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Zwei Weihnachtsabende (Die Gartenlaube 1884/51)

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Textdaten
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Autor: E. H.
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Titel: Zwei Weihnachtsabende
Untertitel:
aus: Die Gartenlaube, Heft 51, S. 842–846
Herausgeber: Ernst Ziel
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Erscheinungsdatum: 1884
Verlag: Ernst Keil’s Nachfolger in Leipzig
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Erscheinungsort: Leipzig
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Quelle: Scans bei Commons
Kurzbeschreibung:
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Zwei Weihnachtsabende.

Skizze von E. H.0 Mit Illustrationen von Prof. P. Mohn.
1.

Auf der festgefrorenen Chaussee, die nach dem Landstädtchen B. führt, rollte schwerfällig der Postwagen dahin. Die Insassen waren eine elegant gekleidete, sehr bleich und leidend aussehende Dame und ein kleines, etwa drei Jahre altes, reizendes Mädchen, dessen dunkellockiges Köpfchen aus einer weißen Pelzmütze guckte. „Sind wir noch nicht bald da, Mama?“ frug das Kind mit weinerlicher Stimme. Die Angeredete nahm die Kleine auf den Schoß, sie zärtlich an sich drückend. „Bald, mein Liebling, siehst du da unten die Lichter schimmern? Das ist B.“ sagte sie.

Während im Walde Dunkelheit geherrscht hatte, leuchtete im Städtchen eine wahre Lichtverschwendung.

Es war heiliger Abend. Aus all den großen und kleinen Häusern, an welchen die schwerfällige Postchaise vorbeihumpelte, strahlte der Lichterbaum und scholl fröhlicher Kinderjubel heraus. Die kleine Marie im Postwagen hatte sich an’s Fenster gestellt und tippte mit den rosigen Fingerspitzen an die gefrorenen Scheiben; wenn dann das Eis geschmolzen war, guckte sie hindurch und jauchzte auf, wenn sie einen geschmückten Tannenbaum erblickt hatte.

Die junge, bleiche Frau drückte zuweilen ihr Taschentuch an die Augen, die in Thränen schimmerten.

Endlich hielt der Wagen mit plötzlichem Ruck vor einem stattlichen Hause still, das friedlich aus den beschneiten Bäumen, die es umgaben, herausschaute. Der alte Postillon öffnete den Schlag, und die Beiden stiegen aus.

Die Dame nahm die Kleine an der Hand und zog die Klingel. Bald öffnete eine freundliche Magd, welche die Fremden auf ihren Wunsch in des Herrn Pfarrers Zimmer führte. Die Thür zum Wohnzimmer stand offen, und da stand ja auch der schöne Weihnachtsbaum, um den eine muntere Schaar tanzte. Mariechen entwand sich rasch der Hand ihrer Mama und trat furchtlos auf die Schwelle. Die Jungen und Mädchen hielten [843] plötzlich inne und starrten mit offenen Mäulchen das fremde, schöne Kind an. Die Aelteste, Grethe, stieß den neben ihr stehenden Hans heimlich an und flüsterte: „Das Christkindchen!“ Dem feinen Ohr Mariechens war diese Bemerkung nicht entgangen, die Kleine hüpfte mit beiden Füßchen von der hohen Schwelle hinab in’s Zimmer und lachte die Kinder aus: „Ach, ich bin ja gar nicht das Christkindchen, ich heiße Marie, und das Christkindchen heißt doch nicht Marie!“ „Sie hat Recht, Grethe, das Christkind ist längst wieder im Himmel, es hat uns ja auch schon bescheert. Komm, Mariechen, setze dich einmal auf mein Schaukelpferd, ich lasse dich reiten!“ meinte großmüthig Hans, und das kleine Lieschen, ein Jahr älter als Marie, zupfte diese am Aermel und hielt ihr das Wickelkind hin, das die Augen bewegen und Mama schreien konnte und zwei kleine Zähnchen hatte. Mariechen war von all den Herrlichkeiten so hingenommen, daß sie gar nicht mehr an die Mama dachte, die an der offenen Thür lehnte und mit zärtlichem Blick jeder Bewegung des lieblichen Kindes folgte. –

Da trat zu einer anderen Thür die hohe Gestalt des Pfarrers herein. Er begrüßte erstaunt, aber freundlich die Fremde und führte sie in das Nebenzimmer. Dann fragte er nach den Wünschen der Dame, die sich ihm als Frau Elisabeth von Wehren aus D. vorstellte.

