Aus Miß Braddon’s literarischer Laufbahn
[728] Aus Miss Braddon’s literarischer Laufbahn. Ein seltenes Beispiel von unerschöpflicher Phantasie und Gewandtheit der Feder bietet uns folgendes Geschichtchen aus Miß Braddon’s, der bekannten englischen Schriftstellerin, Leben. Der Roman „Lady Audley’s Geheimniß“ legte den Grund zu ihrem literarischen Ruf; er wurde nicht nur dramatisirt, sondern auch in alle lebenden Sprachen übersetzt, und doch wäre die Veröffentlichung dieses Romans beinahe an einem Mißgeschick gescheitert. Man wird fragen: wie so? Der Verleger hatte festgesetzt und angezeigt, daß das Buch in drei Bänden erscheinen solle, das Manuscript wurde auch mit der größten Pünktlichkeit geliefert, aber als Alles gedruckt war, hatte es blos zwei Bände und zehn Seiten gegeben. Was nun thun? Und die Geschichte war zu Ende! Man wußte sich keinen Rath, sondern eilte schleunigst zu Miß Braddon, ihr die Hiobspost zu überbringen. Sie schwieg eine Weile nachdenklich, dann sagte sie:
„Wie viel Zeit können Sie mir geben, um die leeren dreihundertundsechszig Seiten auszufüllen?“
„Acht Tage höchstens.“
„Gut, Sie sollen das Manuscript zur rechten Zeit haben.“
Und vier Tage darauf war Alles in den Händen des Verlegers; Miß Braddon hatte die schon beendigte Geschichte so fortgesetzt, daß Niemand das Anflicken ahnen konnte, und doch mußte sie von der letzten Zeile des Vorhergehenden aus fortfahren, ohne ein einziges Wort darin ändern zu können. Eine solche Gewandtheit und Schnelligkeit des Arbeitens verdient gewiß Anerkennung – ob aber Nachahmung?