Zornesfalte.
Was schrieb sie da? – Ihm fehle Willensstärke – und sie müßten sich entsagen –
Er warf den Brief hin. Seine Lippen schlossen sich fest. Er stand wie angewurzelt und starrte vor sich hin.
Mit einem Mal lachte er auf, fröhlich und gut, wie jemand, der sich durch ein Phantom hat erschrecken lassen und beim Näherkommen nun sieht, daß das drohende Gespenst eine ganz natürliche Erscheinung ist.
Die kurze Trübung seiner königlichen Laune war verflogen. Von dem sonnigen Reichtum, der in seiner Seele war, konnte ihm heute niemand etwas rauben. Er setzte sich gleich hin und schrieb an Magda:
„Du Geliebte, Thörichte! Ich soll Dir entsagen? Das wäre ja, als sollte ich nicht mehr dirigieren und nicht mehr komponieren! Und fühle doch eben in allen meinen Nerven, daß ich Willen und Kraft zur That habe. Und durfte doch gerade in den letzten Tagen erkennen, daß Du ein Stück meines Lebens bist. Zürne den Leiden und Erregungen nicht, die uns erschütterten, sie haben uns bewiesen, was Täuschung und was Wahrheit ist.
Du wirfst mir den Mangel an Willensstärke vor, mein Kind. Ein hartes Wort. Gewiß kann Willensstärke Gefahr vermeiden, nur ist es so: man wittert nicht die Gefahr und meint nicht, daß der lustige, prickelnde Scherz uns locken und weiter locken kann, bis er uns mitten in eine unerwünscht ernste Lage hineingebracht hat. Wüßte man immer vorher, wohin das fiebernde Blut, die dämonische Neugier uns führen wird, so gäbe es nur tugendhafte Menschen und glatte Lebensbahnen.
Du meinst wohl, der Wille eines Menschen wie ich sollte einem Eisengitter gleich sein Temperament umschranken? Freilich, Herzensliebste, dann wäre der Löwe gefangen und unschädlich – aber er verliert auch seine königlichen Eigenschaften – die herrschenden und die schaffenden. Ich hoffe, diese letzteren zu entwickeln, zu bethätigen. Laß mir meine Art. Ich leide selbst am schwersten durch alles, was ich nachher bei kaltem Verstand nicht billige. O Du, das sind harte Strafen, die das Selbstgericht verhängt – – ich leide, weil ich Dich leiden machte. Aber es sei nun vorbei! Vielleicht ist es eine Begleiterscheinung des Künstlertums, sich innerlichst unversehrt und unberührt, immer wieder wie ein Phönix aus allen Flammengräbern erheben zu können.
Wenn ich fertig bin mit dem, was vor mir liegt – Du weißt von meinem Werke – dann küsse ich Deine Augen, bis wieder Liebeslicht in ihnen ist. Dein René.“
Nachdem René mit glücklichem Gesicht diese Zeilen beendet, fiel ihm ein, daß er sie nicht in den Briefkasten werfen, sondern sie morgen durch seine Wirtschafterin hintragen lassen wolle. Und ein großer Strauß von Frühlingsblumen sollte dabei sein – der sollte sie anlachen und ihr ein wenig von der hoffnungsfröhlichen Stimmung hinbringen, die ihn durchglühte.
O, wie wollte er sie entschädigen für die ausgestandenen Leiden! Ein Liebesfest sollte ihr dieser Winter werden, und wenn sein Werk erfüllte, was er davon hoffte, dann wollte er es ihr widmen und auf der ersten Seite sollte zu lesen sein: „Meiner teueren Magda“. Alle Welt sollte es hören – und in dieser Welt die Eine, Tiefverachtete ganz besonders – daß Magda ihm die Höchste war.
Sein Geist kam während der Nacht kaum zur Ruhe vor Arbeitsungeduld.
[810] „Daß man nur ein Hirn und nur eine Hand hat,“ seufzte er in sich hinein.
Schließlich schlief er dann doch bis zehn Uhr und war verstimmt, daß er Magda nicht mit dem Brief und dem Blumenstrauß hatte wecken lassen, wie er vorgehabt.
Er saß an seinem Frühstückstisch und beschrieb gerade der vor ihm stehenden alten Frau, was sie für Blumen beschaffen solle, als es klingelte.
„Ich bin für niemand zu sprechen,“ rief René ihr nach, da sie mit ihrem schiebenden Gang hinaustrottete, um zu öffnen.
Das befranzte Wolltuch fester um die Schultern ziehend, kam die Alte wieder herein und sagte mit ihrer belegten Stimme: „Da ist ein Lieutenant. Er war schon gestern da und muß Sie sprechen.“
„Wirklich, ich kann nicht,“ bat René herzlich. „Ist es der Lieutenant Bohrmann? Sagen Sie ihm, ich müsse ungestört sein. Er möge tausendmal verzeihen.“
„Es ist keiner von den Herren, die manchmal kommen. Er sagt, es müsse sein; den Namen hab’ ich nicht verstanden – Köhler oder Kehl – –“
„von Keller?“ fragte René.
Sie nickte.
„Ich lasse bitten,“ sagte er. Keller – Walfrieds Freund und doch ihm selber so wenig zugeneigt, daß er jeden direkten Verkehr bisher gemieden – Keller, in einer wichtigen Sache …
Renés Gesicht versteinerte sich in ernster Höflichkeit. So etwas wie eine schlimme Ahnung wollte ihn anfliegen. Aber er wies das als völligen Unsinn von sich. Niemand wußte etwas – Lilly selbst würde doch nicht den Wahnsinn begehen, ihren Liebesroman zu verraten, in dem sie eine so unrühmliche Rolle gespielt!
Und dennoch … sein Herz schlug ihm bis zum Halse hinauf vor Erwartung.
Er war in sein Musikzimmer gegangen und stand neben dem Flügel. Er guckte auf die blanke Ebenholzplatte nieder und sah ganz genau, daß sie von Fliegen beschmutzt war, und sah auch, wie sein eigener Oberkörper sich scharf in der Politur wiederspiegelte. Zugleich schrak er zusammen. Die Thür hatte sich geöffnet.
Lieutenant von Keller war eine eigenartige Erscheinung. Im farblosen Gesicht standen ihm runde dunkle Augen, er trug einen schwarzen Schnurrbart und dazu am Kinn noch ein Bartfleckchen, das wie angeklebt aussah. Seine Gestalt war sehr breit, aber nicht dick, denn wenn man ihn von der Seite sah, wirkte die Taille schmal. So hatte seine Figur etwas Plattgedrücktes und René hatte ihm einmal den Spitznamen „der Piquebube“ gegeben, das war als schlagend sehr belacht worden, denn wie der Piquebube im französischen Kartenspiel sah Keller aus.
Und René dachte, als er ihn eintreten sah, „der Piquebube,“ obwohl ihm schwer und ernst ums Herz war.
Die förmliche Verbeugung, welche sie wechselten, der scharfe Blick hin und her brachte sogleich eine feindselige Kälte in die Begegnung, noch ehe ein Wort über den Zweck derselben gewechselt worden war.
René wußte plötzlich zweifellos, was der andere zu sagen kam.
Das helle Morgenlicht des Wintertages fiel durch die Fenster scharf auf Kellers Gesicht. René hatte das Licht im Rücken. Dies war ihm wie eine Wohlthat in den folgenden Minuten.
„Wie ich zu meinem Bedauern höre, Herr von Keller, haben Sie mich gestern vergebens aufgesucht,“ begann René.
Herr von Keller hielt seinen Säbelgriff mit beiden Händen umschlossen und sah mit den runden, dunklen Augen fest in Renés Gesicht. Es war ein Blick, der diesen ärgerte, eigentlich ganz ausdruckslos, aber durch die Stetigkeit doch schwer erträglich.
„Die Mission, in welcher ich mich bereits gestern zu Ihnen begab, ist eine von jenen, die keinen Aufschub leiden.“
Er machte eine Pause, vielleicht zwei Sekunden lang. Sie wirkte entnervend auf René, aber er machte nur eine Bewegung mit den Fingern und schloß die Lippen fester.
„Ich suchte und suche Sie im Auftrage meines Freundes, des Herrn von Wallwitz,“ sprach Keller langsam weiter. „Er fühlt seine Ehre durch Sie in einer Weise gekränkt, daß er Genugthuung von Ihnen fordert. Als sein Sekundant stehe ich vor Ihnen, Herr Hofkapellmeister, und überbringe Ihnen die Forderung.“
René schwieg zunächst. Da das entscheidende, das erwartete Wort gesprochen war, kam eine völlige Ruhe über ihn. Er dachte nur mit einer Art von Neugier, ob Keller wisse, um welche „Ehrenkränkung“ es sich handle und ob sie bei den üblichen Vermittelungsversuchen noch zur Sprache kommen werde und auf welche Weise Walfried wohl von der Thorheit seiner Schwester erfahren habe. Diese Neugier trieb ihn zu fragen:
„Die Angelegenheit, um die es sich handelt, ist Ihnen bekannt?“
„Sie ist mir bekannt,“ versetzte Keller mit eisiger Haltung.
Ein bitteres Lächeln spielte um Renés Mund. Er dachte darüber nach, ob die Angelegenheit denn den Männern, die sich feindlich gegen ihn bewehrten, auch recht bekannt sei, ob Walfried wohl wisse und recht zu beurteilen vermöge, wie schwer denn Renés Schuld wiege. Ob Walfried wohl standhaft wie ein Cato geblieben sein würde, wenn ein heißes, junges Geschöpf sich ihm ungerufen in die Arme geworfen und gesagt hätte, „ich liebe Dich!“ Und ob Walfried wohl etwas davon erfahren habe, daß er – René – als Dank für diese unerbetene Liebe dem Mädchen sein Leben und seine Freiheit angeboten habe? Daß aber Lilly sie gar nicht gewollt hatte!
Er begriff den Zusammenhang nicht ganz. Er war ihr zu gering gewesen zum Heiraten und doch wichtig genug, daß sie ihn vor die Pistole des Bruders fordern ließ?
„Das wird mir immer verborgen bleiben,“ dachte er und doch blitzte zugleich ein Verständnis, eine Ahnung der Wahrheit in ihm auf: es war die Rache für sein „Pfui“ und auch vielleicht das Mittel, ihn und Walfried für immer voneinander zu entfernen.
All’ diese Gedanken flogen blitzschnell durch sein Hirn.
Er atmete schwer auf.
Dann fiel ihm ein, daß er einen Sekundanten haben müsse und daß die ganze Sache ungemein verwickelt und zeitraubend sei. Er ärgerte sich plötzlich. Und vor diesem alltäglichen Gefühl des Aergers verschwand alle tiefere Erregung.
„Ich werde hoffentlich meinen Freund, den Maler Nicolai, bereit finden, mir in dieser Sache zu dienen,“ sagte er mit seinem gewöhnlichen, ruhigen Ton, „jedenfalls bitte ich Sie, meinen Sekundanten zur Besprechung zu erwarten, und erkläre mich von vornherein zur Annahme aller Bedingungen bereit, die Wallwitz stellen sollte.“
„Diese Erklärungen haben Sie Ihrem Sekundanten zu überlassen,“ sprach Keller belehrend.
René fuhr fort, sich zu ärgern. Die ganze Geschichte kam ihm wie eine Farce vor. Er hatte wahrhaftig etwas Besseres zu thun, als um eines sensationslüsternen Mädchens willen sich zu duellieren, wobei es doch auf nichts Weiteres herauskam, als auf ein paar harmlose Schüsse und ein nachheriges Händeschütteln.
„Bringen wir also die Sache so schnell wie möglich zum Austrag,“ sagte er durch Kellers Ton gereizt, seinerseits einen hochmütigen anzuschlagen.
Keller verbeugte sich schweigend, René begleitete ihn bis zur Thür. Dort verbeugten sie sich nochmals voreinander. Kaum war die Thür ins Schloß gefallen, so fing René an zu lachen. Es war so komisch gewesen, wie der „Piquebube“ sich mit Todesernst in den Mienen verneigt hatte – in der ihm eigenen Art einmal tief und ein paarmal kürzer, wie ein Körper, der noch etwas schwingt, ehe er zur Ruhe kommt.
Das hatte nun gerade noch gefehlt! Adieu, schöne Arbeitsstille, wenigstens bis morgen!
Wie ihm nur Nicolai eingefallen war? Er stutzte plötzlich, als ihm das zum Bewußtsein kam. Dann lächelte er glücklich in sich hinein. Der gute Mensch war wie ein Stück von Magda und die Zuverlässigkeit in Person. Beinahe schien es ja widersinnig, gerade Magdas besten Freund zum Sekundanten zu wählen, bei einem Zweikampf, der nicht um Magda ausgefochten ward. Aber René bereute die Wahl nicht. Nicolai war jedenfalls verschwiegen wie das Grab, und es erschien René wie so ein bißchen poetische Gerechtigkeit, Magda auf diese Art gleichsam vertreten sein zu lassen bei dem Duell um Lilly.
Er war wieder ganz vergnügt und sagte sich „Nur schnell, nur schnell“. Auf dem Wege zu Nicolai dachte er, daß er Doktor Magius als Arzt nehmen könne und daß er Nicolai sagen wolle, den Lieutnant Bohrmann als Unparteiischen vorzuschlagen. Bohrmann stand ihnen beiden, Wallwitz wie ihm selbst, gleich nahe. Die ganze Sache ward ihm von Minute zu Minute mehr eine [811] Komödie, die seine heißersehnte Ruhe störte, und wenn er bis jetzt Lillys Andenken noch mit einer kräftigen Verachtung beehrt hatte, die schließlich doch immer eine Form nicht ganz erstorbenen Interesses ist, so wurde sie ihm jetzt einfach langweilig und er fand die ganze kleine Person mit ihrer rasch vorübergerauschten Verliebtheit für ihn gar nicht wichtig genug, als daß eine Anzahl von Männern eine Berufsstörung ihretwegen ertragen sollte.
Er klopfte bei Nicolai an und er fand Magda und fand einen Sterbenden – – –
Als er zehn Minuten später wieder auf der Straße stand, war er ein anderer geworden.
Seine Wangen waren bleich, seine Züge verschärft. Mit raschen Schritten ging er vorwärts. Es galt zunächst, einen andern Sekundanten suchen. Er dachte einen Augenblick an Bärwald, der einige Semester Medizin studiert hatte, ehe er zur Bühne ging, und als alter Corpsstudent mit allen hier in Frage kommenden Förmlichkeiten wohl vertraut war. Aber ein entschiedenes Gefühl verbot ihm, jemand vom Theater hinzuzuziehen. Er entschloß sich für den Lieutenant Bohrmann. Er nahm einen Wagen und fuhr zur Kaserne hinaus.
Bohrmann hatte gerade sein Morgenpensum an Rekrutendrillen hinter sich und lag auf seinem Sofa, angethan mit einer alten Hausjacke und niedergetretenen Pantoffeln. Es war eine fürchterliche Hitze im Zimmer, der Bursche kniete vorm Ofen und legte noch nach.
Als René fünf Minuten im Zimmer gewesen war, fühlte er sich elend und bat um die Erlaubnis, das Fenster öffnen zu dürfen. Bohrmann, ein hübscher blonder Mensch mit einem lustigen Gesicht, befand sich in einer andauernden Verlegenheit.
Kleid und Situation waren so gar nicht im Einklang; er fürchtete, beinahe lächerlich zu wirken, indem er in schlurrenden Hauspantoffeln und einer gräulichen alten Jacke die Präliminarien eines Duells besprach.
Aber René bemerkte gar nichts davon. Er hatte nur das eine Gefühl, den Fall so schnell wie möglich zu erledigen, um wieder allein sein zu können. Er drückte Bohrmann dankbar die Hand, als er ihn bereit zu dem geforderten Dienste fand. Dann eilte er davon und warf sich wieder in den Wagen.
Er schloß die Augen. Umsonst! Vor den geschlossenen Lidern, wie vor den weit geöffneten Augen stand immer dasselbe Bild: der sterbende Nicolai.
Es war doch etwas Fürchterliches: der Tod! Nur nicht daran denken, heute und jetzt! Er versuchte mit aller Gewalt, sich wieder in die gleichmütige Stimmung von vorher zu versetzen.
In seinem Gedächtnis stöberte er alle Duellgeschichten auf, von denen er je gehört. Im Grunde war nicht mehr Gefahr dabei als bei seiner Droschkenfahrt in diesem Augenblick. Tausend Menschen fahren im Wagen, mit dem Tausendundeinsten gehen einmal die Pferde durch. Alle Tage duellieren sich irgendwo ein paar Menschen, man erfährt nichts davon, alles verläuft glatt – es ist von hundert Fällen neunundneunzigmal nur eine umständliche Form der Revocierung.
René kam zu dem Schluß, daß nicht das bevorstehende Duell, sondern ganz allein der Anblick Nicolais ihn so nervös gemacht habe.
Was mußte nun erst die arme Magda leiden bei ihrem traurigen Amte!
Es durchschauerte ihn. Und es fiel ihm schwer auf die Seele, wie schroff er zu ihr gewesen.
„Ich konnte nicht anders,“ murmelte er in sich hinein, „es war meine einzige Waffe. Sonst wär’ ich weich geworden.“
Aber jetzt in diesem Augenblicke hätte er Magda neben sich haben mögen, ihre Hand still in der seinen, ihre Wange an seiner Schulter, um so in ihrer schweigenden Nähe eine harmonische Lebensfreude zu fühlen.
Daß sie ihn angerufen hatte, als ob sie um das Duell wisse, war ihm ganz aus dem Gedächtnis verschwunden oder doch als nichts Auffallendes darin haften geblieben. Er fühlte sich so eins mit Magda, daß er sich kaum gewundert haben würde, sie jetzt in seinen Hause zu finden.
Aber in seiner Wohnung war es still und leer. Auf dem Tisch lag noch der unbeförderte Brief an Magda; infolge der unterbrochenen Verhaltungsmaßregeln hatte die Wirtschafterin nicht gewußt, ob sie ihn besorgen solle oder nicht.
Was darin stand, schien René jetzt nicht wichtig genug, um eiligst mitgeteilt zu werden. Er ließ den Brief liegen.
Er versuchte zu arbeiten. Er fand, daß er nicht einmal imstande war, die skizzenartigen Aufzeichnungen aus dem „Posthorn“ in klare Notenschrift zu übertragen. Er warf die Feder hin und setzte sich an den Flügel. Die Töne thaten ihm weh und er fühlte ihre Resonanz im Magen mit körperlichem Schmerz – ein Zeichen höchster Nervosität.
Wie bleiern die Zeit schlich! Wenn doch nur Bohrmann erst käme!
Ob Nicolai schon ausgeatmet hatte? Was für Stunden die arme Magda an dem Totenbett durchleben mochte! Sie verlor in jenem einen guten, ja ihren besten Freund.
„Er hat ihr mehr wohlgethan als ich,“ sagte er sich voll Selbsterkenntnis. „Was hab’ ich ihr denn gebracht als Qual und Unruhe! Und jetzt wieder … sie wird vor Sorgen vergehen. Als ich in ihr Leben trat, dachte sie, es sei das Glück. Vielleicht ist es das Unglück gewesen – jedenfalls beides zusammen – vielleicht ist es immer so bei einer wahren tiefen Liebe – sie wird dem rechten Weib zugleich Wonne und Schmerz.“
Bohrmann hätte schon längst da sein können. Rastlos ging René durch die Flucht seiner Zimmer hin und her.
„Ich bin das Warten nicht gewöhnt,“ sagte er sich. Seine Stirn feuchtete sich vor Ungeduld. Daß zur selben Stunde andere für ihn verhandelten und besser über das Bevorstehende unterrichtet waren als er selbst, kam ihm fast albern vor. Er, der Nächstbeteiligte, mußte hier thatenlos warten.
„Warten – das ist eine feige Beschäftigung,“ dachte er. „Und sie macht feige! Mir wird besser werden, wenn Bohrmann dagewesen ist.“
Am Nachmittag endlich kam Bohrmann. Sein flottes Gesicht hatte einen recht ernsten Ausdruck angenommen. Er tupfte fortwährend mit den Fingern an den nach aufwärts auseinanderstrebenden blonden Schnurrbartspitzen und räusperte sich mehrfach.
Auf dem Schreibtisch brannte eine Säulenlampe, René saß davor, den Stuhl seitwärts geschoben, die Beine übereinander geschlagen, die Fingerspitzen gegeneinander spielen lassend, und wartete, bis Bohrmann sich ausgesprochen hatte. Der Lieutenant, auf einem kleinen Sessel neben dem Diplomatentisch, war vom Licht, das durch einen orangefarbenen Schirm brach, mit warmem Schein wie übergossen.
Es war alles in Ordnung. Sie begnügten sich jeder, Wallwitz wie René, mit einem Sekundanten. Doktor Magius wollte René, der Stabsarzt Doktor Friedrichs Wallwitz beistehen. Als Unparteiischen hatte man den Lieutenant von Plüskow gewählt. Waffe: Pistolen. Schauplatz: die Moorwiese, morgen früh halb Neun. Bedingung: zehn Schritte Distanz und gleichzeitiges Schießen, dreimaliger Kugelwechsel.
Bohrmann erzählte sehr umständlich, René aber hörte und hielt sich nur an die wichtigen Hauptpunkte. Ihm kam es vor, als ob die Sache nun erst wirklich geworden sei, aus einem Spiel der Phantasie sich zur Thatsache gestaltet habe. Als habe er vorher nur daran gedacht wie an etwas, das ihn selbst kaum etwas angehe.
Morgen früh halb neun Uhr sollte er sich schlagen, allmächtiger Gott, und warum – –!
Ein bitteres Lächeln ging um seinen Mund. Bohrmann beobachtete ihn sehr aufmerksam.
„Sie sind nervös, lieber Flemming,“ sagte er voller Sorge.
„Nein, nein,“ behauptete René hastig.
„Wer wäre das auch nicht, am Vorabend eines Duells,“ sprach Bohrmann weiter. „Gewiß betreten Sie beide das Terrain mit dem Vorsatz, einander zu schonen. Wie sollte auch Wallwitz, der sie so lieb gehabt hat, daran denken mögen, Sie übern Haufen zu schießen! Und wie sollten Sie zu der Kränkung, die Wallwitz durch Sie erfuhr, noch die Absicht fügen, ihn zu töten – – aber doch, lieber Flemming – in solchen Augenblicken ist das Schicksal unberechenbar und die sichersten Schützen können nicht für den Lauf einstehen, den ihre Kugel nimmt.“
René fuhr aus schwerem Nachsinnen auf. „Nein, gewiß nicht, ich habe nicht den Vorsatz, Wallwitz ein Haar zu krümmen,“ sagte er halblaut, „aber, daß ich mich hinstellen soll und ihm meine Brust darbieten – ihm – –“
Er verstummte.
[812] „Ich begreife, daß es besonders schwer ist, weil er Ihr Freund war,“ meinte Bohrmann gedrückt.
