Wie das erste Deutsche Parlament entstand/Der Umschwung in Preußen
Wie das erste Deutsche Parlament entstand.
Wie die verbündeten Vaterlandsfreunde der süddeutschen Verfassungsstaaten und Sachsens für ihre geheimen Verabredungen am Rheinesufer eine entlegene Zufluchtsstätte fanden, so hatte des Rheinstroms leuchtende Schönheit auch die Folie gebildet für eine öffentliche glänzende Machtentfaltung des preußischen Königtums. Friedrich Wilhelm IV, der neue Träger der Krone Friedrichs des Großen, so starrsinnig er seinem Volke ein öffentliches Leben versagte, so streng seine Kabinettsregierung das Volk fernhielt von den Stufen des Thrones, fand an nichts eine größere Freude, als bei großem festlichen Anlaß selbst in voller Oeffentlichkeit zu seinem Volke zu reden. Die Fähigkeit, einem von vielen geteilten Hochgefühl in spontaner Erregtheit begeisterten Ausdruck zu leihen, war ja ein hervorragendes Talent dieses tragisch veranlagten Fürsten, der selbstzufrieden in dem Wahn sich wiegte, unabweisbare Forderungen der Zeit mit schönklingenden Worten beschwichtigen zu können, bis ihn die rauhe Wirklichkeit schonungslos anders belehrte. Wenn ihm bei solchen Gelegenheiten die festlich gestimmte Menge zujauchzte, vermeinte er, an der Spitze eines von ihm beglückten und zufriedenen Volkes zu stehen. Und nie hat ihn diese Selbsttäuschung stärker beseligt als an jenem sonnigen Septembertag 1842, an welchem er zu Köln die Grundsteinlegung zum Ausbau des alten hehren Doms vollzog, zu dem er schwärmerisch als zum Symbol altdeutscher Macht und Herrlichkeit aufsah. Von zahlreichen anderen deutschen Fürsten, seinen Generalen und Ministern umgeben, feierte er in glänzender Weiherede den „Geist deutscher Einigkeit und Kraft“ als Bauherrn des Unternehmens. „Die neuen Thore,“ rief er, „mögen sie für Deutschland durch Gottes Gnade Thore einer neuen großen guten Zeit werden! … Und das große Werk verkünde den spätesten Geschlechtern von einem durch die Einigkeit seiner Fürsten und Völker großen, mächtigen, ja den Frieden der Welt unblutig erzwingenden Deutschland!“
Der Jubel, den diese zündenden Worte bei den anwesenden Rheinländern weckten, war unermeßlich. Schon sah man im Geiste die verheißene „neue große gute Zeit“ tagen; man wähnte, der königliche Redner habe Großes im Plan, um dem kläglichen, zerrissenen Deutschland des Bundestags wieder „Einigkeit“, „Größe“ und „Macht“ zu verleihen.
Doch während der vom Reiz der Stunde hingerissene König also die allgemeine Begeisterung weckte, stand Fürst Metternich [94] mit bedenklicher Miene in seiner Nähe. Er zog während der Rede seines königlichen Freundes, wie der Historiker Treitschke berichtet, einen langen Kamm aus der Tasche und begann, sich bedächtiglich sein gelichtetes Haar vom Hinterkopf nach vorn zu strähnen. Diese überschwengliche Art des Königs, für die Idee der Einheit Deutschlands Propaganda zu machen, mußte Metternichs schwerste Bedenken erregen. Sie lief schnurstracks den Grundsätzen seines doch auch von Friedrich Wilhelm IV gutgeheißenen Systems zuwider, das bisher den „deutschen Geist“ so fest und sicher in Zucht gehalten.
Dieser neue Herr auf dem Zollernthron mit seinem Drange, sich öffentlich reden zu hören, bereitete ihm doch rechte Verlegenheiten! In Frankreich, wo die Kriegsdrohungen Thiers’ längst verstummt waren, wo jetzt Guizot und sein Souverän Louis Philipp in vollstem Einverständnis mit der österreichischen Führung regierten, konnten die pomphaften vieldeutigen Worte herausfordernd wirken. In Deutschland aber mußten dieselben erst recht mißverstanden werden! Das klang ja, als habe Friedrich Wilhelm ernstlich vor, die Umsturzpläne der süddeutschen Liberalen zur Sache der preußischen Krone zu machen! Mit ganz ähnlichen Phrasen reizten ja diese das Volk gegen den Bundestag auf! Daß aber dies nicht entfernt die Absicht des Königs war, dafür bürgte der ihm wohlbekannte romantisch-konservative Charakter desselben, seine Ergebenheit für das kaiserliche Erzhaus, seine Abneigung gegen alles, was den Stempel des modernen Liberalismus trug. Warum dann aber Hoffnungen erwecken, deren Nichterfüllung nur die Unzufriedenheit schüren konnte? Der kluge Staatsmann sah voraus, die Ernüchterung nach dem Festrausch würde sich bitter rächen. Und mit Schrecken dachte er daran, wie bereits im Jahre vorher dieser unruhige König in seiner altangestammten treuesten Provinz Ostpreußen die Geister gegen sich aufgebracht hatte, weil er mit schönen Reden Erwartungen geweckt hatte, die zu erfüllen ihm absolut nicht im Sinn lag. Dort, in Königsberg, hatte er beim Huldigungsfest den Provinziallandständen von einer „lebendigeren Zeit“ gesprochen, die nun für die ständischen Verhältnisse beginnen solle. Die Stände der Provinz Preußen schöpften daraus den Mut, den König um die Verleihung der schon von seinem Vater versprochenen konstitutionellen Reichsverfassung für ganz Preußen zu bitten. Zu ihrer großen Enttäuschung mußten sie bald erfahren, wie sehr sie ihn mißverstanden. Der König ließ schroff erklären, daß er wohl vorhabe, gelegentlich die ständischen Ausschüsse der verschiedenen Provinzialstände des Königreichs zu gemeinsamen Sitzungen zu berufen, eine vertragsmäßige Verfassung aber nie zwischen seinem landesväterlichcn Willen und dem Volk dulden werde. Der Unwillen über diesen Bescheid war allgemein.
Ein politisch regsamer Königsberger Arzt, der Doktor Johann Jacoby, welcher sich durch seinen bei Bekämpfung der Cholera früher bewiesenen Mut ungewöhnliches Ansehen bei seinen Mitbürgern erworben hatte, brachte die allgemeine Empfindung in seiner Schrift „Vier Fragen, beantwortet von einem Ostpreußen“ mit logischer Beweiskraft zum Ausdruck. Die erste dieser vier Fragen lautete: Was wünschen die preußischen Stände? Die Antwort: Sie wünschen Teilnahme der Bürger am Staat. Die zweite Frage: Was berechtigt sie? Die Antwort: Das Bewußtsein der eignen Mündigkeit und die bereits am 22. Mai 1815 erfolgte Mündigsprechung. Die dritte Frage: Welcher Bescheid ward ihnen? Antwort: Wohl Anerkennung ihrer treuen Gesinnung, aber Abweisung der gestellten Anträge und vertröstende Hindeutung auf einen zukünftigen unbestimmten Ersatz. Der vierten Frage: Was bleibt ihnen zu thun übrig? ließ er schließlich die entschiedene Antwort folgen: Dem gegenüber bleibt ihnen nichts übrig, als das, was sie bisher als Gunst erbeten, nunmehr als klar erwiesenes Recht in Anspruch zu nehmen!
