Zur Judenfrage (Hoffmann)/Verhältnis

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[22] Nicht eine besondere Angelegenheit der Judenschaft, sondern eine allgemeine der Regierungen ist die kräftigste Entwicklung der geistigen und körperlichen Kräfte dieses Theils der Bewohner ihres Machtgebiets in der würdigsten und gemeinnützigsten Richtung. Wäre diesem ernsten Bedürfnisse dadurch wesentlich zu genügen, daß aller Unterschied in bürgerlichen und politischen Rechten zwischen Juden und Christen gänzlich aufgehoben würde; so könnten weise Regierungen durchaus keinen Anstand finden, diese Gleichberechtigung unbedingt auszusprechen. Aber die große bis jetzt noch unbesiegte Schwierigkeit liegt darin, daß die Juden durch ihre Religion selbst genöthigt sind, eine besondere Nationalität zu bewahren, obwohl sie längst aufgehört haben, einen selbstständigen Staat zu bilden, und nur noch zerstreut unter anderen Nationen leben. Es kann durchaus kein Zweifel darüber bestehen, daß in einem selbstständigen, von Juden bewohnten und regierten Staate ebensowohl [23] wie jetzt in den Staaten des christlichen Europas der bei weitem überwiegend größte Theil der Einwohner den Anbau des Bodens und alle diejenigen Handarbeiten betreiben würde, welche die Befriedigung der ersten Lebensbedürfnisse fordert; und ebenso dürfte und könnte nur ein kleiner Theil der Einwohner sich den mechanischen Künsten, dem Handel mit allen seinen Hülfsgewerben, der Verwaltung öffentlicher Angelegenheiten und den Wissenschaften widmen, weil nur bei solcher Vertheilung und Verwendung der körperlichen und geistigen Kräfte, Selbstständigkeit und Unabhängigkeit, häusliches Glück und öffentliche Wohlfahrt bestehen kann. Daß es nur Arbeitsscheu, nur Mangel an Ausdauer und Stetigkeit, nur besondere Neigung zu gewissen Formen des Gewerbes und Verkehrs sei, was die Juden von dem Betriebe körperlicher, namentlich landwirthschaftlicher und Handwerkerarbeiten abhält, ist theils durch klare Thatsachen zu widerlegen, theils durch Verständigung über die zeitige Stellung der Juden zu berichtigen. Als herumziehende Krämer, belastet mit schweren Packen, und als Frachtfuhrleute zeigen die Juden eine Ausdauer in Wind und Wetter, und eine Unermüdlichkeit bei geringer Kost und deshalb schwächlichem Körperbau, wogegen der Vorwurf einer Abneigung vor schweren körperlichen Arbeiten durchaus nicht aufkommen kann. Für den Kleinhandel, das Aufkäufer-, Mäkler- und Wechslergeschäft hat sich in der Judenschaft schon deshalb eine besondere Gelehrigkeit und Gewandtheit ausbilden müssen, weil diese Gewerbe seit Jahrhunderten in Folge theils ihrer bürgerlichen, theils ihrer religiösen Verhältnisse fast die einzigen waren, welche sie betreiben konnten. Die Nothwendigkeit, bei starker Mitbewerbung ihren Unterhalt damit zu verdienen, gab der Erziehung von frühester Kindheit an und der Entwicklung aller Geisteskräfte eine Richtung auf dieselben, welche, durch lebenslängliche Gewohnheit befestigt [24] als Erbtheil der Väter auf Kinder und Enkel überging. Aber dem Juden in seiner jetzigen Stellung erschweren es die Vorschriften und Gebräuche seines Glaubensbekenntnisses, Handarbeiten gemeinschaftlich mit Christen zu verrichten. Die Christen aller Religionsparteien feiern gemeinschaftlich die Sonntage und die meisten Kirchenfeste. Römischkatholische und Evangelische, welche namentlich in Deutschland häufig vermischt neben einander wohnen, haben jährlich höchstens zwei einzelne Feiertage, welche jeder Theil ins Besondere durch Enthalten von seinen gewöhnlichen Berufsarbeiten heiligt. Die Juden können schon vermöge ihrer Minderzahl keinen Anspruch auf die Befugniß machen, an diesen Sonn- und Festtagen, welche zusammengenommen beinahe ein Sechstheil des Jahres ausmachen, die Feier der Christen durch