„O nein,“ rief René lebhaft. „Er war gar nicht mein Freund. Wir haben zusammen getrunken und gelacht und uns intime Geschichten erzählt, uns nie gestritten und gern einander gewürdigt: ich seine ernste anständige Art, er meinen Frohsinn und mein Talent. Das nennt man dann Freundschaft. Im Grunde ist es nichts als Bethätigung gleichen Geschmacks bei der Vertrödlung von Mußestunden. Er oder ein anderer! – Bohrmann, es ist der Grund, der mir die Sache schwer macht! Um ein Nichts! Um einer Laune willen, der ich mich mit erregten Sinnen zum Werkzeug lieh. Um eines Kusses willen, für den ich tausend Entschuldignungen habe!“ Er schwieg, um nicht mehr zu sagen, um nicht zu rufen: ich, gerade ich, der seinen Nacken vor niemand beugt, muß die tiefe Demütigung erfahren, daß ein eitles Mädchen mich zum Spielzeug macht, erst seiner Liebe, dann seines Hasses.
Und beide Male ging das Spiel um sein Leben.
Bohrmann war im allgemeinen nicht gewohnt, sehr viel über die außergewöhnlichen Verknüpfungen des Lebens nachzudenken. Dieser Fall aber traf bei ihm Saiten, die auch schon angeklungen waren in seinem erfolgreichen jungen Lieutenantsleben.
„Sehen Sie ’mal, Flemming, das sind Sachen, über die ich mir auch schon das Gehirn zerdacht habe. Wenn man immer alles den guten Leuten erklären könnte, würden sie es klein kriegen, daß wir nicht immer so schuldig sind, wie die Geschichte sich ansieht. Meistens kommt es doch darauf hinaus: halb zog sie ihn, halb sank er hin. Und wenn das alles immer tragisch ausgehen sollte, wo bliebe da das Pläsir – dann dürfte man ja nicht ’mal mehr ’nem netten Mädel ein bißchen deutlich die Cour schneiden. Aber das Verfluchte ist eben, daß man nichts erklären darf und noch ritterlich den reuigen Sünder zu spielen hat.“
„Den reuigen Sünder?“ wiederholte René und sah, in Nachdenken verloren, starr auf den Lampenschirm. Er dachte erstaunt darüber nach, daß er eine Reueempfindung nicht gehabt habe und sich auch gar nicht vorstellen konnte.
„Man muß nie zurück sehen, immer nur vorwärts,“ sagte er, „was war, war nötig. Es reift irgend etwas in uns. Alles bringt vorwärts, die Thorheiten wie die nützlichen Thaten. Alles ist Entwicklung!“
„Das will ich mir merken, das kann man ’mal anwenden,“ sprach Bohrmann bewundernd.
Sie schwiegen ein Weilchen. Bohrmann dachte daran, daß er René jetzt zart ermahnen müsse, für alle Fälle seine Sachen zu ordnen. Es war nicht angenehm, einem netten Menschen sagen zu müssen: bereite Dich immerhin auf Deinen Tod vor.
„Wir werden Plüskows Pistolen haben,“ sagte er als Einleitung.
René schwieg.
„Sie sind ja ein famoser Schütze,“ fuhr er fort, „ich erinnere mich – vorigen Sommer – an unserm Pistolenscheibenstand – wir waren damals beinahe ein bißchen eifersüchtig.“
René schwieg.
„Mag der Teufel wissen, wo er seine Gedanken hat,“ dachte Bohrmann.
„Sie werden jetzt zu thun haben – noch Papiere zu ordnen – ich verlasse Sie – ich komme noch ’mal wieder und helfe Ihnen über den Abend weg.“
René fuhr auf.
„Nein, lieber Bohrmann. Ich danke Ihnen von ganzem Herzen. Aber lassen Sie mich allein,“ sagte er.
„Nun, also hol’ ich Sie morgen früh ab. Der Wagen ist bald nach sieben vor der Thür. Man fährt gut und gern eine Stunde bis zur Moorwiese. Magius fährt mit uns. Friedrichs und Plüskow fahren für sich und Wallwitz und Keller. Aber wenn ich doch lieber heut’ abend wiederkommen soll? … Sie sind sehr nervös.“
„Nein, ich bitte Sie,“ sprach René mit dem Ausdruck hoher Qual.
„Ich verstehe – Sie haben sicher viel zu ordnen. Aber trachten Sie, Aufregung zu vermeiden. Schlafen Sie gut. Es wird ja alles unblutig verlaufen. Es wäre schade – zu schade – –“
Bohrmann fühlte eine eigene Ergriffenheit. Er schüttelte René fest und lange die Hand. Er hatte ihn geradezu lieb in diesem Augenblick.
Nun war René wieder allein. Alles war wie vorher: das stille Behagen im Zimmer und der von warmen Farbentönen gesättigte Lampenschein, die Papiere auf dem Schreibtisch und der blanke Wiederglanz des Lichts auf der schwarzen Flügelplatte.
Und doch: alles war anders. Die toten Gegenstände belebten sich und schienen zu dem Mann zu reden, der zwischen ihnen stand und sich wirr umsah.
In seinem Ohr lag der Nachhall von allerlei Worten, die der andere gesprochen, von Papieren, die noch zu ordnen seien und daß es schade, sehr schade sein würde – –
René stürzte an seinen Schreibtisch. Mit bebenden Fingern riß er die Partitur seines Werkes heraus. Die losen Blätter wühlte er durcheinander, die schon ausgeschriebenen und die mit flüchtigen Notizen bedeckten.
Ja, da war etwas zu ordnen, viel – ein ganzer Lebensinhalt, ein ganzer Lebenszweck! Ihm schien es, als habe er um dieses Werkes willen vom Schöpfer aller Dinge einst Atem bekommen; als sei er geboren worden, unter heißer Arbeit und starken Kämpfen erwachsen und gereift, um es schaffen zu können; als seien alle seine Tage nur Vorstufen gewesen bis zu dem Tag, der ihm die Kraft und das künstlerische Wissen gab, dies Werk zu vollenden.
Und ein lächerliches Schicksal sollte ihm dies entwinden? Ihn hinweglöschen aus der Reihe der Lebenden, der Schaffenden? Unvollendet sollte diese That bleiben, mit der er seinem Volk eine edle Gabe zu bieten gedacht?
Ein wahnwitziger Gedanke kam ihm. Wenn er sich jetzt hinsetzte und schrieb und schrieb – – – die Nacht hindurch, den Morgen heran, bis die Freunde kamen, ihn zum Todesgang abzuholen?
Unbändiger Trotz wallte in ihm auf. Seine Augen flammten.
[822] Es konnte und es sollte nicht sein, daß René davonging, ohne ein Dokument seiner Kraft zu hinterlassen. Wenn er sein Werk vollendet hatte, dann mochte gern die Kugel herangepfiffen kommen und ihm das Hirn durchbohren. Dann war es die rechte Zeit, aber so nicht, noch nicht!
Er hatte noch viel zu sagen. Und nicht stumm sollte das mit ihm hinabgehen in das Grab.
Er tauchte die Feder in die Tinte, seine Hände flogen. Die Notenblätter lagen in wirrer Unordnung vor ihm. Sein Beginnen war sinnlos – er begriff es – er lachte hart auf. Er neigte das Haupt tief, tief und barg die Stirn zwischen den Notenblättern.
Und wenn der Gott, der ihm die heiße Schaffenslust ins Herz gelegt, ihm jetzt auch eine überirdische Macht gab; die, mit hundertfacher Schnelligkeit zu schreiben und zu denken, die armen kurzen zwölf Stunden würden doch nicht ausgereicht haben, sein Werk, wie es ihm im Kopfe stand, niederzuschreiben.
„Ich will leben! Ich muß leben!“ dachte er verzweifelt.
Das „schade“, das der Freund gesprochen, klang ihm wieder.
Ja – schade! Vielleicht sehr schade. Ihm war ein größeres Pfund gegeben worden als anderen und er hatte recht damit gewuchert. In dieser bitteren Stunde durfte er es sich stolz eingestehen.
Freilich war er daneben auch ein Mensch gewesen, der den Lockungen der Freude nicht widerstanden. Das Leben lachte ihn an – so lachte er das Leben wieder an. Er nahm es sonnig und wonnig, wie es sich ihm bot. Ernst und grämliche Bedenklichkeiten kannte er nicht. Gott hatte ihm die besonders geschärften Sinne gegeben, das Schöne zu erfassen. Und alles, was er genoß, erlebte, wandelte sich ihm später zu neuem Schönen – es war, als setze es sich in seinem Innern um, als forme Lebensfreude sich zur Kunst.
Wie unaussprechlich viel hätte er noch schaffen mögen!
Man würde ihn beweinen und sagen, daß die deutsche Kunst einen harten Verlust gehabt habe und daß der erst achtundzwanzigjährige Mann seinem Vaterland noch manche große Gabe geschenkt haben würde.
Achtundzwanzig Jahre? René konnte es selbst kaum begreifen. Sein Leben kam ihm viel länger vor. Es umfaßte schon eine Unsumme von Arbeit und Ereignissen.
Aber all’ diese Ereignisse waren tolles Gähren gewesen, all’ diese Arbeit nur Vorbereitung auf sein Werk.
Und er sollte es verlassen? Unmöglich, undenkbar!
Eine verzehrende Lebensgier brannte in seinen Adern. Die Zukunft kam als rosige Gestalt, Lorbeeren in den Händen und ein glückstrahlendes Lächeln auf den Lippen. Sie schien ihm so nahe und so greifbar – sie war sein, mit allem Glanz eines auserlesenen Künstlerlebens. Nur klaffte zwischen ihr und ihm ein kleiner, kurzer Abgrund auf – die frostige Frühstunde des kommenden Tages! Und in diesen Abgrund konnte er versinken – – –
Ihm schauderte. Er sah wieder den sterbenden Nicolai vor sich.
Ein Schuß in die Lunge und morgen um diese Zeit vielleicht lag er, in derselben Atemnot wie Nicolai mit dem Tode ringend.
Alle höchsten Güter, die der Mann sich wünschen kann, waren sein gewesen, oder er wußte, daß er sie noch erringen werde: ein Beruf, der ihn ganz mit höchster Befriedigung sättigte, das Genie, Neues zu schaffen, der Reichtum, seines Volkes ideale Güter vermehren zu können, und eine edle, reine, grenzenlose Frauenliebe.
Seine Augen feuchteten sich von Thränen mehr des Zornes als der Schwäche. Dies alles sollte er verlassen!
Er rang mit dem Schicksal in ohnmächtiger Wut.
„Ich will leben!“ murmelte er vor sich hin und schrak vor dem Ton seiner Stimme zusammen.
Plötzlich fiel er in ein Nachsinnen. Seine Blicke bohrten sich ins Wesenlose. Sein Atem ging keuchend, seine Hände wurden feucht.
Eine Offenbarung war über ihn gekommen. So, gerade so wie ihm, so elend, so ohnmächtig, so lebensdurstig, so vom Bewußtsein seiner Künstlerkraft durchglüht, so mußte seinem Filippo Lippi, dem sterbenden Mönch, zu Mut sein.
René sprang auf. Diese Erkenntnis sprengte fast sein Herz. Er lief wie ein Rasender im Zimmer hin und her. Ihm schien es, als verwirrten sich seine Gedanken.
„Erleb’ ich das? Träum’ ich das? Sind das schaffende Gedanken? Soll ich morgen sterben? Ist es die Todesnot meines Helden?“
Die Stunde verrann. René wanderte rastlos hin und wieder. Sein Gesicht war bleich, seine Augen funkelten. Aber er trug die Stirn hoch, wie gestern abend, da er, die Brust von stolzer Arbeitsfreude geschwellt, aus dem Walddorf heimkam.
Das, was ihm so drohend nahte, hatte alle Schrecken verloren, er betrachtete sich, seine Lage und seine Empfindungen, wie etwas, das er studierte, um es nachzuschaffen. Und daneben schwellte ein Gefühl wie von freudiger Zuversicht seine Brust. Er glaubte wieder an seinen Stern und daran, daß er leben werde.
Wie ein Adler schwang sich seine Seele zu stolzer Höhe empor, aber auch das Geschoß war schon bereit, welches ihm noch einmal die Flügel zerschmettern sollte.
Der Tag stand nicht still, weil eben in seinem Leben der Stillstand einer großen Erwartungspause war. Und der Tag hatte seine gewohnten kleinlichen Geschäfte abzuwickeln.
Die alte Frau kam herein, sie wußte nichts davon, daß ihrem Herrn anders zu Mute war als an anderen Abenden. Sie brachte einen Brief und hatte allerlei Fragen. Der Brief kam von Herrn von Rechenbach und bewilligte den erbetenen Urlaub. Und draußen sei der Theaterdiener und wolle etwas holen für Herrn Viebig. Auch wollte sie wissen, ob der Herr denn gar nicht zu Abend essen würde, es sei schon neun Uhr.
René gab für den Theaterdiener die Partitur der Gluckschen „Iphigenie“ mit und sagte, daß er nichts essen wolle.
Die Alte sah ihn aufmerksam an und ging seufzend hinaus. Ihr Herr gefiel ihr nicht heute, er hatte sie den ganzen Tag weder gescholten noch geneckt.
René überflog Rechenbachs Brief. Richtig, er bekam Zeit, soviel, solange er sie brauchte. Wie überflüssig ihm diese Erlaubnis schien. Er warf den Brief achtlos auf ein Tischchen.
Dabei sah er, daß dort ein anderer lag. Es war der nicht abgeschickte Brief an Magda.
Magda!
Seine Seele erstarrte vor Schreck. Alles Blut wich aus seinem Gehirn, er fühlte einen Schwindel. Er fiel herab aus dem stolzen Himmel, in dem seine Phantasie sich bewegte, und die schreckliche, nahe Wirklichkeit trat wieder zu ihm.
Er legte erschaudernd beide Hände vor sein Gesicht.
„Mein Tod ist der ihrige,“ sagte er vor sich hin. Er stand unbeweglich, der Schreck dieses Gedankens lähmte ihn völlig.
Wie es geschah, daß er jetzt erst an Magda dachte – er wußte es nicht. Aber er wußte, daß er von diesem Augenblick an nichts denken könne als an sie, an sie und sein Werk.
Er sah sie vor sich, er wußte, wie sie aussah, wenn Leid sie traf. Er hatte es gesehen – damals, als er ihr so weh gethan. Sie bäumte sich nicht auf, sie erlag und verging.
Viele Frauen hatten ihm schon gesagt, „ich liebe Dich!“, viele ihm mit drohenden und großen Worten versichert, den Verlust seiner Liebe nicht überleben zu können. Er hatte dazu ungläubig in sich hinein gelächelt. Er war kein eitler Mann und er wußte, daß Frauen sich trösten. Und er hatte gesehen und erlebt, daß sie sich trösten.
Magda aber, die Eine, Wahrhaftige, hatte ihm noch keine großen Worte gesagt und sie würde vielleicht tapfer versuchen, weiter zu leben ohne ihn. Aber sie würde es nicht können.
Er fühlte tief und mit einer Gewißheit, die jeden Trost und jeden Zweifel ausschloß, daß Magdas Leben auf das seinige gepflanzt war, daß ihre Liebe von jener Art war, die zum Tode führen muß, wenn sie nicht zum Glücke führen kann.
Durch seine Finger, die seine Augen bedeckten, drangen nasse Tropfen.
Er weinte!
Es war das erste Mal seit dem Tode seiner Mutter.
Dann wurde es still in seiner Seele, eine heilige und ernste Ruhe kam über ihn.
Er nahm den Brief und öffnete ihn wieder. Sechs Seiten von seinen Bogen waren beschrieben. Mochte stehen bleiben, was da einmal stand, es war in glücklicher Stimmung hingesetzt, und wenn Magda es las, so wehte sie vielleicht ein Atem seines Wesens an.
[823] Außen, auf die achte Seite, schrieb er mit großen festen Buchstaben nichts hin als dies:
„Magda, ich liebe Dich! Meine Seele ist Dir nicht untreu gewesen. Du darfst Dich ihr vermählt fühlen, als wärest Du mein Weib geworden. Lebe wohl und sei mein starkes Weib!
Dann nahm er ein anderes Blatt und schrieb an Hortense:
„Teure, hochverehrte, gütige Freundin, geben Sie den beigeschlossenen Brief an Magda, wenn Sie bis morgen mittag von mir keine andere Bestimmung hören.
René Flemming.“
Als das doppelte Schreiben fortgetragen war, schien ihm, als habe er geordnet, was für ihn zu ordnen war.
„Ich will zu Bett gehen,“ dachte er, „ich brauche meine Nerven.“
Ein ganz seltsames Gefübl trieb ihn an, alle seine Papiere, die zu seinem Musikdrama gehörten, mit sich in sein Schlafzimmer zu nehmen. Er mußte seinen Schatz ganz nahe bei sich haben. Fast liebkosend schichtete er die Blätter zusammen auf der Marmorplatte seines Nachttischchens.
Lange lag er mit geschlossenen Lidern wach und bemühte sich, Magdas liebes, blasses Gesicht und ihre ernsten Augen vor sich zu zaubern.
Es war und blieb still in seinem Innern. Der Gedanke an das Leid seiner Geliebten breitete eine Art Andacht aus in seiner Seele. Er konnte nicht schlafen und er wollte auch nicht schlafen.
Er faßte auch keine Vorsätze und that sich keine Gelöbnisse für den Fall, daß alles glücklich ablaufen sollte.
Mit einem tiefen und gesammelten Ernst sah er dem Unabwendbaren entgegen.
Die schleichenden Stunden der Nacht wurden ihm nicht lang, sie waren ausgefüllt von Gedanken. Er erstaunte fast, als draußen ein erster Menschentritt vorbeischlurrte und bald danach ein Wagen dahinrasselte, daß es im Haus wiederschütterte. Als er Licht machte, sah er, daß es sechs Uhr war.
Er stand auf. Ihn fror es. Langsam und in genau derselben Reihenfolge wie jeden Tag machte er seine Toilette.
Seine Wirtschafterin brachte ihm den Thee. Er trank mit durstigen Zügen.
Draußen lag noch die Nacht auf den Gassen, nur oben fing der Himmel an, sich mit einem leisen Grau zu durchwirken.
Eine Droschke fuhr vor.
René nahm seinen Pelz um und war noch damit beschäftigt, ihn zuzuknöpfen, als Bohrmann eintrat. Der sah ernst aus und trug Civil.
Sie drückten sich die Hand.
„Geschlafen?“ fragte Bohrmann.
„Nein,“ sagte René mit klarer Stimme, „aber mir ist ganz wohl. Ich empfinde keine Spur von Nervosität.“
„Bravo, bravo!“ meinte Bohrmann und klopfte ihm wohlwollend und ermunternd auf die Schulter.
Doktor Magius war aus Vorsicht im Wagen sitzengeblieben. Als René nun zu ihm einstieg, drückte auch er ihm herzlich die Hand.
Der Wagen fuhr davon. Die Männer schwiegen.
Bohrmann erwog, ob ein zerstreuendes Gespräch angebracht sei. Er war schon ’mal Sekundant gewesen, bei einem Duell, das fröhlich und mit einem großen Champagnerfrühstück geendet hatte. Damals hatte der Duellant ihm nachher gesagt: „Bohrmann, wenn Sie ’mal wieder jemand nach’m Terrain begleiten, zieh’n Sie nicht solche Leichenbittermiene auf. Wenn ich Disposition zur Todesfurcht gehabt hätte, würde ich sie von Ihrem Gesicht gekriegt haben.“
Aber Bohrmann wußte nicht recht, ob Flemming nach seinem Vorgänger artete. Auch hatte Bohrmann eine dumpfe Ahnung, daß es heute nicht mit einem Champagnerfrühstück enden werde. Er beschloß bei sich, abzuwarten und jede etwa von René oder dem Doktor fallende Bemerkung aufzugreifen. Schweigen kann nie taktlos sein, sprechen sehr leicht. Und die Erfahrungen bei einem Duell reichten sicher nicht aus, das Benehmen bei einem anderen zu bestimmen. Er hatte einmal einen berühmten Duellanten sagen hören, kein Zweikampf gleiche dem andern, es sei jedesmal etwas völlig Neues und Ueberraschendes.
Doktor Magius schwieg, weil er müde war. Man hatte ihn in der Nacht herausgeklingelt gehabt und das lag ihm noch in den Gliedern.
Auf den sandigen Waldwegen fuhr der Wagen fast geräuschlos dahin. Die Fenster waren beschlagen, die Luft war dumpf.
René seufzte einmal und legte die Hand an den Fenstergurt.
Mit ungeheurer Beflissenheit griff Bohrmann zu, und den Gurt schon hochhebend, fragte er:
„Soll ich öffnen?“
„Bitte!“
Die herbe Frühluft schlug mit eisigem Atem herein. Magius riß die Augen auf, schauerte zusammen und wickelte sich fester in seinen Pelz.
„Darf ich Ihnen eine Cigarette geben?“ fragte Bohrmann, um nur etwas zu thun.
René nahm sie gern.
Sie schwiegen wieder.
Draußen war ein bleifarbenes Dämmern zwischen den Bäumen. Der Tag kroch herauf am wolkenlosen Winterhimmel. Die Tannenstämme wurden rötlich und erkenntlich, aus dem grauen Morgen trat das Grün des Nadelwaldes hervor: der Tag gewann Farbe und Licht.
Plötzlich fragte René: „Ist Nicolai tot?“
„Ja,“ sagte Magius. „Ich höre, er ist mit einem Lächeln und leicht eingeschlummert.“
„Armer Teufel,“ murmelte René, „das war kein Mann und kein Leben. Das war ein feiner Träumer, der ein Schattendasein führte.“
Bohrmann wurde unruhig. Wenn schon gesprochen werden sollte, war dies ganz gewiß kein Gespräch für jetzt: über einen Freund, der eben gestorben war.
„Ich habe schon ’mal auf der Moorwiese ’ne Affaire gehabt,“ begann er, „es war die Geschichte mit Krausneck und dem Hauptmann Morgens. Keiner wurde verwundet. Sie vertrugen sich gleich. Ich bin überhaupt ein Anhänger von der Versöhnung auf dem Terrain.“
Das hatte er einmal irgendwo gelesen und die Wendung sehr hübsch und elegant gefunden. Sonst hatte er in diesen Dingen gar nicht soviel Praxis, um sich eine Theorie bilden zu können.
René hörte nicht zu. Magius aber nahm das Gespräch auf, denn er war seiner Zeit auch dabei gewesen und die beiden Herren vertieften sich in die Erinnerung an all die damaligen Geschichten.
René sah zum Fenster hinaus. Es ward heller und heller. Der klare Himmel stand noch ohne Glanz, aber er war wolkenlos und licht.
Dem vorgeschrittenen Tag nach mußten sie bald an der Moorwiese sein.
Er zog die Uhr. Es war beinahe ein Viertel nach Acht.
„Wir werden zu spät kommen,“ sagte er.
Es kam Bohrmann vor, als hätte die Stimme scharf geklungen. Vielleicht fand Flemming es taktlos, daß sie sich so lebhaft unterhalten hatten. Er guckte zum Wagenfenster hinaus, gerade lag links am Weg eine Kiefernschonung.
„Wir sind in zehn Minuten da,“ erklärte er. Die zehn Minuten verrannen in Schweigen.
René sah immer hinaus, wo wie ein Wandelbild die Mauer des Waldes an ihm vorbeizog. Sein Gesicht war unbeweglich, sein Auge groß und klar.
Der Wagen hielt. Als die drei Insassen ausstiegen, sahen sie, daß von der anderen Seite her eben auch eine Droschke kam. Es mußte Wallwitz und Keller sein, denn Plüskow und der Stabsarzt waren aus Klugheitsgründen auf Plüskows Jagdwägelchen, das der Bursche lenkte, hinausgefahren.
