Vor der Berufswahl/Die deutsche Lehrerin im Ausland
Vor der Berufswahl.
„Wenn meine Nichte im Examen durchfällt, schicke ich sie nach England,“ sagte vor zwei Jahren meine Tischnachbarin im Hotel in Friedrichroda zu mir. „Dann lassen Sie sie gut kochen lernen,“ erwiderte ich, „sie kann, wenn sie sich erst mit der englischen Küche vertraut gemacht hat, mehr verdienen als manche Lehrerin, die nicht im Examen durchgefallen ist, der es aber an fremdsprachlichen Kenntnissen und Musik fehlt.“
Etwas von oben herab wurde ich von der Dame belehrt, daß es sich um die Nichte einer Dame von Stellung handle, welcher der Deutsche Lehrerinnenverein in London schon eine gute Stelle verschaffen würde, wenn der Herr Direktor selber darum schriebe. Meine bescheidene Bemerkung, daß genannter Verein sich durch die Empfehlung einer ungenügenden Kraft doch wohl nicht würde schaden dürfen, würdigte die Frau Direktorin keiner Antwort, sie wußte ja nicht, daß der Zufall sie gerade neben ein Vorstandsmitglied des Vereins gesetzt hatte. Meine damalige Tischnachbarin ist aber die einzige nicht, die da meint, für das Ausland seien alle die längst gut genug, die in Deutschland nicht vorwärts kommen, und doch stellt kaum eine andere Nation der Erde größere Ansprüche an die Lehrerin als gerade die englische. Dazu kommt, daß die Konkurrenz durch englische Lehrerinnen, denen die Universitätsstudien offen stehen, immer stärker wird [198] und daß die Leute für ihr Geld daher immer mehr verlangen. Man kann darum deutsche Lehrerinnen nicht eindringlich genug davor warnen, ohne gründliche wissenschaftliche Ausbildung und ohne mindestens eine Fremdsprache zu beherrschen oder eine gründliche musikalische Ausbildung zu besitzen, nach England oder auch nach Amerika gehen und Geld verdienen zu wollen. Stellen für die deutsche Sprache allein giebt es in guten Schulen nur für solche, die schon lange in England waren, gründliche Literaturkenntnisse haben und des Englischen vollkommen mächtig sind. Auch um Musik und Harmonie zu lehren, muß man das Englische ziemlich gut innehaben. Als Anfängerin im Lande kann selbst die tüchtigste Kraft nicht mehr als 50 bis 60 Pfund Sterling, also 1000 bis 1200 Mark Gehalt bei freier Station beanspruchen. Ohne Musik, für Sprachen allein werden etwa 30 bis 40 Pfund Sterling gegeben. Schulen zahlen weniger als Familien. Eine sogenannte finishing governess, die allen wissenschaftlichen Unterricht erteilt, Klavier, Zeichnen, Sprachen, dazu oft auch noch Latein und Mathematik unterrichtet, kann 100 bis 130 Pfund Sterling erlangen. In vielen, ja in den meisten Fällen wird allerdings das scheinbar hohe Gehalt dadurch illusorisch, daß die Lehrerin dreimal im Jahre während der im ganzen 10 bis 14 Wochen dauernden Ferien das Haus verlassen und aus ihrer eigenen Börse leben muß. Bei geringem Gehalt empfindet die Lehrerin diese erzwungenen Urlaubsreisen als eine besondere Härte, der sie dann durch den Notbehelf der sogenannten Ferienengagements zu begegnen sucht. Handarbeits- und Turnlehrerinnen werden nicht gesucht.
