Zwischen Rhein und Taunus
Ich stand auf dem Verdeck des kleinen Rheindampfers, der allstündlich zwischen Mainz und Biebrich hin- und herfliegt. Da sah ich aus dem Thore des gegenüberliegenden Castel eine Menge Soldaten in hellen Haufen hervorquellen und die lange Schiffbrücke daherkommen, ohne daß die zur Seite gedrängten Zöllner daran dachten, sie aufzuhalten und einem von ihnen die üblichen zwei Kreuzer Brückengeld abzufordern. Es waren die Cadres des ehemals nassauischen zweiten Infanterie-Regiments, die nur nach Mainz gingen, um hier in preußische Uniformen gesteckt zu werden. An ihrer Spitze schritten preußische und in deren Mitte nassauische Officiere. Diese trugen noch ihre österreichischen Käppis mit vorn überfallenden Roßschweifen, während die Helme jener in der Mittagssonne blitzten. Die Mannschaften stampften mit dumpfem Marschtritt einher, ohne viel rechts oder links zu blicken, und ohne daß man auf ihren schlichten, meist vollen Gesichtern eine Bewegung hätte lesen können, aber das zusammengeströmte Volk, welches zu Seiten und am Ende der Brücke Spalier bildete, empfing sie mit lauten und leisen Bemerkungen.
„Arme Leute!“ sagte neben mir ein feiner, schlanker Jüngling. „Die müssen jetzt auch Commißbrod essen und sich mit einer warmen Mahlzeit täglich begnügen lernen. Die werden sich vergebens nach unsern Fleischtöpfen zurücksehnen und den Leibriemen fester anziehen müssen, damit ihnen nicht mit dem Heimweh auch der Magen davonläuft.“
„Nun,“ entgegnete ihm ein blonder Schnurrbart, der in Haltung und Mienen erkennen ließ, daß er den bunten Rock noch nicht lange ausgezogen. „Nun, darin haben sie schon etwas Uebung. Es sind meine Cameraden,“ fuhr er fort, „ich war als Reservist eingezogen und bin erst kürzlich entlassen. Als wir im Odenwald herumirrten, haben wir Fasten und Hunger brav studirt, wenn es auch gerade nicht Freitags war.“
„Und der Herzog?“ fragte ein Dritter.
„O“ der hat Strapazen und Fasten mit uns redlich getheilt. Von allen regierenden Herren war er der Einzige, der sich bei den Bundestruppen sehen ließ, und er hielt bei seinen Leuten bis an’s Ende aus. Was wahr ist, muß wahr bleiben; unser Herzog war ein so guter Soldat, wie irgend einer von den preußischen Prinzen. Und wenn er auch seine Fehler hatte, ich lasse doch nichts auf ihn kommen, denn er war mein Landesherr, im Feldzug mein General, und er hat mir das Leben gerettet.“
Das Weitere konnte ich nicht mehr vernehmen, das an der Brücke liegende Boot löste die Taue und dampfte gen Biebrich, wo wir nach einer Viertelstunde anlangten.
Unmittelbar am alten grünen Rheinstrom erhebt sich im Renaissancestil das großartige Schloß, in welchem der Herzog während des Sommers zu wohnen pflegte. Hier hatte er die letzten Wochen seiner Herrschaft verlebt und von hier aus am 16. Juli das Manifest erlassen, darin er von seinem Volke Abschied nimmt, indem er, um nicht gleich seinem Verbündeten, dem Kurfürsten von Hessen, in Kriegsgefangenschaft zu gerathen, sich zur Armee begebe, und eine baldige frohe Wiederkunft verheißt. Diese Hoffnung hat ihn wie Andere getrogen und er sitzt jetzt traurig und nur in Gesellschaft weniger Getreuer, die sein Exil mit ihm theilen, auf dem kurhessischen Schlosse Rumpenheim. Schon am andern Tage (17. Juli) erschien die Proclamation des preußischen Generals Vogel v. Falkenstein, welche die Occupation des Herzogthums Nassau aussprach und die ich noch jetzt an einigen Straßenecken sah; daneben das Einverleibungsdecret in die preußische Monarchie vom 3. October. In der am obern Ende der Stadt befindlichen, gleichfalls schönen und großartigen, aus rothen Backsteinen erbauten Caserne, wo sonst die Garde des Herzogs, die dunkeluniformirten Jäger, lagen, hatte sich eben ein Bataillon vom sechsundachtzigsten preußischen Linienregiment einquartiert, aber die davor schildernden Posten blickten so ruhig und sicher, als ob sie in ihrer fernen Heimath an der Oder oder Weichsel ständen.