Diese Schrift Jacobys, welche in Mannheim erschien, wirkte in der Stickluft jener Tage wie ein klärendes Gewitter. In Leipzig als Buch von mehr als 20 Bogen Umfang ohne Censur gedruckt, aber auch schon dort gleich nach Erscheinen verboten, fand sie in ganz Deutschland eine ungeheure Verbreitung. Den König aber setzte die „Dreistigkeit“ des Königsbergers in höchsten Zorn, zumal als dieser, welchen der Titel der Schrift ungenannt ließ, sie ihm direkt zusandte unter Inanspruchnahme seines königlichen Schutzes.
Schon vorher hatte eine für ihn persönlich geschriebene Denkschrift des alterprobten Oberpräsidenten von Preußen, des Freiherrn von Schön, seinen ganzen Ingrimm herausgefordert. Unter dem Titel „Woher und wohin?“ wies hier Schön, der frischen Sinnes in seiner Provinz die Tradition des Steinschen Geistes bewahrt hatte, nach, daß die natürliche und historische Entwicklung Preußens nunmehr dringend die Erfüllung des alten Versprechens vom Jahre 1815 verlange. In seiner Antwort auf diese Schrift hatte der König brüsk die Zumutung abgelehnt. Ihm erschien das Verlangen nach einer konstitutionellen Verfassung als eine freche Anmaßung des „beschränkten Unterthanenverstandes“, der sich gegen seine landesväterliche Gewalt auflehne. „Ich fühle mich ganz von Gottes Gnaden und werde mich so mit seiner Gnade bis ans Ende fühlen! … Glanz und List überlasse ich ohne Neid sogenannten konstitutionellen Fürsten, die durch ein Stück Papier dem Volke gegenüber eine Fiktion, ein abstrakter Begriff geworden sind. Ein väterliches Regiment ist teutscher Fürsten Art, und weil die Herrschaft mein väterliches Erbteil, mein Patrimonium ist, darum hab’ ich ein Herz zu meinem Volke, darum kann ich und will ich unmündige Kinder leiten, entartete züchtigen, würdigen, wohlgeratenen aber an der Verwaltung meines Gutes Teil geben, ihnen ihr eigenes Patrimonium anweisen und sie darin vor Dieneranmaßung schützen!“ Jetzt veranlaßte er persönlich, daß gegen Jacoby ein Prozeß wegen versuchten Hochverrats und Majestätsbeleidigung angestrengt wurde.
Und als dieser Prozeß dem Verklagten zwar eine Verurteilung zu 2½ Jahren Festung zuzog, schließlich aber doch durch ein freisprechendes Urteil des Geheimen Obertribunals in Berlin sein Ende [95] fand, da ergriff ihn über diese Rechtsprechung die tiefste Empörung. In seinem Unmut verordnete er ein Gesetz, das die politische Unabhängigkeit des preußischen Richterstands wesentlich beschränkte. Der Freiherr von Schön ward seines Amtes entsetzt, als die Denkschrift „Woher und wohin?“ ohne sein Zuthun plötzlich in einem Straßburger Verlag veröffentlicht wurde. Und wie der König jetzt zahlreiche andere „entartete Kinder“, die ihm zu opponieren wagten, „züchtigte“, Dahlmann in Bonn und viele andere liberale Professoren maßregeln, Hoffmann von Fallersleben in Breslau absetzen und des Landes verweisen ließ, so wurde der schwäbische Dichter Herwegh, dem er vorher als Freund „gesinnungsvoller Opposition“ eine Audienz gewährt, aus Preußen verbannt, als er von der gesinnungsvollen Opposition in Königsberg zum Helden einer festlichen Versammlung gemacht worden war und in einem Brief an den König seine oppositionellen Gesinnungen aussprach. Gegen die namentlich im Rheinland erblühte freisinnige Presse ward ein Feldzug eröffnet, welcher der Mehrzahl der Blätter das Leben kostete und ihre Redakteure zu Flüchtlingen machte, so auch Karl Marx, der in Köln Mevissens „Rheinische Zeitung“ zu schneller Blüte gebracht hatte. Auch der ehrwürdige Kriegsminister Boyen, der ruhmreiche Organisator der preußischen Landwehr, ging der Gunst des Königs verlustig, nachdem er die Mahnung gewagt: es sei ein Irrtum, den Entwicklungsgang der Zeit beliebig hemmen zu können. Ja, auch über die Grenzen Preußens reichte sein strafender Arm, wie im besonderen Arnold Ruge, der Herausgeber einer Zeitschrift, erfahren mußte, welche die romantische Geistesrichtung des Königs mit rücksichtsloser Schärfe bekämpfte. Von Halle, wo er mit Echtermeyer seine „Jahrbücher für deutsche Wissenschaft und Kunst“ herausgab, hatte ihn die preußische Censur vertrieben; nachdem er die Redaktion nach Dresden verlegt, mußte er hier erleben, daß auf preußisches Andringen seine Jahrbücher ganz unterdrückt wurden. Weiteren Verfolgungen entzog sich der entrüstete Pommer durch die Flucht; er ging nach Paris, wo inzwischen auch Herwegh ein Asyl gefunden hatte.
Was seinem Staate not that, das wußte nach seiner Meinung nur Friedrich Wilhelm allein. Kraft der göttlichen Weihe seiner Krone hielt er nur sich selbst für befähigt, das Wohl des Landes zu erkennen und für dasselbe zu sorgen. Seine Minister waren ihm nur Diener, „Schreiber“ – keine Berater, und nur solche, die, wie Bodelschwingh, sich mit dieser Rolle begnügten, hielten bei ihm stand. Auch von seinem Bruder, dem Prinzen Wilhelm, nahm er keinen Rat an. Wohl hatte er vor, die Verordnung seines Vaters, daß ein preußischer Reichstag zu berufen sei, der neue Anleihen und Steuern zu genehmigen habe, irgendwie zu erfüllen, doch ohne in das andre alte Versprechen einer Verfassung zu willigen. Aber den Weg aus dem schweren Konflikt, den ihm der Widerspruch zwischen Königspflicht und Sohnespflicht bereitete, wollte er allein finden. Und doch war er kein Staatsmann, nur ein eigenwilliger Grübler und Schwärmer, dem romantische Vorstellungen vom Werte mittelalterlicher Einrichtungen den Blick in die Welt der zeitgemäßen Bedürfnisse trübten! Von einer verhängnisvollen Schwerfälligkeit im Ausführen von Entschlüssen, die er im Ungestüm faßte und mit zäher Energie festhielt, ein „Hamlet auf dem Hohenzollernthrone“, grübelte er fünf Jahre lang über die richtige Lösung der unlösbaren Aufgabe. In dem Plan eines „Vereinigten Landtags“ der acht Provinzialstände, den er nach freiem Belieben einberufen wollte, glaubte er endlich die Lösung gefunden zu haben. Danach hatten 307 Repräsentanten des hohen und niedern Adels und 306 Abgeordnete der Bürger und Bauern das gesamte preußische Volk zu vertreten! Etwa 10000 Herren und Rittergutsbesitzer verfügten über 278 Stimmen, während 979 Städte mit weit über 4 Millionen Einwohnern sich mit 182 Stimmen begnügen mußten! Daß dies keine gerechte und zeitgemäße Landesrepräsentation sei, zumal in einer Zeit, wo die Entwicklung der neuen Verkehrsmacht, des Eisenbahnwesens, dem Handel und der Industrie eine bisher unerhörte Bedeutung für den Nationalwohlstand gab, mochte er nicht einsehen. Wie sein romantischer Sinn sich am Ausbau des Kölner Domes berauschte, so sah er in diesem „Landtag“ die Vollendung des alten „christlich-germanischen Patrimonialstaats“ mit seiner mittelalterlichen Ständeordnung. Er war stolz auf den Plan und hielt ihn für eine göttliche Eingebung. Daher sein ganz persönlicher Groll über die schlechte Aufnahme dieses „Geschenkes“, das sein Patent vom 3. Februar 1847 dem Volke ankündigte.
