Zur Naturgeschichte der „Seeschlangen“

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Autor: Dr. B. (W.)
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Titel: Zur Naturgeschichte der „Seeschlangen“
Untertitel:
aus: Die Gartenlaube, Heft 24, S. 404
Herausgeber: Ernst Ziel
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Erscheinungsdatum: 1884
Verlag: Ernst Keil’s Nachfolger in Leipzig
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Erscheinungsort: Leipzig
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Originalherkunft:
Quelle: Scans bei Commons
Kurzbeschreibung: Seeungeheuer als optische Täuschung
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[404] Zur Naturgeschichte der „Seeschlangen“. Im milden Frühherbste des Jahres 1873 saßen wir selbdritt während der ersten Stunden einer jener lauen, wundersamen Vollmondnächte, wie sie der Herbst an den Schweizerseen oft noch bringt, am baum- und rebenreichen Ufer des stillen, melancholischen Untersees. Es war am Tage von Sedan, den zu feiern mehrere deutsche Curgäste der Kaltwasseranstalt M., und darunter am wenigsten einige schon lange in der Schweiz eingebürgerte Stammesbrüder, trotz aller Einwendungen sich nicht hatten nehmen lassen, worüber die Insassen des Grenzdörfchens ihrerseits in unbegreifliche Erregung geriethen. Um nun aber nach Beendigung des üblichen Feuerwerkes durch unsere Gegenwart nicht weiter zu reizen, hatten wir uns an das Seegestade zurückgezogen.

Die große Wasserebene lag wie ein glänzender Spiegel da, darinnen nur der Mond sein magisches Licht reflectirte; alles Geräusch ringsum war verstummt und selbst die stummen Fische waren noch stiller geworden, als tagsüber; denn lange Zeit ließ sich keiner beikommen, seinen Kopf über die krystallklare Fluth behufs luxuriöseren Luftschnappens zu erheben.

Plötzlich jedoch entstand inmitten einer großen seichten Ausbuchtung des Sees ein starkes Geräusch, und beim raschen Hinschauen glaubten wir alle drei gesehen zu haben, wie ein mindestens fünf bis sechs Meter langes fisch- oder schlangenartiges Unthier an der Oberfläche blitzschnell dahinschoß. Von dem Thiere sah man nur den grauschwarzen, eigenthümlich wellig eingebogenen Rücken, der etwas über das Wasser hervorragte. Da wir nur diesen wahrnehmen konnten, war es nicht möglich, sich eine bestimmte Meinung über die Species desselben zu bilden.

Einer sagte endlich lachend: „Das war sicher eine Seeschlange!“, worauf der andere fortfuhr: „Aber offenbar nur eine Untersee-Schlange!“. Der dritte behielt seine Ansicht für sich und erklärte nur, er wolle sich andern Tags bei den Fischern erkundigen, ob sie vielleicht auch schon eine ähnliche Beobachtung gemacht hätten und was dann ihre Meinung sei, da sie ja die Fauna des Seebeckens genau kennen müßten.

Ich dachte im Stillen sofort an eine Sinnestäuschung, vielmehr an eine optisch-physiologische Begründung der Erscheinung.

Des andern Morgens fuhren wir unter Leitung des kundigsten Seglers unter den Fischern im Nachen auf dem See. Dabei erzählten wir diesem das Ereigniß vom vorhergehenden Abend und sprachen die Zwei auch wieder ihre Vermuthungen aus.

Der Fischer jedoch sagte lebhaft in seinem krächzenden Dütsch: „Dees is ’n Heacht g’si!“ und erzählte sofort, daß er ganz früh in der Nähe jener Stelle eine Seeforelle von 10 Pfund Schwere – ein guter Fund, denn das Pfund kostete 1 Franken! – mit einer großen Wunde in der Seite auf dem Wasser todt schwimmend angetroffen und auch bereits verkauft habe; im See gebe es Hechte von 50 und mehr Pfund Schwere.

Also ein Hecht und keine Seeschlange! – Wenn jener demnach auch keine Seeschlange war, so kann er doch die Fabel von der letzteren erklären helfen; denn offenbar kommt die weltbekannte Seeschlange des atlantischen Oceans stets ebenso zu Stande, wie die kleinere Unterseeschlange in unserem Fall! Nämlich so:

Die Netzhaut unseres Auges hat die Eigenthümlichkeit, daß die Bilder, welche sie treffen, auf ihr nicht sofort wieder erlöschen, sondern noch eine kurze Zeit nachhalten. So entsteht bekanntlich, wenn man ein glimmendes Streichhölzchen rasch im Kreise herum oder wenn man es liniengerade schnellstens hin- und herbewegt, nicht der Eindruck von einzelnen getrennten Lichtpunkten, sondern der einer zusammenhängenden Kreis- oder geraden Linie aus glühender Masse. Wenn die leuchtende Streichholzspitze nämlich von a nach i fortgerückt ist, ist das Bild von a noch nicht und sind noch weniger die Bilder von b c d e f g und so fort schon erloschen, sondern es lassen alle zusammen den Eindruck jener feurigen Linie zurück, respective sie bilden diesen Eindruck.

Gerade so geschah es auch mit unserem pfeilschnell eine größere Strecke lang dahinschießenden Hechtrücken! Er erschien dem hinsehenden Auge als ein meterlanges graurückiges Unthier, als eine Unterseeschlange! Die seitlich sofort wieder zusammenfallenden, vorher aus einander getriebenen Wasserwellen aber gaben demselben das eigenthümlich wellige Aussehen.

Sonach hatte diese Unterseeschlange keine wirkliche Existenz, sondern verdankte den Anschein dieser einer physiologischen Eigenthümlichkeit der menschlichen Netzhaut. Gerade so verhält es sich offenbar auch stets mit der allsommerlich in den Zeitungen beschriebenen und zuweilen sogar abgebildeten „großen Seeschlange“.

Wird diese nun wohl nach obigen Auseinandersetzungen nur noch als sozusagen optische Täuschung fortan figuriren? Das soll sie bei Leibe nicht! Wir wollten ja den Zeitungen gar nicht ihre Seeschlangen, die sie, wie bekannt, in den Hundstagen so gut gebrauchen können, nehmen, sondern sie nur naturwissenschaftlich deuten. Dr. B. (W.)