Nur auf dem aus der Mitte des Schlosses aufsteigenden Rundbau wehte noch immer die ehemalige Landesfahne, orange mit blauer Einfassung. Nach der Abreise ihres Gemahls war die Herzogin Adelheid mit den Kindern hier zurückgeblieben. Die ihr von den Preußen angebotene Ehrenwache hatte sie mit den bitteren Worten zurückgewiesen: „Wenn sie die Anwesenheit der Eroberer auch ertragen müsse, so wolle sie doch wenigstens in ihrem Hause sich solche verbeten haben.“ Augenblicklich verweilte sie mit den beiden jüngsten Kindern auf dem Lustschlosse Königstein im Taunus, doch für die nächsten Tage wurde ihre Herkunft erwartet, indem sie hier den Winter zu verleben gedenkt, und schon [769] jetzt befand sich im Schlosse ihr ältester Sohn, Prinz Wilhelm, mit seinem Hofmeister, Dr. Müller.
Man hatte mir gesagt, daß Schloß und Park dem Publicum verschlossen seien; daß die Herzogin im Unmuth den Befehl gegeben, die Parkmauern derart zu erhöhen, daß die Vorübergehenden nicht mehr hineinsehen könnten, wodurch der Stadt eine große Zierde, den Tausenden von Fremden, die im Sommer zuströmen, die hauptsächlichste Sehenswürdigkeit entzogen wäre; aber ich fand Beides nicht bestätigt, wenigstens waren jene Befehle, wenn sie wirklich erlassen, auf Vorstellen des preußischen Civilcommissariats wieder zurückgenommen. Die Frau oder Tochter des Gartendirectors reichte mir nach den ersten Worten die erbetene Eintrittskarte und ein alter Mann führte mich im Schlosse umher.
„Wird der Herzog das Schloß behalten, wird er hierher zurückkehren?“ fragte ich.
„Vorläufig nicht. Vielleicht zum Frühjahr. Die Preußen drängen ihn jetzt, daß er abdanken und sich unterschreiben soll, und sie haben ihm schon zehn Millionen Gulden für jedes Jahr geboten, aber er thut’s nimmermehr, er hat Geld und Schlösser und Güter genug, er hat vollauf zu leben, und wenn sie ihm keinen Heller geben. – Und merken Sie auf,“ fuhr der alte Knabe mit rührender Zuversicht fort, „es kann als nit so bleiben, ich wollt’ d’rauf schwören, daß es zum Frühjahr wieder los geht. Und weit schrecklicher, dann giebt’s einen Krieg durch ganz Europa, und Preußen mag zusehen, wo es bleibt.“
„Sind Sie schon lange hier am Hofe?“
„Ueber vierzig Jahre, und mein Bruder noch länger. Sehen Sie, wir möchten keinen andern Herrn haben, wir können’s uns gar nicht denken, daß wir einem Andern dienen sollten, wir sind zu alt dazu. Und der Herzog wird keinen seiner Diener entlassen, keinen verstoßen, er war gegen einen Jeden gnädig und freigiebig.“
Die lange Zimmerreihe an der Rheinseite im untern Stock beschließt ein kleines Eckgemach, das meist die erste Gemahlin des Herzogs bewohnte und das noch heute auf’s Genaueste und Sorgfältigste ebenso ausgestattet ist wie in jenen Tagen.
„Kein Stuhl steht anders!“ sagte der Alte.