Eine mit sittlichem Pathos vorgetragene Kritik dieses Patents durch den Breslauer Stadtgerichtsrat Heinrich Simon, der vorher schon, 1844, unter lautem Protest gegen das neuerlassene, die Unabhängigkeit der Richter bedrohende Gesetz sein Amt niedergelegt hatte, that jetzt eine ähnliche Wirkung, wie es 1841 Jacobys „Vier Fragen“ gethan. Diese Kritik erfolgte in der Schrift „Annehmen oder Ablehnen?“ und sprach sich für das letztere aus. „Wir baten Dich um Brot, und Du giebst uns einen Stein!“ hob die Beschwerde an: sie wies nach, daß das Patent dem Volke sogar noch altverbriefte Rechte nehme, und sie gipfelte in der Beschwörung: „Nur Vertrauen erzeugt Vertrauen! Wohlan! Wir stehen an einem Marksteine der preußischen, der deutschen Geschichte. Der König gebe Sich Seinem Volke hin. Er breche rund und voll mit jener Ansicht, welche Eine Persönlichkeit als allein berechtigt fünfzehn Millionen gegenüber stellen will, die sich auf dem Huldigungslandtage in den Worten äußerte: ‚Die Krone ist mir von Gott gegeben, wehe dem, der daran rührt!‘ Nun: ‚Volkesstimme ist Gottesstimme!‘ Das Volk hat mit seinen vielfältigen Anträgen an die Krone gerührt. Wir beschwören Ihn, auf diese Stimme zu hören, den Gedanken der absoluten Monarchie, den Gedanken, nur Gott Rechenschaft über Seine Handlungen schuldig zu sein, voll zu beseitigen und Sich statt dessen mit Preußen in herrlicher Entwicklung, aus freiem Willen an die Spitze Deutschlands zu stellen!“ Auch gegen Simon ließ Friedrich Wilhelm einen Prozeß wegen Majestätsbeleidigung einleiten, das in Leipzig gedruckte Buch verbieten. Und als am 11. April 1847 der neugeschaffene Landtag im Weißen Saal seines Königsschlosses in Berlin zusammentrat, da eröffnete er ihn inmitten des pomphaften Cermoniells, das der Prunkliebende dafür ersonnen, mit einem scharfen [96] Verweis an jene, welche den Dank des Volkes für dieses „Geschenk seiner Gnade“ ihm hatten verkümmern wollen. Inmitten der Kroninsignien stehend, gab er weiter die feierliche Erklärung ab, daß es keiner Macht der Erde je gelingen solle, ihn zu bewegen, das in Preußen althergebrachte Verhältnis zwischen Fürst und Volk in ein konstitutionelles zu wandeln; nie und nimmermehr werde er zugeben, daß sich zwischen dem Herrgott im Himmel und seinem Land ein beschriebenes Blatt als eine zweite Vorsehung eindränge, um ihn mit seinen Paragraphen zu regieren und durch sie die alte heil’ge Treue zu ersetzen! Auch diese Rede war glänzend, aber der Beifall blieb aus.
Ihr „Nie und nimmermehr!“ in Bezug auf einen Anspruch, der vielen als „verbrieftes Recht“ erschien, der willkürliche Vorbehalt, den Landtag nur nach Bedarf einrufen zu wollen, was eine regelmäßige Erfüllung seiner Pflichten ausschloß, erweckte eine Opposition, wie sie der König gleichfalls „nie und nimmermehr“ für möglich gehalten.
Das waren nicht nur „verbissene Demagogen“, die nun in dem Landtag ihre Stimme gegen ihn erhoben; nein, Vertreter der ältesten Adelsgeschlechter seiner altpreußischen Provinzen, wie Graf Schwerin, Alfred v. Auerswald, die ersten Männer des rheinischen Großhandels und der dortigen Großindustrie, die ihm einst in Köln zugejubelt, wie Beckerath, Hansemann, Mevissen, Camphausen, Söhne aus altbewährten Beamtenfamilien, wie der Westfale Georg v. Vincke, der geradezu als Führer der Opposition auftrat. Sie alle verlangten, daß von ihnen mitberaten und als Recht verbrieft werde, was der König nur als Gnade gewähren wollte. Johann Jacoby und Heinrich Simon, die nun längst schon mit den Hallgartner Verbündeten in Verkehr standen, waren nicht selbst Abgeordnete, nahmen jedoch während der Session Aufenthalt in Berlin, wo sie voll Eifer ihren Einfluß auf die Beschlüsse ihrer Gesinnungsgenossen im Landtag geltend machten. Den Anlaß zur Einberufung hatte der Bau einer Eisenbahn gebildet, die Königsberg mit Berlin verbinden sollte; der Landtag sollte die nötige Anleihe bewilligen. Als dieser nun die Bewilligung verweigerte, bis eine regelmäßige Einberufung gesetzlich ausgesprochen sei, da wandte ihm der König zornig den Rücken. Was auch im weiteren Verlauf der Sitzung an Wünschen laut ward, ob es den Notstand der schlesischen Weber oder die staatsbürgerliche Gleichstellung der Juden und Dissidenten, ob es die Preßfreiheit oder den politischen Ausbau des Zollvereins betraf, über resultatlose Bitten kam man kaum mehr hinaus. Vergeblich verlangte der Landtag für sich das ungeschmälerte Recht der Teilnahme an der Gesetzgebung, vergeblich protestierte er gegen das Fortbestehen der „Vereinigten Ausschüsse“ aus den Provinzialständen, deren gelegentliche Einberufung für Gesetzgebungszwecke sich der König nach Gutdünken vorbehielt. Der entrüstete „Landesvater“ zeigte den „entarteten Kindern“ die Rute. Minister Bodelschwingh, der den Standpunkt des Königs in all den Verhandlungen zu vertreten hatte, riet umsonst, die periodische Einberufung bald auszusprechen. Nicht ertrotzt, sondern als Gnadengeschenk seiner Huld wollte er sie bewilligen.
In Ungnaden entlassen, ging Ende Juni der Landtag auf unbestimmte Zeit auseinander, und der alte „Vereinigte Ausschuß“ trat dann an seine Stelle, um ein für politische Vergehen reaktionäres Strafgesetz zu beraten. Der maßvolle Rheinländer Ludolf Camphausen faßte hier die Situation treffend in der Klage zusammen: „Als die Stände bis auf die äußerste Grenze vorrückten und, weit hinübergebogen, die Hand zum Ausgleich boten, ist diese Hand im Zorn zurückgewiesen worden. Ein Wort hätte hingereicht, den Verfassungsstreit in Preußen auf immer zu beenden. Es ist nicht gesprochen worden. Die Folgen müssen getragen werden. Die Geschichte aber wird richten zwischen uns und der Regierung!“ Das war im Januar 1848; schon drei Monate später hatte die Geschichte ihres Richteramtes gewaltet.
Der König aber, im zweiundfünfzigsten Lebensjahr stehend, in seinem Unfehlbarkeitsglauben noch nicht beunruhigt durch die Voranzeichen des Leidens, das seinen Geist später umnachten sollte, im Vollbesitze der ihm vom Vater in bester Ordnung überlieferten Machtmittel, fühlte sich dem Sturme, den er heraufbeschworen, gewachsen. Die bösen Landtagsredner und Zeitungsschreiber waren ja nicht das „Volk“, dessen große Masse noch immer, wie er meinte, ehrfurchtsvoll und bewundernd zu ihm emporschaute! Das wollte er beglücken, und stolz im Bewußtsein des Siegers, ging er schon wieder neuen Volksbeglückungsplänen nach. So ganz nur Phrase waren seine verheißungsvollen Worte beim Kölner Domfest doch nicht gewesen: den vielfältigen, immer stärker sich erneuenden Mahnruf, daß es Preußens Beruf sei, die „deutsche Frage“ zu lösen, die allgemein ersehnte Bundesreform durchzuführen, hatte er nicht überhört. Jetzt galt sein Grübeln ihrer Lösung. Aber auch hier war seine Hauptsorge, den ihm so sehr verhaßten Liberalen nur ja kein Zugeständnis zu machen und seiner Idee vom absoluten Königtum einen Triumph zu bereiten.