René ging mechanisch hinter Bohrmann her, sie hatten noch fünf Minuten am Saume der Kiefernschonung entlang zu gehen, ehe sie auf die Moorwiese kamen.
Dort stapften schon der lange Plüskow und der Stabsarzt Friedrichs auf und ab. Es war sehr kalt und Plüskows Gesicht schimmerte blau und rötlich.
Man begrüßte sich mit schweigendem Ernst. Dicht hinter René und seinen Begleitern kamen Wallwitz und Keller daher. Sie lüfteten die Hüte, René und Wallwitz sahen an einander vorbei.
Während der knappen Minuten, wo die Formalitäten erledigt wurden, stand René und sah die Landschaft an, als sei er zu dem einzigen Zweck hergekommen, sie zu bewundern.
Die Moorwiese war ein kleines Hochplateau, zu dem man auf sanft ansteigenden Wegen gelangte. Kiefernwald und Schonung [824] umgab sie wie ein graugrüner Wall. Die struppige Grasnarbe, die den zerklüfteten Boden bedeckte, war braun angefroren.
Birken standen vereinzelt und in Gruppen umher. Ihre weißen Stämme wuchsen anmutig, wie viele Blumenstengel aus einer Zwiebel, zu mehreren aus einer Wurzel empor, das feine, braune Gezweig ihrer melancholisch gesenkten Wipfel hing wie Trauerschleier hernieder.
Mitten auf dem Platz befand sich ein teichähnliches, flaches Gewässer. Es war still und blank überfroren. An seinem Ufersaum spießten sich die harten Halme des Riedgrases durch das Eis empor.
Die Sonne war aufgegangen und gab den weißen Baumrinden einen rosigen Schein. Im Eise des Teiches spiegelte sich das nächste Bouquet von Birkenstämmen so klar wieder, als sei da blinkendes Wasser.
Mit lautlosem Flügelschlag flogen ein paar Raben hoch über die Lichtung dahin.
„Bitte!“ sagte Bohrmanns Stimme neben René.
Er folgte wie gedanken- und gefühllos. Er hatte weder Furcht noch Zuversicht, noch irgend ein Gefühl besonderer Erregung. Es war, als handelte er unter einem Bann.
Dann fand er sich, mit der Pistole in der Hand, seinem Gegner gegenüber.
Er sah ihn an. Und plötzlich ging es wie ein Erwachen durch all’ seine Glieder.
Er begriff, daß er da stand, um auf Leben und Tod zu streiten. Alles in ihm empörte sich.
Eine Vision äffte ihn. Neben Wallwitzens finsterem, feindlichem Gesicht sah er ein anderes, ein lachendes Gesicht mit einer zackigen, dunklen Zahnlücke im Perlengebiß. Und wie ein Ekel schüttelte es ihn, daß er diesen Mund geküßt, der ihm jetzt so raubtierähnlich erschien.
Und darum?! Darum?!
Seine Brust dehnte sich, er hob das Haupt höher. Jeder Nerv in ihm spannte sich an und seine Nasenflügel bebten.
Er stand nicht mehr da als ein Mann, der in ritterlicher Haltung einen Ehrenhandel abwickelt. Er stand da als einer, der sein wertvolles Leben verteidigen will und sich dagegen aufbäumt, es um einer Thorheit willen dran zu geben.
Seine Hand, die ausgestreckt die Waffe hielt, war kalt und fest wie Eisen.
Sekundenlang Totenstille –
Und dann das Kommandowort.
Der kurze, scharfe Doppelhall verrollte rasch in der Luft. Zwei kleine bläuliche Wölkchen flockten auf.
In einer höchst unbehaglichen Stimmung saß Hortense von Eschen bei ihrem Morgenthee. Sie war gestern abend in einer Gesellschaft gewesen, wo sie zu ihrer grenzenlosen Erbitterung erfahren mußte, daß die Gerüchte über René Flemming und Magda Ruhland einen sehr häßlichen Charakter angenommen hatten. Frau von dem Busche sagte es gerade heraus, daß ihre Tochter nicht mehr bei Magda malen solle, bis man genau erfahren, was an der Sache sei.
Hortense hatte sonst den Mund sehr auf dem rechten Fleck; wenn sie jemand verteidigte, konnte der Angreifer gewiß sein, den kürzeren zu ziehen. Aber hier blieb ihre Verteidigungskraft gebunden. Es war ja wahr, René und Magda hatten in jenem Schweizerdorf Arm in Arm die Wälder durchstreift; es ließ sich ja nicht leugnen, sie hatten in Leopoldsburg an manchem Nachmittag zusammen weite Spaziergänge unternommen. Hortense konnte noch so lebhaft für die harmlose Unschuld dieser Thatsachen eintreten, man entgegnete ihr:
„Gut, dann sollen sie sich verloben, damit man weiß, woran man ist.“
Sie konnte nicht antworten: „Sie waren es, aber seit einigen Tagen ist alles aus.“ Neben dem großen Kummer, den ihr die ganze Geschichte, Magdas wegen, bereitete, empfand sie auch noch einen recht kräftigen allgemeinen Aerger. Sie gab sich Betrachtungen über die Verlogenheit der Gesellschaft, über die Unnatur der Sitten hin.
Gesetzt den Fall, René und Magda wären gar kein heimliches Brautpaar gewesen, sondern nur zwei Menschen, die sich als gute Freunde schätzen und im traulichen Verkehr voneinander geistigen Gewinn ziehen, dann hätten sie auf diesen unschuldigen, förderlichen, ja edlen Verkehr verzichten sollen? Bloß weil er ein Mann und sie ein Weib war? Welche Albernheit eigentlich!
Wie viel innere Unabhängigkeit gehörte doch dazu, inmitten der Gesellschaft einfach und wahr zu handeln! Hortense hatte sie ihr Leben lang gehabt. Wenn ihr jemand gefiel, zog sie ihn zu ihrem nächsten Verkehr mit heran – und sah in ihm nur den wertvollen Menschen, nicht den Mann oder das Weib.
„Wenn man immer auf der konventionellen Oberfläche bleiben sollte, so wäre es ja Unsinn und Zeitverschwendung, unter Menschen zu leben, und man hätte mehr von der stillen Sammlung eines Einsiedlerdaseins,“ sagte sie manchmal. „Obenauf, von außen sind die Menschen fast alle egal. Sie kommen aus der Münze der Kultur. Erst wenn man das Typische abstreift und der Persönlichkeit nahe kommt, lohnt es sich manchmal, mit jemand umzugehen.“
Manchmal – im Grunde genommen auch selten genug. Inmitten ihres glänzenden Lebens war sie immer ein bißchen wie Diogenes mit der Laterne auf der Suche nach Menschen gewesen. In René Flemming hatte sie einen gefunden.
Und den vielleicht mußte sie jest verloren geben. Da er mit Magda so gebrochen hatte, konnte Hortense nicht gut die Freundschaft mit ihm weiter pflegen. Sie war ein loyaler Mensch, und obschon es ihr herzhaft weh that, den frischen, arbeits- und lebensfrohen René nicht mehr sehen zu sollen, fühlte sie doch, daß sie dies der armen Magda schuldig war. Sie mußte die Möglichkeit hinwegräumen, daß Magda den verlorenen Geliebten bei ihr traf.
Es fiel ihr gar nicht ein, über René den Stab zu brechen.
Sie schätzte ihn nach dieser That um keinen Deut geringer.
Das in seinen Adern so übermäßig rasch und feurig pulsierende Blut hatte ihn fortgerissen, hinein in eine Lage, wo er dem treuesten Herzen wehthun und es vielleicht für immer verlieren mußte. Das, so wußte Hortense, strafte sich schon von selbst. Sie hatte noch niemals gesehen, daß das Schicksal einem etwas schenkte. Auch René würde bezahlen müssen – wahrscheinlich mehr und schwerer, als er es sich jetzt noch vorstellte.
Immerhin mochte er den Verlust von Hortensens Haus als eine dieser Folgen ansehen. So leid es ihr that – es ging wahrscheinlich nicht anders – sie mußte um Magdas willen auf seinen Umgang verzichten. Wenn er sich wirklich mit Lilly Wallwitz verlobte, war der Grund für die Welt leicht gefunden. Sie konnte nur sagen, und zwar der Wahrheit gemäß, sie liebe diese Lilly nicht.
René schien übrigens selbst so etwas von der Notwendigkeit, fortan ihr Haus zu meiden, zu fühlen. Er hatte ihr da gestern abend einen Brief für Magda geschickt und ein paar Zeilen dabei, die Hortense sehr beunruhigten, denn sie waren unterzeichnet: „immer Ihr dankbar ergebener“. Dies Wort „dankbar“ fiel Hortense auf die Nerven. Er war einer von den wenigen, ach, so wenigen, die das Wort Dankbarkeit niemals im Munde führen, von denen man aber mit Felsensicherheit weiß, daß sie in ihrer Seele tief und treu diese Empfindung hegen. Wenn Hortense ihm einen Dienst erwiesen – und sie war wahrlich sein fürsorglicher Geist gewesen – hatte René allerhöchstens kritische oder gar kühle Worte dafür gefunden. Aber sie wußte: er vergaß keine Freundschaftsprobe und verwuchs ihr nach jeder nur fester.
In seinem Munde hatte die Versicherung von „Dankbarkeit“ so etwas Abschiednehmendes, Letztes. Es klang wie ein Lebewohl.
Und was wohl in dem Brief an Magda stand? Es war doch alles aus zwischen den beiden. Hatte auch er vielleicht erkannt, daß die Umwandlung von dem bräutlichen in ein geschwisterliches Verhältnis ein Unding sei, und schrieb er nun in diesem Sinne noch ein allerletztes Lebewohl an Magda?
Hortense seufzte einmal über das andere und erwog, was sie nun alles zu thun habe. Denn Magdas Ruf wiederherzustellen, lag ihr ob. Dazu gab es nur einen Weg: die Herzogin.
Diese mußte bewogen werden, sich einmal wieder persönlich nach dem Befinden der armen alten Excellenz Ruhland zu erkundigen.
Vor einem Jahr war die hohe Dame zuletzt bei dem Leidenden vorgefahren. Dann mußte die Herzogin Magda zu einem Theeabend einladen. Hortense kannte die hohe Frau: unter all’ dem programmmäßigen Wohlthun hatte sie sich ein warmes Herz bewahrt, an das man nur in der richtigen Weise anpochen mußte. Die Herzogin hatte ja auch selten Zeit, ein Weib zu sein; ihr Beruf legte ihr die Pflicht ob, immer als „Vorbild“ dahin zu leben, und ihre Angst vor der Welt die Pflicht, immer die harmonisch glückliche Gattin zu markieren. Denn die Herzogin war keine mutige Natur und auch keine stolze. Aber im tiefsten Grunde eine barmherzige.
[841] Hortense beschloß, unter dem Eindruck dieser Klatschereien noch heute um eine Unterredung mit der Herzogin zu bitten, und sie war sicher, ihre hohe Gönnerin für die gekränkte Unschuld zu rühren.
„Meine Ahnung, meine Ahnung,“ dachte sie und entsann sich der geringen Freude, mit welcher sie von Renés und Magdas Verlobung gehört. Ihre Gedanken schweiften immer wieder von der Zeitung ab, in der sie beim Frühstück las. Endlich legte sie sie gelangweilt beiseite. Die Welthändel ließen sie kalt, und es war ihr in diesem Augenblicke viel wichtiger, daß Magda zum nächsten Theeabend eine Einladung erhalten müsse, als daß Helgoland gegen ein Stück Afrika eingetauscht werde.
Der Diener kam und räumte ab.
„Der Kunsthändler Werle hat hergeschickt,“ meldete er dabei, „ob gnädige Frau das Bild von dem Maler Nicolai hergeben wollten.“
„Den ‚Sturm‘,“ fragte Hortense erstaunt, „was will er damit?“
Der „Sturm“ war eines von den „menschlichsten“ Bildern Nicolais und stellte einen schönen, nackten Jüngling dar, der mit nach vorn fliegenden Haaren und lachendem Mund auf einem Falben dahin jagte, indes Strauch und Pflanzenwerk auf dem Bild alles vom Wind in derselben Richtung, die der Reiter nahm, niedergestrichen war.
„Wegen der Ausstellung. Es steht doch in der Zeitung.“
Hortense griff nach der Leopoldsburger Zeitung. Sie sah unter „Lokalem“ nach und ihr Herz erschrak.
„Heute mittag ist der Maler Nicolai durch einen sanften Tod von seinem Leiden, das er bekanntlich mit bewundernswertem Humor ertrug, erlöst. In dem Verstorbenen besaßen wir ein eigenartiges Talent, das sich seine besonderen Wege suchte. Doch kann man sagen, daß seine Richtung bezeichnend war für die Abkehr von dem Naturalismus, die man neuerdings, besonders auch in Frankreich, beobachtet. Wir werden auf seine Art zurückkommen gelegentlich der Ausstellung, mit welcher die Kunsthandlung von Werle den verstorbenen Künstler zu ehren gedenkt. Alle hiesigen Kunstfreunde – es dürften nicht viele sein – die im Besitz von Nicolaischen Werken sind, werden gebeten, solche Herrn Werle zur Verfügung zu stellen.“
Hortense schüttelte mit herbem Lächeln den Kopf als sie diese Notiz las.
„Mit Humor! Da [842] sieht man, wie ein Mensch den andern kennt! Blöde und dumm staunen sie einander an – das ist alles. Nicolai und Humor! Er war ein Jenseits-Mensch, über den Humor hinaus, wie über Thränen und Lächeln.“
Der Diener stand und wartete.
„Und die arme, arme Magda! Die verliert wieder ein Stückchen Wärme aus ihrem Leben. Um Gotteswillen – ja – weshalb ist sie denn nicht gleich gekommen – wie elend und gramvoll muß sie sein!“
Der Diener erlaubte sich, ein wenig zu husten. Hortense merkte auf.
„Sie sind noch da? Gut. Lassen Sie anspannen! Ich fahre in einer halben Stunde aus.“
„Und was darf ich Herrn Werle sagen lassen?“
„Er kann das Bild haben.“
Hortense ging an ihren Schreibtisch und bestellte einen Kranz von Lorbeeren und weißen Kamelien für den armen Nicolai. Gerade schloß sie das an den Blumenhändler adressierte Couvert, als sie jemand durch den Saal laufen hörte.
Sie kam aus ihrer Ecke hinter der spanischen Wand hervor und prallte fast zurück vor der Gewalt, mit welcher Magda sich in ihre Arme warf.
„Ich kann nicht mehr, ich kann nicht mehr,“ rief Magda und brach in Schluchzen aus.
„Ist das wegen Nicolai? Hast Du so schwere Stunden mit ihm gehabt? Warum riefest Du mich nicht? Oder kamst nicht gestern?“ sagte Hortense und hielt das arme Kind zärtlich an sich.
„Zu viel – o Gott, – ich konnte nicht – ich kann nicht,“ jammerte Magda, riß sich los und sank in den nächsten Stuhl. Sie drückte ihr Gesicht in die Polster. Ihr Hut fiel ihr vom Kopfe.
Hortense hob ihn bedächtig auf und legte ihn auf das nächste Tischchen. Dann ging sie auf Magda zu und streichelte ihr sacht das Haar.
„Er duelliert sich – jetzt – er ist vielleicht schon tot!“ rief Magda und warf den Kopf herum.
Sie sah aus wie eine Unzurechnungsfähige. Hortense erschrak, aber nicht so sehr deshalb, weil sie an das Duell glaubte, als wegen des Eindrucks, den sie von Magda empfing. Dieselbe schien von Sinnen – und überhaupt – wie konnte sie dergleichen wissen?
Etwas hart, als habe sie es mit einer Hysterischen zu thun, sagte sie: „Mir scheint, Du weißt nicht, was Du sprichst, Du bist offenbar in der Stimmung, Dich in Schrecken hinein zu rasen.“
Aber der strenge Ton ernüchterte Magda nicht. Sie wußte nur zu wohl, was sie sagte. Sie suchte sich aber ein wenig zu fassen.
„Was für ein Tag gestern! Erst war Sibylle bei mir – Sibylle ist Wallwitzens Braut – sie hat in seinem Haus eine Scene zwischen ihm und Lilly erlauscht – nur halb. Aber was sie hörte, war genug. Er verschwor sich, von René Rechenschaft zu fordern. Dann riefen sie mich zu Nicolai. Und da kam er! O, hättest Du ihn gesehen – und wie er erschrak und wie er rauh zu mir ward, als ich es ihm ins Gesicht schrie: ‚Du willst Dich schlagen!‘“
„Wie konntest Du ihm das sagen?“ rief Hortense. „Er wird es geleugnet haben!“
Magda nickte.
„So schroff – so böse! Ich ward zweifelhaft. Aber hier drinnen war eine Stimme, die sagte mir, es ist doch wahr!“
Sie sah vor sich hin, mit großen leeren Blicken.
„Nicolai starb. Gott, ich beneidete ihn! Es war der Friede und die Erlösung.“
Sie weinte schmerzlich.
Hortense knieete neben ihr nieder und umarmte sie. Ihr waren jetzt auch die Augen naß.
„Armes Kind,“ sagte sie, „Du durchlebst harte Zeiten. Aber warum kamst Du nicht zu mir? Quältest Dich den ganzen langen Tag allein!“ schalt sie liebevoll.
„Ich konnte nicht. Ich wartete. Sibylle hatte mir versprochen, wiederzukommen und mir alles zu erzählen, was sich begab. Sie wollte aufpassen. So wartete ich. Abends kam Sibylle. Sie hatte Wallwitz nicht gesehen – er hatte sich bei ihr, die seit drei Tagen erst seine Braut ist, entschuldigt! Mit Dienst! Und Sibylle hatte irgend einen seiner Kameraden getroffen und angeredet. Wallwitz hatte gar keinen Dienst. Mehr wußte Sibylle auch nicht. War es nicht genug?“
„Nein,“ sagte Hortense und versuchte, einen leichten Ton anzunehmen, „es war nicht genug. Männer können Verpflichtungen haben –“ ihr fiel der Brief ein, den René ihr für Magda gesandt hatte und den sie ihr geben sollte, wenn bis diesen Mittag keine andere Bestimmung kam. Es überlief sie kalt.
„Diese Nacht war schrecklich! Der Tote unter unserem Dach – erst heute morgen haben sie ihn nach der Kapelle auf dem Friedhof gebracht – ich war um 6 Uhr aufgestanden. Er sollte nicht so würdelos fortgetragen werden. Er hatte das Feierliche und Schöne so sehr geliebt. So hab’ ich mit Frau Böhmer das Zimmer voll Lichter gestellt und wir legten Blumen in seine Hände. Wir beteten für ihn. Es sah aus, als lächle er.“
„Dies alles, mein Kind, hat Dich nervös gemacht und Deine Phantasie erhitzt. Du wirst nun bei mir bleiben, wir werden spazieren fahren und von lauter gleichgültigen Dingen reden.“
„Nein,“ rief Magda aufspringend, „es ist keine Phantasie, es ist Wahrheit, Wahrheit!“
Sie klammerte sich an Hortensens Arm und sagte halblaut, das Gesicht nahe zu ihr neigend:
„Ich war wie gehetzt. Ich lauerte am Fenster und dachte, wenn sie hinausführen, müßte ich sie sehen. Denn, wenn es ist, ist es heute. Das schieben Männer nicht auf. Zuletzt sah ich gar nichts mehr – es war auch so lange noch Nacht. Dann war ich fast ohnmächtig vom Warten. Und dann fiel mir ein, daß sie ja nach allen Richtungen aus der Stadt heraus konnten und daß ich verrückt gewesen war, zu denken, sie müßten bei mir vorbei kommen. Und da …“
Sie stockte und sah Hortense durchdringend an.
„Und da?“ fragte diese, kaum ihr Zittern bemeisternd; Magda steckte sie an mit ihrer Aufregung.
„Da lief ich fort – aus dem Haus – in sein Haus! Ich klingelte. Die alte Frau, die öffnete, kennt mich ja nicht, aber warum sollte sie lügen? Ich fragte nach ihm, ich müsse ihn sprechen. Er sei schon um sieben Uhr auf die Jagd gefahren – auf die Jagd – die Jagd!“ schrie Magda, bei der Wiederholung des Wortes ihre Stimme steigernd.
Hortense war bleich geworden. Dies und der Brief – die Beweise schienen auch ihr vollgültig.
„Und um diese! Um sie, die er heut’ schon verachtet! Wie darf er, wie kann er! War er nicht zu gut dafür? Darf er sein Leben aufs Spiel setzen um ein Abenteuer? Sein Leben! Und ich, vielleicht hab’ auch ich Schuld, vielleicht gab ich ihm erst die rechte Laune dazu! O, ich hab’ ihm einen häßlichen Brief geschrieben, daß ich ihm nicht vertrauen könne, weil er keine Willenskraft habe.“
„Nun ist es genug,“ sagte Hortense mit starker Stimme. „Du weißt nicht mehr, was Du sprichst.“
Sie nahm Magda am Arm und zwang sie, sich hinzusetzen.
„Wenn er der Geforderte war, konnte er die Genugthuung nicht weigern – und wenn er, wie Du sagst, zehnmal schon die verachtet, um die er sich schlägt. Das sind Unerbittlichkeiten – eines erwächst aus dem andern. Möchtest Du, daß er Wallwitz geantwortet hätte: ich schlage mich nicht?“
„Nein,“ murmelte Wagda, „o Gott, nein – aber es geht doch über mich hinweg – über mein Herz – mein Leben.“
„Männerthaten und Männerschritte gehen immer über uns hinweg,“ sagte Hortense ruhig. „Ich will Dir zugeben, daß ich nach allem auch an ein Duell glaube – gleich werden wir der Wahrheit noch näher kommen – vergiß aber nicht, daß wir es nie ganz gewiß erfahren werden. Das sind ehrenwörtliche Sachen. Sie werden alle schweigen wie das Grab. Deshalb warne ich Dich, wenn Du René wiedersiehst, ihn zu fragen.“
„Werde ich ihn wiedersehen?“ fragte Magda bebend. „Lebt er noch? Und wenn er lebt, bin ich geliebt oder bin ich es nicht? Wo finde ich Ruhe und Gewißheit? Weiß er selbst, wen er liebt? Er, der nicht treu sein kann!“
Sie schlug die Hände vor ihr Gesicht.
Hortense ging an ihren Schreibtisch. Sie hatte mit voller Ueberlegung den Entschluß gefaßt, Renés Befehlen entgegen zu handeln und Magda den Brief schon jetzt zu geben. Was auch darin stand, es mußte eine Wahrheit sein und als solche auf Magda wirken.
[843] Vielleicht stand das Bekenntnis darin, daß er sie nicht geliebt habe. Mochte Magda dann auf einmal den ganzen fürchterlichen Schlag ertragen.
Vielleicht stand darin, daß er seine Untreue beklage und sie allein nur geliebt habe – so oder so, die Zweifel mußten ein Ende haben, wenn sie Magda nicht zerrütten sollten.
Und mochte René nachher zürnen, Hortense mußte so handeln.
