Westphälische Sagen und Geschichten/Die Zerstörung der Irmensäule

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Autor: H. Stahl alias Jodocus Temme
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Titel: Die Zerstörung der Irmensäule
Untertitel:
aus: Westphälische Sagen und Geschichten
Seite 253–265
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Entstehungsdatum:
Erscheinungsdatum: 1831
Verlag: Büschler’sche Verlagsbuchhandlung
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Erscheinungsort: Elberfeld
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[253]
Die Zerstörung der Irmensäule.


Es sind schon tausend Jahre und mehr verflossen, seitdem einst auf der Halbinsel Jüttland ein Vetter des Dänenkönigs Goddrick, Namens Clodoald, als Statthalter herrschte. In früheren Zeiten war er ein glücklicher Mann gewesen, geliebt von seinem Könige, seinen Unterthanen und seiner Familie. Allein ein Sieg, den er über die Normanen erkämpfte, indem er ihre räuberischen Einfalle in Jüttland mit Gewalt zurückschlug, sollte auf einmal sein Glück und seine Zufriedenheit zerstören. Dieß grausame Volk sann auf eine entsetzliche Rache für den erlittenen Unfall, und führte diese dadurch aus, daß es dem Statthalter seine beyden Kinder, Clodoald, einen Knaben von zehn und Hildegardis, ein Mädchen von acht Jahren, mit List raubte. Der arme Vater ward untröstlich, denn er liebte die Kinder sehr, und sein Herz hing an ihnen. [254] Er rüstete Kriegsschiffe und Heere aus, um sie zurückzugewinnen; er sandte Boten und Gesandten in alle Weltgegenden, in alle Länder. Allein alle seine Bemühungen und Sorgen waren fruchtlos; nicht einmal eine Spur der Geraubten konnte er entdecken. Jahre verschwanden und verschwanden wieder, Ein Bote kehrte nach dem Anderen zurück, aber von den geraubten Kindern brachte Niemand Kunde.

Die Zeit war wohl im Stande gewesen, das Haar des unglücklichen Vaters zu bleichen, allein seinen Gram konnte sie nicht verlöschen und nicht vermindern. Vierzehn Jahre waren vergangen, der Letzte seiner Boten war zurückgekehrt, umsonst wie die Uebrigen. Da entschloß sich der Greis, der noch Kräfte zu einem solchen Unternehmen in sich spürte, selbst die gefahrvolle Reise anzutreten und seine geliebten Kinder aufzusuchen. Mit seinem, nach dem Raube seiner Erstgebornen, ihm noch nachgebornen Knaben Hyazinth machte er sich auf den Weg, und durchstrich die Länder Europa, Asien und Afrika von Einem Ende bis zum andern, und fragte und forschte überall nach den Geraubten, und bekam nirgends Bescheid und nirgends eine Spur von ihnen. Da erkannte er in Demuth den Willen der Götter, die ihm sein Liebstes nicht zurückgeben wollten, und, wenn auch mit zerrissenem Vaterherzen, doch diesen höheren Willen ehrend, machte er sich auf den Rückweg in die Heimath.

Sein Weg führte ihn durch das Land Westphalen, wo er bey einem theueren Verwandten einkehrte, um sich einige Tage auszuruhen, und zu dem Ende seiner Reise zu stärken. Der Verwandte nahm ihn mit auf eine große Jagd, die er in den ungeheuren Forsten der [255] Gegend veranstaltet hatte. Auf dieser verirrte sich Clodoald, in der Hitze des Verfolgens, und gerieth in einen unermeßlichen, undurchdringlichen Wald, von dem er kein Ende und keine Grenzen erspähen konnte. Allein er achtete nicht hierauf, und, von Jagdlust getrieben und von seinem Sohne Hyazinth gefolgt, drang er immer tiefer in das Dickicht des Waldes. Bald sah er auch seinen Eifer belohnt, denn ein ungeheurer Eber wurde von ihm aufgetrieben.