[109] Noch vor der Gründung des Deutschen Bundes, im Jahre 1814, hatte Karl Theodor Welcker, damals ein junger Professor des Staatsrechts in Gießen, aus den Hoffnungen der im Befreiungskrieg siegreichen patriotischen Jugend den Plan gestaltet: ein neues Deutsches Reich, das seine Kraft und Einheit nicht allein durch ein Bundesverhältnis der deutschen Fürsten, sondern zugleich durch eine Nationalvertretung der deutschen Völker erhielte! Abgeordnete aus den Ständekammern der Einzelstaaten sollten dieses Parlament bilden. Stein und Hardenberg hatten den Plan willkommen geheißen, Metternichs Reaktionspolitik war über ihn höhnisch hinweggeschritten. Die Karlsbader Beschlüsse stempelten die Forderung Welckers zum Hochverrat, er selbst wurde eines der ersten Opfer der Demagogenverfolgung. Doch das von ihm geschaffene Ideal blieb das Ziel seines Strebens und Lebens. Und als nach der Pariser Julirevolution der von Frankreich drohende Krieg Metternich bestimmte, die Zügel seines Regiments ein wenig zu lockern, da brachte Welcker, wie wir sahen, im badischen Landtag von 1831 den Antrag ein: Die badische Regierung solle beim Bundestag eine Nationalvertretung durch Abgeordnete der deutschen Ständekammern erwirken. Die Vertreter der Regierung aber erhoben gebieterisch Einspruch gegen die Beratung des Antrags, und als Rotteck sie durchsetzen wollte, verließen sie drohend den Ständesaal. Die reaktionären Bundesbeschlüsse von Frankfurt, von Wien erstickten die kühne Forderung und den begeisterten Wiederhall, den sie bei allen Vaterlandsfreunden gefunden. Doch das verfolgte Ideal lebte fort in den Herzen seiner Märtyrer und Pioniere.
Eine stillschweigende Voraussetzung des Welckerschen Antrags war es gewesen, daß auch Preußen endlich die ihm versprochene konstitutionelle Verfassung erhalte; noch vor Ausbruch jener Reaktion wurde unter dieser Voraussetzung von dem Schwaben Paul Pfizer, von Dahlmann in Göttingen, W. Schulz in Darmstadt und anderen fast gleichzeitig die Idee vertreten, daß gerade Preußen den Beruf habe, die ersehnte Bundesreform durchzuführen, und daß aus diesem Grunde die kleineren und mittleren deutschen Staaten ihr Heil in einem festeren politischen Anschluß an Preußen suchen sollten. Wir sahen, wie dann diese Idee seit dem Regierungsantritt Friedrich Wilhelms IV im Jahre 1840 von den süddeutschen Politikern der Welckerschen Richtung, von den Vaterlandsfreunden, die heimlich bei Itzstein in Hallgarten tagten, wie von den Freiheitsdichtern der Epoche zum Gegenstand einer lebhaften politischen Propaganda gemacht wurde. Pfizer gab ihr in seinen „Gedanken über Recht, Staat und Kirche“ 1842 nähere Begründung. Aber auch außerhalb dieser Kreise hatte die Idee eifrige Wortführer gefunden. In Preußen selbst durch den pommerschen Großgrundbesitzer v. Bülow-Kummerow in dem Buche „Preußen, seine Verfassung, seine Verwaltung, sein Verhältnis zu Deutschland“, in welchem sich konservative, ja feudalistische Grundsätze merkwürdig mit der Forderung der Nationaleinheit unter preußischer Hegemonie mischten; in Braunschweig durch den Präsidenten der dortigen Kammer Karl Steinacker in der Schrift „Ueber das Verhältnis Preußens zu Deutschland“, die für die ersehnte Reichseinheit eine freiheitliche Verfassung, ganz im Sinne Welckers, verlangte. Mit seinem feurigen Enthusiasmus für eine starke deutsche Handelspolitik und den Ausbau eines einheitlichen Eisenbahnsystems für ganz Deutschland war der Schwabe Friedrich List für eine politische Ausgestaltung des in seiner Entwicklung stockenden Zollvereins unter Preußens Führung eingetreten; in Verzweiflung über das Scheitern seiner Pläne hatte er sich Ende 1846 das Leben genommen. Die nationale Bedeutung des seit 1834 bestehenden „Deutschen Zollvereins“, welcher die süddeutschen Staaten, Thüringen, Sachsen mit Preußen wenigstens handelspolitisch zu einer Einheit verband, und seine Entwicklungsfähigkeit wurden mit besonderem Eifer auch von dem jungen Leipziger Professor Karl Biedermann in seiner Aufsehen erregenden Schrift „Das deutsche Nationalleben“ und der von ihm gegründeten „Deutschen Monatsschrift“ betont. Das Ideal aber, das sich in all diesen Forderungen spiegelte, erhielt in poetischer Form durch Ferdinand Freiligrath wirksamste Gestaltung. Es geschah in seinem „Glaubensbekenntnis“, in jenem Gedichte, das den Schatten des „Alten Fritz“ beschwor und zeigte, wie der große Preußenkönig sich droben im Himmel mit seinen alten Generalen und den Helden der Befreiungskriege unterhält, ganz empört über die Zustände, die da unten in seinem geliebten Preußen jetzt herrschen, wo „Schall und Rederei“ die Stelle von Thaten vertreten, während die Zeit dringend mahnt, den „Staat der neuen Zeit“ zu gründen.
„‚Ich thät’s! Einschlüg’ ich mit der Faust dies Diplomatennetz!
‚Reichsstände! öffentlich Gericht! ein einig deutsch Gesetz!
Und überall das freie Wort!‘ Bei Gott, so trät’ ich hin!
Bei Gott dem Herrn, so schlüg’ ich durch! – so wahr ich König bin!‘ - - -
Und nach dem kurzen Wetter dann ein Land voll Sonnenscheins!
Ein neues Deutschland, frei und stark; ein Deutschland, groß und eins!
Ja, nach dem Sturm die Iris dann auf flieh’nder Wolken Grund!