Diese Dame, bekanntlich eine russische Prinzessin und Tochter der Großfürstin Helene, hatte die Schönheit und den Geist ihrer bis in die jüngste Zeit vielgenannten Mutter geerbt. Noch nicht achtzehn Jahre alt, eine hohe imposante Gestalt von geradezu plastischen Formen und dem edelsten Ausdruck, hochgebildet und hochsittlich, in jeder Bewegung voll Majestät und Würde und doch von der liebenswürdigsten, ungezwungensten Herablassung und Güte, vermählte sie sich dem Herzog, auf den sie den wohlthätigsten Einfluß übte, indem sie ihn von den wüsten und sinnlichen Gefährten seiner Junggesellentage zu entfernen und ihn für das reine Glück der Ehe zu gewinnen wußte. Sie säuberte den Hof von den bisherigen unreinen und zweideutigen Elementen und machte ihn zu einem Musterbilde von Anstand und Sitte. Echt weiblicher Tact hielt sie von aller Einmischung in Politik und Regierungsgeschäfte fern, aber sie entfernte die bis dahin allmächtige katholisch-österreichische Partei, welche jedoch nach ihrem Tode zurückkehren sollte. Herzogin Elisabeth starb leider schon am 28. Januar 1845 im Wochenbette, nach noch nicht einjähriger Ehe, im noch nicht vollendeten neunzehnten Lebensjahre. Durch das ganze Land ging Ein Schmerzensschrei, und noch heute lebt ihr Name und Andenken im Munde und Herzen des Volkes fort, denn sie hatte sich trotz der kurzen Zeit durch zahllose Wohlthaten unvergeßlich gemacht. Obenan steht die von ihr gestiftete „Elisabetheranstalt“ zur Erziehung armer und Heilung kranker Kinder. Man fürchtet, daß diese segensreiche Anstalt, die alljährlich große Zuschüsse aus der Privatschatulle des Herzogs nöthig machte, jetzt eingehen werde; aber wohl mit Unrecht, denn es muß dem preußischen Gouvernement eben so sehr Ehrensache wie landesväterliche Pflicht sein, dafür einzutreten.
Auch der Herzog betrauerte seine junge, schöne Gattin lange und tief; er mochte fühlen, daß mit ihr sein guter Genius von ihm gewichen. Erst nach sechs Jahren schritt er zu einer zweiten Ehe, mit Adelheid, Prinzessin aus einer Nebenlinie des Hauses Anhalt-Dessau. Die Herzogin zählt jetzt dreiunddreißig Jahre, ist von schlanker, etwas magerer Figur und sanften regelmäßigen Gesichtszügen. Noch mehr als an körperlichen Reizen steht sie ihrer Vorgängerin an geistiger Begabung und Bildung nach, ebenso fehlt ihr deren Anstand, Anmuth und Wohlthätigkeitssinn. Auch die zweite Ehe ist keine unglückliche gewesen; die Herzogin Adelheid hatte gleichfalls keinen eigentlichen Einfluß auf die Regierungsgeschäfte, wohl aber ihre Freundin und Gesellschafterin, die Gräfin Bella von Ingelheim, welche, obgleich unverheirathet, den Gehalt einer Oberhofmeisterin von sechstausend Gulden jährlich bezogen, mit ihrer Mutter, einer gescheidten Frau, die Interessen der Klerikalen und des österreichischen Kaiserhauses verfochten und auch schließlich die definitive Entscheidung für Oesterreich herbeigeführt haben soll.
Indeß stand Herzog Adolph selber zu Oesterreich allzeit in sehr intimen Beziehungen. Als Erbprinz hatte er mit seinem Bruder Moritz mehrere Jahre am Hofe zu Wien gelebt, der Kaiser Franz Joseph hob ihm seinen zweiten Sohn persönlich aus der Taufe, und der Herzog hatte sich später fast ausschließlich mit Oesterreichern umgeben, die ihn von allem Verkehr mit dem Volke sorgsam fern hielten. Er war von Natur gutmüthig, wurde aber durch die Opposition der Liberalen allmählich so verbittert, daß er Jeden von ihnen für seinen persönlichen Feind und Beleidiger hielt. Es sind hier in Nassau von Seiten der Regierung gegen die liberale Partei und in der Verwaltung Dinge geschehen, die man in den sechsziger Jahren unsers Jahrhunderts für einfach unmöglich halten sollte. Im Anfang kein Freund von Geschäften, mischte sich der Herzog schließlich in die kleinlichsten Dinge – selbst die Anstellungen der Schneeschaufler auf dem Westerwalde mußten von ihm bestätigt werden – und versank immer tiefer in absolutistische Vielregiererei. Er liebte die Jagd – und zwar derart, daß der Wildstand ein ganz unverhältnißmäßiger war, den Bauern alle Aecker verwüstete und u. a. auf einer einzigen Treibjagd siebenhundert Stück Wild auf einem dichtbevölkerten kleinen Terrain geschossen wurden, das sich lediglich auf den Ackerbau angewiesen sieht –, das Spiel und eine leichte Unterhaltung mit seinen Günstlingen. Vornehmlich beschäftigte ihn das Militär, das zwar unter höchstseinem eigenen Commando stand, trotzdem aber auf seine etwa fünftausend Mann noch neun Generale, also auf je fünfhundert Mann einen besaß, und concentrirte seine ganze Liebe auf seine Officiere, die er mit Beweisen seiner Huld überschüttete. Von Statur mittelgroß und breitschulterig, war er ohne Tournüre, in der Haltung, Bewegung und im Umgang steif. Sein Gesicht ist nicht unschön zu nennen, nur das Auge blöde und stets mit einer scharfen Brille bewaffnet, ohne welche er fast gar nichts sehen konnte. Er galt für einen vortrefflichen Reiter, doch in den letzten Wochen sah man ihn schlaff und eckig im Sattel hängen, mit müdem, gedrücktem Wesen, als ahne er das Hereinbrechen seines Geschicks. Die Herzogin soll dagegen bis zur letzten Stunde bester Hoffnung und fester Zuversicht gewesen sein.