„Hier,“ sagte sie, „ein Schreiben von ihm an Dich.“
„Und das giebst Du mir jetzt erst?“ rief Magda und riß ihr den Brief aus der Hand. Sie zerrte den Umschlag in Stücken von den Briefblättern.
Diese waren zufällig so gefaltet, daß die erste, eng beschriebene Seite nach außen umgebogen lag.
Magda nahm die Blätter so, wie sie ihr entgegensprangen.
Sie las: „Geliebte Thörichte! Dir entsagen, das wäre ja, als sollte ich nicht mehr dirigieren oder komponieren …“
Sie las und las und in ihrem Gesicht ging heller Sonnenschein auf.
So übermütig, siegessicher, so voll liebender, herrischer Freude schreibt kein Mann, der zum Zweikampf geht.
Sie las die holden Worte am Ende der sechsten Seite und sah daneben die leere siebente.
Strahlend schaute sie zu Hortense auf.
Diese aber, vor Magda stehend, hatte längst die quer geschriebenen Zeilen auf der letzten Seite bemerkt.
„Da hinten steht noch etwas,“ sagte sie.
Magda wandte das Blatt um.
„Magda, ich liebe Dich! Meine Seele ist Dir nicht untreu gewesen. Du darfst Dich ihr vermählt fühlen, als wärest Du mein Weib geworden. Lebe wohl und sei mein starkes Weib.Sie schrie auf. Hortensen ging der Ton durch und durch.
„Es ist wahr!“ stammelte Magda und fiel Hortensen in die Arme.
Diese glaubte eine Ohnmächtige zu halten und versuchte die Verzweifelte dem nächsten Sitz zuzuführen.
Aber da fuhr Magda schon wieder auf, und die Hände faltend, rief sie: „Komm zu ihm! Zu ihm! Laß mich sehen, ob er da ist, ob er lebt!“
„Mein Kind …“
„Kein Nein. Um Gotteswillen, kein Nein! Sonst geh’ ich selbst – allein – ich muß – ich will!“
Sie war wie rasend.
Hortense besann sich nicht mehr. Trieb doch ihr eigenes Herz sie zu irgend einer That. Konnte sie selbst es doch nicht ertragen, hier zu sitzen und zu warten, bis ein Zufall ihnen Klarheit brächte.
„Wir gehen!“ sagte sie entschlossen.
Mit ihrer gewohnten, festen, stolzen Haltung ging sie durch den Raum. Sie klingelte.
„Der Wagen?“ fragte sie den eintretenden Diener.
„Ist vorgefahren.“
„Komm,“ sagte sie kurz. Magda, plötzlich gefaßter und von Hortensens Art beeinflußt, folgte ihr.
Hortense ließ sich im Flur ihren Pelz umhängen.
„Zu Herrn Hofkapellmeister Flemming,“ befahl sie dem Kutscher mit dem gewöhnlichen freundlichen Gesicht, das sie ihren Leuten zeigte.
Im Wagen faßte sie kräftig nach Magdas Hand.
„Haltung, mein Kind!“ sagte sie, „Haltung!“
Magda küßte ihr in heißer Dankbarkeit die Hand.
Der Wagen brauchte keine zehn Minuten, um in die Ringstraße vor René Flemmings Wohnung zu kommen. Hortense sah unterwegs einmal nach der Uhr, die sich in die Rückwand ihres Coupés eingelassen befand. Es war bald halb Zehn.
Vor Flemmings Haus stieg sie mit der größten Gemächlichkeit aus, stand noch auf dem Trottoir und sprach zu ihrem Kutscher hinauf, dem sie befahl, langsam die Ringstraße auf und ab zu fahren. Sie bemerkte drüben am Fenster Fräulein von Deggenburg im türkischen Morgenrock und grüßte verbindlich lächelnd hinauf. Dann legte sie ihren Arm in den Magdas und schritt langsam durch den kleinen Vorgarten dem Eingang zu.
Sie wußte, daß Fräulein von Deggenburg sich nun den Kopf zermartere, was sie, Frau Hortense von Eschen, schon morgens halb zehn Uhr mit einer anderen Dame – Magda hatte sich nicht umgewandt und konnte nicht erkannt sein – in jenem Haus zu thun habe. Und dieser kleine boshafte Gedanke wirkte beinahe zerstreuend. Hortense klingelte an der Thür und die öffnende Alte erstarb vor Demut und Erstaunen. Sie huschte wie eine aufgescheuchte Eule im Korridor hin und her und wußte nicht, welche Thür sie den Damen öffnen sollte.
„Ist Herr Flemming schon von der Jagd zurück?“ fragte Hortenie gleichmütig. „Nein? Gut, so warten wir ein wenig.“
„Im Salon ist noch nicht Staub gewischt,“ klagte die Alte.
„So gehen wir ins Musikzimmer.“
Die Thür ward aufgerissen und die Alte hatte noch ein Dutzend Entschuldigungen über die herrschende Unordnung, aber der Herr Hofkapellmeister erlaube eben nie, daß sie zwischen den Noten und Papieren krame.
Magda stand auf der Schwelle und traute sich nicht näher. Ihr Herz klopfte und ihre Augen strahlten. In diesen Minuten hatte sie vergessen, was sie ängstigte – sie war bei ihm, in seinem Heim – sie schien ihm näher und der ungestörte Friede, der hier herrschte, ließ es als undenkbar erscheinen, daß sich etwas Gräßliches zugetragen haben sollte.
Die Morgensonne schien in die Fenster. Auf dem Schreibtisch lag es voll von Papieren, noch stand der Stuhl davor ein wenig schräg gerückt, als sei René eben erst von ihm aufgestanden. Hinter dem Flügel erhob sich eine schöne Fächerpalme. Unter ihr stand auf einer Säule die Büste des Herzogs. An der Wand hingen Bilder von Beethoven und Wagner und einige wertvolle Radierungen. Es war so traulich, so wohnlich und es kam Magda vor, als habe sie hier selbst schon seit langem Heimatsrecht.
Hortense hatte sich auf der Ottomane niedergelassen, die zwischen Schreibtisch und Flügel mitten im Zimmer stand. Daneben befand sich ein Tischchen mit allerlei Rauchgeräten.
„Siehst Du,“ sagte sie, „hier mag er oft genug liegen, seine zahllosen Cigaretten rauchen und nachdenken.“
Magda kauerte sich neben ihr nieder. „Mir ist viel besser geworden, seit ich hier bin,“ versicherte sie. „Ich denke daran, wie er mir an unserem Verlobungstage sagte, daß er an seinen glücklichen Stern glaube. Gewiß, er kehrt lebend heim, mir ist, als sage es eine innere Stimme. Vergieb mir meine Aufregung von vorhin.“
„Kind – das Auf und Nieder ist beinahe Dein Recht! Gebe Gott, daß Du recht behältst. Aber gebe Gott auch, daß der andere gleichfalls lebend wiederkehrt.“
„Du fürchtest …?“
„Ich denke so: eine Verwundung Renés wäre noch nicht der schlimmste Ausgang.“
Magda erblaßte. Daran hatte sie gar nicht mehr gedacht. Auf einmal klang ihr Sibyllens jämmerliche Stimme in den Ohren: „er soll ihn mir nicht totschießen!“
„O,“ murmelte sie und faltete die Hände; draußen fuhr ein Wagen vor. Man sah durch die Fenster des Hochparterres das schwarzlederne Droschkendach.
Mit einem Schlag war Magdas Mut verflogen, mit einem bangen Laut versteckte sie ihr Gesicht in Hortensens Kleiderfalten. Auch diese wagte nicht, sich zu rühren.
Die Sekunden wurden zu bleiern schleichender Zeitdauer.
Draußen schrillte die Glocke.
Dann Schritte – der Ton einer Männerstimme – seiner Stimme und dann ging die Thür auf.
Magda fuhr taumelnd empor. Sie sah ihn. Da stand er, leichenblaß, hoch, und sah die Frauen mit erschreckten Augen an.
Sie flog auf ihn zu, ihre Arme umschlangen ihn. Kein Laut kam von ihren Lippen, in stummer Seligkeit umklammerte sie ihn, fest, fest.
Und er schlang seine Arme um sie und hielt ihr Haupt an seiner Brust. Seine Augen schlossen sich. So standen sie lange.
Und Magda hörte sein Herz klopfen, dumpf und schnell, und sie fühlte, daß ein Zittern durch seine Gestalt ging.
Sie drängte ihr Gesicht enger an ihn, sie wollte nicht aufsehen, nichts in seinen Augen lesen, nichts wissen, nichts fragen, nur die Wonne fühlen, daß er da sei, daß er lebe.
Er aber fühlte nur das eine: das kalte Entsetzen, das über ihn gekommen, als er den anderen fallen sah. – –
Wie ein kurzer Jubel war es durch seine Seele gezuckt, die erste, fraglose Empfindung eines Menschen, der den Tod nahe sah und sich gerettet fühlt. Dann war die warme Welle der Lebensfreudigkeit zurückgewichen und hatte dem Entsetzen Platz gemacht. –
Und wie er Magda in seinen Armen hielt, sah er das Bild vor sich: auf dem braunen Erdboden die Gestalt des Getroffenen, [846] und daneben knieend die Aerzte, indes ihn selbst der Freund fortzog. Er hatte das Haupt umgewandt und im stolpernden Vorwärtsschreiten zurückgesehen auf das, was nun immer, immer vor seinen Augen stehen würde.
Ein Zucken ging durch seine Glieder. Magda fuhr zurück.
Sie sah ihn an. Ihre Blicke bohrten sich ineinander.
Und sie begriff, daß irgend etwas Furchtbares geschehen war. Ihre Arme wollten ihn wieder umfassen, aber, indem sie niedersank, glitten auch ihre Hände an seiner Gestalt herab. Sie umschlang seine Kniee.
Erschüttert und gequält beugte er sich herab und hob sie auf.
„Was ist geschehen, was ist geschehen!?“ stammelte sie.
Hortense erhob sich. Sie hatte keine von Renés Mienen verloren.
„Magda!“ sagte sie leise mahnend.
„O Gott,“ flüsterte Magda, sich an ihn drängend, „ich soll nichts fragen – ich soll thun, als wisse ich nicht – wie kann ich!“
„Liebe Magda,“ sprach René mühsam, seine Stimme klang heiser, „ich danke Dir aus tiefster Seele, daß ich Dich hier fand. Ich fühle, Du liebst mich noch. Aber nun laß mir meine Einsamkeit, deren ich so sehr bedarf.“
„Ich soll Dich verlassen?“ rief sie mit schmerzlichem Schreck. „Ich sehe, daß Du leidest, ich soll nicht bei Dir bleiben? Soll Dich nicht trösten dürfen?“
„Mich kann niemand und nichts trösten,“ sagte er fest, „ich muß mit mir allein fertig werden.“
„Du hast ihn erschossen!“ schrie sie auf und es war, als wollte sie in erwachendem Grauen vor ihm zurückweichen.
Renés fahles Gesicht verzerrte sich schmerzlich. Welche Qual! Welche Marter! Das eigene Leid verschärfte sich ihm zehnfach, weil er sah, wie Magda litt.
Er sah flehend auf Hortense.
„Liebes Kind,“ sagte Hortense sanft, „Du thust ihm weh.“
„Sage mir, was ist mit Wallwitz!“ flehte Magda, die nichts anderes denken und hören konnte.
Renés Mienen wurden fremd und verschlossen.
„Ich weiß nichts von Herrn von Wallwitz,“ sagte er kalt.
„Komm, Magda,“ bat Hortense, „wir wollen ihn lassen. Du hast ihn gesehen – das war Dein Wunsch. Du wolltest ihm zeigen, daß Du ihn liebst, Du hast es gethan. Nun komm!“
Und zu René gewandt, setzte sie hinzu:
„Ich bin eigenmächtig gewesen, lieber Freund, ich habe Magda vorhin Ihren Brief gegeben. Es muß viel Gutes und Schönes darin gestanden haben, denn ihr Gesicht strahlte. An das wird sie sich nun erinnern und vernünftig sein.“
Er nahm zärtlich Magdas Hand.
„Ich bat Dich auch, stark zu sein,“ sagte er in inniger Bitte.
„Das will ich, indem ich Dir helfe, Dein Leid zu tragen!“ rief sie. „Es ist mein Recht! Mein Platz ist bei Dir, wenn Du leidest!“ sagte sie noch einmal. Es klang beinahe wie eine Warnung oder Drohung.
„Ich muß allein sein,“ sprach er entgegen.
Sie schwieg. Aber er sah es wohl in ihrem Gesicht, daß sie tödlichen Schmerz litt.
Er umfing sie noch einmal und küßte sie. Sie ließ es geschehen.
„So komm, Hortense,“ sprach sie dann. Ihr Ton war kalt.
Ihr Gebahren zerriß ihm das Herz! Er verstand vollkommen, daß sie litt, weil er sie von sich wies, daß ihre Seele sich in Trotz und Bitterkeit aufbäumte, daß der Rückschlag für sie zu jäh war.
Nach Stunden der Todesangst sollte sie nicht den Jubel auskosten, ihn wieder zu haben!
Aber er konnte nicht anders.
„Magda, liebe Magda,“ flehte er, „vergib mir!“
„Ich soll immer nur vergeben und wieder vergeben,“ dachte sie erbittert.
Ihr schien, als ob alles, was sie gelitten hatte durch ihn, nichts sei gegen den demütigenden Schmerz, daß er sie in dieser Stunde von sich wies, wo sie es als ihr heiliges Amt betrachtete, ihn zu trösten, mit ihm zu leiden und alles mit ihm zu tragen, selbst das Bewußtsein, einen Menschen getötet zu haben. Sie war bereit gewesen, alles mit auf sich zu nehmen. Und er bedurfte ihrer gar nicht!
„Lebe wohl,“ sagte sie und vermied seinen Blick.
Hortense drückte ihm fest die Hand und sah ihm warm und tröstlich in die Augen.
Draußen im Wagen schwieg Magda mit zusammengepreßten Lippen.
„Du bist feindlich – auch gegen mich?“ fragte die mütterliche Freundin leise.
Nun brach Magda aus: „Wenn so seine Liebe ist, was ist sie mir dann? Wenn er mich wirklich liebte, hätte er mich nicht von sich gelassen! Und nicht einmal Vertrauen will er mir geben.“
„Wie kann er Dir Vertrauen geben in einer Angelegenheit, über die er wahrscheinlich sein Ehrenwort gab, zu schweigen? Nur ein Zugeständnis heißt schon, es brechen.“
„Auch ohne Aussprache, in schweigendem Verstehen, hätte meine Liebe ihm Wohlthat sein müssen,“ entgegnete Magda trotzig.
„Er ist eben ein Mann, der keine Wohlthaten erträgt. Er ist einer von denen, die aus eigener Kraft alles erreichen müssen, auch die Ueberwindung einer großen Erschütterung.“
„Dann braucht er auch keine Gefährtin für sein Leben,“ rief sie aus.
Ihre Wunden brannten zu schmerzhaft, als daß sie sich nicht hätte aufbäumen sollen. Hortense sah wohl, daß heute keine Einsicht, keine Gerechtigkeit mehr bei Magda zu finden sei.
„Da ist mein Haus. Laß mich aussteigen. Ich danke Dir, Hortense. Sei mir auch nicht böse.“
Magda stieß das alles kurz heraus und selbst die Schlußbitte klang unfreundlich. Sie sah in diesem Augenblick in Hortense nur Renés Verteidigerin und das beleidigte sie, die sich in ihren edelsten, selbstlosesten Empfindungen, in ihrer aufopfernden Liebe verletzt sah.
Hortense verabredete kein Wiedersehen für diesen Tag. Sie hoffte, daß Magda in der ungestörten Einsamkeit am ehesten ihr Gleichgewicht wiederfinden würde und daß dies nur in dem wiedergewonnenen Vertrauen und der Liebe zu René wurzeln könne.
Aber Magda dachte nicht daran, sich in thatenloser Stille zu verhalten. Das Schicksal des jungen Wallwitz ließ ihr keine Ruhe. Sie mußte wissen, was mit ihm war, ob er lebe oder tot sei. Sie mußte erfahren, ob ein Gerücht über das Duell umlief, ob demnach für René noch die Gefahr einer späteren Festungsstrafe zu fürchten war.
Indem sie sich mit verbitterten und trotzigen Gedanken einredete, sie wolle sich ganz und für immer von René loslösen, bebte sie doch davor, daß ihn zu all den Seelenqualen, die er duldete, noch die äußeren, peinlichen Folgen treffen könnten. Eine lange Festungsstrafe mußte ihn so störend aus seinem Beruf reißen, daß sie auf seine ganze Laufbahn, wenigstens als Dirigent, hindernd wirken konnte. Und hier in Leopoldsburg war seines Bleibens keine Stunde mehr, wenn der Herzog davon erfuhr. Mochte der Herzog innerlich dem von ihm so geschätzten Mann hundert Milderungsgründe zugestehen, vor der Welt durfte er keine andere, als eine unerbittliche Haltung einnehmen.
Sie besorgte alle ihre häuslichen Geschäfte mit einer gewissen abweisenden Hast, als wollte sie mit jeder Bewegung den Dingen zeigen, daß sie ihr Störung und Last seien. Und es gab heute so unendlich viel zu thun. Der gestrige Tag hatte sie ja schon von allen Pflichten fern gehalten.
Es wurde Nachmittag, ehe sie zu Sibylle gehen konnte. Sie lief fast, und die Bekannten, die ihr begegneten, dachten: „wie sieht denn Magda Ruhland aus!“
In Sibyllens Wohnung fragte Magda nach der kleinen Freundin und Schülerin.
Das Dienstmädchen, welches Magda hier oft ein- und ausgehen gesehen, meldete ihr mit einem vertraulichen und geheimnisvollen Ton, daß Fräulein Sibylle nicht daheim sei.
„Melden Sie mich bei der gnädigen Frau,“ bat Magda, die in diesem Augenblicke sich gar nicht mehr der feindlichen Stimmung der Frau von Lenzow gegen sie erinnerte.
„Ich darf heute niemand melden,“ sagte das Mädchen. Ihre Miene war wieder so herausfordernd bedeutungsvoll, daß Magda sah, sie wolle gefragt sein. Und da in Magda die verzehrendste Ungeduld brannte, fragte sie denn auch:
„Es ist doch nichts vorgefallen?“
„Ach, ich glaube doch, gnädiges Fräulein! Ich bin schon fünf Jahr im Haus. Da kennt man seine Herrschaft, nicht? Zu andern würd’ ich nichts sagen, aber da unser Fräulein Sibylle so sehr viel von Ihnen hält … ich glaube, unser Fräulein sollte sich verloben, den Namen will ich lieber nicht sagen. Aber er kam diese letzten Tage so viel her, da merkt man ’was. Na und nun ist ’was mit ihm passiert – ich glaube, ’was Schlimmes. Sonntag wollten wir großes Dinner haben und ich hab’ alles abbestellen müssen.“
Magda stand stumm.
[847] „Ich bitte Sie,“ fuhr das geschwätzige Mädchen fort, „ich will nichts gesagt haben. Aber man hat doch seine Augen und Ohren. Und ich hörte unsere Gnädige zum Herrn sagen: „beim Reinigen der Pistole, die er ungeladen glaubte, durch die Lunge …“ und der Herr seufzte und sagte „unser armes Kind“.
„Grüßen Sie Fräulein Sibylle, wenn sie heimkommt,“ brachte Magda hervor.
Sie stand dann lange noch allein auf dem Flur. Durch das offene Hausthor wehte die herbe Winterluft herein. Draußen ging der Verkehr der Straße vorüber. Magda sah Wagen und Menschen im Rahmen der Thürpfosten an sich vorbeiziehen. Es fehlte ihr an Mut, hinauszutreten, und doch dachte sie immer: „ich kann hier nicht stehen bleiben!“
Ihr war es, als wisse sie nicht wohin, als habe sie kein Heim. Sie müßte bei René sein – sie durfte nicht; sie müßte mit Sibylle an Wallwitz’ Lager wachen – sie konnte nicht!
Ueberall sonst in der Welt war ihr Sein zwecklos, ihre Umgebung eine Qual für sie!
Da erschien eine Frauengestalt im Hausthor, die das Gesicht tief geneigt und gegen einen vorgehaltenen Muff gepreßt hatte.
„Sibylle!“ rief Magda.
Sie fielen sich um den Hals.
Sibylle sah bleich und verweint aus.
„Ich war bei Dir.“
„Weißt Du …?“
„Dein Mädchen erzählte allerlei –“
„Er ist tödlich verwundet!“
„Wissen Deine Eltern …?“
„Nicht einmal die – niemand. Es heißt, er habe sich beim Reinigen einer Pistole verwundet,“ flüsterte Sibylle. „Es ist keine Hoffnung, glaube ich. Verlaß mich nicht, komm mit mir!“
Magda stieg hinter ihr drein wieder die Treppe hinauf.
Oben ging Sibylle ihr voran in das Wohnzimmer. Etwas befremdet erhob sich Frau von Lenzow, als sie Magda in ihrer Tochter Gesellschaft sah. Die Dame war eine noch jugendliche und schöne Frau, zierlich und dunkel wie die Tochter und von einer heiteren Liebenswürdigkeit, die aber jetzt hinter Verlegenheit und Unbehagen zurücktrat.
„Magda weiß alles,“ erklärte Sibylle. „Sie darf bei mir bleiben, nicht wahr, Mama? Sie thut mir so gut.“
Dabei erfaßte sie Magdas Hand.
Frau von Lenzow sagte hastig:
„Aber gewiß – wenn Fräulein Ruhland Dir ein Stündchen opfern will – wie geht es Wallwitz?“
„Ich habe ihn gesehen. Er lag mit geschlossenen Augen, aber nicht bewußtlos. Großmama war bei ihm. Sie sagen, er sei jung und kräftig und werde es überstehen. Das sagen sie aus Mitleid mit mir! Großmama hat mich geküßt und gesagt, ich solle vor der Nacht noch wiederkommen, so oft ich wolle.“
Frau von Lenzow umarmte ihre Tochter. „Wir wollen hoffen!“ sprach sie innig.
Die beiden Mädchen gingen in Sibyllens Stube. Es war ein bescheidener Raum, mit billigen Sächelchen zierlich herausgeputzt, so daß man kaum bemerkte, wie alt und hinfällig die Möbel waren. Sibylle hatte sie sich vom Boden geholt und so lange gebettelt, bis die Mama sie etwas herrichten ließ. Ihr eigenes kleines Reich zu haben, war schon lange ihr Wunsch gewesen.
[857] Siehst Du, Magda,“ begann Sibylle, „es ist gekommen, wie ich Dir sagte: Flemming hat ihn mir totgeschossen.“
Ihre Augen waren wie erloschen und ihre Stimme ganz klanglos.
„Wallwitz lebt doch noch und er wird leben!“ rief Magda und faltete die Hände.
Sibylle sah vor sich hin.
„Wir sind alle schrecklich unglücklich,“ sagte sie, mit dem Kopf nickend, „ja, schrecklich unglücklich. Aber er muß noch unglücklicher sein! O, wie es wohl in ihm aussieht! Weiß Gott, ich beneide ihn nicht um das Gefühl! Den Mann erschossen zu haben, der ihn so liebte und verehrte!“
Magda war sehr blaß. Sie wollte Sibylle nicht mit der Verteidigung kränken, die sie für die That bereit hatte. Und dann: es war so, wie Sibylle sagte! Wie mußte es in ihm aussehen! Es ergriff sie aufs tiefste, daß Sibylle so ohne Zorn, voll innigstem Mitleid seiner, als des Elendesten von ihnen, gedachte.
