Zwei Momente aus dem deutschen Befreiungskriege
[399] Zwei Momente aus dem deutschen Befreiungskriege. Als zu Anfang des Jahres 1813 in Preußen die Flammen der Begeisterung zu einer Riesenlohe emporschlugen und es nicht anders war, als wenn auf allen Straßen Alarm geblasen, Generalmarsch geschlagen würde und auf den Bergen die Flammenzeichen gebrannt hätten, als die Hoffnung durch alle Herzen sang und klang und begeistert von Kanzel und Katheder tönte – da war wohl die Freude bei den Lenkern des Staates und bei allen, die auf diesen Aufschwung durch jahrelanges Arbeiten hingewirkt hatten, groß und überwältigend. Aber mancher von ihnen konnte sich doch bei alledem einer gewissen Besorgniß nicht erwehren, was da werden sollte, falls der bevorstehende Kampf nicht schnell beendet würde. So war es der herrliche Gneisenau vor Allen, dem vor solchem Falle bangte und der, wenn auch hoch beglückt über die patriotische Erhebung, sorgenvoll äußerte: „Aber wenn, was Gott verhüte, der Krieg jahrelang dauerte, dann mag Gott wissen, was aus uns allen werden wird. Das Blut der Männer des dreißigjährigen Krieges steckt noch in uns, und eine lang genährte Erbitterung würde dann Verwilderung und durch diese eine wechselnde Zerstörung hervorrufen, unser Erbfeind aber wie damals jubeln.“
Gneisenau war es aber auch vor Allen, der mit Blücher auf die Verkürzung des Krieges durch kühne und geniale Unternehmungen hinarbeitete, und der mit Blücher und dem ganzen Hauptquartier der schlesischen Armee den Geist wach hielt, mit dem der heilige Kampf begonnen worden. Jede Ausschreitung, mochte sie noch so gering sein, wurde streng geahndet, und es kamen dergleichen eigentlich nur in Frankreich und auch nur ganz vereinzelt vor. Ja dieselben verschwinden gänzlich, wenn man sie vergleicht mit dem langjährigen Auftreten der Franzosen in Deutschland. Aber in reichster Fülle wissen die Annalen des schlesisches Heeres zu erzählen von einzelnen Zügen, Momenten, Episoden, in denen sich bald in Worten, bald in Thaten jene über alles Lob erhabene Stimmung offenbarte, unter deren Herrschaft die Freiwilligen zusammengekommen und die Landwehren organisirt worden waren. Zwei solcher Momente sind es nun, die hier hervorgehoben werden sollen, von denen der eine uns diese Stimmung, diesen Geist unmittelbar nach einer gewaltigen Schlacht, der andere am Vorabend einer solchen zeigt.
Die Strategie des Blücher’schen Generalstabes war im Begriff ihren Meisterzug zu thun. Es galt Napoleon zu täuschen durch einige zu Demonstrationen zurückgelassene Abtheilungen und mit dem Gros der Armee die Elbe plötzlich zu überschreiten. Durch dieses kühne Vorgehen hoffte man die beiden stärkern Armeen, die böhmische und die Nordarmee, vorwärts stürmend mit sich zu reißen und zum letzten entscheidenden Schlage zu concentriren. Am 3. October, eines Sonntags, fand der Uebergang über die Elbe statt, dessen Gelingen vorzüglich der wunderbaren Bravour des York’schen Corps zu danken war. Der alte Oberst Horn sollte sich vor Allen mit Ruhm bedecken; an der Spitze eines Bataillons führte er seine Truppen vor, die erste Kugel aus der feindlichen Batterie, die den Damm, der zu erstürmen, deckte, traf sein Pferd, das todt unter ihm zusammenstürzte. Rasch jedoch sprang er empor, raffte ein Gewehr eines todtgeschossenen Soldaten auf und mit dem Ruf: „Ein Hundsfott, der schießt!“ eilt er seiner Mannschaft voran. Durch einen Morast mußte man hindurch, die feindliche Batterie speit einen Kartätschenhagel, ganze Rotten werden niedergeschmettert, aber Wartenburg, der Schlüssel der feindlichen Position, wird erstürmt. Bertrand commandirte die Franzosen; er mußte jetzt zurück und 11 Geschütze und 70 Munitionswagen in den Händen der Sieger lassen. Freilich das York’sche Corps allein hatte 2000 Todte und Verwundete, und bis zum späten Abend hörte man auf der blutgetränkten Bruchwiese, wo der Kampf am härtesten getobt, den schauerlichen Klang gedämpfter Trommeln. Gewaltige Opfer hatte der Uebergang gekostet, aber der Feldzug war dadurch auch der glücklichen Entscheidung nahe gebracht.