„Kennen Sie den Bismarck?“ fragte mich beim Abschied der Alte.
„Ich habe ihn ein paar Mal gesehen.“
„Schauen Sie,“ erwiderte er lebhaft, „das möchte ich auch. Ich habe Könige und Kaiser gesehen und mit ihnen gesprochen, Herzoge und Fürsten die schwere Menge; aber was ist das Alles gegen diesen Mann, der die Könige und Herzoge wie Unsereins absetzt und fortjagt, geradeso wie Napoleon es einst gemacht hat. Wenn ich ihn je zu sehen kriegte, ich würde ihm meine Meinung sagen, ganz frei von der Leber weg, und wenn er mir gleich den Kopf vor die Füße legen ließe. Ja, bei Gott, das thäte ich! – Nun adieu! Leben Sie recht wohl!“
Damit entließ mich der ehrliche Graukopf. Ich spazierte durch den Park, der fast eine Stunde im Umfang hat, und begegnete dort zufällig dem Prinzen mit seinem Erzieher. Prinz Wilhelm, wie schon erwähnt, ein Knabe von vierzehn Jahren, gilt für gutartig, bescheiden und fleißig. Er faßt schwer, hält aber das einmal Gelernte besser fest, als sein jüngerer, weit begabterer und lebendigerer Bruder. Dieser, Namens Franz, zählt noch nicht acht Jahre und ist wegen seiner quecksilbernen Beweglichkeit und drolligen Einfälle der Liebling des Vaters und der ganzen Dienerschaft. Bücher und Studien sind gerade nicht seine Freunde, desto mehr aber kleine Ponies, die er unermüdlich und verwegen reitet. Auch hat er großes Vergnügen an soldatischen Spielen. Kurz vor Ausbruch und während des Krieges hatten beide Prinzen eine Schaar vornehmer Knaben um sich versammelt, die sie in zwei Lager, Oesterreicher und Preußen, theilten und die nun täglich gegen einander losgingen. Natürlich wurden die [770] Prinzen zu Heerführern erwählt, aber jeder von Beiden weigerte sich, an die Spitze der Preußen zu treten, Beide übernahmen abwechselnd das Commando der Oesterreicher, der Vater hatte jedem eine zierliche österreichische Miniatur-Uniform anmessen lassen, und so errangen die Oesterreicher hier täglich im kindischen Spiele glänzende Siege, während sie im furchtbaren Ernst auf Böhmens Feldern blutige Niederlagen erlitten. Auch ist es bekannt, daß der Herzog seine Officiere, in Vorder- wie in Hinteransicht, portraitiren, die Conterfeis dann lithographiren und auf Pappe kleben ließ. Die so gewonnenen Figuren wurden mit Holzpflöckchen versehen und dienten den Prinzen zum Spiel, an dem sich der Vater am meisten erlustirte.
Des Parkes wegen gestattete der Herzog in dessen Umgebung keine Fabrikanlagen. Er haßte solche überhaupt, weil sie nach seiner Meinung nur Schmutz und ein Proletariat erzeugten, letzteres aber zur Revolution neige. Gesetzlich bestand im Lande Gewerbefreiheit und Freizügigkeit, thatsächlich aber lagen beide in den schweren Banden der Polizeiwillkür, daher flüchteten die Industriellen auf das benachbarte hessen-darmstädtische Gebiet, wo sie bereitwillig Aufnahme fanden, und so erheben sich nun hart an der Grenze und dicht neben Biebrich eine Reihe bedeutender Etablissements.
