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Wolkenbrüche

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Textdaten
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Autor: M. Hagenau
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Titel: Wolkenbrüche
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aus: Die Gartenlaube, Heft 27, S. 466-467
Herausgeber: Adolf Kröner
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Erscheinungsdatum: 1895
Verlag: Ernst Keil’s Nachfolger in Leipzig
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Erscheinungsort: Leipzig
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Quelle: Scans bei Commons
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Wolkenbrüche.

Wundervolle Sommertage sind es … Wir wandern durch die lieblichen Thäler des Gebirgs. Da grüßt uns das ernste Dunkel der tiefen Buchenwälder, über uns lachen in frischem Grün die prächtigsten Wiesen; wir ziehen durch reiche Obstgärten und wogende Kornfelder. Welche Fülle des Segens hat die Natur über die Thäler ausgestreut und wie wundervoll ist das Landschaftsbild durch wildzerklüftete Kalkfelsen eingerahmt, von deren Zinnen alte Burgruinen herabschauen. Festgegründet scheint hier das Glück der Menschen und die Scholle lohnt die fleißige Arbeit und gehorsam treiben Flüsse und Bäche die klappernden Mühlenräder!

Eines Tages steigen im Südwesten Gewitterwolken auf und eilen wie im Sturm gegen die Bergeshöhen. Wir fürchten sie nicht. Hundertmal, tausendmal sind Gewitter über diese Berge und Thäler niedergegangen und haben keinen besonderen Schaden angerichtet; im Gegenteil, ihre Regengüsse haben die Fluren erquickt und Brunnen und Quellen mit neuen Wasservorräten gefüllt. Und es blitzt und donnert, in Strömen ergießt sich der Regen … Stunden verrinnen und wie verändert ist die Landschaft! Von allen Bergen rauschen Wasserströme hernieder, mit unheimlicher Schnelligkeit schwellen die Bäche und Flüsse an; hoch und höher steigt das Wasser, wie es die ältesten Menschen nicht erlebt haben; es kommt unangemeldet, mit unheimlicher Geschwindigkeit, überflutet die Felder, dringt in Dörfer und Städtchen ein, und die Gewalt seiner Wellen führt Scheunen, Ställe und Wohnhütten fort – verschlingt Hab’ und Gut und teure Menschenleben!

Und wenn die Sonne wieder hinter den Wolken hervorschaut, so leuchtet sie auf ein Bild unaussprechlichen Jammers und Elends nieder; in eine traurige Stätte der Verwüstung ist das liebliche Thal umgewandelt worden, und das alles hat in so kurzer Zeit ein einziger Regenguß – ein Wolkenbruch vollbracht.

Wie oft hört man nicht von solchen schweren Prüfungen, die dieses oder jenes Gebiet betroffen haben! Auch in diesem Jahre haben Wolkenbrüche und die in ihrem Gefolge auftretenden Ueberschwemmungen weite Striche Süddeutschlands und Oesterreichs verwüstet, und da erweckt der Anblick des großen Unglücks lebhafter denn je die Gedanken an Mittel zur Abwehr, unwillkürlich fragen wir uns, ob denn diese Uebel unvermeidbar sind oder ob man der Wiederkehr solcher Katastrophen vorbeugen kann.

Die Wissenschaft hat sich seit langer Zeit mit dieser Frage beschäftigt, denn bei sehr vielen Unternehmungen müssen die Menschen mit der Möglichkeit rechnen, daß plötzlich sehr große Wasserfluten mit dem Regen niedergehen. Baumeister, die unsere Großstädte kanalisieren, andere, die Stromläufe regulieren, Eisenbahningenieure, die Dämme bauen, wollen darüber unterrichtet sein, welche Wassermengen binnen eines Tages oder einer Stunde mit dem Regen niederfallen können, um danach die Weite ihrer Kanäle und Abflüsse einzurichten. Aufgabe der Meteorologen ist es nun, diese Fragen zu beantworten. Ein Netz meteorologischer Beobachtungsposten umzieht ja die Erde, und im Laufe der Jahrzehnte sind höchst wertvolle Aufschlüsse über die Regenverteilung und Regenmenge gesammelt worden.