Der Wald aber, in den er gerathen war, war der heilige Hayn der Westphalen, in dem die Altäre ihrer vornehmsten Gottheiten, und die Sitze ihrer obersten Priester und Priesterinnen waren; der Eber aber, dessen Fährte er verfolgte, war der geheiligte Eber des Hayns; das Schlachtbild der Deutschen. Der unglückliche Clodoald wußte dieß nicht; eifriger hitziger verfolgte er das gewaltige Thier, holte es ein, bestand einen schweren Kampf mit ihm und erlegte es.

Aber wie das Thier seinen Geist aushauchte, da brüllte es fürchterlich, daß der ganze Wald erbebte, und alle Thiere des Waldes brüllten mit ihm, und der Tag wurde zur Nacht, und ein furchtbares Unwetter erschütterte den weiten, unendlichen Forst; Blitz folgte auf Blitz, Donner auf Donner, Krach auf Krach. Menschenstimmen mischen sich darein, und schrieen und wehklagten fürchterlicher, als Thiere und Elemente, und der entsetzliche Ruf nach Rache durchschallte den Wald und hallte tausendfach von allen Seiten wieder.

Entsetzt schmiegte der Knabe Hyazinth sich an den Vater, und suchte Hülfe gegen diese Schrecken; allein der Greis stand selbst schwankend und zitternd, denn [256] alle Kraft der Sehnen und Muskeln fühlte er urplötzlich aus seinem Körper entweichen, und seine Augen waren mit ewiger, undurchdringlicher Nacht bedeckt. Das Rachegeschrey kam unterdeß immer näher und näher, und füllte schauerlicher den Wald, und in wenigen Minuten waren der Greis und Knabe von einem zahllosen Haufen Priester und Krieger umringt, deren Augen Wuth, Rache und Mordgier sprüheten. Von neuem wehklagten sie, und zerrissen ihre Kleider, zerrauften ihre Haare, zerschlugen ihre Waffen, als sie den heiligen Eber starr, in seinem Blute schwimmen sahen. Dann fluchten sie dem Frevler, der dieses gethan, und unter Androhung der entsetzlichsten Martern ergriffen sie Clodoald und seinen Knaben.

Es geschah dieses gerade zu einer Zeit, als der große Carl auf dem Reichstage zu Worms die Vertilgung der Heiden und die Einführung des Christenthums in Sachsen beschworen hatte, und zur Lösung seines Schwurs ein gewaltiges Kriegsheer jetzt rüstete und im Begriffe stand, mit demselben in das Herz des Sachsenlandes einzufallen. Der Herzog Wittekind und die Priester hatten wohl Kunde davon bekommen, und während jener im Lande umherzog, um Vertheidiger des väterlichen Heerdes zu werben, verkündeten die Priester und ihre Orakel schwere Beleidigung der Götter und entsetzliches Unheil der Völker, das daraus folgen werde, und feuerten durch Gesänge und Wunderzeichen den Muth des Volks zur rasenden Wuth an. Was Waffen tragen konnte, versammelte sich in dem heiligen Hayne, am Altare der Irmensäule, und brannte vor Begierde, den beleidigten Göttern zahlreiche, blutige Opfer zu bringen.

[257] Daher kam es, daß das Wehklagen der Priester und Krieger, die den armen Clodoald umringt hielten, bald verstummte, und eine wilde Freude dafür den Wald erfüllte. Man schlachte sie als Opfer des erzürnten Gottes, den Greis und den Knaben! riefen laut die Priester, und Knechte stürzten herbey, die Unglücklichen in Fesseln zu schlagen und sie an den Altar Irmins zu schleppen. Doch der blinde Clodoald strengte seine letzten Kräfte an, um sich und sein Kind zu retten, und einem so entsetzlichen Tode zu entgehen. Allein er hatte nur Ohnmacht der wilden Kraft entgegenzustellen. Da bat und flehete er. Er stellte sein Alter, und die Jugend seines Knaben vor, und seine Verwandtschaft mit dem Könige Goddrick und mit dem Herzog Wittekind, der sein Vetter war.