Ein Bund der Fürsten mit dem Volk – ein rechter deutscher Bund!“
Der Dichter führte seitdem ein unstetes Dasein als Flüchtling: sein „Glaubensbekenntnis“ war verboten worden; aber das Bild, das sein prophetischer Geist von der Zukunft Deutschlands entworfen, prägte sich immer weiteren Kreisen des Volkes ein. Die nationale Freiheitsbewegung, welche seit dem Verfassungsbruch des Königs von Hannover zu so mächtiger Entfaltung gelangt war, ließ sich trotz aller Anstrengungen Metternichs und des Bundestags nicht mehr unterdrücken. Und noch ehe der Verfassungskonflikt in Preußen durch Friedrich Wilhelms „Nimmermehr!“ zum vollen Ausbruch gelangt war, hatte der Konflikt des Dänenkönigs mit Schleswig-Holstein die „deutsche Frage“ in einer Weise aufgerollt, daß sie sich auf die Dauer auch von den deutschen Mächten nicht mehr abweisen ließ. Am 8. Juli 1846 war der „offene Brief“ Christians VIII erschienen, welcher der alten [110] Verfassung der Herzogtümer, nach welcher diese unteilbar waren und nur unter der Lehnshoheit der dänischen Könige standen, die Anerkennung aufsagte. Er bezeichnete Schleswig geradezu als das unbeschränkte Eigentum der dänischen Krone. Der Protest der schleswig-holsteinschen Stände dagegen fand in Deutschland mächtigen Wiederhall. Noch ehe der Bundestag sich zu einem Widerspruch aufraffen konnte, der schwächlich genug ausfiel, war von Heidelberg aus, das seit Welckers Ansiedelung in Neuenheim zum Mittelpunkt der ganzen Bewegung geworden war, eine Adresse der badischen Liberalen an die Schleswig-Holsteiner und den tapferen Präsidenten ihrer Ständeversammlung, Wilhelm Beseler, ergangen, die sie zum kräftigsten Widerstand mahnte. Bald erklang das Chemnitz’sche Lied vom „meerumschlungenen Schleswig-Holstein“ in allen deutschen „Liederkränzen“ und Turnvereinen, wo immer solche noch geduldet waren. Die von Reyscher und Dahlmann ins Leben gerufenen Germanistentage in Frankfurt a. M. und Lübeck gestalteten sich zu weithinwirkenden Kundgebungen des nationalen Empfindens; die gefeiertsten Dichter und Forscher, die wissenschaftlichen Hüter des Deutschtums, ein Uhland, Jakob Grimm, Dahlmann, ergingen sich hier in glänzenden Reden, die der Wiedergeburt des Vaterlands galten. Ja auch das kirchliche Leben trug dazu bei, das Verlangen der Geister nach Freiheit mit dem nach nationaler Einigung zu verschmelzen; die „deutsch-katholische“ Bewegung unter Johannes Ronge und Robert Blum, wie die protestantische der „Lichtfreunde“ unter Lebrecht Uhlich trugen diesen Charakter; nicht minder die Bewegung in dem nach bürgerlicher Freiheit ringenden Judentum unter Gabriel Rießers Führung. Ein edler Drang, sich zu dem gemeinsamen Ideal zu bekennen, erfüllte die gebildete deutsche Welt, und als jetzt Gutzkows Tragödie der Gesinnungstreue „Uriel Akosta“ als Neuheit über die Bühnen ging, als das stolze Wort „Die Ueberzeugung ist des Mannes Ehre!“ bei jeder Aufführung rauschenden Beifall weckte, da zeigte sich, daß es Tausenden aus der Seele gesprochen war.
In den Dienst all dieser Bewegungen und dieses idealen Bekenntnismuts stellte sich um die Mitte des Jahrs 1847 ein großes Zeitungsunternehmen, dessen Ursprung ein ganz eigentümlicher war. Am 8. August 1846 hatte wieder eine Versammlung von Führern der nationalen Freiheitsbewegung in Hallgarten bei Adam v. Itzstein getagt, dieselbe, zu welcher Robert Blum von Leipzig aus die uns erhaltene Einladung an Johann Jacoby vermittelt hatte. In diesem Briefe war die Notwendigkeit betont, einen festeren Zusammenhalt der Vaterlandsfreunde für ein gemeinsames und gleichmäßiges Handeln anzustreben auf Bahnen, die sich fruchtbarer erweisen könnten als die bisherigen; es war von einem Unternehmen die Rede, das die Herbeischaffung von Mitteln zur Hebung und Förderung desselben ganz besonders notwendig mache. Im folgenden November hielten die liberalen Mitglieder der badischen Volkskammer, welche jetzt wieder die Majorität hatten und zu denen auch der Landtagspräsident Professor Mittermaier von Heidelberg zählte, zu Durlach eine Zusammenkunft, auf welcher unter Leitung der alten Führer Itzstein und Welcker die Gründung einer großen Zeitung beschlossen wurde, bestimmt, dem Ringen nach Freiheit und nationaler Einigung in allen deutschen Staaten ein gemeinsames Organ zu werden. Verleger wurde Bassermann in Mannheim; Karl Mathy, der in den letzten Jahren ein kleineres Organ der badischen Kammeropposition, die „Landtagszeitung“, redigiert hatte, ward in den Redaktionsausschuß gewählt, während nach mancherlei Verhandlungen der in Heidelberg zu Welckers nächstem Umgang zählende Historiker Gervinus, der jüngste der „Göttinger Sieben“, die verantwortliche Redaktion übernahm. Seit Vollendung seiner „Geschichte der deutschen Nationallitteratur“ hatte sich dieser ganz der Politik zugewendet; die Heidelberger Adresse an die Schleswig-Holsteiner war von ihm verfaßt worden; seine liberale Gesinnung hatte er eben erst in einer besonderen Schrift über den Verfassungskampf in Preußen, im Wettstreit mit Welcker, bethätigt. Auch Mittermaier und der jugendfrische Historiker Ludwig Häusser gehörten dem Redaktionsausschuß an. In Heidelberg, wo das Blatt gedruckt wurde, gelangte es auch zur Ausgabe. Für die Kosten wurden von liberalen Männern aller Schattierungen in ganz Deutschland Geldbeiträge gesteuert, und aus ihren Reihen wurden die Mitglieder für einen Ehrenrat erwählt, der alljährlich mit den Redakteuren zu einer Beratung über Haltung und Ziele des Blattes zusammentreten sollte. Es befanden sich darunter von namhaften Führern der Opposition des preußischen Landtags: Hansemann, A. v. Auerswald, Graf Schwerin, ferner Freiherr v. Schön in Königsberg und Oberbürgermeister Binder in Breslau, von denen jener zu Johann Jacoby, dieser zu Heinrich Simon in nahen Beziehungen stand. Bayern war durch den Freiherrn v. Closen, einen Veteranen der früheren Verfassungskämpfe, und durch die Pfälzer Stadtrat Kolb in Speyer und Advokat Willich in Frankenthal, beide zu Itzsteins und Welckers nächstem Freundeskreis gehörig, vertreten, Sachsen durch den Vorkämpfer der dortigen Gerichtsreform K. Braun – einen Waffengefährten von Blum, Todt und v. Dieskau –, der jetzt als Präsident der sächsischen Kammer fungierte, sowie den liberalen Professor v. d. Pfordten in Leipzig. Die württembergischen Liberalen entsandten in den Ehrenrat den alten Prokurator Schott, Römers Schwiegervater, der ebenso wie die Vertreter Hessen-Darmstadts, Heinrich v. Gagern und Staatsrat Jaup, jetzt wieder bereit war, am politischen Leben praktisch teilzunehmen, nachdem dessen Stagnation diese Männer nun schon lange von solcher Thätigkeit ferngehalten. Noch seien genannt Schöff Souchay in Frankfurt a. M., Bürgermeister Smidt in Bremen, Professor Wurm in Hamburg – letzterer ein alter Freund Welckers – und Wilhelm Beseler in Schleswig, der obengenannte Präsident der schleswig-holsteinschen Ständekammer. Wie ein Gruß aus der Klassikerzeit berührten die Namen des alten Historikers Schlosser in Heidelberg und des Kanzlers Müller in Weimar.