Die Witterungserscheinungen sind launisch und unbeständig, und auch der Regenfall macht davon keine Ausnahme. In der norddeutschen Tiefebene beträgt die jährliche Regenmenge etwa 700 mm; d. h. es fällt dort im Laufe eines Jahres soviel Regen, daß jeder Quadratmeter der Bodenfläche eine 700 mm hohe Wasserschicht erhält.[1] Diese Regenmenge verteilt sich jedoch nicht gleichmäßig auf Wochen und Monate des Jahres; trockene Zeiten wechseln ab mit regenreichen und dann können Güsse erfolgen, die in kürzester Frist ganz erstaunliche Wassermassen bringen. Prof. Hellmann hat in der Zeitschrift des kgl. preußischen Statistischen Bureaus nachgewiesen, daß im ebenen Norddeutschland überall binnen 24 Stunden ein Niederschlag von 100 mm Höhe eintreten kann.

Im Gebirge liegen die Verhältnisse noch ungünstiger. Dort regnet es überhaupt mehr als in der Ebene, und namentlich diejenigen Seiten der Gebirgsländer sind durch Regenreichtum ausgezeichnet, welche von einem feuchten von dem Ocean kommenden Luftstrom getroffen werden. So sind z. B. in der Schweiz Regenmengen von über 200 mm an einem Tage wiederholt beobachtet worden. In solchen Gebieten muß der feuchte Luftstrom an den Bergen emporsteigen, er kühlt sich dabei ab und der Wasserdampf verdichtet sich alsdann zu Regen. Darum sind auch Gebirgsländer, die aus unmittelbarer Nähe von Oceanwinden getroffen werden, die regenreichsten Striche der Erde und darum treten auch Wolkenbrüche am häufigsten an Abhängen der Gebirge auf. Zur gewaltigsten Entfaltung gedeiht diese Naturerscheinung in den Tropenländern. So erfolgte der stärkste bekannte und gemessene Wolkenbruch zu Cherapongi in Assam, wo an einem einzigen Tage 1036 mm Regen fielen. Wir werden in Deutschland glücklicherweise von solchen Sündfluten nicht heimgesucht, welche Gewalt aber Wolkenbrüche auch bei uns erreichen können, zeigt die in der Nacht vom 22. zum 23. Juli 1855 auf dem Büchenberge zwischen Wernigerode und Elbingerode gemachte Erfahrung. Dort gingen in 24 Stunden solche Wassermassen nieder, daß die gemessene Regenhöhe 248 mm ergab. Nach Angaben Hellmanns ist dies der stärkste Regenfall während eines Tages, den man in Deutschland beobachtet hat. Das Gebiet, über das sich dieser Wolkenbruch erstreckte, war verhältnismäßig gering, denn auf dem Brocken hatte man an jenem Tage nur 63 mm und im Selkethal nur 51 mm Regenhöhe und trotzdem wurde damals Wernigerode durch die größte und plötzlichste Ueberschwemmung in diesem Jahrhundert heimgesucht.

Regen, die gleichmäßig den ganzen Tag dauern, gehören jedoch zu den größten Seltenheiten. Die Wolkenbrüche vollziehen sich zumeist in kürzeren, nur stundenlangen Güssen. Es ist darum von besonderer Wichtigkeit, zu wissen, welche Regenmengen innerhalb kürzerer Zeiträume fallen können. Leider liegen nicht viele solcher Beobachtungen vor, weil auf den meisten meteorologischen Stationen die Regenmesser nur einmal am Tage abgelesen und selbstregistrierende Apparate erst in den letzten Jahren mehr und mehr eingeführt werden. Immerhin hat man hier und dort auch solche Beobachtungen während besonders heftiger Regengüsse angestellt. Die größte stündliche Regenhöhe in Deutschland wurde demnach am 14. August 1884 zu Waltershausen während eines [467] schweren Gewitters beobachtet, sie betrug 75 mm. Sehr lehrreiche Untersuchungen über die Wassermenge eines Wolkenbruches sind von dem Meteorologischen Institut in Chemnitz auf Grund sachgemäßer Beobachtungen angestellt worden. Der Regen fiel dort innerhalb eines Kreises von 2 Kilometern und der Niederschlag erreichte eine Höhe von 40 mm innerhalb 2 Stunden. Es waren somit auf je ein Quadratmeter 40 Liter und auf die genannte Kreisfläche etwa 500 Millionen cbm Wasser niedergegangen. Würde nun diese Menge in ein Thal abfließen, so würde sie vollauf genügen, um ein umfangreiches Dorf 2 m hoch zu überschwemmen. An einigen Stellen sind aber im Mittelpunkt des betroffenen Gebietes noch weit größere Wassermengen, etwa 200 Liter auf den Quadratmeter, niedergegangen!