Wirklich legte sich die Wuth der Priester, sie wurden ruhiger und traten berathschlagend zusammen; nach einer Weile aber verkündeten sie dem Greise, der, von den Göttern mit plötzlicher Blindheit gestraft, kein untadeliges Opfer mehr seyn konnte, seine Freyheit; den Knaben Hyazinth aber nahmen sie mit, am Fuße der Irminsäule ihn der beleidigten Gottheit zu schlachten. Vergebens flehete der elende Greis, vergebens bat er, ihn anstatt des unschuldigen Knaben zu opfern; umsonst füllten seine erloschenen Augen sich mit Thränen, der Wald sich mit seinem Wehklagen. Unter wilden Gesängen zogen die Heiden mit dem Kinde fort, und ließen den Greis allein in dem dunkeln Walde.

Lange noch irrte er hier einsam umher und weinte und wehklagte, und forderte umsonst von den Göttern sein Kindlein zurück. Endlich begegneten ihm zwey [258] fremde Ritter, die des Weges kamen, und die sein Jammern in seine Nähe lockte. Sie erkundigten sich nach seinem Elende, er theilte es ihnen mit, und schnell waren die Ritter entschlossen, den Knaben zu befreyen und ihn dem armen Vater zurückzugeben.

Früh am anderen Morgen wurde der Knabe Hyazinth aus den Wohnungen der Priester zum blutigen Opferaltare geführt. Er war festlich geschmückt mit weiten, glänzenden Kleidern, eine goldene Binde umgab seine bleiche Stirne, frische Blumen hingen in sein blasses Gesicht. Haufen von Priestern führten ihn in ihrer[WS 1] Mitte und sangen Lieder zum Lobe der Götter. Schon nahen sie sich dem furchtbaren Altare, schon sieht der Knabe auf hoher Säule den kolossalen Gott mit Helm und Rüstung, in der rechten Hand die wehende Fahne, in der linken den gewaltigen Speer; schon erblickt er zu den Füßen desselben der furchtbaren Henker, Mordlust in allen Zügen, hoch das Mordbeil emporschwingend. Die Gesänge der Priester werden wilder, als sie sich dem Gotte nahen, das Herz des Knaben schlägt ängstlicher, lauter. Da stürzen auf hohen Rossen, mit geschwungenen Schwertern, zwey Ritter in den feyerlichen Zug, und verlangen mit lauter, befehlender Stimme die Herausgabe des zum Opfer bestimmten Knaben. Die Priester erheben ein furchtbares Geschrey um Hülfe, das den ganzen Wald durchdringt und von allen Seiten Gewaffnete herbeyführt. Allein die Schwerter der Ritter fallen zerschmetternd und zernichtend, zerstreuen die Haufen der Göttendiener, brechen sich überall blutige Bahn, und dringen siegend in die Nähe des gefesselten Knaben. Da drängen sich die Priester in dichten Reihen und in immer engeren [259] Kreisen um ihr Opfer, und suchen es schnell zu ersticken, ehe die freche Hand der Räuber es erreichen können.

Als das die beyden Ritter sahen, ließen sie vom Kampfe nach, und baten mit milderer Stimme um Freylassung des Knaben, und erboten sich, dafür mit den wilden Thieren, den Bären, Wölfen und Löwen zu kämpfen, die den Gott bewachten. Ihr Erbieten wurde angenommen, und die Ungethüme fielen brüllend unter den nervigen Fäusten der Ritter. Aber anstatt den Knaben freyzulassen, erhoben die Priester jetzt von neuem wildes Geheul und wehklagten über die Beleidigungen, die ihren Göttern widerfahren seyen. Und wie nun von allen Seiten neue Haufen von Kriegern herbeystürzten, ihren Götzen zur Hülfe, da wurden die Ritter von der Macht der gegen sie Anstürmenden fast erdrückt, ihre Rosse sanken todt unter ihren Leibern dahin, und die durch so vielfache und schwere Anstrengungen Erschöpften mußten ohnmächtig erleiden, wie auch sie in Fesseln geschlagen wurden.