öffentlichen Betrieb ihrer Geschäfte zu stören; sie verlieren aber für ihren Erwerb noch ein zweites Sechstheil des Jahres durch die strenge Feier ihrer Sabathe und Kirchenfeste, welche nicht auf die gleichen Tage mit den christlichen fallen. Der Nachtheil, welcher hieraus bei den meisten körperlichen Arbeiten entsteht, ist schon an sich so bedeutend, daß es für den Juden sehr unvortheilhaft bleiben würde, sich denselben zu widmen. Der Jude darf nicht allein lebenslänglich das Fleisch von ihm für unrein geachteter Thiere nicht genießen, sondern auch die reinen müssen unter Beobachtung besonderer Gebräuche für ihn geschlachtet werden, und überhaupt ist in der Zubereitung seiner Speisen so viel Eigenthümliches, daß eine strenge Beachtung seiner Ritualgesetzte es ihm beinahe unmöglich macht, an den Mahlzeiten der Christen theilzunehmen. Dadurch wird alle häusliche Genossenschaft, alles Zusammentreten zu gemeinschaftlichem Genusse nach gemeinschaftlicher Arbeit für den Juden in solchem Maaße erschwert, daß er es nur im höchsten Nothfalle räthlich finden kann, sich darauf einzulassen. Zwar mangelt es auch in [25] den niedern Ständen nicht an Beispielen, wo Juden eine Gemeinschaft körperlicher Arbeiten mit den Christen dadurch erleichterten, daß sie der strengen Beachtung solcher trennenden Religionsgebräuche entsagen; aber sie verloren dadurch sehr wesentlich in der Meinung der großen Masse der Christen, welche Achtung für den angestammten Glauben und die Sitte der Väter an den Genossen jedes Religionsbekenntnisses ehrt. So wird es sehr erklärlich, wie in dem langen Zeitraum von dreißig Jahren, welcher seit der Verleihung des Staatsbürgerrechts durch das Edikt vom 11. März 1812 verflossen ist, sich noch so wenig in den gewöhnlichen Beschäftigungen derjenigen Juden geändert hat, welche dadurch die Freiheit erhielten, bürgerliche Gewerbe jeder Art im Preußischen Staate zu betreiben. Auch die vollendetste und unbeschränkteste Gleichstellung aller Juden im Preußischen Staate in bürgerlichen und politischen Rechten kann eine Gleichheit in der Wahl der Erwerbsmittel zwischen Christen und Juden nicht hervorbringen. Den Juden wird darum nicht minder sein Glauben, welcher ihn von den Christen trennt, auch von der Theilnahme an den meisten körperlichen Arbeiten desselben ausschließen. Der Kleinhandel, welcher ohne langwierige und kostbare Vorbereitung unabhängig von Arbeitsgenossen betrieben, und hauptsächlich durch Aufmerksamkeit, Beharrlichkeit und schnelles Erfassen des günstigen Augenblicks lohnend wird, bleibt ebendeswegen auch bei voller gewerblicher Freiheit stets das angenehme Geschäft für die große Zahl derjenigen Juden, die, gleich den großen Volksmassen überhaupt, wenig Anlagen und Mittel zur höhern Ausbildung besitzen. Auf etwas höhern Bildungsstufen, bei mehr Verlag oder Kredit eignen dieselben Verhältnisse zu den Geschäften eines Pfandleihers, Wechslers, Kommissionairs und Lieferanten. Wo noch mehr Kapital zur Verfügung steht, reihen sich hieran gewerbliche Unternehmungen von [26] bedeutendem Umfange, welche mit christlichen Arbeitern betrieben werden, weil aus diesen überhaupt der Arbeiterstamm besteht. Werden gute natürliche Anlagen weniger durch Kapitalbesitz unterstützt, so wenden sich dieselben den mechanischen Künsten zu. Unter den Stempelschneidern, Kupferstechern und Verfertigern optischer und mathematischer Instrumente befinden sich verhältnißmäßig viel Juden. Wenn dieselben das Geschäft der Gold- und Silberarbeiter und der Uhrmacher selten betrieben, so scheint die Veranlassung dazu nur darin zu liegen, daß diese Gewerbe bisher gewöhnlich zunftmäßig bei christlichen Meistern erlernt werden mußten. Wissenschaftliche Studien führen überhaupt zu Stellungen im geselligen Leben, worin der Jude sich in Bezug auf