„Und alles dies wegen Lilly!“ sprach sie bitter.
Das Wort belebte Sibylle. Ihre Augen blitzten. Sie stand in alter Beweglichkeit vor Magda.
„Denke Dir,“ erzählte sie, „sie war es, die mir das Märchen von der geladenen Pistole erzählte, an das auch Großmama glaubt. Doktor Friedrichs hat es gesagt, als er ihn brachte, und Keller hat es bestätigt. Lilly allein konnte sich die Wahrheit denken. Als sie nach mir schickten – er hatte meinen Namen geflüstert … denk’ Dir, Magda, in seinem ersten bewußten Augenblick …“
Sie weinte an Magdas Schulter.
„Du wolltest von Lilly sprechen,“ mahnte sie nach einer Pause. Sibylle richtete sich wieder auf.
„Lilly kam mir entgegen und erzählte es mir. Ich weinte gar nicht. Ich war wie von Stein. Ich sah immer bloß Lilly an, und als sie mit ihrer Lüge fertig war, sagte ich bloß: Du bist eine Mörderin! Und da zuckte sie die Achseln – so – – und machte so ein Gesicht – – und sagte, ich sei wohl überspannt.“ Aber sie war doch ganz blaß geworden. Und dann sagt’ ich ihr, wenn sie einen Fuß in sein Zimmer setze und sich ihm zeige – denn das muß ihn doch gräßlich aufregen! – wolle ich Großmama alles wiedersagen, was ich weiß. Sie traut sich auch nicht, sie traut sich nicht. Und Großmama sagt ‚wie lieblos!‘ Das schadet nichts, mag Großmama das denken, das geschieht Lilly recht.“
Es wurde dämmerig. Magda saß am Fenster und sah auf die grauen Hintergebäude, die hier reizlos den Blick verschrankten.
Ein ungeheurer Druck lag auf ihrer Seele, die furchtbare Ungewißheit sollte noch weiter getragen werden. Tagelang, wochenlang vielleicht konnten sie noch zittern für dies Leben, das, wenn es erlosch, zugleich Licht und Freude aus [858] Renés Dasein hinweglöschte. – Sibylle ging im dunklen Raum auf und ab. Es lag etwas Feierliches in ihren Schritten.
„Ich habe einen Entschluß gefaßt, Magda,“ sagte sie; „wenn Walfried sterben muß, laß ich mich vorher mit ihm trauen, dann will ich ihn als seine Witwe ewig betrauern. Denn ich werde mich niemals trösten und nie einen andern lieben. Mein Leben sei seinem Andenken geweiht. O Gott und ich bin erst achtzehn Jahr!“
Dies Gemisch von echtem Gefühl und einer unbewußten Selbstgefälligkeit, die sich vom eigenen harten Schicksal rühren läßt, zeigte Magda, wie anders ihre eigenen Schmerzen geartet waren als die Sibyllens. Aber sie wurde dadurch nicht in ihrem liebevollen Mitleid beeinflußt. Sie sah es als ihre Aufgabe an, Sibyllen beizustehen, um wenigstens an ihrem Teil zu heilen, wo René Wunden geschlagen.
„Von dieser Idee wirst Du zurückkommen,“ sagte sie herzlich, „es würde eine Handlung sein, die Dich und ihn marterte. Und wenn er sterben sollte – ist das innere Band nicht ebenso unzerreißbar?“
Aber Sybille war gesonnen, den ganzen Kelch auszutrinken und in ihrem Unglück romantisch zu schwelgen. Weinend sprach sie:
„Die Welt wußte ja noch nicht, daß ich seine Braut war. Sie soll erfahren und sehen, wie ich ihn geliebt habe. Und Tante Sibylle, die morgen kommt und unsern Bund zustande bringen wollte, wird mir beistehen! Sie ist wegen einer unglücklichen Liebe ledig geblieben. Sie wird mit mir fühlen.“
„Deiner Eltern wegen – sei ein wenig vernünftig,“ bat Magda.
Sibylle weinte stärker. Auch das Unglück ihrer Eltern, die die einzige, hoffnungsvolle Tochter lebenslänglich elend sehen sollten, ergriff sie schwer.
„Wie kann man vernünftig sein, wenn man das Liebste, was man auf der Welt hat, sterben sicht. Ja, Du kannst es nicht begreifen, Du weißt nicht, was Liebe und was Unglück ist.“
Magda schwieg. Sie dachte gequält, daß kein Herz für die Leidfähigkeit eines anderen Herzens einen Maßstab hat. Und daß vielleicht der Gram Sibyllens nicht an die Not ihrer eigenen Seele heranreichte.
Wer hatte mehr Gründe zu weinen, wenn der Verwundete starb: Sibylle, die den Geliebten verlor, oder sie selbst, die fortan das Dasein des Ueberlebenden vergiftet wußte?
Ach, wie oft würde Sibylle sie noch mit ihren thörichten Reden verwunden! Aber sie nahm sich vor, mit dem lieben Kinde, seiner Unreife und seinem reinen treuen Herzen eine unermüdliche Geduld zu haben.
Ihr war es, als erfülle sie damit geradezu eine Pflicht gegen René. Sie würde sich mit Freuden hingeopfert haben, um nur etwas für ihn in seinem Sinn zu thun.
Mit der großen Stunde verrauscht auch die große Stimmung. Schon am andern Morgen kam es Magda vor, als sei der Zustand der Todesangst in den vorhergegangenen Stunden leicht zu ertragen gewesen. Er fand doch seinen erlösenden Gipfelpunkt in dem Wiedersehen mit René. Nun lag aber die nächste Zeit vor ihr wie eine graue Oede. Sie konnte nichts thun als warten und sich fürchten.
In der „Leopoldsburger Zeitung“ las sie zwei Notizen im lokalen Teil. Beide waren in ihren Augen Lügen.
Da stand zunächst zu lesen, daß der Premierlieutenant von Wallwitz das Unglück gehabt habe, sich beim Reinigen einer Pistole, die er ungeladen glaubte, schwer zu verwunden, so schwer, daß man an seinem Wiederaufkommen fast verzweifle. Es war noch hinzugefügt, wie beliebt der tüchtige Offizier bei seiner Mannschaft sei, und daß Herr von Wallwitz dem Vernehmen nach gerade im Begriff gewesen, seine Verlobung mit einer der reizendsten jungen Damen der hiesigen Gesellschaft zu vollziehen, daß das Unglück also doppelt beklagenswert sei, da es einen Mann getroffen, der sich in den glücklichsten Lebensumständen befinde.
Die Notiz war taktlos – so konnte es scheinen. Magda fühlte heraus, daß ihre Ausführlichkeit von den Einsendern beabsichtigt war. Man gab soviel Details, um keinerlei Gerüchte aufkommen zu lassen.
Die andere Notiz betraf René. Er habe, so hieß es, zur Vollendung seines Musikdramas einen unbestimmten Urlaub genommen.
„Er ist fort,“ dachte Magda, „geflohen! Oder er wartet in einer Nachbarstadt ab, ob hier Gerüchte entstehen. Wie könnte er arbeiten! Jetzt mit dem Gefühl im Herzen!“
Schließlich war es der beste Vorwand, den er für eine Abwesenheit oder Zurückgezogenheit wählen konnte!
Sie erwartete, er werde ihr irgend ein Zeichen geben, sich ihr brieflich doch noch aussprechen, irgend ein Gefühl der Sehnsucht nach ihr äußern.
Von Hortense, die jeden Tag viele Menschen sah, hörte sie bald, daß keine Seele auf die Idee käme, Wallwitzens Verwundung könne einen geheimnisvollen Hintergrund haben oder gar mit René Flemming in Zusammenhang stehen. Ganz Leopoldsburg beschäftigte sich so sehr mit den Gerüchten über Magda und Flemming, daß es Flemmings vorübergehendes Interesse für Lilly Wallwitz ganz vergessen hatte. Auch hatte das Fräulein von Deggenburg am Duellmorgen doch erkannt, daß es Magda gewesen war, die mit Hortense zu Flemming gegangen, und vermittelst ihres Opernglases hatte sie beide Damen einen Augenblick an Flemmings Fenster gesehen.
Hortense hatte sich das mit einem besonderen Ausdruck im Gesicht angehört und nur trocken gesagt: „So – wirklich?“ aus welcher Antwort die Fragenden und Berichtenden keinen Schluß ziehen konnten.
„Laß sie nur meinen Namen zerfetzen,“ sprach Magda mit schmerzlichem Lächeln, „wenn diese Redereien ihn schützen. Was liegt an mir!“
„Ich habe schon für die beste Verteidigung gesorgt,“ tröstete Hortense, „morgen kommt die Herzogin und besucht Deinen Vater.“
Und die hohe Dame kam auch und versicherte Magda und der diensthabenden Hofdame, die sie begleitete, daß ihr die „arme liebe Excellenz, als sie noch der Minister für den Unterricht, die Künste und die geistlichen Angelegenheiten des Landes waren, ein sehr treuer, lieber, unschätzbarer Mitarbeiter gewesen“.
Sie war sehr leutselig und äußerte sich, daß Magda elend aussehe und der Anregung bedürfe. Sie habe Magda eigentlich bitten wollen, ihr ein Pendant zu dem so wundervollen Christrosenstück zu malen, aber diese Bitte verschöbe sie bis zum Frühling. Hingegen lud sie Magda zum nächsten Theeabend in das Schloß und erlaubte ihr, für die bevorstehende Lotterie zum Besten einer Missionsausrüstung zwei schöne Wandteller mit Blumenmalerei zu stiften, die noch im Atelier vom Sommer her hingen, und von welchen die hohe Frau, als sie sich im Atelier umsah, bemerkte, daß sie als Lotteriegewinne sich vortrefflich eignen würden.
Magda küßte ihr dankbar und gerührt die Hand. Die Herzogin hatte sie so eigen angesehen, mit einem so menschlichen, warmen Blick, der aus einer anderen Seele zu kommen schien als all’ die langsam vorgebrachten leutseligen Tiraden.
Nachher weinte sie einige erlösende Thränen und dachte viel über das Schicksal der Herzogin nach. Das hohe Paar war gewiß nicht glücklich. Vielleicht weil es keine Kinder hatte, vielleicht weil es nicht zusammenpaßte. So waren sie auseinandergewachsen, die Herzogin hatte ihr warmes, schüchternes Fühlen verstecken gelernt, des Herzogs feurige Seele entfloh ihr.
„Vielleicht hat sie ihn nicht verstanden,“ dachte Magda. „Ob es wohl möglich ist, einen Mann ganz zu verstehen?“
Und damit war sie wieder bei René und den Rätseln angelangt, die er ihr aufgab.
Er schrieb nicht und kam nicht. War er so tief gebeugt, so ganz haltlos, daß er sich nicht vor ihr zu zeigen wagte?
Der Erfolg des hohen Besuches, den Magda erhalten, kam augenblicklich.
Johanne von dem Busche und die anderen beiden Damen meldeten sich zur Malstunde zurück, mit ihnen baten noch drei neue Schülerinnen um Aufnahme.
„Nein,“ sagte Magda, „ich kann nicht arbeiten, ich bin nicht wohl,“ und lehnte es ab.
Sie war außerstande, an Thätigkeit mit andern nur zu denken. Sogar die Pflichten ihres Hausstandes waren ihr lästig. Sie mochte am liebsten sitzen und grübeln und sinnen, wie es ihm wohl ergehe, was er thue, wie er seine Tage verbringe.
Wahrscheinlich auch in thatenlosem, qualvollem Bangen und Hoffen. Wahrscheinlich gehetzt von der fürchterlichen Angst, daß das Menschenleben, das durch ihn in Gefahr schwebte, doch noch verloren gehen werde.
Welche Veränderungen mußten mit ihm vorgegangen sein, er, der lebhafte, ungebundene Geist, geknechtet und gefesselt von dem Bewußtsein solcher That! Wie mußte er leiden!
Vielleicht ward seine Schaffenskraft im Keim gebrochen.
[859] Magda dachte an sein Werk und an die heißen Freuden, die er an demselben gehabt, an die stolzen Hoffnungen, die er auf dasselbe gesetzt. Alles dahin und verloren –
Die Hauptstunde des Tages war die, wo sie mit Sibylle zusammentraf und hörte, wie es Wallwitz gehe. Jede Einzelheit dieses Krankenlagers ward ihr bekannt. Sie lebte im Geist mit in dieser Krankenstube, über deren Schwelle einzutreten die Hoffnung immer noch zögerte.
Frau von Lenzow freute sich, daß Magda seiner Zeit den kühlen Ton in jenem Absagebriefchen offenbar gar nicht bemerkt hatte. Die Gunst der Herzogin, in diesem Augenblick so deutlich betont, wollte doch sagen, daß niemand an Magda Ruhlands Reinheit zu zweifeln habe. Wie peinlich, wenn man nun schon mit Magda gebrochen gehabt hätte! Sibylle bekam manches Lob zu hören, über ihre Anhänglichkeit an Magda. Auch war Frau von Lenzow, von einem echten Bedauern über ihre einmal geäußerte abfällige Meinung ergriffen, von Herzen liebevoll zu Magda und bat sie, ihren guten Einfluß auf Sibylle geltend zu machen. Denn Sibylle beharrte bei ihrem Vorsatz, sich mit Walfried an dessen Krankenbette trauen zu lassen. Ueber das Verlöbnis wurde jetzt offen gesprochen, man hatte es für klüger gefunden.
Die Notiz aus der „Leopoldsburger Zeitung“, worin Sibylle als „eine der reizendsten jungen Damen der hiesigen Gesellschaft“ bezeichnet worden war, hob sie wie ein Heiligtum auf. In all’ ihrem Gram hatte diese Bezeichnung ihr doch unendlich wohlgethan und sie gab das Blatt auch Lilly zu lesen, obschon sie sonst ja kein unnötiges Wort mit ihr sprach.
Sie fühlte sich in den Mittelpunkt des öffentlichen Interesses gerückt und glaubte sich darum auch verpflichtet, etwas ganz Außerordentliches zu thun.
Ihre Tante und Taufpatin, Baronesse Sibylle Zielendorf, eine ältere Cousine ihres Vaters, die inzwischen angekommen war, fand die Idee poetisch und rührend. Sie bestärkte Sibylle in allen Ueberschwenglichkeiten, und wenn bei dem jungen Mädchen der natürliche Jugendmut einmal durchbrach, war es die sentimentale Baronesse, die immer neu den Jammer und die hohen Opfergefühle in ihr weckte. So kam die kleine Sibylle aus den Aufregungen gar nicht heraus, und es war doch schon genug an der einen, an der steten Sorge um das teuere, gefährdete Leben.
„Was wird das auf René für einen Eindruck machen,“ dachte Magda geängstigt, „wenn er hört, daß Sibylle sich so an einen Sterbenden bindet!“ –
„Weißt Du, daß René Flemming hier ist und ruhig in seiner Wohnung sitzt? Warum sollte er auch abgereist sein? Keiner weiß was,“ sagte Sibylle ihr eines Tages.
Magda verfärbte sich. Er war hier? Ihr so nahe? Und schwieg?
Sie hatte sich gedacht, er wolle vielleicht vor jedermann, auch vor ihr, seinen Aufenthalt verbergen.
„Woher weißt Du das?“ fragte sie.
„Von Lieutenant Bohrmann. Der kommt jeden Tag, nach Walfried fragen. Mich plagte die Neugier, ich wollte doch ’mal so hinhören – ich glaub’ auch, Bohrmann ist dabei gewesen. Er kommt so oft, am meisten, und war vorher gar nicht so intim mit Walfried. Das ist verdächtig. Na, und da fragte ich denn ganz unbefangen, weshalb Flemming sich gar nicht um Walfried bekümmere, er habe doch immer so befreundet gethan.“
„Und Bohrmann sagte .. ?“
„Daß Flemming so sehr beschäftigt sei und übrigens innigsten Anteil nehme und täglich durch ihn von Walfried höre. Ich sagte noch, ich meine, in der Zeitung ’was von Urlaub gelesen zu haben. Und Bohrmann antwortete: ganz richtig, den verlebt er hier.“
Er war hier! Und kam nicht, sein Herz an dem ihren zu entlasten!
Ihr schien das ein voller Beweis, daß René sie dennoch nicht wahrhaft liebe. Er täuschte sich vielleicht über sich selbst, es gab in ihm Aufwallungen, die ihn zu ihr zogen. Oder er hatte zuviel Mitleid mit ihr, um ihr die Wahrheit einzugestehen. Er zeigte sie ihr so schweigend, um sie zu nötigen, ihrerseits ein Band zu lösen, das doch nie zum Glück führen könne.
Dann fiel ihr wieder ein, daß sie ja ihm habe entsagen wollen und daß er die Entsagung nicht angenommen habe.
Sie las auch seinen letzten Brief wieder und wieder und eine Stimme sagte ihr, daß er nicht der Mann sei, etwas zu schreiben, das nicht eine innere Gewißheit ihm diktiert habe.
„Es ist furchtbar,“ dachte sie, „jeden Augenblick fühle ich mich zu einer anderen Erregung hingerissen. Besser ein Ende als dies ewige Ringen nach Glauben und Zuversicht!“
Was sie am allermeisten an Renés Schweigen verletzte und wunderte, war dies: „Versteht er denn gar nicht, daß es mich trösten und beruhigen würde, um ihn sein zu dürfen? Hat er so wenig Gefühl und Sinn für das, was meinem Herzen wohlthäte, so muß ich mir doch sagen: es fehlt ihm an Verständnis für mich.“
Nicht verstanden werden, heißt, nicht geliebt zu werden, sagte sie sich. Sie wollte gekannt sein bis in die tiefsten Falten ihres Wesens von dem Manne ihrer Liebe. Nur so konnte ein wahrhaft inniges Zusammenleben erreicht werden.
Sie vergaß ganz, daß er sie gebeten hatte, ein starkes Weib zu sein, und daß es oft schwerer ist, stark zu sein, wo es gilt, einen Lebenden zu schonen und zu verstehen, als einen Toten zu beweinen.
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Bei ihrem lebhaften Verkehr mit Sibylle fiel es ihr gar nicht ein, daß sie sich einer Begegnung mit dem Wesen aussetze, dessen Anblick sie am wenigsten jetzt ertragen konnte. Sie dachte gar nicht daran, daß sie eines Tages Lilly von Wallwitz sehen und sprechen müsse. Sie glaubte, Lilly würde sich mit schlechtem Gewissen still und ängstlich zu Hause halten, und da Magda das Wallwitzsche Haus nicht betrat, so könnten sie sich nicht treffen. Aber Lilly, von jeder Gesellschaft, ja vom Theater ferngehalten, verging vor Langerweile und unternahm jeden Mittag einen Spaziergang über die halbe Ringstraße, den Kasernenweg und den Schloßplatz. Den konnte ihr niemand verdenken, er war für ihre Gesundheit durchaus nötig. Bei dieser Gelegenheit traf sie dann sehr viel Bekannte, plauderte hier und da und ließ sich ein Streckchen von teilnehmenden Kameraden Walfrieds begleiten. Es war die einzige Zerstreuung, die der endloslange Tag ihr brachte.
Eines Mittags ging Magda auf dem Schloßplatz hin und her. Das Wallwitzsche Haus lag an demselben, der Rückwand des Schlosses gegenüber. Magda wollte Sibylle erwarten, die um Eins zu kommen versprochen hatte, um mit der Freundin zusammen nach Hause zu gehen.
Ein blauer Himmel strahlte auf eine keusche Schneelandschaft hernieder. Der Fluß, nicht gefroren, wirbelte schwarz und blank unter der gewaltigen Brücke dahin, auf welcher die nackten mythologischen Gestalten mit Schneemützen auf den grauen Sandsteinlocken standen. Die Dächer trugen dicke weiße Schneelager auf sich, die feinen Aeste der Bäume waren von Rauhreif umkleidet, auf dem Rasen der Anlagen breitete sich eine hohe, lockere, weiße Decke. Dazwischen liefen aufgeworfene Wälle, die ausgeschaufelte Wege einfaßten; die Menschen, die da spazieren gingen, waren von weitem nur bis zu den Knieen sichtbar. Und alle Geräusche des Verkehrs, das Rollen der Räder, der Tritt der Pferdehufe, die Schritte der wandernden Menschen, erklangen gedämpft. Die winterliche Welt, die vordem etwas Kahles und Unausgefülltes gehabt hatte, schien mit einem Mal enger, stiller und traulicher geworden. Alle Leute machten vergnügte Gesichter, die kräftige Kälte hatte so etwas Gesundes, der frische Schnee so etwas heiter Anmutendes. Jedermann feierte bei seinem Anblick Kindheitserinnerungen und alte Leute standen und sahen mit lächelndem Neid den Knaben zu, die, auf kleinen Schlitten stehend, ihr Gefährt mit eisenbeschlagenen Stöcken vorwärtsstießen.
„So leuchtende Wintertage haben in ihrer Stimmung etwas von Frühling,“ dachte Magda. „Sie machen Mut. Wie merkwürdig wir von der Natur abhängig sind!“
Ihr war es, als müßte Sibylle heute mit besseren Nachrichten kommen.
Und da lief diese auch schon herbei, das Pelzbarett ein wenig schief auf dem dunklen Haar, mit schlangengleich sich windender Pelzboa um den Hals. Aber ihr Gesicht sah unglücklich drein wie alle Tage.
Sie blieb vor Magda stehen und sagte gleich: „Großmama will es nicht! Ist es nicht schändlich!“
„Was will sie nicht?“
„Ich soll mich nicht mit Walfried trauen lassen,“ erzählte sie und Thränen traten ihr sofort in die Augen. „Großmama findet es zu theatralisch. Ach, sie haben alle kein Gefühl!“
Sie hakte Magda ein und ging langsam mit ihr weiter.
„Und Großmama meint, es hieße Walfried zu verstehen geben, daß er bald sterben müsse.“
„Hat sie damit nicht recht?“ fragte Magda.
[860] „Es wäre so ein großer Liebesbeweis gewesen,“ sagte Sibylle und nahm eines der Enden ihrer Boa gegen Mund und Nase, denn sie fürchtete, laut weinen zu müssen.
„Walfried glaubt gewiß auch so an Deine Liebe,“ tröstete Magda.
„Ja, aber wenn er nun am Leben bleibt und noch ein paar Wochen auf Reisen muß, nach dem Süden, zur Erholung, da kann ich doch als seine Braut nicht mit,“ jammerte Sibylle.
Vor freudigem Schreck blieb Magda stehen. „Ist denn Hoffnung – ist wirklich Hoffnung?“ fragte sie.
„Doktor Friedrichs hat heut’ gesagt, noch drei Tage so weiter und alle Gefahr ist ausgeschlossen. Die Wunde heilt,“ berichtete Sibylle kläglich.
„Und das sagst Du in solchem Tone!“ rief Magda und wäre ihr um den Hals gefallen, wenn man sich nicht in den öffentlichen Anlagen befunden hätte.
„Wenn ich doch nicht mit ihm reisen kann!“ meinte sie in Thränen.