Laute Freudengeschreye durchjubelten jetzt den Wald, und jauchzend wurden der Knabe und die beyden Ritter zu dem Altare geschleppt, um auf der Stelle der beleidigten Gottheiten geopfert zu werden. Aber da trat hinter einer heiligen Eiche die Oberpriesterin des Gottes hervor, ernst und majestätisch, eine hohe Gestalt, angethan mit weißen, wallenden Kleidern, das Antlitz mit einem dichten Schleyer bedeckt, und überschaute mit einem ernsten, klaren Auge den empörten Haufen, und kein Laut wurde mehr gehört, und keine Gestalt bewegte sich mehr.

Lange dauerte diese Stille, wie des Grabes. Da trat der erste Priester hervor und sprach mit dem Tone [260] der Demuth: Heilige Jungfrau, wir bringen die drey Opfer, dem beleidigten Gotte zur Sühne! Befiehl, daß sie geschlachtet werden, damit ihr Blut den Ewigen angenehm sey, und sie unseren Waffen Sieg verleihen mögen.

Die Blicke der Jungfrau weilten lange auf den drey unglücklichen Schlachtopfern, anfangs kalt und ruhig, als wenn Beruf und Gewohnheit sie gegen den schrecklichen Anblick schon abgestumpft hätten. Auf einmal aber wurden sie unruhig, und dunkle Gluth färbte schnell ihre bleichen Wangen, um einen Augenblick darauf der Blässe des Todes Platz zu machen. Sichtbar durchzuckte ein tiefer Schmerz ihre Seele, allein mit bewunderungswürdiger Gewalt sammelte sie sich rasch, und, indem sie das Auge zum Himmel emporhob, und dann langsam auf die Versammlung vor sich wieder niedersinken ließ, sprach sie mit fester, ruhiger Stimme: Der Opferplatz ist entheiligt durch freches, wildes Kampfgetümmel! Heute darf den Göttern kein Blut hier fließen! Kehret morgen zurück. Wenn der Mond heute Nacht seinen höchsten Punkt erreicht hat, werde ich den Willen der Götter erforschen, und morgen ihn Euch verkünden! Entfernt Euch jetzt, damit der Hayn von den heutigen Gräueln gereinigt werden könne.

Die Menge wollte ehrerbietig dem Befehle der den Göttern heiligen Jungfrau gehorchen. Aber der Oberpriester hielt sie. Er hatte das Erbleichen der Priesterin bemerkt, und seine tückische Seele ahnte Verrath. Jungfrau! sprach er hastig, aber ohne die Ehrfurcht aus den Augen zu setzen, die er der Oberpriesterin schuldig war. Es sind schon größere Gräuel [261] hier verübt worden, und doch floß Blut den Göttern, und es war ihnen angenehm!

Eine halbe Sekunde lang senkte sich das dunkle Auge der Priesterin, wie aus Verlegenheit, schnell aber erhob es sich wieder klar und mit zürnendem Strahle. Verwegener! rief sie; Mögen die Götter ein Zeichen geben, um ihren Willen zu verkünden!

Und wie sie kaum die Worte gesprochen hatte, erhob sich fernes dumpfes Getöse im Walde, das immer näher kam, und immer lauter und verwirrter wurde. In angstvollem Harren stand der ganze Kreis, der das von der heiligen Jungfrau herabbeschworene Zeichen der Götter herannahen zu sehen fürchtete.