Sie begann: „Ich habe nur eine Frage an Sie, Herr Pfarrer, aber diese ist so schwer, daß mir fast der Muth fehlt, sie Ihnen vorzutragen. Nur der Gedanke, daß heute Weihnachten ist, das Fest der Liebe, läßt mich Muth fassen, zu sprechen. Könnten Sie sich entschließen, einem bald elternlosen Kinde eine Heimath in Ihrem Haus zu bieten für die Zeit seines Lebens?“

Ihre Stimme bebte, sie faßte mit ihren schlanken Händen die Rechte des Pfarrers, der nachdenkend vor sich hinsah.

„Ihre Frage überrascht mich,“ begann er nach einer kurzen Pause, „indessen, wenn die Verhältnisse es gestatten – ich habe selbst eine große Familie – wenn meine Frau damit einverstanden ist, so möchte ich gern Ihren Wunsch erfüllen,“ sagte er.

„Haben Sie Dank, innigen Dank, edler Mann! Ich wußte es ja, daß Sie meine Bitte erfüllen würden. Ich kenne Sie aus früheren Jahren, Sie sind mir kein Fremder, und ich zweifelte nicht, dass mein kleiner Liebling in Ihrem Hause eine Heimath finden würde! Die Kleine kommt auch nicht mit leeren Händen, ihr ziemlich bedeutendes Vermögen ist auf der Bank in H. deponirt, die Zinsen reichen hin, ihr eine gute Erziehung zu Theil werden zu lassen.“

Die Reden der jungen Frau wurden durch häufiges Husten unterbrochen, und auf den sonst aschfahlen Wangen begannen dunkle Fieberrosen aufzublühen.

Aus allen Häusern, an welchen die Postchaise vorbeihumpelte, strahlte der Lichterbaum.

„Sie werden vielleicht fragen,“ begann sie von Neuem, warum ich mein Kind nicht selbst behalte? Lassen Sie mich Ihnen kurz die Geschichte meines Lebens erzählen. Ich war die glückliche Gattin eines braven Mannes, den ich aber gegen den Willen meiner Eltern geheirathet hatte. Er war arm, und meine reichen Eltern hatten eine sogenannte gute Partie für mich im Auge. Aber ich konnte nicht von meinem Geliebten lassen. Das urewige Lied von der Liebe Freud und Leid ist auch in mein Leben geklungen. Ich verließ die Eltern, wir flohen aus der Heimath, und hier, in diesem kleinen Städtchen, wurden wir getraut.“ Sie ergriff die Hände des Geistlichen und fuhr mit bewegter Stimme fort: „Dieselben Hände, die nun mein Kind treu durch’s Leben führen wollen, sie haben damals unseren Ehebund geschlossen. Entsinnen Sie sich noch der abendlichen Trauung? Damals war die Braut jung und glücklich, kein Wunder, wenn Sie mich nicht wieder erkannten.

Wir zogen nach Amerika, nach einigen Jahren starb mein Mann an einem bösen Fieber, dem Hunderte zum Opfer fielen. Ich pflegte ihn, bis er die Augen schloß. Aber die namenlose Anstrengung und Aufregung, der nagende Schmerz um den Verlust des Theuren hat meine ohnehin nicht starke Gesundheit untergraben. Die Aerzte drüben sagten mir, auf meine inständige Bitte um Wahrheit, daß ich nur noch wenige Monate zu leben hätte. Nun aber hatte ich noch eine schwere Pflicht zu erfüllen, mein Kind zu versorgen. Ich habe Niemand auf der Welt, als eine alte, entfernte Verwandte hier im Städtchen, meine Eltern sind todt. Da erinnerte ich mich Ihrer und eilte hierher zu Ihnen. Nicht wahr, Sie rauben einer dem Tode nahen Mutter nicht den letzten Trost, sondern lassen mich mit der Gewißheit scheiden, daß mein Kind in Ihrem Hause eine Heimath gefunden hat?“

„Ich entsinne mich Ihrer jetzt wieder,“ sagte der Pfarrer weich, „aber freilich, damals waren Sie eine glückliche, jugendfrische Braut –“

„Von der nur noch ein fahler Schatten geblieben ist,“ vollendete sie, „sorgen Sie aber nicht um mich, ich bleibe die wenigen, gezählten Tage meines Lebens bei meiner alten Verwandten, ich weiß ja mein Kind in der Nähe, und bald werden Sie mir ein Plätzchen anweisen, in dem ich für lange Zeit Ruhe haben werde!“

Der Pfarrer sprach ihr Muth zu, sie aber schüttelte nur traurig und unter Thränen den Kopf.