Aehnlich verhielt es sich mit den Steuern, welche in Nassau nur Grund- und Gewerbesteuer sind. Weil der letzteren auch die Beamten unterworfen, lasteten die Steuern ausschließlich auf den unteren und mittleren Ständen; die eigentlich Reichen blieben dagegen, weil weder eine Personen- noch Vermögenssteuer bestand, gänzlich verschont; woher sich der Umstand erklärt, daß sich nach dem Herzogthum so viele Capitalisten zogen, die hier ihre Renten verzehren.
Diese und verwandte Gegenstände besprach eine Gesellschaft von Bürgern, die ich im Gasthofe fand. Mehrere Gewerbe- und Geschäftsleute waren unter ihnen, und diese riefen:
„Wären wir schon vor zwanzig Jahren preußisch geworden, wir ständen jetzt zwanzig Mal besser, sowohl was den Privatbesitz der Einzelnen, als die Entfaltung unseres Handels und unserer Industrie betrifft!“
„Schon möglich,“ entgegnete ihnen ein kurzer dicker Herr. „Aber bisher hätten wir von den Segnungen des preußischen Regiments noch wenig gespürt. Man hat unsere Verfassung suspendirt, ohne uns dafür die preußische zu geben, und so befinden wir uns zur Zeit in einem völlig rechtlosen Zustande. Warum enthält man uns z. B. das preußische Jagd-, Gewerbe- und Preßgesetz noch vor? Man sagt: Nur bis zur Einführung der preußischen Verfassung! Aber bis dahin können die beliebten Chicanen mit der Wildschädenvergütigung, in Bausachen, Concessionirungen, Preßgeschichten etc. nach wie vor getrieben werden. Und sie werden getrieben, von frechen Anhängern des alten Regimes, unter den Augen des Civilcommissariats, das trotz allen guten Willens und trotz der glücklichen Wahl seiner Beiräthe doch weder genau unsere Zustände, noch sein eigenes Ressort kennt, daher sowohl unter unseren wie unter den preußischen Beamten in Betreff der Auslegung, Heranziehung und Gültigkeit gewisser Gesetze, in der Frage über die Competenz einer Behörde oder über den Lauf des Instanzenzuges oft große Verwirrung und Rathlosigkeit herrschen.“
„Gut Ding will Weile haben,“ meinte ein Dritter. „Unsere Verhältnisse sind eigenartig und verwickelt; es wird Zeit und Mühe kosten, sie mit den preußischen in Einklang zu bringen. Uebrigens möchte ich unserem Lande nicht eine durchgehend preußische Reorganisation wünschen. Wir haben Manches, was entschieden besser ist als in Preußen, namentlich unser Schulwesen. Die Vorbildung und Besoldung unserer Lehrer ist besser, die Elementarschulen sind nicht confessionell geschieden und dem Gesetze nach unabhängig von der Kirche, wenngleich sie während der Reaction immer tiefer in die Hände der klerikalen Partei geriethen.“
Biebrich ist eigentlich eine Vorstadt von Wiesbaden und mit diesem durch eine prächtige, nur eine Stunde lange Allee verbunden. Wie es im Sommer von Tausenden der Curgäste geschieht, hätte ich gern diesen Spaziergang gemacht, aber das nasse kothige Wetter verbot es. Also bestieg ich den Eisenbahnwagen, der zunächst eine Strecke weit höchst sonderbar von einem lebensmüden Gaule im melancholischen Hundetrott gezogen wurde, bis die heranbrausende Locomotive sich seiner erbarmte und ihn schnell mit sich fortriß.
Ich fand das Curhaus in seinem alten verführerischen Glanze und die Spielsäle gefüllter als je, nämlich in dieser vorgerückten Jahreszeit. Man suchte sich für den Sommer zu entschädigen, wo es sehr leer gewesen; man spielte auf beiden Seiten, Croupiers und Publicum, mit schweißtriefender Hast, als wolle man keinen Augenblick der von dem preußischen Gouvernement erhaltenen Gnadenfrist bis zur Aufhebung dieser privilegirten Raubanstalt einbüßen. Auch preußische und nassauische Officiere sah ich jetzt spielen, was früher verboten war; nur den gemeinen Soldaten bleiben diese Räume streng verschlossen. Einen eigenen Contrast gewährte es, unter der eleganten, meist ausländischen Menge der Zuhörer zerstreut ein Dutzend von Verwundeten der preußischen Armee sitzen zu sehen. Sie sind theils auf Kosten ihrer Regierung, theils auf Kosten des Curvereins hier untergebracht, um an den berühmten Quellen und in der milden Luft vollends zu genesen und zu erstarken. Sie saßen also da in ihren von Wind und Regen entfärbten, von Strapazen und Kugeln zerrissenen Mänteln, die Krücke in der Hand oder den Arm in der Binde, und starrten mit ihren ehrlichen pommerschen oder lithauischen Gesichtern in das bunte glänzende Gewühl, in das Meer von Licht und Pracht, und an ihren erstaunten Ohren kreuzten sich französische und englische Worte der Umsitzenden.