Von diesen und anderen Männern war das Programm der „Deutschen Zeitung“ unterschrieben, das im Mai 1847, bald nach Eröffnung des „Vereinigten Landtags“ in Berlin, von Mannheim und Heidelberg hinaus in alle Gaue des Vaterlands flog. Als Aufgabe des Unternehmens war darin bezeichnet: das Gefühl der Gemeinsamkeit und Einheit der Nation zu unterhalten und zu stärken, alle Bestrebungen zur Ausgestaltung des Deutschen Bundes zu einem kraftvoll geeinten Bundesstaat zu fördern und das Prinzip der konstitutionellen Monarchie in einem freien Sinne, in allen seinen Konsequenzen und für alle Teile des Vaterlands zu verfechten, „wo es zu behaupten, wo es zu läutern, wo es herzustellen und wo es zu erringen ist“. Die staatsbürgerliche Gleichberechtigung aller Stände und aller Konfessionen ward als Grundsatz aufgestellt, der in den Verfassungen aller Einzelstaaten zur Durchführung gelangen müsse. Und am 1. Juli 1847, gerade als Friedrich Wilhelm IV seine störrigen „Stände“ zornig wieder nach Hause schickte, erschien die erste Nummer dieser „Deutschen Zeitung“, von der Gustav Freytag mit Recht sagt: „Nie trat eine deutsche Zeitung imponierender vor die Nation. Die [111] besten Liberalen aus allen Teilen Deutschlands dabei beteiligt, die Zeitung Mittelpunkt und Organ einer neuen Partei, die sich in jugendlicher Kraft rührte. Daß sie auf ganz Deutschland angelegt war und vom Süden aus vor anderem preußische Interessen besprechen sollte, war der größte Fortschritt.“ In dieser Richtung hat sie in jenem letzten Abschnitt der vormärzlichen Zeit Großes zur Versöhnung der partikularistischen Gegensätze und zur Anbahnung der Bundesreform auf Grund einer freien Verfassung geleistet. Aber wie ihre Redakteure zumeist Professoren waren, so blieb ihre Wirkung vornehmlich auf die Kreise von höherer Bildung beschränkt. Professoren und Studenten, liberale Beamte und Dichter waren ja die meisten Opfer der Demagogenverfolgung gewesen; so war es natürlich, daß auch die Gegenbewegung zum Sturze des Metternichschen Systems von solchen Männern ihren Charakter erhielt.
Doch die alterprobten Führer der badischen Opposition, welche bereits siegreich den Reaktionsminister Blittersdorf gestürzt hatten und sich gegenwärtig von seiten ihres einstigen Kampfgenossen, des Ministers Bekk, großen Entgegenkommens erfreuten, hielten auch jetzt noch an der bewährten Strategie, die einst in Hallgarten verabredet worden war, fest. Schon hatte Hecker im September in einer Volksversammlung zu Offenburg mit anderen demokratischen Forderungen die alte Welckersche einer Nationalvertretung aufgenommen und Robert Blum das sächsische Verfassungsfest in Leipzig mit begeisternder Wirkung zu demselben Zwecke benutzt. Da traten am 10. Oktober 1847 zu Heppenheim unweit Heidelberg wiederum zahlreiche Gesinnungsgenossen von Welcker und Itzstein zusammen, darunter Bassermann, Mathy, v. Soiron, Römer, Hergenhahn, v. Gagern, unter Beteiligung der neuen preußischen Landtagsmänner Hansemann und Mevissen. Man scheute nicht mehr die Oeffentlichkeit, und was man beschlossen, ging bald danach durch die Presse. Da erfuhr man denn – auch im Königsschloß zu Berlin – daß jeder der Teilnehmenden es übernommen hatte, bei jedem Anlaß dahin zu wirken, daß die Einheit Deutschlands „nur durch die Freiheit und mit derselben“ errungen werde. Wohl waren die Meinungen darüber geteilt gewesen, ob der politische Ausbau des Zollvereins, den Hansemann und Mathy befürworteten, oder eine Nationalvertretung am Bundestag nach Welckers altem Plan der bessere Weg zum Ziele sei. Einig aber waren alle darin, daß vom Bundestag selbst, wie er bestehe, nichts mehr zu hoffen sei. Und wie immer das Ziel erreicht würde: unerläßlich sei die Mitwirkung des Volkes durch gewählte Vertreter, unmöglich bei dem Entwicklungsgang des Jahrhunderts und Deutschlands die Einigung durch Gewaltherrschaft. Voraussetzung sei die Entfesselung der Presse, ein wahres konstitutionelles Leben, Oeffentlichkeit der Gerichte, überhaupt die Gewähr aller vernünftigen bürgerlichen Freiheitsrechte.
Das hatte den König in Berlin zu schleuniger Antwort herausgefordert. Die frechen „Mannheimer und Heppenheimer“, die sich herausnahmen, ihn, den preußischen König, über seine Aufgabe zu belehren, sollten erfahren, was in Wirklichkeit Preußens Beruf in Deutschland sei. Er sah in den Männern der „Deutschen Zeitung“ nur Gegner und wurde darin bestärkt, als im gleichen Verlag, bei Bassermann in Mannheim, jene geistreiche Satire des kühnen schwäbischen Bibelforschers David Friedr. Strauß erschien, die unter dem Titel „Der Romantiker auf dem Throne der Cäsaren“ in dem Bilde des römischen Kaisers Julian mit unverkennbarem Hinblick auf den Zollernthron den Nachweis führte, „daß jeder auch noch so begabte und mächtige Mensch, der eine ausgelebte Geistes- und Lebensgestalt wiederherzustellen oder gewaltsam festzuhalten unternimmt, gegen den Genius der Zukunft unterliegen muß“. Aber gerade in des Königs romantischer Geistesart wurzelten auch edlere Antriebe, die ihn in seiner Unnachgiebigkeit bestärkten. Wie ihn bei dem Verfassungswerk sein dynastisches Pflichtgefühl gegen die ererbte Krone verhindert hatte, der Freiheit ein herzhaftes Zugeständnis zu machen, so fand nun sein guter Wille, die deutsche Einheit zu fördern, eine unübersteigbare Schranke in seinem feudalistischen Treugefühl für Oesterreich und die anderen Bundesfürsten. Nur innerhalb der gegebenen Verhältnisse im „Deutschen Bund“ als einem Fürstenbund, dessen Spitze das kaiserliche Erzhaus in Wien, wollte er reformieren. Die Mahnung „Los von Oesterreich!“, die ihm aus geheimen Denkschriften des Fürsten Karl v. Leiningen und des englischen Prinzgemahls Albert von Koburg entgegenklang, wies er entrüstet als Verlockung zum Treubruch von sich. Ein Triumph der Legitimität sollte seine Bundesreform werden, genau wie sein „Vereinigter Landtag“. Mit einem jener geheimen Vertrauten, mit denen er über die Köpfe seiner Minister hinweg Politik trieb, seinem einstigen Studiengenossen in der Kronprinzenzeit, dem General v. Radowitz, verabredete er seinen Plan. Als außerordentlicher Gesandter an den Höfen in Karlsruhe, Darmstadt und Nassau hatte dieser in den letzten Jahren sich genaueste Kenntnis von den Absichten der süddeutschen Liberalen erworben. Radowitz war der Einzige, von dem sich der König willig beeinflussen ließ. Für die romantischen Ideen, die in ihm gärten, fand er in diesem geistreichen Gesinnungsgenossen einen scharfsinnigen Systematiker von bestechender Ausdrucksweise. Der war jetzt sein Mann! Radowitz mußte das gemeinsam Durchdachte in einer Denkschrift für den Wiener Hof ausarbeiten. Diese fußte mit ihren Vorschlägen für eine Bundesreform auf dem Bekenntnis, daß der Deutsche Bund seit den 32 Jahren seines Bestehens für Deutschlands Kräftigung und Förderung absolut nichts gethan habe. „Die gewaltigste Kraft der Gegenwart, die Nationalität, ist die gefährlichste Waffe in den Händen der Feinde der öffentlichen Ordnung geworden.“ Die Vorschläge selbst waren unklar. Sie forderten Kräftigung der Wehrhaftigkeit des Bundes – doch ohne Aenderung der bestehenden elenden Wehrverfassung, sie forderten Einheit des Strafrechts, des Handelsrechts, des Heimatrechts – doch ohne eine Volksvertretung für diese Gesetzesreform, sie verlangten Förderung der materiellen nationalen Interessen, insonderheit durch Ausdehnung des Zollvereins auf den Bund – eine hoffnungslose Sache, denn die bestehende und von ihm festgehaltene Bundesverfassung gab Hannover und den übrigen Seehafenstaaten vereinigt mit Oesterreich die Macht, in der Abschließung vom Zollverein ihren Vorteil zu suchen. Mit diesen Vorschlägen entließ Friedrich Wilhelm gegen Ende November 1847 seinen Vertrauten in geheimer Sendung nach Wien.