Vor diesem kindischen Egoismus war es Magda schwer, geduldig zu bleiben. Gerade wollte sie etwas herzlich Belehrendes sagen, als ihr das Wort auf den Lippen erstarb und ihr das Blut aus den Wangen wich.
Da kam zierlich, sehr modisch gekleidet und mit der gewollten Nachlässigkeit der Haltung, die sie immer annahm, wenn sie ihr mißliebigen Personen begegnete, Lilly von Wallwitz über die Brücke daher.
„Mein Gott, Lilly! – auf der Straße muß ich nun höflich sein,“ sagte Sibylle geärgert.
Magda ließ den Arm der Freundin fahren und faltete ihre Hände fest in dem Muff zusammen. Das Herz schlug ihr so sehr, daß die pulsenden Adern am Halse das Pelzwerk zittern machten. Und dabei zwang eine merkwürdige Neugier sie, der Ankommenden gerade und starr ins Gesicht zu sehen. Diese war es gewesen, um derentwillen sie so maßlos litt. Diese hatte er geküßt, dieser von Liebe gesprochen, um dieser willen sie zu verlassen, aufzugeben gedacht – –
Es war Magda, als müßte sie der andern ins Gesicht schreien:
„Ich weiß alles! Aber er verachtet Dich! Er hat Dich gar nicht geliebt – gar nicht! Mir gehört sein Herz.“
Lilly gab der Braut ihres Bruders die Fingerspitzen und wollte sie gnädig auch Magda reichen.
Da sah sie den starren, feindlichen Blick und sah, daß Magda ihre Hände mit einer kurzen, unwillkürlichen Bewegung tiefer in dem Muff verbarg.
Sie kniff die Augen halb zu, Kurzsichtigkeit heuchelnd, und sagte:
„Nun, Sibylle, schon wieder mit einer roten Nasenspitze und verweinten Augen? Sie müssen ein Engel sein, Fräulein Ruhland,“ wandte sie sich an Magda, „um jetzt mit unserer lieben Sibylle auszukommen.“
Sie sah dabei dreist in Magdas Augen und dachte: was hat die Ruhland, was sieht sie mich so an, will sie mir nicht die Hand geben, oder ist es Zufall?
Magdas Lippen bewegten sich, sie wollte etwas antworten, irgend etwas Herbes, Verächtliches. Aber es war ihr unmöglich. Ihre Geistesgegenwart war dieser Lage nicht gewachsen. Sie konnte sich nicht beherrschen und nur immer die anstarren, die ihr von allen Menschen dieser Erde die einzig Hassenswerte schien.
„Sollte Sibylle geschwatzt haben?“ dachte Lilly beunruhigt. Sie glaubte, diese Art Mädchen wie Sibylle zu kennen: die haben ein Dutzend allerbeste Freundinnen und vertrauen einer jeden Geheimnisse unter dem Siegel der tiefsten Verschwiegenheit an!
„Mit mir kann man sehr gut auskommen,“ sagte Sibylle trotzig, „wenn ich auch nur aus Leopoldsburg bin und wenn ich auch nicht in einer Genfer Pension dummes Zeug gelernt habe.“
Lilly zuckte die Achseln. Sie stritt sich nicht, das wäre kindisch gewesen. Aber sie ärgerte sich doch, daß Sibylle in Gegenwart der anderen diesen Ton anschlug.
„Fräulein Ruhland wird einen schönen Begriff von Deiner Erziehung bekommen, wenn sie hört, was für einen Ton Du gegen die Schwester Deines Verlobten annimmst,“ sprach sie.
„Magda weiß genau, daß ich gut erzogen bin,“ sagte sie.
„Wenn ich ihr doch sagen könnte, daß ich alles weiß,“ dachte Magda während dieses Wortgefechtes zwischen den künftigen Schwägerinnen, „wenn ich doch könnte!“
Aber sie begriff, daß sie zu schweigen hatte. René hatte ihr den Namen Lillys nicht genannt, René hatte vor ihr geleugnet, sich duelliert zu haben. Was sie wußte, wußte sie durch ihr ahnungsvolles Herz und die unverkennbaren Thatsachen. Sprechen hätte geheißen, ihn in den Verdacht der Unritterlichkeit bringen. Schweigen hieß, auf die Genugthuung verzichten, die Gehaßte klein und bang zu sehen. Magda wäre kein Weib gewesen, wenn sie nicht danach gelechzt hätte, Lilly, die eine kurze Zeit ihr die Liebe des Einen geraubt, demütigen zu dürfen. Aber sie bezwang die Aufwallung. Sie dachte, um sich vor der Versuchung zu retten: er würde mir nicht verzeihen, wenn ich etwas Kleines thäte.
„Nun, ich will das süße Zusammensein mit Dir und Deiner schweigsamen Freundin nicht mehr stören,“ sagte Lilly spöttisch. „Adieu!“
Sie hielt Sibylle die Hand hin, als habe ein liebevollstes Gespräch sie hier fünf Minuten zusammen festgehalten. Sie that es, um sie dann Magda hinreichen zu können.
Und im voraus schon faßte sie Magda ins Auge mit herausforderndem Blick.
Aber Magda wich zurück, ihre Hände sanken ihr am Leibe nieder.
„Nein,“ sagte sie klanglos, „nein!“
Dann bückte sie sich hastig und verlegen und hob den Muff auf, der ihr entfallen war. Sie ging mit schnellsten Schritten davon, ehe noch die erstaunte Sibylle eine Frage thun konnte.
Mochte diese Lilly denken, was sie wollte, mochte sie in ihr eine Wissende erraten, es war Magda alles einerlei. Nicht um die Welt hätte sie diese Hand berühren mögen, die sich einmal nach ihrem heiligsten Eigentum ausgestreckt.
Die nächsten Stunden fanden sie völlig fassungslos. Nachträgliche Eifersucht brannte ihr schmerzhaft in der Brust. Sie stellte sich immer vor, wie sein Arm sich um jene Schultern gelegt, seine Hand jenes kastanienfarbene Haar gestreichelt habe.
Es war unerträglich. „Nein,“ sagte sie sich, „ich kann es doch nicht vergessen und vergeben! Es war doch mehr als ein Spiel, es war so folgenschwer, daß sein Leben dadurch einen Riß bekam. Seine Fröhlichkeit ist gebrochen, sein Werk verloren. Und alles um diese! Nur so lange will ich in meinen Gedanken bei ihm sein und mit ihm sein, bis sich das Eine entschieden hat – bis wir wissen, ob Wallwitz leben kann.“
Drei Tage noch der Ungewißheit! Dem bangenden Warten war eine Grenze gesteckt. Aber wie die letzten Wegesstrecken immer die mühseligsten sind, so wurden auch diese drei Tage zu endlosen Zeitspannen.
Wenn auf der Treppe ein Schritt erklang, bebte Magda. Es konnte ein Bote von Sibylle sein, der Walfrieds Tod anzeigte. Wenn sie Sibylle traf, zitterten ihr die Kniee und ihr Herz schlug, bis das erste Wort über sein Befinden gesagt war. Nachts lag sie schlaflos und dachte, ob wohl der Verwundete schlafe.
Keine Seele, vielleicht nicht einmal die Sibyllens, konnte so für dies gefährdete Leben zittern wie die ihre. Kein heißeres Flehen um seine Erhaltung ward gen Himmel gesandt.
Ob René wohl wußte, daß die Entscheidung nahe bevorstand, ob er wohl, gleich ihr, die Tage in fiebrischer Spannung thatenlos verbrachte?
Sie dachte sich ganz hinein in seinen Gemütszustand und glaubte, alles zu verstehen und zu wissen, was in seinem Innern vorgehe.
Auch hatte sie sich allmählich, sich zum Trost und zur Erklärung seines völligen Schweigens, seine Zurückhaltung so ausgelegt: er gestand sich nicht das Recht auf Glück zu, so lange Walfrieds Leben in Gefahr schwebte.
„Wenn ich es doch sein dürfte, die ihm sagte, Walfried ist gerettet! Wie er aufatmen würde, welch eine Erlösung das sein würde –“
Daß sie diesen Augenblick, wenn er kam, nicht mit ihm erleben sollte, ward ihr eine bittere Entsagung.
Diese Minuten noch mit ihm durchkosten, dachte sie, und dann scheiden!
Daß man von einem Manne nicht mehr freiwillig scheiden kann, der einen mit solcher Ausschließlichkeit beschäftigt, dachte sie nicht, das ward ihr nicht klar.
Wie das Licht und die Luft um sie Bedingungen ihres Lebens waren, deren Unerläßlichkeit sie sich nicht bei jedem Blick und nicht bei jedem Atemzug bewußt ward, ebenso wenig ward sie sich bewußt, daß der Untergrund und die Begleitung ihrer wechselnden Tagesgedanken der eine, ewige Gedanke an ihn war.
Den ersten Tag, nachdem das verheißungsvolle Wort von der möglichen Genesung gefallen war, lauteten die Nachrichten [862] sehr günstig. Die folgende Nacht war unruhig gewesen, doch hatten sich keine Zeichen gefährlicher Zustände eingestellt.
Am dritten Tage fand Magda nicht den Mut, auszugehen. Sie saß daheim, zählte die Stunden, verging vor Aufregung und erwartete vergebens Sibylle.
Der Abend kam, keine Nachricht. Draußen wirbelte Schnee auf scharfen Windstößen wagerecht durch die Luft. Magda mochte nicht die alte Kathi ausschicken. Sie saß im dunklen Zimmer, sah an den Scheiben draußen den Schnee kleben und horchte auf den Wind. Die heulenden Töne machten ihr Furcht, sie klangen ihr wie Totenklage.
Kaum wagte sie, zu Bett zu gehen. Sie fing an, sich allerlei abergläubische Zeichen auszudenken: wenn der Sturm aufhöre, würde Walfried leben. Oder: wenn heute abend noch jemand käme, würde er sterben. Aber als spät noch die Frau Sekretär Böhmer herumkam, um sich von Kathi für morgen Wäscheklammern auszuborgen, sagte sich Magda: „wie kann ich nur so dummes Zeug denken!“ und als in der Nacht der Sturm nicht aufhörte, dachte sie: „wie unsinnig von mir!“
Dennoch erschrak sie am andern Morgen, als sie sah, daß ihre Uhr stand. Sie war auf halb Drei stehen geblieben. Das war ein Zeichen! Magda glaubte sich auch zu erinnern, daß ihr um halb Drei so sonderbar, so ganz schrecklich bang ums Herz gewesen.
„Ich habe einfach vergessen, die Uhr aufzuziehen,“ sagte ihr Verstand.
Aber sie ließ sie nun unaufgezogen liegen. Sie kleidete sich schnell an und erwog, ob sie nicht doch zu Sibylle gehen solle.
„Wenn sie mir dann begegnet – wenn ich das Schreckliche auf der Straße hören müßte – oder vor Zeugen – –“
Sie setzte sich ganz fassungslos in ihren Stuhl am Fenster.
O, wenn René annähernd so zu Mut war wie ihr – und mußte er nicht noch ärger leiden? – da brach diese Zeit gewiß auf immer seine Spannkraft!
Draußen klingelte es mit großer Heftigkeit. So ungestüm und andauernd drückte nur Sibylle auf den Knopf.
Magda erhob sich. Es rauschte in ihrem Kopf. So etwas wie die Vorstellung durchzuckte sie: wäre er tot, käme sie nicht. Dann gewann die Angst wieder Oberhand.
Richtig, es war Sibylle. Sie stürzte herein und Magda um den Hals. Sie drehte Magda mit sich herum und schrie in einem fort: „Er ist außer Gefahr – er ist außer Gefahr!“ Magda war ganz weiß im Gesicht. Ohne daß sie es fühlte, liefen ihr Thränen über die Wangen. Sie faltete die Hände.
„Gott sei Dank, tausendmal Dank!“ flüsterte sie leise.
Und dann lebhafter: Weiß er es schon?“
„Natürlich, der Doktor sagte es gestern abend zu ihm. Ich war dabei. Wie Walfried mich ansah – o, es war zu schön! So zärtlich! Ich glaube, er hat mich rasend lieb.“
„Nein, ich meine, ob – ob René es weiß,“ fragte Magda.
„Der wird es schon erfahren,“ meinte Sibylle, welcher dies ziemlich gleichgültig war. „Er kann sich gratulieren. Er hätte ja sein Leben lang wie so ein Kain ’rumlaufen müssen.“
„Sibylle!“ rief Magda schmerzlich. „Er muß doch furchtbar gelitten haben.“
„Das war seine gelindeste Strafe. Aber lassen wir doch den abscheulichen alten Flemming! Ich verzeih’ ihm und er geht mich nichts mehr an. Aber weißt Du was, Magda? Ach, ich muß Dir furchtbar viel erzählen – gestern war’n Krach bei uns – sonst wäre ich gleich noch gestern abend gekommen, denn Du mit Deiner rührenden Teilnahme warst doch die Nächste dazu. Aber süße, beste Magda, der Lohn bleibt nie aus – ich hab’ ’was Himmlisches für Dich in petto.“
„Ein Krach, bei Euch?“ fragte Magda, sich zur Teilnahme zwingend. Ihre heißen, glücklichen Gedanken waren bei ihm, bei ihm!
„Ja, denk’ Dir, Tante Zielendorf war so beleidigt, daß Großmama Wallwitz und Papa und Mama die Idee mit der Trauung am Krankenbett theatralisch genannt hatten. ‚Ich gebe das Geld zu dieser Heirat‘, sagte sie, ‚und da habe doch wohl auch ich ein Hauptwort dazu zu sprechen.‘ Nicht wahr, da hat sie ganz recht? Tante Sibylle ist überhaupt ein Engel. Und denk’ Dir, sie kennt ja Walfried bloß nach der Photographie, und in die hat sie sich total verliebt, er soll Tantens verflossenem Bräutigam ähnlich sehen. Papa und Mama finden es nicht. Das nahm Tante auch übel. Na, und weil ich nun immerzu heulte, daß ich nicht mit Walfried reisen kann – er soll für acht Wochen nach der Riviera, weil es doch immer ein Schuß durch die Lunge war – hat Tante sich ’was ausgedacht. Ich glaub’, bloß halb aus Liebe zu mir, halb, um die Eltern zu ärgern.“
Magda träumte vor sich hin.
„Du hörst ja gar nicht zu!“ rief Sibylle empört.
„Doch, doch,“ versicherte Magda auffahrend.
„Also – nun fall aber nicht in Ohnmacht, Alte! – Tante Zielendorf wird auch an die Riviera gehen und mich und Dich mitnehmen!“
„Mich?“ fragte Magda.
„Ja, Tante sagte leise zu mir, Du seiest die einzige gefühlvolle Seele in ganz Leopoldsburg. Kein Mensch habe sich die Sache so zu Herzen genommen wie Du. Und da sie doch fürchtet, sich zu langweilen, als Dritte bei einem Liebespaar, sollst Du mit,“ erzählte Sibylle triumphierend.
„Und Deine Eltern?“
„Die wollten erst nicht. Da sagte Tante, daß sie sich dann für die Heirat nicht mehr interessieren und kein Geld geben werde, wenn sie keinen Willen haben solle. Für die pekuniären Opfer wolle sie doch auch fortan in Walfried und mir so etwas wie Familie haben. Na, und da schwiegen die Eltern.“
„Ich kann nicht mit,“ sagte Magda.
„O, Du darfst es gern annehmen, Tante Sibylle hat scheußlich viel Geld,“ beteuerte Sibylle.
„Ich kann meinen Vater nicht verlassen.“
„Aber bitte, liebe Magda – der weiß ja doch nichts von Dir,“ sagte Sibylle.
Magda stand auf.
„Ich kann nicht!“ sprach sie ganz bestimmt. „Vielleicht wirst Du es eines Tages verstehen.“
Sibylle sah sie ganz aufmerksam an und dachte nach. Plötzlich schien ihr ein Licht aufzugehen.
„Ich bin ja wohl mit Blindheit geschlagen gewesen?“ rief sie freudig aus – erfreut über ihre Findigkeit und rücksichtslos übersehend, ob sie auch an ein zartes Geheimnis rühre – „darum warst Du neulich so sonderbar zu Lilly und wolltest ihr nicht die Hand geben! Du hassest Lilly, weil Du selbst eine hoffnungslose Liebe zu Flemming hast! Mein armes, liebes Herz!“
Sie umarmte Magda mit naivem, beleidigendem Mitleid.
„Und da bist Du bange, Lilly noch oft treffen zu müssen, ehe wir reisen? – Nein, die rutscht ab. Weißt Du, die hat sich hier tot gelangweilt. Sie hatte so’ne große Korrespondenz die letzten Tage und hat es sich so eingefädelt, daß sie am Tage, wo Walfried außer Gefahr erklärt werde – eher ging es doch Schanden halber nicht – einer Einladung zur alten Ponsdorf, ihrer künftigen Schwiegermutter, folgt. Sie wird es da wohl zu drehen wissen, daß sie sich, anstatt nächsten Herbst, schon diesen Winter mit Ponsdorf verlobt. O, ich kann mich schon im voraus schwarz ärgern, wenn ich daran denke, wie Lilly mich mit ihrer Neunzackigen und ihrem Geld noch mal anöden wird. Und Mama sagt, die Ponsdorfs sollten man still sein; der selige Graf hat seiner Zeit mit Stroußberg ’was gegründet und dabei ist er reich geworden, und Mama sagt, alles Geld von daher hat ’was Brenzliges. Wir haben nicht viel, aber vornehm sind wir, wir Lenzows. Also, was ich sagen wollte: wegen Lilly kannst Du gern kommen – die Luft ist rein von morgen ab.“
Magda sah wohl ein, daß es vor dieser Beredsamkeit kein Entrinnen gab, außer durch die Wahrheit.
„Ich kann aber doch nicht mit Herrn von Wallwitz zusammenkommen,“ sagte sie leise. „Ich war mit René Flemming heimlich verlobt, ehe – ehe – –“
Sibylle schrie beinahe auf.
„Also doch, also doch! Was mußt Du ausgestanden haben, Magda! Und hast das immer so in Dich ’reingeschluckt? O – das könnt’ ich nicht. Gott – wie mußt Du Lilly hassen – und ihn! Hör’ ’mal, das war doch schändlich von ihm. Nein, so ’was kann man nicht vergeben! Dieser Sch – –“
„Sibylle!“ rief Magda mit lauter empörter Stimme, „untersteh’ Dich, ein Wort auf ihn zu sagen! Gewiß, es war schrecklich – aber ich habe es verziehen. Wir sind versöhnt. Du bist zu jung, um einen Mann wie René zu richten.“
Die kleine Braut, die schon vor Eifersucht gezittert hatte, wenn Walfried früher mit einer anderen Dame nur tanzte, sah Magda fassungslos an.
[863] „So etwas willst Du vergeben? Aber das ist doch gar nicht zu verstehen, daß er dir untreu ward, um mit Lilly eine Liebelei anzufangen,“ sprach sie.
Sie hatte Magda immer für ein sehr stolzes Mädchen gehalten und würde es viel begreiflicher gefunden haben, wenn jetzt große Worte von Haß und Rache gefallen wären.
„Verstehen? Nicht verstehen?“ sagte Magda mit leuchtenden Augen. „Glaubst Du, daß wir Frauen einen Mann je ganz verstehen können? Und ein Mann uns? Haben wir nicht Fähigkeiten und Bedürfnisse und Empfindungen, die verschieden von denen eines Mannes sind? Glaubst Du, daß die Männer so sind, wie wir sie uns in unsern Mädchenträumen gedacht haben?“
„Mein Walfried ist so!“ schaltete Sybille ein. Magda hörte gar nicht. Sie fuhr fort, beredt, als hätte sie eine Verteidigung auf Tod und Leben zu führen:
„Wie oft ertappe ich mich darauf, jeden Tag und jede Stunde, daß ich René anklagen möchte, weil er diese und jene Regung meines Herzens, irgend ein Bedürfnis nach Trost, nach seiner Nähe, nach einem Liebeszeichen von ihm nicht befriedigt, weil er es nicht versteht! Und da muß ich mich denn endlich fragen: ja, verstehe denn ich ihn immer? Sein Herz, seinen Geist, seine Stimmungen? Glaubst Du, daß zwei Menschen einander je ganz erfassen können, bis in die allergeheimsten Falten ihres Wesens? Glaubst Du nicht, daß da Tiefen sind, die man in sich selbst nicht ahnt und die uns selbst überraschen, wenn sie sich bei irgend einer Gelegenheit vor uns aufthun? Und wie sollten wir die Abgründe, die verborgenen, in einer andern Seele alle erkennen wollen? Wie je vor Ueberraschungen auch von dort sicher sein? Und außerdem: verändern wir uns nicht? Kann ich wissen, wie ich mich in einigen Jahren entwickelt haben werde? Kann ich wissen, wohin seine Seele wächst? Nichts kann man verstehen, aber alles kann man verzeihen. Die Liebe trägt über jede Kluft des Unbegreiflichen hinüber! Aber freilich, daran muß man glauben, daß man liebt, bis in den Tod, und geliebt ist über alles – trotz allem!“
„O –“ sagte Sibylle und faltete vor Erstaunen die Hände.
„Und das bin ich!“ fuhr Magda stolz fort. „Er hat es mir gesagt, als er sich zum Tode vorbereitete. Er liebt mich. Seine Seele ist mir immer treu gewesen.“ –
Als Sibylle fort war, stand Magda wie betäubt.
Was hatte sie alles gesagt? Waren das Gedanken gewesen, die, langsam, langsam in ihrem Herzen emporgewachsen, sich nun endlich in klare Worte gekleidet hatten? Sprach sie das alles, um ihn zu verteidigen, weil es ihr unmöglich war, Anklagen, die ihre Seele vielleicht selbst erhoben hatte, von andern Lippen laut zu hören?
Oder hatte sie es für sich selbst gesprochen, um mit lauten Worten die ewig nagenden stillen Zweifelgedanken sich zur Ruhe zu zwingen?
Mutlos neigte sie das Haupt. Sie redete sich ein, nur für Sibylle so gesprochen zu haben, um Sibyllens schnelle Zunge und kindisches Urteil zum Schweigen zu bringen. Sie hätte es eben nicht ertragen, ihn schmähen zu hören.
Auch sah Sibylle ja nur das eine Unbegreifliche: die kurze Treulosigkeit. Die vielen anderen kleinen Züge – klein und doch so unaussprechlich wichtige Zeugenschaft ablegend – die davon sprachen, daß René immer anders dachte und handelte, als Magda sich gedacht haben würde, daß er müsse – nein, die sah Sibylle nicht und ahnte auch nicht, daß er jetzt viele, viele Tage hatte vergehen lassen, ohne Magda auch nur ein Zeichen seines Gedenkens zu geben.
„Was wird er jetzt thun?“ dachte Magda, „wenn er erfährt, daß Wallwiz gerettet ist? Wird er versuchen, all die schrecklichen Erinnerungen abzuschütteln? Wird er versuchen, wieder zu arbeiten? Seine Natur hat gewiß entsetzlich gelitten unter dem stillen thatenlosen Leben. Kommt er jetzt endlich zu mir und bittet mich: hilf mir wieder das Gleichgewicht finden, mache mir Mut, zu meinem Werke zurückzukehren? Und wird dann alles wieder gut werden?“
All diese Fragen beantwortete sie sich dann mit einem harten „Nein!“
„Nein, wenn ich nicht mit ihm leiden durfte, will ich auch nicht mit ihm glücklich sein.“
[877]Zwei Tage nachher saß Magda zum erstenmal wieder bei der Arbeit. Sie wollte sich zwingen, thätig zu sein, und ihre kleine Freundin gab ihr einen Anlaß dazu.