Nach dem Kampfe nahm Blücher sein Quartier auf dem Wartenburger Schlosse. In dem großen Saale desselben, den freilich die Kugeln hart mitgenommen hatten, versammelten sich die Officiere seines Stabes zur Tafel. Da also kamen jetzt zusammen neben Blücher und Gneisenau der herrliche Grolman, der liebenswürdige Oppen, Müffling, jüngere Officiere, wie der treffliche Sohn des edlen Scharnhorst, Freiwillige, wie Eichhorn, der schon mit Schill ausgezogen war, oder wie Steffens und Raumer, die von dem Lehrstuhle auf das Schlachtfeld gingen. Herrschte nun immer in diesem Kreise Freudigkeit und heitere Laune, wie sollte sie nicht jetzt nach einem so bedeutungsvollen Siege geherrscht haben? Alle waren heiter gestimmt, der Wein war vortrefflich, das Gespräch belebt. Da nahm gegen Schluß der Tafel die ganze Festlichkeit eine bedeutende und ergreifende Wendung. Der greise Feldherr verwandelte das ganze Mahl in ein Trauermahl zum Andenken des verstorbenen Scharnhorst. Er ergriff das Wort, das ihm so sehr zu Gebote stand, und in einer alle Hörer tief erschütternden Rede gab er eine Darstellung der Verdienste des großen Kriegers und des herrlichen Menschen. Anschaulich und lebendig, wie er stets zu sprechen pflegte, floß seine Rede, und der fast unwillkürliche Schluß derselben wird uns von einem Theilnehmer des Mahls als ein wunderbares Product dichterischer Begeisterung geschildert. Am Schlusse rief er den Sohn des dahingegangenen Helden, den Lieutenant Scharnhorst, zu sich; dieser, der es liebte, seine tiefsten Empfindungen durch ein ruhiges Aeußere zu beherrschen, mußte sich dem Greise gegenüberstellen und vermochte es ebenso wenig als alle Uebrigen, die tiefe Erschütterung zu verbergen.
So wurde die Siegesfeier eine Todtenfeier Scharnhorst’s, des edeln, der wohl die Blüthe seiner Pflanzungen hatte aufgehen sehen, nicht aber die Früchte und die volle Ernte. Jetzt gedachte Blücher seiner, nach dem er von Neuem gesehen, wie sich der Geist, den derselbe in dem preußischen Heere entzündet, immer und immer glänzender bewährte.
Von Wartenburg stürmte man vorwärts, dem Entscheidungskampf von Leipzig zu. Am 11. October concentrirte sich die schlesische Armee in und bei Halle. Der Jubel der guten altpreußischen Stadt, die schon 1809 gegen Schill und dann wieder im Frühling dieses Jahres, wo Bülow hier gekämpft hatte, ihre Anhänglichkeit an das alte Vaterland gezeigt, war unbeschreiblich. Drei Tage blieb man ruhig in dieser Stellung, bis sich die Dinge, die sich um Leipzig vorbereiteten, aufgeklärt hatten. Alles vereinigte sich hier, diese Tage so unmittelbar vor der gewaltigen Völkerschlacht zu glücklichen und erquickenden zu machen. Mit größter Liebe und Herzlichkeit waren die preußischen Truppen aufgenommen worden und hatten in ihren Quartieren die beste Verpflegung. Wie mancher im Corps, Officiere, wie Freiwillige und Landwehrmänner hatten hier in Halle studirt und freuten sich, an die alten Erinnerungen wieder anknüpfen zu können, freuten sich Giebichenstein, Possendorf und den Rathskeller wiederzusehen! Ein großer Commers ward arrangirt. Viele von den ehemaligen Professoren der Universität waren noch in Halle, so daß Steffens und Carl von Raumer, jetzt in preußischer Officiersuniform, manchen alten Collegen begrüßen konnten. Auch der treffliche Heinrich von Krosigk kam jetzt wieder dorthin, wo er seine väterlichen Güter hatte.