Fliehet! Fliehet! riefen tausend herandringende Stimmen auf einmal, und die Nähe des Altars füllte sich mit bleichen Gesichtern. Der große Schlächter nahet, hoch das Christenschwert schwingend, Tausende unserer Brüder sind schon vor ihm gefallen! Fliehet, Ihr Priester und Priesterinnen! Fort mit den Heiligthümern vor seinen entweihenden, Händen!

Blasse Furcht ergriff das Chor der Priester. Sie rafften zusammen, was sie greifen konnten, Heiligthümer und Kostbarkeiten, und flüchteten damit in die nahe feste Fresburg. Auch die Gefangenen vergaßen sie nicht, schleppten sie mit sich, und warfen sie in die Gefängnisse der Burg, um bey der ersten Gelegenheit, wo es einer Erregung, einer öffentlichen Anfeuerung des Volkes bedurfte, ihr grausames Schicksal an ihnen zu vollziehen.

Das gewaltige Heer Kayser Carl des Großen überschwemmte jetzt den heiligen Wald. Siegreich war der Kayser von Franken bis an die Diemel gekommen, [262] jeder Widerstand gegen seine ungeheure Macht war vergeblich gewesen, alles hatte sich vor ihr demüthigen, sich ihr unterwerfen müssen. Hier an der Diemel aber fand er zuerst einen kräftigen Widerstand, der um so nachtheiliger auf sein Heer wirkte, je unerwarteter er war. In den undurchdringlichen Urwäldern Westphalens fand das Heer keine Lebensmittel; Hunger und Durst griffen mit entsetzlicher Gewalt um sich, und entkräfteten den Krieger, der gerade hier, um aus dem Gewinde der Waldungen zu kommen, die meisten Kräfte nöthig hatte. So kamen sie in den heiligen Wald, erschöpft vor Hunger, noch mehr aber vor brennendem Durste. Als sie aber das Ungethüm der Irmissäule auf hohem Altare vor sich erblickten, da erwachte, trotz Erschöpfung und Ermattung, noch einmal ihr wilder Muth. Herunter mit dem Götzen! rief der große, fromme Kayser! Und tausend Hände und tausend Waffen waren beschäftegt, schneller seinem Befehl zu vollstrecken, als er ihn ausgesprochen hatte. Zerschmettert, mit weithin durch den Wald schallendem Donner stürzte der Gott von seinem Gestelle, flog der Altar auseinander.

Und siehe! in demselben Augenblicke öffnete mit fröhlichem Gemurmel sich ein reicher Quell, und strömte sein klares Wasser dem erstau[n]ten Carl entgegen. Es war der Bullerborn, den die Priester, um das Volk durch einen verspiegelten Zorn der Götter desto mehr zu entflammen, durch eine im Altare der Irmensäule angebrachte Vorrichtung aufgehalten hatten. Der fromme Kayser aber glaubte ein Wunder zu sehen und fiel auf die Knie und dankte laut Gott, während das Heer jauchzte und an der köstlichen Gabe des Himmels sich erquickte.

[263] Wie sie aber noch sich freuten und labten, da wankte mühsam ein blinder Greis herbey; der rief mit jammernder Stimme: O gebt mir mein Kind wieder! Gebt mir meinen Knaben zurück! – Die Stimme des Greises durchschnitt die Herzen Aller, die ihn hörten. Der Kayser ließ ihn vor sich kommen, und als er die Schicksale des unglücklichen Clodoald erfahren, schwur Carl, ihm sein Kind zurückzugeben.

Bald darauf meldeten Kundschafter dem Kayser, daß das ganze Heer der Sachsen, ihre Vornehmen und Heerführer und Priester sich in die Veste Fresburg geworfen hätten, und dort jedem Angriffe zu trotzen bereit waren. Schnell ließ Carl sein Heer gegen die Veste aufbrechen und diese stürmen. Der Kampf war hart, blutig, grausam, aber das Heer der Christen siegte über die blinde Verzweiflung der Heiden. Die Veste wurde genommen, die am Leben gebliebenen Sachsen mußten sich unterwerfen.