„Weißt Du,“ hatte Sibylle mit der ihr eigenen Offenheit gesagt, „malen thust Du mir ja doch ’was zur Hochzeit. Und da möchte ich lieber ’ne ganze Menge Kleinigkeiten haben. Das füllt so nett. Tambourin und Kuhglocke und ein paar Gläser, oder eine Bocksbeutelflasche und so ’was. Alles billig und niedlich, wie es für ’ne Lieutenantswohnung paßt.“
Das kam Magda gerade recht. Indem sie an Spielereien sich versuchte, gewann sie vielleicht wieder Geschmack an der Arbeit.
Nun hatte sie eine kupferne Kuhglocke vor sich auf dem Tische und malte mit einer großen Emsigkeit eine Schweizerlandschaft [878] darauf, einen kleinen See, von dem aus rings Tannenwald aufstieg, den graue und weiße Gipfel überragten. Es war die Landschaft, die ihr Glück gesehen. Ihre Erinnerung sah keine andere, kannte keine andere, ihre Erfindungsgabe konnte keine andere schaffen.
Langsam füllten sich ihre Augen mit Thränen.
Sie hob den Zipfel ihrer grauen Malschürze und wischte sich die Augen aus. Sie malte weiter. Aber wieder stieg es ihr naß in die Augen und sie legte die Palette hin, stützte die Ellbogen auf und legte weinend ihr Gesicht gegen die gefalteten Hände.
Mit einem Male schrak sie zusammen. An der Thür hatte sich etwas gerührt. Sie mochte ein Klopfen überhört haben. Wenn irgend jemand sie weinen sähe! Sie sprang auf und wandte sich um.
„René!“ schrie sie.
Ja, da war er. Mit strahlendem Angesicht kam er herein und warf ein großes Paket, das er unter dem Arme getragen, auf den nächsten Stuhl. Er breitete die Arme aus und umfaßte Magda stürmisch. „Da bin ich!“ rief er, „da bleib’ ich! Nun ist alles gut – alles – alles!“ Er bedeckte ihr Gesicht mit Küssen und sah sie dazwischen an wie ein zärtliches und glückliches Kind. Seine Freude war ganz unbefangen und ganz ungetrübt. Endlich aber mußte er fühlen, daß sie wie leblos seine Küsse duldete, und endlich bemerken, daß sie ganz bleich aussah.
Solche Mienen hat die Freude nicht.
„Magda,“ bat er ängstlich, „verdirb uns nicht die Stunde! Was hast Du? Zürnst Du mir? Weil ich Dich damals, an jenem schrecklichen Morgen, heimschickte? Aber sieh, ich bin so ein Mensch – ich muß in der Stille mit mir fertig werden – weißt Du, wie die Tiere im Walde, die sich auch verstecken, wenn sie leiden.“
„Daß Du mich an jenem Morgen wegschicktest,“ sagte Magda mühsam und hielt die Augen niedergeschlagen, weil sie sich vor den seinen fürchtete, „das that mir weh! Ganz fürchterlich weh! Aber schließlich – es ließ sich verstehen – es handelte sich um eine Sache, die ich nicht wissen durfte – von der man damals noch nicht wissen konnte, wie sie ausging. Aber, daß Du auch nachher ...“
„Was nachher?“ fragte er, faßte ihre beiden Oberarme an und sah ihr bezwingend in das Gesicht. Aber ihre Lider blieben gesenkt. Sie fühlte, daß sie vor seinem zärtlichen Blick ihre Haltung verlieren würde.
„Nachher las ich, daß Du Urlaub genommen habest. Ich dachte, Du wärest geflohen. Dann hörte ich, Du seiest hier. Und da – da ... Ich will es nicht mehr ertragen! Wenn Du mich vierzehn lange Tage entbehren konntest, Tage, in denen Du, von Sorgen verzehrt, von Angst und schrecklichen Gedanken gefoltert, ein unthätiges, trauriges Leben geführt haben mußt, wenn Du da nicht, in solchen Stunden, meine Nähe brauchtest, dann brauchst Du mich überhaupt nicht. Wenn ich nicht mit Dir leiden soll, will ich auch nicht mit Dir glücklich sein!“
Es war gesagt! Nun war es aus. Dies mußte er begreifen!
Aber René nahm ihr Gesicht zwischen seine Hände, küßte ihr die zusammengepreßten Lippen, die sich ihm durchaus nicht öffnen wollten, und sagte:
„Aber ich habe ja gar nicht gelitten, so wie Du Dir das denkst!“
Sie sah ihn an, zum erstenmal. Und unter seinem leuchtenden, zärtlichen Blick röteten sich ihre Wangen. „Du hast nicht gelitten?“ fragte sie unsicher. Und erinnerte sich doch, damals sein Gesicht verzerrt von Schrecken gesehen, sein Herz bang und schwer klopfen gehört zu haben.
René richtete sich auf. „Schweigen wir von den Stunden, bis ich wußte: er lebt! Dann begann das Ringen!“
Er ging an den Stuhl, auf welchen er das große Paket geworfen. Er nahm es sorglich auf und trat damit an das Fenster.
„Komm!“ sagte er.
Magda kam zögernd näher. Sie sah, daß René einen großen dicken Folioband von dem grauen Papier befreite.
Und René legte den Band auf den Tisch, indem er einfach alle Gegenstände zurückschob, wobei die arme Kuhglocke mit der Schweizerlandschaft auf die volle Palette fiel und alle Pinsel auf die Erde rollten. Er schlug das Buch auf und deutete mit dem Finger auf die Worte, die groß die erste Seite schmückten.
„Was steht da?“
Magda glaubte nicht zu sehen, was doch ihre Augen deutlich sahen.
Da stand: „Meiner teuren Magda gewidmet.“
Er schlug um. Das weiße Papier knisterte und blähte sich.
„Und da?“ fragte er, seinen Arm um Magda legend.
Auf der zweiten Seite stand: „Filippo Lippi, Musikdrama in drei Aufzügen von René Flemming.“
Magda wich zurück. Sie sah auf das Buch und auf René und wieder auf das Buch. „Das – das ist – doch nicht ...“ stammelte sie.
„Das ist mein fertiges Werk und heut’ in fünf Wochen führen wir es auf!“ rief er jubelnd.
Magda legte die Hand vor die Stirn. Sie bewegte den Kopf – langsam – schüttelnd – als müsse sie verneinen, was sie da sah, als könne es nicht sein, als stehe sie vor Unfaßbarem.
„Du hast – arbeiten können?“ fragte sie endlich.
„Und wie! Es war eine gesegnete Zeit!“
„Und – und die Sorge – trübte Dir nicht die Stimmung?“ fragte sie weiter.
„Wär’ ich ein Mann,“ fragte er feurig entgegen, „wenn ich nicht stärker sein wollte als die Sorge?“
„Aber – Dein – Gewissen? Wenn er nun doch gestorben wäre? Dabei konntest Du arbeiten?“ wiederholte sie nur immer.
„Mir war’s,“ rief er, „als erarbeitete ich mir sein Leben vom Schicksal! Und wenn auch nicht! Was geschehen war, blieb unabänderlich. Es war schrecklich genug. Schwäche aber wäre Schuld gewesen und hätte das Geschehene noch vergrößert! Denn was ich bin und was ich kann, ist mir nicht zum Vergeuden gegeben! Ich soll mein Pfund verwalten! Nicht in thatenloser Reue verkümmern lassen!“
Magda stand regungslos da, aber in ihrem Kopf wirbelte es von Gedanken. Dies alles war wirklich: sie stand in ihrem Arbeitszimmer, der grelle Wintertag sandte sein schmerzendes Licht durch die Fenster, drüben auf den schneebelasteten Dächern glitzerten die Krystalle in der Sonne. Und hier war René und sprach zu ihr – da lag sein Werk! – Sie träumte nicht!
Obgleich sie von der rein materiellen Thätigkeit, die das Niederschreiben einer solchen Partitur macht, keine rechte Vorstellung hatte, obgleich sie nicht wissen konnte, wie weit der geistige Gehalt des Werkes schon vordem in Renés Kopf fertig gestanden, ahnte sie doch, daß da eine Summe ungeheurer Arbeit vor ihr lag.
Während sie thatenlos und zitternd verzagte, hatte er gearbeitet! Während sie kaum imstande gewesen war, ihre häuslichen Pflichten zu erfüllen und ihre bescheidene Malerei auszuüben, Dinge, die gewiß keine große geistige Sammlung erforderten, hat er mit einer eisernen Entschlossenheit gearbeitet! Er hatte sein hohes Ziel keinen Tag lang aus den Augen verloren!
Im mutigen, mannhaften Ringen war er seiner Kunst nachgegangen. Unbekümmert um Leben und Tod, um Schuld und Gefahr, um Reue und Mitleid, hatte er einzig seinem Werke gelebt!
Welch ein Mann! War das höchste Kraft oder höchste Kälte? Welch ein Mann! Und welch eine unberechenbare, unergründliche Seele die seine! Sie bereitete ihr immer neue Ueberraschungen.
Er hatte immer anders gehandelt und anders empfunden, als Magda sich ausgemalt, daß er handeln und empfinden werde.
Ein Zittern überflog Magda. In ihr wallte etwas auf wie Demut vor seinem mächtigen Wesen. Sie sah ihn an, scheu noch, als wage sie nicht an das Unerhörte zu glauben.
Und er sprach weiter, innig und zärtlich:
„Dir konnte ich keine Kunde von mir geben. Wenn es einmal aufwallen wollte, mächtig und unbezwinglich, spät in der Nacht, wenn mich die Arbeit nicht zur Ruhe kommen ließ, das süßeste Verlangen nach Dir – weißt Du, dann ließ ich’s nicht laut werden. Alles mußte niedergehalten werden, alles! So viel Kummer hast Du erlitten durch mich – nun solltest Du auch stolz sein – mein fertiges Werk mußte ich Dir bringen – mir war’s, als dürfte ich vordem nicht zu Dir kommen. Und nun ist es fertig und nun bin ich da und ich frage Dich: willst Du mich noch – willst Du mich noch?“ Er zog sie an sich und sie schlang ihre Arme um seinen Hals. Mit ihrem Kuß empfing er das neue, das heilige Gelöbnis, daß sie ihm für immer ergeben sei.
Sie wußte es von diesem offenbarenden Augenblick an, daß sie ihn fraglos und vertrauend lieben könne, daß das quälende Verlangen, ihn bis in jede Falte seiner Seele immer ergründen und verstehen zu wollen, von ihr gewichen sei. Sie wußte, sie würde ihm fortan die Freiheit lassen, sich auszuleben, wie es seiner Art notwendig war; nicht aus weiblicher Feigheit, die wenigstens den Teilbesitz festhalten will, weil sie den ganzen [879] Besitz eines Mannes niemals haben kann, sondern aus Achtung vor der Kraft seines Wesens!
Auch begriff sie weiter, daß ein Mann, der mit sicheren, stolzen Schritten einem großen Ziele zustrebt, nicht immer sorgsam zusehen kann, ob sein Fuß da und dort zarte Keime zertritt. Und daß solche Wanderer manchmal heißeren Durst haben als die, welche in der Ebene wandeln, und daß die Ausblicke von den Höhen, auf denen sie stehen, sie manchmal das Kleine, Naheliegende, Alltäglichmenschliche übersehen lassen.
Ob dies Werk sich nun als ein vollkommenes oder als ein verfehltes erweisen würde: immer bewies es die Willenskraft seines Schöpfers, immer die männliche Ueberlegenheit eines Geistes, der durch Versuchung und Schuld, durch Leichtsinn und widrige Schicksalsverkettungen unbeirrt seine Bahn verfolgte!
Er war einer von den Männern, die sich in ihrer Arbeit völliger aussprechen als in ihrer Liebe. Magda fühlte es mit Schmerz und Wonne. Mit Schmerz, weil ihr offenbar ward, daß das Glück eines Weibes immer mit einem Zusatz von Entsagung erstritten und behauptet wird, mit Wonne, weil sie von heißem Stolz erfüllt war auf diese seine Arbeit.
„Und willst Du,“ fragte René ernst, „mutig auch eine Niederlage mit mir tragen?“
„Eine Niederlage? Dein Werk? Als ob das möglich wäre – hier!“ rief sie. Sie löste sich von ihm und nahm die Partitur in ihre Hände und sah erwartungsvoll hinein, als könnte sie aus den schwarzen Noten Leben und Klang herauslesen. „Gewiß, es wird rasenden Beifall geben – haben sie nicht sogar die ‚Zenobia‘ beklatscht?“ fuhr sie fort.
„Liebes Kind, denkst Du denn, ich habe keine feinen Ohren – könne nicht Leopoldsburger Lokalerfolge von dem echten, großen, dauernden unterscheiden? Spektakel und Lorbeeren genug wird es geben. Aber ob das Werk wirklich etwas Wert ist, das können nur Zwei wissen,“ sagte er.
Sie legte den Band wieder hin, doch hielt sie die Hand darauf gestützt. Ihr war, als müßte sie das Werk in Schutz nehmen gegen die Zweifel seines Schöpfers. „Nur Zwei? Wer?“
„Du und ich!“ sprach er und sah sie nachdenklich an.
„Ich,“ sagte Magda verwirrt, „ich verstehe doch so wenig … gar nichts vom Technischen ... wie soll ich ..?“
„Aber Du hast die feinen klugen Ohren der Liebe, den brennenden Ehrgeiz für mich, die Todesangst, ich könnte unter meinem Ziel geblieben sein. Du vor allen Menschen stellst die höchsten Anforderungen an mich. Wo das Publikum jubelt, wirst Du noch denken: das können andere auch. Nur wo ich Höchstes, Neues, Erschöpfendes, Ergreifendes bringe, wirst Du vergessen, daß Du mein bist, daß ich Dich liebe. Und das mußt Du vergessen, wenn Du das Kunstwerk als solches empfinden sollst! Ich kenne Deine Liebe zu mir wohl, Magda, und weiß, wie sie geartet ist, Du hast in Zorn und Schmerz zu oft meine Fehler und Menschlichkeiten in Deinen Gedanken durchgenommen, zu oft vor der Frage gestanden, Dich von mir loszulösen, als daß ich denken sollte, Deine Liebe sei blind. Sie ist streng und richtet mich, und weil sie zu genau meine Schwächen als Mensch erkennt, fordert sie tausendfach Höheres vom Künstler. Darin allein findet sie für mich Sühne und Entschuldigung. Und wie Deine Liebe ist, ist sie mir recht. Denn ich weiß, wenn ich ihr genug thue, habe ich wahrhaft etwas geleistet. Und darum sollst Du, Magda, mein Richter sein!“ Er hatte in schwerem Ernst gesprochen, als ein Mann, der auch gefaßt ist, eine Niederlage zu ertragen.
Magda fiel ihm um den Hals. Sie war sprachlos vor Glück.
Aus seinen Worten klang ihr wie ein beseligendes Geständnis entgegen, daß er sie in unbegrenzter Achtung ehre, und daß er nicht von ihr in blinder Sklavinnenliebe angebetet sein wolle. Daß er in ihr wahrhaft sah, was sie zu sein begehrte: die Genossin seines Lebenskampfes. Und alles, was sie in der vergangenen Zeit gelitten, trat noch einmal vor sie hin. Sie übersah es wie etwas, das nun außer ihr stand und das sie klar zu beurteilen vermochte. Sie hob das Haupt und schaute den Geliebten an. „Darf ich versuchen, Dir zu erklären, wodurch ich so gelitten habe?“ fragte sie lebhaft.
Er fürchtete, sie möchte auf seine Treulosigkeit zurückkommen. Helle Röte stieg in sein Gesicht.
„Laß das Vergangene,“ bat er.
„Nein,“ sprach sie und legte beide Hände mit einer beredten bittenden Gebärde ineinander, mit leuchtenden Augen zu ihm aufschauend. „Wenn es gesagt ist, ist es ganz überwunden. Du kannst mich später, wenn mir der Hang wiederkäme, dann an das erinnern, was ich Dir erklären will. Ich muß jetzt immer an die Sage von Amor und Psyche denken, und daß es Psyche verboten war, ihn zu sehen. Sie aber beschlich ihn nachts mit der Lampe, und als sie ihn gesehen hatte, entfloh er. Siehst Du, ich meine, der Sinn ist so: wir Frauen vertragen kein Geheimnis, kein Unbegreifliches. Wir wollen immer ergründen; jede Handlung des geliebten Mannes, jeden seiner Gedanken, jede seiner Stimmungen, jedes seiner Worte wollen wir verstehen und bis auf die tiefste Wurzel der Gründe bloßlegen. Das gelingt uns nicht, eine Mannesseele und ein Mannestemperament sind für ein Frauenherz nie ganz zu verstehen. Und weil uns manchmal Ueberraschungen werden und weil wir manchmal vor Rätseln stehen, kommen wir schließlich dazu, auch das Einfache, Bedeutungslose, nur obenhin Gesagte als Deckmantel für ein Geheimnis anzusehen. So, mein René, so bin ich immer mit der Lampe der Psyche an Dich herangeschlichen und beinahe wäre mir darüber die Liebe entflohen. Seit heute aber weiß ich es gewiß: die Liebe muß sein wie der Glaube: stark, auch wo man nicht sieht und nicht versteht. Und darum darf ich erst jetzt wirklich sagen, ich liebe Dich! – Ich liebe Dich!“ rief sie mit hinreißendem Feuer aus.
Von einem dankbaren Glücksgefühl ohnegleichen überwältigt, zog René die Geliebte an sich.
Von diesem Tag an begann eine Zeit froher Unruhe für Magda. Sie sah den Geliebten fast jeden Tag, obschon er so in der Arbeit saß, daß die Minuten ihm wertvoll waren. Oft aß er bei ihr, weil diese kurze Stunde sich noch am leichtesten für Magda aufbewahren ließ. Magda gewöhnte sich deshalb an eine frühere Speisestunde und daran, für ihren Vater, der immer stiller und schwächer ward, eine besondere Tagesordnung innezuhalten. Sie sah mit Ueberraschung, daß sich beide Pflichten, die gegen René und die gegen den Kranken, sehr gut vereinen ließen.
René hingegen, immer Feuer und Flamme von dem, was er am Morgen gethan, oder für das, was er am Abend noch zu thun hatte, beachtete den alten Mann kaum mehr. Er empfand weder Abneigung, noch Störung seiner Fröhlichkeit. Ruhland saß auch immer sauber, friedlich und viel schlummernd in seinem Stuhl; die feindseligen Anwandlungen gegen Fremde waren verschwunden.
Die Leopoldsburger hatten unendlichen Gesprächsstoff. Daß René Flemming und Magda Ruhland sich nun doch verloben würden, war stadtbekannt. Die einen sagten, es solle Weihnacht veröffentlicht werden, die andern, nach der Aufführung des „Filippo Lippi“. Als das Weihnachtsfest vorüberging, ohne daß in der „Leopoldsburger Zeitung“ die beiden Namen untereinander gestanden hatten, schienen die zweiten recht zu bekommen.
Ueber die Gründe der Verzögerung und den vorausgegangenen Roman wurden die ungeheuerlichsten Sachen erzählt. René habe erst gar nicht gewollt, aber da sei Hortense von Eschen ihm mit Magda Ruhland in die Wohnung gerückt und habe ihm das Ehrenwort abgenommen, das Verlöbnis zu halten. Er habe erstens überhaupt noch nicht heiraten wollen und dann sich auch an der Geisteskrankheit der alten Excellenz gestoßen, so was sei doch erblich. Unsinn sagten die andern, die Excellenz habe Gehirnerweichung und das sei niemals erblich, hingegen habe René Flemming, der ein notorischer Don Juan sei, noch irgendwo eine Braut sitzen gehabt, von der er sich erst frei machen mußte.
Und Schulden habe René Flemming! Das würde eine schöne Wirtschaft geben, besonders da Magda Ruhland wenig oder gar nichts besitze. Dann hieß es mit einem Male, der Herzog habe alle Schulden bezahlt, zehntausend, nein zwanzig-, dreißigtausend Mark. Und die reiche Frau von Eschen, die doch auch ein bißchen in René Flemming verliebt war, schenke Magda eine märchenhafte Aussteuer. Auch solle René Flemming am Abend der Aufführung seines „Filippo Lippi“ eine ganz besondere Auszeichnung haben, einen schönen Titel oder gar den Sternenorden, da er das Hauskreuz schon besitze. Ja, die Schwäche des guten Herzogs ging eben ein bißchen weit!
Die Thatsachen waren in Wirklichkeit sehr erheblich einfacher, als die Leopoldsburger sich dachten.
Es widerstrebte Magda, sich schon vor aller Welt ihres Glückes zu freuen, so lange Sibylle noch an einem Krankenbett zu wachen hatte. Wenn René und sie ihre Verlobung jetzt veröffentlichten, mußte Magda ihn im Lenzowschen Hause vorstellen. Sie wollte Sibylle diese Begegnung ersparen. Walfrieds Genesung schritt [882] sicher, wenn auch nicht sehr rasch vor, man hoffte, daß das Brautpaar mit der Baronin Zielendorf Ende Januar abreisen könne. Später, wenn sie wiederkehrte, wenn Wochen auf Wochen, versöhnend wie die Zeit immer ist, dahingegangen sein würden, dann mochte Sibylle auch wieder dem Mann die Hand reichen können, durch den sie – ohne seinen Willen – gelitten hatte.
Als Magda dem Geliebten diese ihre Gründe andeutete, die sie bestimmten, abermals ihren Bund noch geheimzuhalten, hatte René ihr nur schweigend die Hand geküßt und sie mit einem tiefen, liebevollen Blick lange angesehen.
Daß trotzdem ihr bevorstehendes Verlöbnis öffentliches Geheimnis war, bemerkten sie gar nicht, befangen in jener gewissen Naivetät, die glückliche Menschen annehmen läßt, daß die Umgebung sich nicht um sie kümmere, weil sie sich nicht um die Umgebung kümmern. Hortense ließ ihnen die Unbefangenheit, fühlte sich als Brautmutter und brachte alle praktischen Fragen in Fluß.
Da waren also zunächst Renés Schulden. Nachdem Hortense und Magda ihm gut zugeredet hatten, fing er nach vielem Seufzen und Schelten an, zu rechnen. Er wandte eine ganze Abendstunde dran, unbezahlte Rechnungen aus all seinen Schreibtischfächern zusammen zu suchen. Dabei fand er eine ganze Menge kleiner Schuldscheine: hier hatte er einem Kollegen ein paar hundert Mark gepumpt, da einem Freund aus der Patsche geholfen, dort einem Theatermitglied in Krankheit und Not beigestanden.
Er war selbst ganz erstaunt. Die meisten Namen und Summen hatte er ganz vergessen gehabt – und sah nun mit einem gewissen objektiven Interesse die alten und neuen Geschichten durch. Er kam mit vergnügter Resignation zu dem Schluß, daß die sämtlichen Schuldscheine keinen Heller Wert hätten – denn wie hätte er mahnen oder drängen können? – verbrannte den ganzen Kram und nahm sich vor, fortan allen Anpumpereien etwas mehr Festigkeit entgegenzusetzen und jeden Fall mit Magda vorher zu besprechen.