Schließlich möchten wir noch einige Beispiele kurzer, aber sehr ergiebiger Regengüsse anführen. In Gütersloh fielen während 7 Minuten 14,3 mm und in Wermsdorf in Sachsen erreichte am 9. Juni 1867 die Regenhöhe binnen einer Viertelstunde sogar 31,4 mm; d. h. in je einer Minute ergossen sich hier über 2 Liter Regenwasser auf den Quadratmeter.

Diese Beispiele zeigen uns, welche kolossale Regenmengen in Deutschland in kurzen und kürzesten Zeitfristen einzelne Gebiete überfluten können. In der Niederung sind sie weniger gefährlich, anders aber im Gebirge, wo das Wasser von den Berghängen rasch nach den Thälern fließt und diese als Wildbäche erreicht. Hier kann die Flut, wie kürzlich im Eyachthal, in wenigen Stunden zur verderblichsten Höhe ansteigen, und die Erfahrung lehrt, daß dies jahraus jahrein bald hier, bald dort geschieht.

Wind und Regen sind elementare Gewalten, über die wir keine Herrschaft besitzen. Wir sind nicht imstande, Wolkenbrüche zu verhüten, ja nicht einmal dieselben vorherzusagen. Und doch kann manches geschehen, um die verderblichen Folgen derselben, die Ueberschwemmungen mit ihren Verlusten an Hab' und Gut und Menschenleben, zu verhüten oder auf ein geringeres Maß zurückzuführen. Man muß in das Gebirge hinaufgehen und dort, wo sich die ersten Wasserrinnsale sammeln, durch zweckmäßige Anlagen das Gefälle vermindern, so daß die Wasserfluten sich in Mulden und Becken stauen und langsamer zu Thal abfließen. Und wenn dadurch bei besonders starken Wolkenbrüchen Ueberschwemmungen vielleicht nicht gänzlich verhütet werden, so wird jedoch ihr Umfang und erster Anprall derart gemildert, daß sie nicht so verheerend auftreten und schreckenerregende Katastrophen ausbleiben. Leider werden Vorschläge dieser Art sehr häufig an maßgebenden Stellen abgelehnt, weil die Höhe der Kosten den erhofften Nutzen nicht entsprechen soll. Man berechne den Schaden, den ein einziger Wolkenbruch anzurichten vermag, und man wird anders urteilen. Wind und Wetter können wir nicht gebieten, aber die Wasserläufe in unsrer Heimat müssen wir beherrschen und regeln. Wie bei der Kanalisation einer Stadt mit der Wasserflut eines voraussichtlichen Wolkenbruchs gerechnet wird, so muß auch der Staat die Wasserverhältnisse in einem von Ueberschwemmungen öfter bedrohten Gebiete regeln. Wie schwierig auch diese Aufgabe erscheint, so wird sie mit den Fortschritten der Kultur doch gelöst werden. Dann werden auch die Gebirgsbewohner Wolkenbrüche weniger zu fürchten haben. M. Hagenau.     



  1. 1 mm Regenhöhe bedeutet, daß auf 1 Quadratmeter 1 Liter Wasser mit dem Regen gefallen ist.