„Lassen Sie mich jetzt gehen, ich will mein Kind, das unter den Ihren bereits heimisch geworden ist, nicht noch einmal sehen, der Abschied würde mich tödten!“ Sie übergab dem Pfarrer ein Schriftenpaket und einen Brief mit den Worten: „Wenn meine Tochter zwanzig Jahre alt ist, soll sie ihre wahre Herkunft erfahren, ich möchte, daß mein Kind noch einst an meinem Grabe betet. Der Brief enthält alles, was Marie wissen soll. O, der Gedanke ist so schwer, sein Liebstes hingeben zu müssen, aber es muß sein, seien Sie ihr ein gütiger Vater!“ Sie erhob sich zum Gehen.

„Aber wollen Sie so allein in die Stadt zurück?“ frug der Pfarrer, „das dulde ich nicht, ich werde Sie begleiten.“

Frau von Wehren wollte ablehnen, er aber hüllte sich in seinen Mantel, reichte ihr den Arm und führte sie hinaus. Noch einen schmerzlichen Blick warf sie nach den erleuchteten Fenstern, hinter denen der Weihnachtsbaum glänzte, dann schritt sie durch die dunkelnden Gassen stumm neben dem Geistlichen her.

Wenige Tage nach Anbruch des neuen Jahres hielt der Pfarrer eine tiefergreifende Rede am Grabe einer jungen, fremden Frau, am Grabe von Mariechens Mutter. – –

[846]
2.

Zwanzig Jahre waren vergangen, seit die kleine Marie ihren Einzug in's Pfarrhaus gehalten hatte, und Weihnachten war wieder gekommen.

In einem behaglichen, von Geschmack und Wohlhabenheit zeugenden Zimmer saß am Fenster eine junge, hübsche Frau. Die dunklen Locken hingen, der Mode zum Trotz, gelöst den Nacken hinab, was der ganzen Erscheinung mit dem jugendfrischen Gesicht etwas Mädchenhaftes gab.

Wir erkennen unschwer in dem Gesichte die kindlichen Züge der kleinen Marie wieder. Der würdige Pfarrer und seine gutmüthige Ehehälfte hatten freundlich den Wunsch der Sterbenden erfüllt. Unter ihrer liebevollen Pflege war das Kind zur Jungfrau herangereift und dann einem geliebten Manne zum Trau-Altar gefolgt. Wohl hatte es sich damals wie ein Schleier auf ihr junges Liebesglück gesenkt, als ihr – wenige Tage vor der Hochzeit – ihr Pflegevater den Brief mit den von der sterbenden Mutter geschriebenen Abschiedsworten übergab, und sie hatte der theuren Todten heiße Thränen nachgeweint. Aber durch die Liebe ihres Mannes waren diese Thränen bald wieder getrocknet worden und Jahre des ungetrübtesten Glückes waren gefolgt. War es wohl neu erwachter Schmerz um die unglückliche Dahingeschiedene, was seit einiger Zeit die schönen Züge der jungen Frau mit einem Hauche der Wehmuth überzog? Die Mutter war doch lange todt, und ihre Abschiedsworte hatten der Tochter gesagt, daß sie beruhigt über das Schicksal ihres Kindes, beinahe glücklich gestorben war. Das konnte es nicht wohl sein. Was aber dann? – Man hatte eben noch einige Vorbereitungen für die Bescheerung vollendet, als die Frau Pfarrerin in’s Zimmer trat, um sofort allerlei niedliche Geschenke für ihr einziges Enkelchen, Grete’s wilden Jungen, auszupacken.

„Der wird lachen, der kleine Kerl!“ sagte die Großmutter vergnügt. „Aber was hast Du nur wieder, Marie? Weihnachtsabend und Thränen in den Augen!“

„Verzeih’, Mütterchen,“ klagte Marie, „aber das Herz ist mir zu voll! Ach, wir könnten ja so glücklich sein, mein Mann und ich, wenn nur das Eine uns nicht versagt wäre, ein – Kind! Du glaubst nicht, Mütterchen, wie einsam man sich fühlt, wie verlassen! Heinrich fühlt es mit mir, was uns fehlt, ich sehe es oft, wie sich ein Schatten über seine Stirn legt, wenn er Kinder sieht und Kindergeplauder hört. – Warum muß uns denn gerade solch ein Glück versagt sein? gerade uns, die wir ein Kind so glücklich machen könnten!“

Marie weinte bitterlich, die alte Frau hatte Mühe, sie zu beruhigen.