Wenn Eltern ihre Tochter als Lehrerin in die Fremde ziehen lassen, so geschieht das gewöhnlich unter dem gewiß begreiflichen Vorbehalt, daß sie nicht „aufs Ungewisse“, aufs Geratewohl fortgehe. Sie soll eine Stelle „in der Tasche“ haben. Die Besorgnis der Eltern, die ihre Tochter in guten Händen wissen möchten, ist ohne Zweifel überall da am Platz, wo dieselbe allen Gefahren preisgegeben wäre, ohne den Rückhalt befreundeter Familien oder eines „Heims“ zu haben, wie es deren jetzt in den ausländischen Großstädten giebt. Meistens wissen solche Eltern nicht, daß nichts ungewisser, nichts bedenklicher ist als eine Stelle, die man sich von Deutschland aus in England gesichert zu haben glaubt. Der einigermaßen gebildete Engländer hat den berechtigten Wunsch, die künftige Lehrerin seiner Kinder persönlich zu kennen, ehe er ihr sein Vertrauen schenkt. In England giebt es jederzeit so viele deutsche Lehrerinnen, daß er hier finden kann, was er sucht. Wendet er sich nach Deutschland, so hat er seine Gründe, die man oft zu spät verstehen lernt, wenn man in die Familie oder Schule eingetreten ist. In vielen Fällen ist Armut oder auch Geiz die Veranlassung; eine aus Deutschland direkt bezogene Lehrerin ist oft für wenig oder nichts zu haben! Sie wird meist aufs gewissenloseste ausgebeutet, schlecht ernährt, und die vorher gemachten Versprechungen in Bezug auf englischen Unterricht werden selten eingehalten. Solche Stellen sind es dann immer, die den besorgten Eltern in Deutschland nebelhaft als das gesuchte „Gewisse“ entgegen winken!
In der höchsten Not, nachdem man sein Geld für schwere Agentengebühren u. dergl. umsonst ausgegeben hat – sogar eine Stelle ohne Gehalt von Deutschland aus beträgt 42 Mark Gebühren, in England 21 –, wendet man sich an den Deutschen Lehrerinnenverein. Stöße von Klagebriefen sind innerhalb der 18 Jahre, die der Verein besteht, im Vereinsbureau eingelaufen. Dann ist es aber oft gar schwer, zu helfen! Einer tüchtigen jungen Kraft kann man weit leichter einen ersten Posten besorgen als einen zweiten, wenn die vom ersten gewonnene Referenz unbrauchbar ist.
Früher bestand das Hauptgewerbe eines großen Teils der englischen Agenturen in dem Herüberlocken junger unerfahrener Lehrerinnen in solche schlecht oder gar nicht bezahlte Stellen. Diesem Treiben setzten unsere ausländischen Vereine in Verbindung mit dem Allgemeinen Deutschen Lehrerinnenverein kein geringes Hindernis entgegen. Alle Vereine deutscher Lehrerinnen im Inlande und Auslande haben durch die Centralleitung der Stellenvermittlung in Leipzig, Pfaffendorfer Straße 17, die genaueste Fühlung miteinander, und wer irgendwohin ins Ausland gehen will, kann nichts Besseres thun, als sich nach dem Bescheid richten, der ihm von der Centralleitung in Leipzig wird. Allerdings placiert man in den Vereinen überall nur wirkliche Lehrerinnen und Erzieherinnen. Für solche, denen die nötige Ausbildung fehlt, kann durch ihn nichts geschehen. Daß nur Sachverständige (Lehrerinnen) die Stellenvermittlung leiten, ist natürlich ein großer Vorteil.
Eltern, welche ihre Tochter eine einigermaßen sichere Laufbahn in England anfangen lassen wollen, thun gut, dieselbe mit dem Deutschen Lehrerinnenverein, 16 Wyndham Place, Bryanston Square, London W., in Verbindung treten zu lassen, ehe sie irgend einen entscheidenden Schritt thut. Durch die Agentur des Deutschen Lehrerinnenvereins in England wurden im ersten Jahre seines Bestehens schon 45 Lehrerinnen mit Arbeit versorgt; seitdem hat sich die Zahl der alljährlich besetzten Stellen auf 200 und darüber vermehrt. Wem Sprachstudium in England Hauptzweck ist und wer über die Mittel zu einem sechsmonatigen Aufenthalt gebieten kann, den verweisen wir an das St. Albans College, 19 Lansdown Crescent, West Kensington Park, London W. Der Pensionspreis in diesem Haus stellt sich einschließlich vierstündigen täglichen Unterrichts auf 25 bis 35 Mark die Woche.
