Zur Frage der Farbenblindheit
[56] Zur Frage der Farbenblindheit. Auf der einundfünfzigsten Versammlung deutscher Naturforscher und Aerzte zu Kassel kamen die interessanten Streitfragen über die Entstehung und die Verbreitung der Farbenblindheit, welche auch in den Spalten der „Gartenlaube“ im Laufe der jüngsten Jahre mannigfach berührt worden sind, zur Sprache und zum Austrag. Unsere Leser dürfte aus dem Vortrage, welchen der bekannte Augenarzt Dr. Stilling zu Kassel gehalten hat, der Nachweis interessiren, daß, im Gegensatz zu den Ansichten berühmter Sprachforscher, besonders Lazarus Geiger’s, das Auge der alten Völker keineswegs für die blaue Farbe unempfindlich gewesen, und besonders nach der Darwin’schen Theorie die Argumente der Philologen nicht stichhaltig seien. Der Genannte wies nach, daß die Art der Beweisführung jener Gelehrten auf der falschen Voraussetzung beruhe, die Entwickelung der Sprache habe mit der Empfindung gleichen Schritt gehalten; die tägliche Erfahrung am Menschen lehre dagegen deutlich genug, daß Empfindungen vorhanden seien, für welche es keinen sprachlichen Ausdruck gebe, oder, wie bei kleinen Kindern, erst das Wort für die Empfindung anerzogen werden müsse. Schlagend gegen die Theorien der Sprachforscher spreche das Verhalten der Farbenblinden, denen man heutzutage so massenhaft begegne. Wenn nämlich die Farbenblindheit ein zurückgebliebener Zustand aus früherer Entwickelung des Menschengeschlechts, ein sogenannter Atavismus wäre, so müßte, wenn die Wirklichkeit der Theorie entspräche, die Blaublindheit heutzutage am häufigsten vorkommen, dieselbe sei aber selten. Außerdem ist ihre Erblichkeit nicht nachgewiesen, während die Rothblindheit die gewöhnlichste Form und ihre Erblichkeit über alle Zweifel gestellt ist, und – gerade die Alten sollen die rothe Farbe gut unterschieden haben! Dieser einfache Widerspruch, meint Stilling, sei der beste Beweis gegen die Geiger’sche Theorie.