Die Stadt in der Umgebung des Curhauses scheint über Nacht entstanden, so neu und gleichförmig sehen hier Häuser, Straßen und Anlagen aus. Man erblickt nur Hotels, Badehäuser, Cafés, Restaurationen, Bazars und Läden aller Art, Wechsler und – charakteristisch genug – Pfandleiher. Alles ist auf den Fremden und auf das Spiel berechnet und Alles lebt von Beiden. Daher auch die Angst und das Klagen der Leute um die nächste Zukunft. – „Wenn das Spiel aufhört, sind wir ruinirt, ist Wiesbaden ruinirt!“ jammern sie. „Das Spiel hat die Promenaden und Anlagen, hat das Theater und alle Vergnügungen unterhalten, hat die halbe Stadt ernährt.“
Diese Leute fühlen nicht das Ehrlose, Entwürdigende und Verpestende, was in der Beschäftigung mit dem Spiel und mit den Spielern liegt; sie wollen nur in bisheriger Weise fortexistiren.
So könnte man nach oberflächlicher Bekanntschaft an Wiesbaden und seinen Bewohnern verzweifeln, aber wie man tiefer in die Stadt eindringt, da wo die soliden alten Häuser stehen, stößt man auf einen ehrbaren kernigen Bürgerschlag, der keinem andern in Deutschland nachsteht; und Gott Lob! er bildet unter den Einwohnern Wiesbadens die Mehrzahl und ist noch stärker im übrigen Nassau vertreten.
Diese würdigen Männer halten das Spiel für den Schandfleck ihrer Stadt und werden den Augenblick segnen, wo es aufhört. Unter ihnen giebt es Viele, die noch nie einen Fuß in die Spielhölle gesetzt haben und ein solches Unternehmen bei einem ihrer Angehörigen oder Hausgenossen wie ein Verbrechen ahnden würden.
„Möge die Regierung über das Spiel abstimmen lassen,“ sagte mir ein alter umfangreicher Herr mit den schönsten Weinflecken auf Nase und Wangen. „Möge sie abstimmen lassen. Ich wette, mehr als vier Fünftel der Einwohnerschaft erklärt sich dagegen, drei Fünftel aus Ueberzeugung und ein Fünftel aus Scham. Neulich haben sie eine Bittschrift an den König von Preußen um Erhaltung des Spiels abgelassen, aber nicht mehr als vierzig und einige Unterschriften zusammen bekommen. Wem aber gehörten diese? Croupiers, Spielactienbesitzern und Leuten, die durch’s Spiel oder vom Spiele leben. – Die Schließung der Spielhölle kann der Stadt nur geringe und vorübergehende Verluste bringen, aber sie wird uns von einer Bande von Schwindlern, Gaunern und feilen Dirnen befreien, die sich hier wie die Raben um ein Aas zu sammeln pflegen. Sie wird aber auch der Corruption und Demoralisation steuern, die unter Hiesigen selber eingerissen ist, indem sie solchen Strolchen Obdach geben und sich gleichfalls zu Müßiggang und Spiel verleiten lassen – wenn nicht hier, wo es ihnen allerdings verboten war, dann in dem benachbarten Homburg oder Nauheim. Wie viele ihrer Frauen, Töchter und Schwestern sind in Ueppigkeit, ja in Prostitution versunken! – Nein, die Wegschaffung des Spiels wird im Gegentheil unser Bad heben. Die Heilquellen fließen unversiechbar, und sie werden alsbald nur wahrhaft noble Gäste heranlocken, die uns bisher mit Recht gemieden, und Wiesbaden wird ebenso floriren wie Kissingen und die böhmischen Bäder, wo man doch auch nicht dieses teuflische Spiel duldet!“