Unter der westphälischen Herrschaft hatte er stets seine Würde behauptet und scheinbar fern von aller Theilnahme an politischen Händeln eifrig sich der Landwirthschaft hingegeben. 1811 wurde er plötzlich mit Blanc, Willisen und andern des Hochverraths verdächtig aufgehoben und nach Cassel in’s Gefängniß geschleppt. Im nächsten Jahre allerdings ließ man ihn wieder frei, aber nur gegen Caution seines ganzen Vermögens. Das hinderte ihn aber nicht, im Frühling des Jahres 1813 seine altpreußische und deutsche Gesinnung zu zeigen. Weib und Kind brachte er in Sicherheit und eilte in die Reihen der alten Cameraden, mochte Hab und Gut in die Hände des Casseler Regiments fallen. Jetzt führte er die Brandenburger Füsiliere und freudigen Herzenn trat er nun in den Kreis seiner hallischen Freunde. Natürlich eilte er auf sein Gut hinaus, das er in schrecklichem Zustande fand. Man hatte furchtbar dort gehaust, aber seine Bauern hatten gerettet und geborgen, was zu retten war, der Pachtzins war aufgehoben, Bibliothek und Weinkeller unversehrt. Zurückkehrend von dem Sitze seiner Väter, sagte er in der Freude seines Herzens zu einem Freunde: „Es stehen uns heiße Tage bevor; wenn Gott uns das Leben läßt, trinken wir nach gewonnener Schlacht auf das Wohl meiner braven Bauern.“ – Doch er war unter den Tausenden, die den Sieg über den corsischen Zwingherrn mit ihrem Blute besiegeln sollten. In der Schlacht bei Möckern, also wenig Tage später, faßte er, indem er mit seinem Bataillon auf ein französisches Bivouak stürmte, den langen Flügelmann und warf ihn mit gewaltiger Faust zu Boden. Da traf ihn Kugel und Bajonnet; sterbend winkte er noch mit dem Degen vorwärts und sagte, da man ihn wegtragen wollte: „Laßt mich und siegt!“; er schleppte sich zu einem Erdhaufen und verschied da; „wer rückwärts sähe, den hätt’ die Leiche zurückgedräut!“
Und wie ihn der glänzende Sieg bei Möckern als Opfer forderte, so auch manchen von denen, die sich in jenen Tagen der Ruhe an einem Abend auf dem Rathskeller zusammenfanden, in feierlichem Commers mit Landesvater und durchstoßener Feldmütze das hallische Studententhum zu erneuern. – Was ist es doch mit dem deutschen Studententhum für ein eigenthümlich Ding; ein Afterbild des Mittelalters hat man es genannt, und jeder hat einmal darüber gelächelt. Aber wer es aus eigner Erfahrung kennt, denkt doch nur mit Freude und Rührung daran zurück, vor allen an die hohen Feste des Studententhums, an die Commerse. Man hat sich erhoben gefühlt dabei, wie bei einem heiligen Act, und die edelsten Gefühle wurden durch sie genährt oder erweckt. So der Eindruck, den eine solche Studentenfeier unter alltäglichen Verhältnissen macht – wie muß der Eindruck gewesen sein bei diesem Hallischen Commers, der wenig Tage vor dem entscheidenden gewaltigen Riesenkampfe bei Leipzig von alten Studenten abgehalten wurde, die jetzt für die Ehre und Freiheit des Vaterlandes, für die sie wohl schon vor Jahren an demselben Platze sich begeistert hatten, ausgezogen waren! Mit welcher Andacht mochte man singen, mit welcher Andacht die Feldmützen durchstoßen! – Neben den Studirten saßen aber auch die Nichtstudirten, saßen Stabsofficiere und Landwehrmänner neben einander recht im Sinne dieses preußischen Heeres, dieses deutschen Krieges. Mitten unter der Schaar saß der Oberst von Borcke, der erste Ritter vom eisernen Kreuze, saß der Major von Schack, der Adjutant York’s, „auch der alte General Horn hat dort sein Smollis gerufen und Graf von Brandenburg sein Fiducit geantwortet.“ – Die Todtenfeier Scharnhorst’s auf Schloß Wartenburg und dieser Commers unmittelbar vor der blutigen Entscheidung in Leipzigs Ebenen – welch herrliche Momente des heiligen Krieges!