Die Aufstellung seiner Schulden bereitete ihm eine freudige Ueberraschung. Voll kindlichen Stolzes erzählte er den beiden Damen, daß es nur ein paar tausend Mark seien.
Hortense bestand darauf, sie bezahlen zu dürfen.
„Nein, nein,“ sagte René lachend, „ich muß einmal merken, wie das schmeckt. Ich habe für meinen ‚Filippo Lippi‘ die erste Honorarzahlung allernächstens vom Verleger zu empfangen. Anstatt nun für unsere künftige Häuslichkeit etwas kunstvoll Schönes zu kaufen, fang’ ich gleich an, Schulden zu bezahlen. Geht der ‚Filippo‘ nur einigermaßen, so ist die ganze Sache bald erledigt.“
Und schon wenige Tage nachher zog er eine Menge zerknüllter Quittungen aus der Tasche, zeigte sie fröhlich Magda und ernannte sie für alle zukünftigen Zeiten zu seinem Finanzminister.
Hortense konnte es aber nicht ertragen, gar nicht als handelnde Person bei der ganzen Sache aufzutreten. Sie beschloß darum ihrerseits, die Frage, was mit der alten Ercellenz geschehen solle, zu lösen. René hatte neuerdings gesagt, der alte Mann störe ihn gar nicht, aber selbst Magda fürchtete, daß dies nur in der jetzigen so überreichen Stimmung von Lebensfröhlichkeit der Fall sei. „Ich will ihn zu mir nehmen,“ sagte Hortense, „er kann in meinem Hause zwei Zimmer haben und dort mit seinem Wärter leben, solange es Gott gefällt. Bitte, liebe Magda – keine Rührung! Bitte, lieber René – keinen Dank! Es ist ja bloß ein Zugeständnis an Magdas Einbildungskraft. Im Grunde genommen ist es für den Kranken und damit für Dich und uns ja ganz gleich, ob er bei Euch, bei mir, oder im Hospital bei den Grauen Schwestern lebt; er hat es überall gleich gut. Aber Magda bildet sich ein, es wäre herzlos, es thäte ihr weh, den Vater im Hospital zu wissen. Und so soll sie denn ruhig glauben, es wäre schöner, rührender, inniger, wenn ihr Vater unter meinem, statt unter einem fremden Dach weiter lebt.“
Trotz dieser kühlen Betrachtung dankten die beiden ihr aber doch aus innerstem Herzen. Sie wußten ja, daß all’ die nüchterne Weltweisheit nur angenommene Farbe war, mit der Hortense ihre schmerzlichen Erfahrungen übermalte.
Ein großer innerer Zwiespalt entstand Magda noch aus dem Testament Nicolais. Es erwies sich, daß dieser ihr sein kleines Vermögen hinterlassen hatte. Das Testament war vom Anfang des Oktobers datiert. Nicolai hatte also den Entschluß gefaßt, Magda seine Habe zu vererben, nachdem er von ihrer Liebe zu René Flemming erfahren. Sie hätte diese Erbschaft lieber nicht empfangen. Und hier mußte ihr die kluge Menschenkennerin Hortense wieder den Schlüssel geben zu Nicolais That.
„Siehst Du, es ist eine Art von Egoismus. Er, der Dich liebte, wollte auch nach seinem Tod in Deiner Erinnerung sein, gleichsam teilhaben an Deinem Heim; er wollte Dich nicht ganz und gar René überlassen. Wenn das Geld von ihm Dir hier und da gestattet, Dir einen Wunsch zu erfüllen, wollte Nicolai sich sagen: es muß, es wird ihr sein, als hätte ich ihn ihr erfüllt. Er gönnte es Deinem Manne nicht, daß Du alles, alles von ihm habest. Er wollte auch dazu beitragen, es Dir bequem zu machen. Sein Vermächtnis zurückweisen, hieße das Andenken dieser feinen, keuschen Seele kränken. Es mag Dich auch trösten, daß Du es niemand entziehst, denn er hatte keine Familie mehr. Und es mag Dich auch beruhigen, daß es nicht das Vermächtnis eines Krösus ist, sondern daß wir noch gerührt, ja voll Ehrfurcht staunen können, wie der Mann mit den Zinsen dieses kleinen Kapitals zu leben verstand. Wenn Du ganz in Nicolais Seele handeln willst, richtest Du Dir Euer Heim damit vollständig ein.“
„Dazu wird die Hälfte genügen,“ sagte Magda, „und wenn es René recht ist, lassen wir für die andere Hälfte ein schönes Denkmal auf Nicolais Grab setzen, einen Todesengel oder dergleichen, in seinem Stil. Sonst hab’ ich keine Ruhe.“
„Wieder eine schöne Einbildung,“ bemerkte Hortense, aber wie ich René kenne, wird er freudig einverstanden sein.“
Mitte Januar reiste die Baronesse Zielendorf mit Sibylle und Walfried, begleitet von einer Zofe und einem Diener, ab. Sibylle fand sich sehr freudig gehoben durch diesen „Train“ und die ganze teure vielbeneidete Reise. Ihre kindliche Eitelkeit fand soviel Befriedigung in der Situation, daß sie ganz versöhnlich gegen René Flemming gestimmt ward, ohne dessen „schreckliche Unthaten“ doch schließlich auch diese großartige Reise nach Italien nicht zustande gekommen wäre.
Magda ging mit viel Selbstüberwindung zum Bahnhofe, denn ihr Herz bebte davor zurück, dem Manne zu begegnen, der sich zum Richter über René aufgeworfen und ihn so leiden gemacht hatte. Sie sah oft in Walfried nicht den Verwundeten, der ihr Mitleid verdiente, sondern den Mann, der durch seine Herausforderung René beinahe mit der Vernichtung eines Menschenlebens belastet hatte.
Am Bahnhof war es voll von Abschiednehmenden. Sibylle stand zwischen all’ den Freundinnen und den Kameraden Walfrieds und nahm Blumen entgegen und kam sich vor wie eine reisende Hoheit.
Der Zug, der an Leopoldsburg, mit acht Minuten Aufenthalt, seinen Weg vorbei zum Süden nahm, fuhr gerade in die Halle. Dampf fuhr weiß und zischend aus dem eisernen Körper der Lokomotive und aus den unter dem Zug entlang laufenden Heizungsröhren. Ein furchtbarer Lärm erfüllte die Halle.
Tante Zielendorf redete übermäßig besorgt in Wallwitz hinein, der ein wenig bleich, aber sonst gut anzusehen, in der Coupéecke saß. Magda trat heran. Herr von Wallwitz wußte so gut wie jedermann in Leopoldsburg, wessen Braut Magda Ruhland war. Aber sein Gesicht behielt den freundlich ernsten Ausdruck, der ihm immer eigen war. Er gab Magda die Hand und dankte ihr für die treue Liebe, welche sie seiner kleinen Sibylle bewiesen habe.
Sibylle aber, in der namenlosen Aufregung, in welcher sie sich befand, mochte sekundenlang vergessen haben, was Walfried und sie von René trennte, oder es war eine ihrer „großen“ Aufwallungen – genug, sie sagte laut und freundlich:
„Grüß auch René Flemming noch vielmals von uns.“
Es blieb unentschieden, ob sie es mit oder ohne Bedacht gethan. Magda sah nur ein Zucken über Walfrieds Gesicht gehen, ward fortgedrängt und stand nun inmitten aller anderen Abschiednehmenden, während Sibylle einstieg.
„Adieu – adieu!“ rief es vielstimmig hinter dem Zuge her und noch eine Weile sah man neben der Wagenschlange, die schnell und schneller fortglitt, Sibyllens weißes Tüchlein wehen.
Magda ging glücklich nach Hause. Ihr war, als habe ein Lebensabschnitt einen lösenden Abschluß gefunden und als dürfe sie nun ganz frei an ihr eigenes Glück denken.
In acht Tagen war die Erstaufführung des „Filippo Lippi“. Am Abend nach der Vorstellung gab Herr von Rechenbach ein Fest und dort endlich sollte alle Welt es hören, daß sie Renés Braut sei und Ostern schon sein Weib werden dürfe.
In den letzten Tagen vor der Aufführung ließ René sich nicht sehen. Und ganz allmählich wurde Magda von einem [883] entsetzlichen Zustand befallen. Mehrmals am Tage ward ihr schwindlig, sie war außerstande, zu essen. Sie fuhr nachts aus ängstlichen Träumen auf und litt an schwerem Herzklopfen.
„Du hast Lampenfieber,“ sagte Hortense ihr auf den Kopf zu.
Magda leugnete es. Sie glaubte so fest an den wahren, dauernden Erfolg; der sichere Lokalerfolg nahm ja ohnedies dem Abend die Gefahr einer direkten Niederlage. Sie erwog auch zuweilen mit kaltem Blut die Möglichkeit, daß das Werk verfehlt sein könne. Nichts von Renés Bedeutung, nichts von der Größe seiner Begabung würde es abstreichen, wäre wirklich dieses erste Werk ein Fehlgriff gewesen. Das sagte sich Magda mit Stolz.
Ja, zuweilen verlor auch der Gedanke an die Möglichkeit einer Niederlage für sie seine Schrecken. Auch aus einem Unglück des geliebten Mannes saugt ein rechtes Weib noch das Glück, ihn trösten, ihm erhöhte Liebe zeigen zu dürfen.
Aber nach solchen Augenblicken entsetzte sie sich fast über ihren Liebesegoismus und ward von glühenden Wünschen erfüllt für seinen Sieg und seinen Ruhm.
Am Morgen des Aufführungstages steigerte sich ihr Zustand bis zur Unerträglichkeit. Ob wohl auch René unter der Erwartung ähnlich litt? Sie hätte ihm gern einige zärtliche Grüße gesandt, aber bescheiden unterdrückte sie das Verlangen: er sollte sehen, daß sie verstand, ganz zurückzutreten, wenn er im heißen Kampf seines Berufslebens stand.
Ganz grundloserweise ward ihr besser, als sie begann, sich festlich anzukleiden. Sie wählte dasselbe hellblaue Gewand, das sie auf der verunglückten Zenobiasoirée getragen hatte. Sie wählte es ungern, denn eine peinvolle Erinnerung knüpfte sich daran. Aber Magda gehörte nicht zu den Damen, die zwischen vielen Festkleidern herauszusondern haben, was ihnen just gefällt – es war eben noch ihr einziges Staatskleid. Tapfer kämpfte sie die Erinnerung nieder.
Und von Hortense kam eine köstliche Sendung: Maiblumen in Hülle und Fülle, für Handstrauß und Taillenschmuck.
Als Magda sich, eine halbe Stunde vor Beginn des Theaters, so prächtig angethan im Spiegel sah, ward ihr so fröhlich und sorglos wie bei Frühlingswetter. „Festkleider und Sonnenschein haben eine verwandte Wirkung auf ein ängstliches Gemüt,“ dachte sie.
Ehe sie hinabging, suchte sie ihren Vater auf. Er konnte ihr nichts sagen und ihr keinen Segen mitgeben. Aber sie streichelte sein weißes Haar und küßte seine Stirn und legte einige von den frischen Blütenstengeln in seine Hand. Ihr wurden die Augen feucht dabei.
Unten erwarteten sie Herr und Frau von Rechenbach im Wagen, die sich für diesen Abend das Vorrecht ausgebeten hatten, sie zu beschützen. Magda sollte auch in der kleinen Intendantenloge mitsitzen; dieselbe befand sich unmittelbar neben der Bühne und durch eine kleine Thür konnte man direkt in die erste Coulisse gelangen.
Im Wagen wußte Herr von Rechenbach von dem glänzenden Ausfall der Generalprobe zu erzählen und von dem interessanten Publikum, welches heute das ausverkaufte Haus füllen werde. Aus Berlin, Dresden und München und anderen Theaterstädten seien Intendanten oder Bevollmächtigte derselben anwesend. Seine Hoheit habe versprochen, heute abend noch das Fest zu beehren und René Flemming persönlich eine Auszeichnung zu verleihen.
Magda hörte nur mit halbem Ohr zu. Sie sah während der kurzen Fahrt zum Fenster hinaus. Jede Dame, die im Pelzmantel und Kopftuch in der Richtung zum Opernhaus ging, jeden Herrn, der ein Opernglas trug, sah sie mit einer gewissen persönlichen Anteilnahme an – diese alle, die da durch den schneehellen Winterabend ins Theater gingen, sollten über sein Werk zu Gericht sitzen.
Im Theater ward Magda wieder schwindlig. Das Gefühl, welch eine furchtbare Sache die Oeffentlichkeit ist, überkam sie in jäher Erkenntnis. Alles, was in stillen, heiligen Schaffensstunden entstanden war, alles, was aus den keuschesten tiefsten Gründen der Seele schmerzhaft selig sich emporgerungen – hier sollte es nackt und bloß preisgegeben werden, an tausend Menschen, mit tausend verschiedenen Sinnen und Gedanken. Die Neugier, das Uebelwollen, das Unverständnis, die Gleichgültigkeit sollte das Werk mit einem gewaltigen Griff erfassen und niederzwingen. Dieser ganzen unruhigen, flüsternden und lachenden Menge sollte er gegenüber treten mit seinem Werk – ihr die Stirn bieten – gleichsam seine Brust aufreißen und hinausschreien: seht, das kann ich! Das fühle ich! Das denke ich! Das ist meine ganze Seele, die ich Euch heute zeige!
Magda faltete die Hände krampfhaft um ihren zusammen gelegten Fächer. Sie wollte nicht zittern, nicht zucken.
Wie mußte erst ihm ums Herz sein! O, gewiß köstlich kampfesfreudig, königlich mutig! Gefaßt, auch einen Mißerfolg hinzunehmen als nichts Schlimmeres denn eine Lehre!
Ja, er war der Mann, sich und seine Kunst beim Publikum durchzusetzen, müßte er auch mit ihm ringen und wieder ringen.
Und noch einmal begriff Magda es: Schritte, die auf solchen Wegen kraftvoll vorwärts wandern, können nicht darauf achten, ob sie einen zarten Keim zertreten.
Jetzt trat René in den Orchesterraum. Er sah sehr bleich aus und grüßte nicht zu der Intendantenloge hin. Aber sein Schritt war fest und seine Hand, die den Taktstock ergriff, zitterte nicht. Er wandte sich noch zu dem Konzertmeister und sprach einige Worte. – Dann nickte er nach rechts und links seiner Truppe, wie er immer vor dem entscheidenden Zeichen that, auffordernd zu.
Und diese Sekunde, wo René mit erhobenem Taktstock stand, wo die Augen aller Orchestermitglieder, wo die Augen des ganzen Hauses an ihm hingen, diese Sekunde dünkte Magda eine Ewigkeit.
Dann zuckte der Dirigentenstab und ein voller C moll-Accord setzte ein.
Magda brach in Thränen aus.
Frau von Rechenbach drückte ihr teilnehmend die Hand.
Langsam faßte Magda sich und Ruhe kam in ihr Herz, als sie hörte, daß alles mit glänzender Sicherheit und Hingabe wiedergegeben wurde. Sie hatte sich eingebildet, es würde irgend etwas Besonderes geschehen – irgend ein im Theaterleben noch nie dagewesener, schrecklicher Zufall. Während des Vorspiels trat das herzogliche Paar in die Hofloge, was eine erhebliche Ablenkung der Aufmerksamkeit verursachte, denn die Herzogin erschien so selten im Theater, daß sie dann stets von neugierigen Blicken gesucht ward.
Die leise, kurze Unruhe, die durchs Haus ging, gab Magda vollends ihre Sammlung.
Der Vorhang ging auf. Magda sah das ganze ihr wohlbekannte Drama an sich vorüberziehen und hörte den rasenden Applaus und sah, wie René sich nach den ersten zwei Aktschlüssen verbeugte. Und sie selbst lachte und sprach aufgeregt mit ihren Freunden und hatte ein heißes, rotes Gesicht. Dabei aber war es ihr, als müßte sie immer fragen: ist das Werk wirklich von René Flemming? Sie konnte es gar nicht fassen, daß da ein Zusammenhang war, daß derselbe Mann, den sie liebte, in ihren Armen gehalten hatte, den sie heiraten wollte, ein und dieselbe Persönlichkeit mit dem Schöpfer dieses Werks sein sollte. Es war, als wenn dies außer ihr und außer ihm bestehe, als ob das noch eine andere Existenz sei, eine ganz für sich.
Die tiefen, gewaltigen, sich immer steigernden Schönheiten der Musik hörte sie hingerissen an und sie sah wohl, daß René dirigierte – aber sie sah ihn dirigieren wie bei einem anderen Werk von einem anderen Meister.
Und indem sie dieses Wunder anstaunte, daß es einen doppelten René Flemming gäbe, begriff sie zugleich das Phänomen seiner geistigen Unabhängigkeit.
Er kam nicht zu ihr in den Zwischenakten. Es seien da immer noch allerlei Kleinigkeiten mit den Sängern zu besprechen, sagte der Intendant und René sei nicht abkömmlich. Magda hatte auch gar nicht daran gedacht, daß er zu ihr hereinkommen solle.
Aber als er zum dritten Akt den Orchesterraum betrat, nickte er ihr zu, strahlend und stolz.
Der dritte Akt hatte ein Vorspiel in kirchlicher, tiefernster Stimmung. Als der Vorhang aufging, sah man die Hallen der Kirche der heiligen Margarethe und den malenden Mönch am Bilde der Heiligen arbeiten, das die Züge der Lucrezia Buti trug. Dann kam der Nonnenchor, der von einer erhabenen Einfachheit und Eindringlichkeit war. Die Erkennungsscene folgte. Lucrezia raunte dem Geliebten zu, sie zu erwarten. Und dann kam, nachdem der wiederaufgenommene Nonnenchor allmählich verhallte, eine furchtbare Scene, wo der lebensdurstige, liebesrasende und schaffensmutige Filippo Lippi mit heißer Gier sich an das reiche Dasein klammert, während er das tötende Gift in seinen Adern fühlt, das Piero di Cosimo ihm beigebracht.
Das Publikum saß wie unter einem Bann. Bärwald sang und spielte grandios. Und dann kam Lucrezia Buti herein, bereit zur seligen Flucht mit dem Heißgeliebten. Die Kaspari fand für die Raserei des jäh sie befallenden Schmerzes erschütternde Töne. Und als die Wucht des Unglücks sie an der Leiche des Geliebten fast erdrückt zu haben schien, erhob sie sich, einer gigantischen [884] Rachegöttin und Prophetin gleich, und jubelte dem Mörder und Rivalen ihres toten Gatten die Unsterblichkeit von Filippos Liebe und Filippos Ruhm entgegen. –
Magda fühlte eine Hand auf der ihren, fühlte sich fortgezogen und folgte mechanisch. Eine kleine Thür that sich auf und ein fremder, seltsamer Raum umfing Magda. Bemalte Leinwand und Lampen hinter Schutzgitter und Latten und Gebälk überall.
Sie stand mit Herrn von Rechenbach in der ersten Coulisse. Und vor ihr auf der Bühne bewegten sich allerlei Menschen: René, inmitten der Sänger, Bärwald an der einen, die Kaspari an der anderen Hand, und sie verbeugten sich, und immer wieder drang das dröhnende, erschütternde Geräusch des Beifalls neuentfacht zur Bühne empor. Kränze flogen hinauf.
Und Magda sah zu, als wäre das noch eine Aufführung für sich, daran sie keinen anderen Anteil habe als den des Zuschauens.
Endlich hatte das Publikum ausgerast und da entstand eine neue Bewegung auf der Bühne, indes mit schwerem Rasseln der eiserne Vorhang niederging.
Die buntgekleideten Menschen, mit Perücken und Schminken umarmten René und er umarmte sie wieder und er küßte sie alle und des Jubelns war kein Ende. Sie waren seine treuen, tapferen Streitgenossen und ihm in diesem Augenblick viel werter und viel wichtiger als alle Ehren der Welt und alle Auszeichnungen, die ihn noch an diesem Abend erwarten mochten.
Sie waren die Kameraden seines Sieges und er dankte ihnen.
„Bärwald, mein Junge,“ rief er, „Du hast Dich ins Zeug gelegt … großartig!“ Er küßte ihn.
„Und Du, Kaspari! Die Lucrezia Buti macht Dir Deinen Ruf! Der Berliner und der Münchener wollen Dich beide haben, mitsamt meinem ‚Filippo‘. Das sichert mir auch dort den Erfolg! Du warst kolossal!“
Und er küßte auch die Kaspari.
Sie aber, das schöne, volle Weib sah ihm tief in die Augen und ihre Augen waren naß. Sie mochte mancher arbeitsfröhlichen und mancher lebenslustigen Stunde mit ihrem lieben Kapellmeister gedenken. Sie schüttelte ihm fest die Hand.
Magda, von einem unwiderstehlichen Drang getrieben, kam näher und näher. Die ganze Scene erschien ihr so natürlich, so selbstverständlich. Auch sie hätte alle diese Hände schütteln und all diesen begeisterten Künstlern danken mögen. Sie sah, daß alle außer sich waren und keiner imstande, das Maß des alltäglichen Gebahrens innezuhalten.
Und sie sah und hörte ohne zuckende Eifersucht – ja mit einem heißen Empfinden des Mitgefühls, der dankbaren Freude.
Da bemerkte René sie. Er that einen Jubelruf, sprang auf sie zu und schloß sie kurz in seine Arme. Dann nahm er ihre Hand und trat mit ihr in den Kreis der Künstler.
„Hier,“ sagte er, „Euch zuerst sei sie vorgestellt! Das ist meine Magda, meine Braut, bald mein Weib! Mein lieber, mein strenger, mein guter Engel!“
„Hoch!“ rief Bärwald, „hoch unseres Meisters Meisterin!“
Und brausend umhallte der Ruf die vor Glück weinende Magda.
„Nein,“ dachte sie, „nicht seine Meisterin, sein treues, geduldiges Weib!“
René ergriff ihre beiden Hände. Mit einem festen und großen Blick sahen sie einander in die Augen. Sie wußten es, nicht alle Stunden der Zukunft konnten so glänzend sein wie diese, sie würde auch ihnen, wie allen Sterblichen, mehr Kämpfe als Siege bringen.
Und Magda wußte auch, daß es vielleicht ihr tragisches Los sein werde, jede Stunde des Glücks mit bitteren Thränen der Sorge zu bezahlen; immer neu streiten zu müssen um seine Liebe, um seinen Besitz.
Aber in ihr lebte der heilige Glaube, daß ihre Treue die Erlöserin sein werde, wenn das Leben den leidenschaftlichen Mann wieder und wieder in Gefahr bringen sollte, sich zu verlieren.
Sie fühlte sich emporgetragen zu jenen Höhen der Liebe, die über allen Zweifeln und über aller Selbstsucht steht.
Und René fühlte, daß ihre Liebe in dem Sturm seines Lebens wie ein Fels sein würde: unerschütterlich und unveränderlich.
In ihren Seelen brannte der heilige Wille, einander Glück zu geben. Und indem sie mit heißen Blicken dies Gelöbnis tauschten, umbrauste sie noch einmal der frohe Jubelruf: „Hoch Meister René und seine Braut!“