Der Kayser hatte seines Versprechens, das er dem blinden Clodoald gegeben, nicht vergessen. Alsbald nach der Einnahme der Fresburg ließ er die Gefängnisse derselben durchsuchen, und Hyazinth und die beiden Ritter, die ihn hatten befreyen wollen, Faustinus und Ischyrion mit Namen, wurden aus dunkler Kerkernacht an das Licht der Freyheit hervorgezogen. Mit ihnen aber auch die Oberpriesterin, die von unerklärlichem Mitleid für die gefangenen Jünglinge sich hatte hinreißen lassen, einen Versuch zur Befreyung derselben zu machen; dieser war jedoch durch den Verrath einer Priesterin mißglückt, und auch sie darauf in strenge Haft geworfen worden.

[264] Thränen der Wehmuth und Freude entstürzten den blinden Augen des Greises, und den frommen des Knaben Hyazinth, als sie sich wieder hatten, und einander wieder an die liebenden Herzen drücken konnten. Laut dankte der edle Greis dem Himmel, daß er ihm die zwey Erstgebornen genommen, sein Alter doch nicht ganz hülflos gelassen habe.

Die Ritter des Kaysers, die Zeugen des Auftritts waren, wurden auf das innigste gerührt, die beyden fremden Ritter aber und die Oberpriesterin wurden sehr unruhig. Und die letztere und der Ritter Ischyrion naheten sich dem Greise, und fragten ihn gleichzeitig, ob seine verlorene Erstgebornen nicht Clodoald und Hildegardis geheißen, und ob er nicht der Statthalter Clodoald von Jüttland sey.

Wohl bin ich der! Und wohl hießen meine armen Kindlein so! antwortete der Greis, von Schmerzen der Erinnerung ergriffen.

Da sahen die beyden fragend, zuerst voll Verwunderung sich an, dann warfen sie sich weinend vor dem blinden Greise nieder, umschlangen seine Knie und küßten seine Hände, und entdeckten ihm, daß sie seine geraubten und wieder gefundenen Kinder seyen.

Clodoald und Hildegardis waren von den räuberischen Normanen, jener nach Afrika an einen Schäfer, diese in das Herz von Sachsen an Priester verkauft. Clodoald war mit dem Sohne seines Herrn, seinem Begleiter Faustinus, in allen ritterlichen Künsten und Uebungen auferzogen worden, und befand sich jetzt auf dem Zuge, sein Vaterland und seine geliebten Eltern wieder aufzusuchen. Hildegardis war zum Dienste der Götter geweihet worden, und vergebens hatte sie seit [265] langen Jahren auf ein Mittel gesonnen, aus den dichten Wäldern in ihre mit Schmerzen zurückersehnte Heymath zu entfliehen.

Wer wagt es, die Freude der Glücklichen zu beschreiben! Eine Umarmung folgte der Anderen, und lange lagen sie sich an den liebenden, überseligen Herzen. Der Greis aber erkannte, daß hier eine höhere Hand gewirkt habe, als die seiner heidnischen Götzen; und er bat den Kayser, ihm und allen den Seinigen das heilige Wasser der Taufe geben zu lassen. Und wie nun nach einiger Zeit in Gegenwart des kayserlichen Hofes und des ganzen Heeres der Franken ein frommer Priester den Statthalter und seine Kinder mit dem heiligen Wasser einsegnete und sie in den Schooß der Kirche aufnahm, da entschwand plötzlich das Dunkel, das auf den Augen des Greises gelegen hatte; er sah wieder das reine Himmelslicht, und doppelt heiß flossen die Dankgebete der Glücklichen.

Lange hat er noch in Freude und Freudigkeit gelebt, umgeben von, seinen Kindern, zu denen auch bald, mit Hildegardis vereinigt, der Ritter Faustinus gehörte.



Anmerkungen (Wikisource)

  1. Vorlage: hrer