seine Religionsverhältnisse freier bewegen kann; wo Mittel vorhanden sind, sich denselben zu widmen, wird er sich dafür entscheiden. Aber bisher gewährte fast nur das Studium der Arzeneikunde Aussicht auf einen zum Lebensunterhalt hinlänglichen Erwerb. Die Zahl der jüdischen Aerzte übersteigt daher auch sehr weit das Verhältniß, worin die Zahl der Einwohner jüdischen Glaubensbekenntnisses zu den Einwohnern christlicher Religion steht. Während die Juden nur 1/77 der Gesammtbevölkerung sind, und obwohl dieselben überdies nach der zeitigen Medicinal-Verfassung weder Militärärzte noch Kreisphysici werden können, so gehört doch wahrscheinlich wenigstens ein Siebentheil unserer Aerzte zu den jüdischen Glaubensgenossen, oder doch zu den erst neulich daraus zum Christenthum Uebergetretenen. Es scheint nicht zweifelhaft, daß die Juden sich auch in demselben Verhältnisse dem Studium der Rechte und der Kammeral-Wissenschaften zuwenden dürften, sobald ihnen die Aussicht auf gleiche Beförderung im Staatsdienst eröffnet wäre. Im Allgemeinen stellt sich hiernach das Verhältniß so, daß die Judenschaft schon jetzt in den mittlern Regionen des geselligen Lebens [27] eine weit ausgedehntere Stellung einnimmt, als dieselbe nach Maaßgabe ihrer Anzahl einnehmen würde, wenn ihre Religionsgebräuche keinen Einfluß auf die Wahl ihrer Erwerbsmittel hätten. Dasselbe Verhältniß würde sich auch in den höheren Regionen des Staatslebens offenbaren, sobald die Landesverfassung sie nicht mehr hinderte, dahin zu gelangen. So billig einerseits die Anforderung ist, daß die Religionsverschiedenheit Niemand hindern sollte, von seinen körperlichen und geistigen Kräften den möglichst vortheilhaftesten Gebrauch zu machen; so billig erscheint anderseits auch die Bedingung, daß Religionsverhältnisse kein besonderes Andringen zu den mittlern und höhern Klassen der bürgerlichen Gesellschaft dadurch veranlassen sollten, daß sie der Theilnahme an den Arbeiten der zehn- und hundertfach zahlreicheren niedrigern sehr erhebliche Hindernisse entgegenstellen. Wenn einerseits der Vorwurf zurückgewiesen wurde, daß Arbeitsscheu und Mangel an Stetigkeit den Juden abhalte, sich den ländlichen, Handswerks- und Fabrik-Arbeitern der Christen anzuschließen; so darf anderseits einer Meinung auch nicht Raum gegeben werden, welche den Juden höhere geistige Fähigkeiten beilegt, als dem Christen. Indem eine Masse von Erfahrungen beweist, wie viele glückliche Geistesanlagen unter der Last schwerer körperlicher [1] Arbeiten unausgebildet verkümmern müssen, weil auch die reichsten Nationen noch viel zu arm sind, um ihrem Handarbeiterstamme Raum zur vollständigen Entwickelung seiner Geisteskräfte zu geben; so kann es diesen gegenüber nur als Anmaßung erscheinen, wenn als besondere Gunst der Natur geltend gemacht werden will, was nur die Frucht eines Lebensverhältnisses ist, das zur sorgfältigen Ausbildung der natürlichen Anlagen zwingt, welche da, wo solche Verhältnisse nicht bestehn, mehrentheils unentwickelt bleiben. Eine vollständige Gleichstellung in politischen und bürgerlichen Rechten, würde für die Juden [28] den selbst höchst verderblich sein, wenn es unbeachtet bliebe, dieselbe mit Anordnungen zu verbinden, welche das Andringen zu den höhern Stellungen im Leben auch bei der Judenschaft auf dasjenige Maaß zurückführen, welches sich bei den Christen aus den Lebensverhältnissen der verschiedenen Stände bei voller Freiheit der Wahl der Beschäftigung ergiebt. Die Bitterkeit, welche dieses Andringen schon jetzt kenntlich genug erzeugt, steigerte sich dann unvermeidlich zu solchem Umfange und zu solcher Kraft, daß die Macht der öffentlichen Meinung die Judenschaft weit empfindlicher treffen würde, als die gesetzlichen Beschränkungen, welche die Regierungen jetzt noch bestehen ließen.