Metternich aber schüttelte den Kopf über die „pläneschmiedende Planlosigkeit“ seines königlichen Freundes. Nur jetzt keine Reformen! Ruhe brauchte er in Deutschland, Ruhe gerade jetzt, wo Ungarn gegen ihn aufsässig wurde, in Italien die Revolution direkt gegen Oesterreich das Haupt erhob und in der Schweiz das Prinzip der Revolution über das Prinzip der Legitimität zu siegen drohte. Und zur Aufrechterhaltung der Ruhe bot ja gerade der „Bund“, wie er war, bot sein „System“ die bewährtesten Mittel.
Doch sie verfingen auch in Deutschland nicht mehr. Nach wenigen Wochen hatte in Palermo, Neapel, Florenz, Turin die [112] stürmische Volksbewegung die Herrschaft des Metternichschen Systems gebrochen; in der Schweiz eine solche siegreich die vom Sonderbund gestörte Einheit erkämpft. Und schon dröhnte über den Rhein her vernehmlich das Grollen des Vulkans, dessen Ausbruch nach weiteren zwei Wochen den Thron Louis Philipps zerschmettern sollte. Da erklang am 12. Februar von der Tribüne der badischen Kammer in Karlsruhe das erlösende Wort „Ein Deutsches Parlament!“, das Wort, welches berufen war, in dem gleich danach auch in Deutschland ausbrechenden Revolutionssturm als Weckund Sammelruf aller Patrioten zu wirken.
Itzstein und Welcker überließen einer jüngeren Kraft, dem Buchhändler Bassermann, die schöne Aufgabe, den Antrag auf Herbeiführung einer Nationalvertretung am Bundestag zur Erzielung gemeinsamer Gesetzgebung und kraftvoller Nationaleinheit zu stellen. In seiner Kritik des Bestehenden brauchte Bassermann nichts Schärferes zu sagen als was im geheimen auch Radowitz’ Denkschrift gesagt hatte. Er aber folgerte aus der bisherigen schmachvollen Pflichtvergessenheit des Bundestags: für die Wiedergeburt von Deutschlands politischer Größe giebt der Bund, wie er ist, keine Hoffnung. „Ein Reichsoberhaupt, ein Reichsgericht sind verschwunden, und das einzige Band politischer Einheit ist eine Versammlung zu Frankfurt, die selbst nach dreißig Jahren nicht vollbringt, was schon in der ersten Zusammenkunft zu geschehen gelobt war. Thätigkeit im Unterdrücken aller freiheitlichen Regungen, Unthätigkeit den gemeinsamen Wünschen und Bedürfnissen der Nation gegenüber, das sind bisher ihre Hauptcharakterzüge gewesen.“ Die unaufschiebbare Bundesreform könne man nach diesen Erfahrungen nicht von den Diplomaten erwarten; die Nation selbst müsse sie in die Hand nehmen. Das berufene Organ dafür sei ein Deutsches Parlament, das den Bundestag mit seiner Macht umgebe. Dasselbe würde am besten aus Bevollmächtigten der Landtage aller Einzelstaaten bestehen. Die Mehrheitsbeschlüsse dieses Parlaments müßten für die letzteren bindende Kraft haben. So werde aus dem zerklüfteten, nach außen ohnmächtigen Staatenbund ein festgegliederter Bundesstaat werden. „Nur in einem freien Parlamente ist die Kraft einer Nation bewahrt … Mit einem Deutschen Parlamente war kein Basler Friede, kein Rheinbund möglich, und nur mit einem Parlamente geht Deutschland der größeren Zukunft entgegen, die wohl viel besprochen und besungen, aber ohne Umgestaltung unserer ungenügenden politischen Formen nicht verwirklicht werden kann. Haben wir gelernt, uns als Eine Nation zu erkennen, so bleibt nun unsere Aufgabe, uns als Eine Nation zu konstituieren.“ An dem Beispiel der nordamerikanischen Union führte er aus, wie in einem großen einigen Staatswesen sehr wohl jeder Einzelstaat seine Selbständigkeit in Gesetzgebung, Rechtspflege und Verwaltung wahren könne, ohne zu hindern, daß sich über allen die feste Gliederung einer Reichsgemeinde erhebe, mit einer gesetzgebenden und vollziehenden Gewalt, einer Finanz- und Militärverfassung, mit dem Recht, über Bündnisse, Krieg und Frieden zu entscheiden, mit der Vertretung der Nation nach innen und außen. „Das monarchische Deutschland kann bleiben wie es ist, aber offenbar ist ein Bund, der inmitten der kriegsgerüsteten Großmächte der Alten Welt seine Bestimmung erfüllen soll, in noch höherem Grade einheitsbedürftig als dieses Amerika … Deutschlands größtes Bedürfnis ist, nicht eine Revolution, sondern eine Reform, eine Reform seiner Verfassung! … Dem Zustande der Rechtlosigkeit müssen wir trachten ein Ende zu machen. Die allgemein herrschende Abneigung der Nation gegen ihre oberste Behörde in ein vertrauensvolles Zusammenwirken zu verwandeln, ist der deutschen Fürsten dringendste Aufgabe.“
Der Antrag fand lebhafte Unterstützung durch die alten Führer Itzstein und Welcker, von lang her die eigentlichen Urheber desselben, ferner durch Kapp, Zittel, Peter und Hecker. Von seiten der Regierung fehlte es nicht an Bedenken, doch kamen sie ohne Schroffheit zum Ausdruck; Minister Bekk warnte davor, mit Revolution zu drohen, man könne damit den zu erwartenden Widerstand nur verstärken. Und dann gelangte der Antrag mit allen gegen 5 Stimmen zur Annahme und wurde zum Druck und zur weiteren Beratung an die Abteilungen verwiesen. Am wärmsten war Welcker für ihn eingetreten; er that es mit dem Feuer, das die Freude an der endlichen Erfüllung von Jugendhoffnungen verleihen muß, für die man gelitten und gestritten und deren Verwirklichung nun doch, trotz aller Macht der Gegner, herannaht. Unter stürmischem Beifall schloß er seine Rede: „Die Zeit geht im Sturmschritt vorwärts. Bevor noch an der Frühlingssonne das Eis der Gebirge taut, wird an der Sonne des Völkerfrühlings das Eis der Reaktion schmelzen. Sorgen Sie für Dämme, damit der Strom nicht Felder und Fluren verwüste! Bedenken Sie das ewige Wort Niebuhrs: das Recht der Völker ist älter und heiliger als das Recht der Dynastien. Möchten wir nie in die Lage kommen, dieses Wort auszusprechen. Wenn die Nationalrepräsentation nicht von oben kommt, so wird sie in anderer Weise kommen, denn Gott verläßt die nicht, welche sich selbst nicht verlassen. Zertrümmert fast liegt das System der Reaktion – die Zeit mehr als unsere Worte unterstützt den Antrag auf Nationalrepräsentation!“
Ja, die Zeit ging im Sturmschritt vorwärts. Und mit der Wucht eines Frühlingssturmes, der das zähe welke Laub abstreift und alles Keimende in jähen Schuß bringt, folgten vom 24. Februar an dem Ruf nach einem Deutschen Parlament die Nachrichten aus Paris: die Revolution hat gesiegt, Louis Philipp [113] ist mit den Seinen nach England entflohen, die Republik proklamiert! In allen Monarchien des Deutschen Bundes war die Wirkung von gleicher Stärke. In jedem Fürstenschloß weckte die Nachricht Furcht und Beklemmung: die Erinnerung an das Kriegsunglück, welches die erste französische Republik über Deutschland gebracht hatte, verband sich dort mit der Befürchtung, daß von einem Volk, dem 33 Jahre lang der Patriotismus mit allen Mitteln der Macht ausgetrieben worden war, ein patriotischer Heldenmut, wie er die Kämpfer der Befreiungskriege beseelte, kaum noch zu erwarten sei. Im Volke aber ging von Mund zu Munde der Jubelruf: der Tag der Freiheit, der uns auch die Einheit bringt, ist gekommen!