„Ihr werdet bei uns kein frohes Fest verleben, Mütterchen,“ begann sie von Neuem; „es ist nur ein Glück, daß Grete erst morgen früh bescheert, da kommt sie doch mit ihrem Jungen; kann es etwas Traurigeres geben, als Weihnacht und kein Kind im Haus?“

Mitten unter dem Weihnachtsbaum saß ein schönes blondlockiges Kind.

In dem Augenblicke kam Marie’s Gatte herein, er hatte offenbar den letzten Ausruf seiner Frau noch gehört. Aber während ihn sonst derartige Aeußerungen stets tief bewegten, schien er sie diesmal nicht zu beachten. Er warf seine vollgeschneite Mütze auf einen Stuhl, lachte heiter in sich hinein, die strahlenden Augen auf seine Frau gerichtet. Der alten Pfarrerin nickte er, ohne daß Marie es merkte, verstohlen zu.

„Du bist ja so heiter, wie noch nie zu Weihnachten, Heini, siehst beinahe aus, als ob Du das große Loos gewonnen hättest,“ sagte Marie.

„Habe ich auch, Schatz, habe ich auch!“ lachte er heiter, „und Du sollst nicht zu schlecht dabei wegkommen!“

Marie dachte: gewiß hat er mir irgend ein prachtvolles Kleid zum Geschenk ausgesucht, der Arme, er fühlt ja so gut wie ich, daß Weihnacht für uns ein stilles Fest ist und ohne Sang und Klang vorübergeht. –

Der heilige Abend war da. In allen Fenstern blitzten jetzt die Lichter am Baume auf. Schwester Grete war mit Mann und Söhnchen angekommen. Heinrich lief in fieberhafter Geschäftigkeit hin und her. Immer noch hatte er etwas zu ordnen; es war aber auch keine Kleinigkeit, mit der er sein geliebtes Weib heute beschenken wollte. Endlich war er fertig, die Lichter am Baume waren angezündet. Ganz feierlich kam er jetzt in’s Zimmer, wo Alle versammelt waren, faltete ein Taschentuch zusammen und band es der widerstrebenden Marie über die Augen mit den Worten:

„Hilft Dir kein Sträuben, mein Kind; dafür wirst Du eben überrascht!“

Er nahm sie an der Hand, öffnete die Thür und führte Marie dicht an den Tisch heran, auf dem der Weihnachtsbaum stand. Die Eltern und Grete hatten sich lächelnd bei Seite gestellt, um den Eindruck zu sehen, den Heinrich’s Ueberraschung hervorrufen werde. Dieser nahm ihr die Binde ab und trat bewegt zurück. Marie stand einen Moment starr da. Der Anblick, der sich ihrem entzückten Auge bot, war aber auch werth, daß eines Malers Hand das Bild festgehalten hätte. Mitten unter dem hohen Weihnachtsbaume, von dessen breiten Aesten halb verdeckt, saß ein schönes, blondlockiges Kind im weißen Kleidchen, einen Rosenkranz in die goldenen Locken gedrückt. Aus seinen blauen Augen schaute es Marie groß an, dann hob es die runden Aermchen, streckte sie ihr entgegen und rief: „Mama!“

Marie schrie laut auf vor Freude, die Thränen stürzten ihr aus den Augen, sie nahm das Kind in ihre Arme und küßte es stürmisch.

„Und das soll mein sein, Heinrich?“ rief sie in übergroßer Freude ihrem Manne zu.

„Dein für’s ganze Leben, das Kind ist eine arme Waise, kein Mensch hat ein Anrecht daran als Du, fortan sein kleines Mütterchen!“ Er umschlang Beide, Mutter und Kind.

Feierlich tönten von der nahen Kirche die Glocken und der Gesang des Liedes: „Stille Nacht, heilige Nacht!“

Aus den Zweigen des Lichterbaumes aber schien wie mit Geisterhauch die Stimme der seligen Mutter der Tochter zuzuflüstern: „Mache das Kind so glücklich, wie Du es geworden bist!“