Betrachtungen, wesentlich aus der vorstehend entwickelten Ansicht, sind schon längst selbst von verständigen Juden angestellt worden. In dem Gedächtnisse der ältern Zeitgenossen wird die Erinnerung an das „Sendschreiben einiger Hausväter jüdischer Religion an den Probst Teller zu Berlin“ noch nicht erloschen sein, welches im Jahre 1799 durch den Druck veröffentlicht wurde. Diese Hausväter, ausgezeichnete und allgemein geachtete Mitglieder der Berliner Judengemeinde, erkannten wohl, wie sehr ihre Ritualgesetze sie verhindern, an allen gewerblichen und geselligen Verhältnissen der Christen Theil zu nehmen; sie hielten sich jedoch überzeugt, daß diese Ritualgesetze nur ein außerwesentlicher Zusatz zu der Religion ihrer Väter sind, deren Kern nach ihrer Ansicht in dem Glauben an einen allmächtigen und allwissenden Gott, der die Welt regiert, an eine Fortdauer des Menschen über das Ende seines irdischen Lebens hinaus, und an Folgen seiner Handlungen auch in jener Zukunft besteht. Die Zeit, worin die Beobachtung dieser Ritualgesetze noch ein Bedürfniß des jüdischen Volkes war, ist ihrer Ueberzeugung nach längst verschwunden, und den Lehrern dieses Volkes liegt jetzt die Verpflichtung ob, deren [29] Aufhebung durch verständigen Unterricht einzuleiten. Aber es entging ihnen nicht, daß ein solcher Fortschritt der Judenschaft in ihrer Gesammtheit noch keinen Anspruch auf Gleichstellung mit den Christen in bürgerlichen und politischen Rechten verschaffen könne, weil sie wohl einsahen, daß kein Volk mit den vorstehend angegebenen Glaubenslehren allein bestehen könne. Daher verlangten sie von einem der geachtetsten evangelischen Geistlichen Auskunft darüber, was sie nach seiner Meinung noch weiter zu thun hätten, um in die Gemeinschaft der Christen aufgenommen zu werden. – Die jedenfalls sehr lehrreiche Beantwortung des Probstes Teller ward ebenfalls gedruckt. Ihr Inhalt gehört nicht hierher, da jedes Zeitalter jene Frage nur nach seinen Ansichten beantworten kann. Aber die Behutsamkeit, womit der damals hochverehrte Lehrer der Erwartungen gedenkt, wozu die Fortschritt der Bildung unter Christen und Juden schon in der nächsten Zukunft berechtigen dürften, möge denjenigen zum Muster dienen, welche von den Regierungen unserer Zeit und von der Gesetzgebung des Tages die vollständige Verbesserung von Verhältnissen fordern, die längst entschwundene Zustände und Vorstellungen erzeugten, und tausendjährige Gewohnheiten befestigten.

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Original: körperlichen