In einer ganzen Reihe von deutschen Staaten herrschte, wie in Preußen, eine feindselige Spannung zwischen Fürst und Volk. In Sachsen wirkte der Konflikt nach, den die Vorgänge in Leipzig am 12. August 1845 heraufbeschworen hatten. Dort war bei Anwesenheit des Prinzen Johann, den man fälschlich für den Urheber von Eingriffen in die Religionsfreiheit hielt, jener Krawall vor dem „Hotel de Prusse“ entstanden, bei welchem Bürgerblut floß, und dessen weitere Ausdehnung dann nur der beschwichtigende Einfluß Robert Blums hintanhielt. In Bayern hatte das Verhältnis des für Kunst und Schönheit romantisch begeisterten Königs Ludwig zu der Tänzerin Lola Montez, die sich Uebergriffe ins politische Leben erlaubte, zu tumultuarischen Auftritten in München geführt, welche das Ansehen des Herrschers tief erschütterten. In Hannover war vom alten Welfenkönig Ernst August die Petition des Landtags um Oeffentlichkeit seiner Verhandlungen mit einem schroffen „Niemals!“ beantwortet und dadurch aufs neue die Erinnerung an den Verfassungsbruch geweckt worden, der zehn Jahre zuvor die „Göttinger Sieben“ aus dem Lande vertrieben. In Kurhessen hatte man endlich Sylvester Jordan von den gegen ihn erhobenen fälschlichen Anklagen freisprechen müssen – nach sechs Jahren schwerer Untersuchungshaft, und vom neuen Kurfürsten Friedrich Wilhelm I war nach hannöverschem Muster beim Antritt der Regierung ein Verfassungsbruch, freilich vergebens, versucht worden. In Württemberg endlich hatte König Wilhelm I, der bei seinem Regierungsjubiläum fünf Jahre vorher zahlreiche Beweise seltener Volksbeliebtheit empfangen, den Stuttgarter „Brotkrawall“, den der herrschende Notstand erzeugt, mit militärischem Aufgebot unterdrückt, und die Drohungen, die sich aus der Menge gegen ihn richteten, hatten ihn tief erbittert.
Ein solcher Notstand, durch Mißernten bewirkt, hatte schon zwei Jahre lang auch in der Mehrzahl der anderen deutschen Länder, vor allem in Bayern, Sachsen und vielen Provinzen Preußens und Oesterreichs, geherrscht, und überall hatten sich die Regierungsorgane und Einrichtungen als völlig unzulänglich für das erforderliche Hilfswerk erwiesen. Der in vielen ländlichen Ortschaften, namentlich Schlesiens, geradezu grauenhafte Verlauf dieser Heimsuchungen offenbarte die Unzulänglichkeit des verrosteten Verwaltungsmechanismus des abgewirtschafteten Polizeistaats in ihrer ganzen Blöße. In Schlesien, wo es zum Ausbruch einer furchtbaren Hungertyphusepidemie kam, vergingen drei Monate, bis die von einem Landrat erbetenen Lebensmittel aus den Militärmagazinen geliefert wurden. Bis Ende 1847 waren allein im Kreise Pleß 7000 Menschen am Typhus gestorben, 961 dem Hunger direkt erlegen. Der König erfuhr von dem Elend erst, nachdem es den Höhegrad überschritten. Furchtbar rächte sich jetzt die gewaltsame Unterdrückung der öffentlichen Meinung und ihres hilfsmächtigsten Mittels, der Presse. Furchtbar trat auch die Pflichtversäumnis zu Tage, welche die kleinliche dynastische Eifersucht und die deutsche Kleinstaaterei durch die Hintanhaltung des Ausbaus eines Grenze mit Grenze verbindenden Eisenbahnnetzes begangen hatten. Während zwischen Englands Seehäfen und Industriecentren längst ein vielverzweigtes Schienennetz den Verkehr vermittelte, kam es zwischen den deutschen Hafenstädten und dem industriereichen Hinterland zu keiner solchen Verbindung, weil das alte Regierungssystem die Eisenbahn als gefährlichen Neuerer haßte und kein Land dem andern den daraus sich ergebenden Vorteil gönnte. Während in einzelnen deutschen Ländern die entstandenen Eisenbahnlinien Handel und Verkehr mächtig hoben, gerieten diese in den eisenbahnlosen ins Stocken; überall aber drückte die englische Konkurrenz auf die Preise der Fabrikindustrie, deren Arbeiterproletariat von der leidenden Landwirtschaft täglich Zuzug erhielt. Von 1840 bis 1847 schnellte die Auswanderung um das Dreifache empor, von 34000 Personen auf 110000.
So kam es, daß die Nachricht von dem kurzen Prozeß, den das Volk von Paris seinem mißliebigen König und dessen Minister gemacht, einen revolutionären Zündstoff in Deutschland vorfand, der nur des Funkens harrte, um aufzuflammen. Ueberall drängte sich in den Residenzstädten hinter den Führern aus dem gebildeten Bürgertum, welche jetzt die Forderungen der Liberalen direkt in die Kabinette der Fürsten brachten, eine zahllose Menge, die kein politisches Ideal, sondern das Elend der Zeit zum Aufruhr antrieb. Und wenn es den Führern der Volksbewegung für jetzt gelang, dieselbe – von Berlin abgesehen – überall in die Bahnen der Ordnung zu lenken, die Gewähr von Preßfreiheit, Oeffentlichkeit der Kammern wie der Gerichte, Volksbewaffnung nebst anderen Rechten durchzusetzen, ohne daß es zu größeren blutigen Zusammenstößen zwischen dem Volke und der Staatsgewalt kam, so war dies den bösen „Mannheimern und Heppenheimern“ zu danken. Sie hatten mit ihrer großangelegten Agitation dafür gesorgt, daß alle die einzelnen kleinen Erhebungen ein großes gemeinsames Ziel auf dem Boden gesetzlicher Ordnung fanden. Ueberall gab es politisch geschulte Männer, welche vor Ministern und Fürsten die Forderungen des Volkes wirksam zu vertreten vermochten, allen voran jene, die mit Itzstein und Welcker in Hallgarten und Heppenheim getagt hatten. Und unter den Forderungen befand sich überall die der „Nationalvertretung beim Bundestag“: ein „Deutsches Parlament!“ Das seit Jahren in den Turner- und Sängervereinen im stillen gepflegte und dort wie überall verfolgte Ideal eines neuen einigen und freien Deutschen Reichs hielt mit seinem berauschenden Glanze die Seele des Volkes im Bann. Die Verwirklichung dieses Ideals, durch eigene Kraft und nach eigenem Ermessen, durch Abgeordnete ihrer freien Wahl in einem freien Parlamente, schien der großen Mehrzahl gewährleistet durch das Versprechen seiner Einberufung. Die Erwartung einer „neuen, großen, guten Zeit“ unterdrückte für jetzt den Ausbruch der elementaren Volksleidenschaften. Nur in Berlin führte die Märzbewegung zu einem blutigen Straßenkampf.