Die Lehrerin, die nach England und Amerika gehen will, sei nicht zu jung, aber auch nicht zu alt, nicht unter 23 und nicht über 40 Jahre, wenn sie es zum erstenmal in der Fremde versucht. Ohne Ausweis über erfolgreiche Lehrtätigkeit ist es in jedem Alter sehr schwer unterzukommen. In Oesterreich, Rumänien und Ungarn werden meistens ältere Damen gesucht, die schon in England gewesen sind. In Frankreich findet die Deutsche selten gut bezahlte Stellen als Erzieherin, aber eher noch Privatstunden als in London, wenn sie auch oft herzlich schlecht bezahlt werden. Der dortige Verein hat im Jahre 1894 siebzig Stellen besetzt. Aus Italien kommen fortwährend Warnungen, sein Glück als Erzieherin dort lieber unversucht zu lassen. Der vor zwei Jahren in Florenz gegründete Deutsche Lehrerinnenverein arbeitet unter den äußersten Schwierigkeiten und mit noch geringen Resultaten. In Florenz und Neapel sind durch die unermüdlich thätige Frau Salis-Schwabe vortreffliche deutsche Kindergärten ins Leben gerufen worden, und die in den Hauptstädten Italiens gegründeten Schulen für die Kinder deutscher Kolonisten sind zweifellos höchst segensreiche Einrichtungen, es ist aber eine Illusion, wenn deutsche Lehrerinnen deswegen hoffen, an diesen Orten auch ein Arbeitsfeld zu finden. Um die französische Sprache zu erlernen, gehen viele deutsche Lehrerinnen gern nach der französischen Schweiz oder nach Belgien. Doch giebt es in diesen Ländern sehr wenige annehmbare Stellen. Gewöhnlich wird nicht einmal Gehalt gewährt, ja es wird häufig noch die Zahlung einer kleinen Pension zu aller Arbeit verlangt. Vor solchen Stellen kann erfahrungsgemäß nur dringend gewarnt werden. In der Türkei stellt man mit Vorliebe Französinnen an. Nach Konsulatsberichten war Japan niemals ein Feld für ausländische Lehrerinnen, was auch von anderer Seite bestätigt wurde. In Rußland sind seit ungefähr 15 Jahren die Gehälter nicht nur mehr und mehr gesunken, sondern für die deutschen Lehrerinnen ist dort überhaupt kein Boden mehr. Früher, unter dem Kaiser Alexander II., galt Rußland als Eldorado für die deutschen Erzieherinnen, die fertig Französisch sprechen und gut Klavier spielen konnten. Der wissenschaftliche Unterricht wurde und wird auch jetzt noch meist von Russen erteilt.
Wo heutzutage die Privatlehrerin noch gut bezahlt wird, da verlangt man von ihr, daß sie ohne die Hilfe anderer Lehrkräfte den gesamten Unterricht erteilen kann, besonders wenn die Familien auf dem Lande wohnen. Selbst in der Stadt, wo die Schüler Kurse besuchen, erfordern die Vorbereitungsstunden für diese Kurse besonders deshalb viel Wissen, weil sehr oft die Lehrerinnen den Schülerinnen das verständlich zu machen haben, was die Lehrer nur andeuten.
Um das Gesagte zusammen zu fassen: heute kommt überall im Auslande nur die deutsche Lehrerin vorwärts, die etwas Gründliches gelernt hat. Eltern, die ihre Töchter in der Fremde nach dem Erwerb suchen lassen wollen, den das Vaterland ihnen nicht bietet, sollten bedenken, daß sie sie damit in erhöhtem Maße dem Kampf ums Dasein aussetzen und daß sie dazu einer geistigen und sittlichen Ausrüstung bedürfen, die sie befähigt, in jedem Treffen zu stehen und dem deutschen Namen im Auslande Ehre zu machen. Helene Adelmann.