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Das Heimweh (Die Gartenlaube 1866)

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Textdaten
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Autor: Fr. Hofmann
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Titel: Das Heimweh
Untertitel:
aus: Die Gartenlaube, Heft 28, S. 438–441
Herausgeber: Ernst Keil
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Entstehungsdatum:
Erscheinungsdatum: 1866
Verlag: Verlag von Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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Originalherkunft:
Quelle: Scans bei Commons
Kurzbeschreibung: Schweizerei in Schloss Rosenau
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Das Heimweh.


Vor vierzig Jahren kamen die Menschen der verschiedenen Länder noch nicht so leicht zusammen, wie jetzt; damals hieß es noch etwas: weit her zu sein. Auch mein damaliger Aufenthaltsort, das Sommerschloß Rosenau, der Lieblingssitz des Herzogs, war, wenn auch nicht selten fürstlicher Besuch aus fremden Ländern dort einsprach, doch noch nicht ein solcher Wallfahrtsort reisender Naturverehrer, wie er dies sammt der stattlichen alten Veste, die des Landes Namen trägt, geworden ist, seitdem der Dampfwagen die nahe Residenz mit in den großen Weltverkehr gezogen hat.

Darum staunten die Leute auf Rosenau und den umliegenden Dörfern es als ein Ereigniß an, als im December 1826 zwei echte Schweizer und drei wirkliche Schweizerinnen mit vielem echten Schweizervieh, das der Herzog im Berner Oberland angekauft hatte, aus ihrer fernen Heimath hier einzogen, um unweit des Schlosses Rosenau eine Schweizerei zu gründen.

[439] Ich war damals ein siebzehnjähriger Gärtnerbursche und kaum über die Grenzen des kleinen Landes hinausgekommen. Kein Wunder, daß mich die Neuigkeit ganz besonders packte, denn der einzige Schweizer, den ich bis jetzt gesehen, ein Kammerdiener des Herzogs, war nach Kleidung und Sprache ja doch kein rechter Schweizer mehr; aber jetzt sollte ich richtige Schweizer sehen und sogar Schweizerinnen, die direct von ihren ewigweiten und himmelhohen Bergen herkamen.

Wirklich war der Eindruck, den diese Landleute aus den Alpen auf die zum Einzug der fremden Gäste herbeigeströmten Landleute um Rosenau machten, ein wildfremder. Ich kehrte von einem Dienstgang zurück, als sie bereits im Wirthshaus eingerückt waren. Das Wirthshaus war aber damals noch die Gärtnerwohnung und meine Frau Prinzipalin fungirte zugleich als Wirthin. Diese brave Frau, die wegen ihrer guten Küche sich schon manches gerechte Lob verdient, war außer sich über „das fremde Volk“, von dessen Kauderwälsch man kein Sterbenswörtle verstehen könne. „Das ist ein ewiges Gsi und loset und gangt nume und überha und i ka nüt und dazu Lachen und Gesichtermachen, daß kein Mensch daraus klug wird. Gehe einmal in die Stube zu ihnen, Christian, und sieh’, ob Du’s ‘rausbringst, was sie wollen.“

Ich gehorchte und fand die merkwürdigen Leutchen am Tisch vor einer Schüssel voll Suppe sitzen. Von den beiden Mannsbildern war der eine wohl ein Fünfziger, der andere ein hoher Zwanziger; von den Schweizerinnen waren nur Zwei da, deren Alter mit dem der beiden Männer ungefähr zusammenstimmte. Nur letztere zeichneten sich durch eigenthümliche Tracht aus. Sie lachten über die Suppe, die sie nicht essen könnten, weil sie „grußerlich schlecht“ sei, und der eine Mann sagte: „Wie’ ist guet in der Suppa, Bier nüt!“ Da hatt’ ich’s heraus: man hatte ihnen bittere Biersuppe vorgesetzt, während ihnen süße Weinsuppe besser schmeckte.

Wie ich nun mit dieser meiner Entdeckung in die Küche eilte, sprang eben das dritte der Schweizermädchen aus dem Hause, das in meinem Alter sein mochte. Ich blickte dem lustigen Wesen nach, und die Köchin, die das gesehen, meinte: „Das wäre Eine für Sie, Christian!“

– „Das kleine schwarze Ding?“ – Mit diesem fragenden Ausruf geht eigentlich die Geschichte an, die ich erzählen will. Tausend Male dachte ich später daran zurück, als ich durch Lust und Leid erkannt hatte, was manchmal ein Blick und ein Wort für des Menschen Leben bedeutet. Ich kann nicht sagen, daß „die kleine Schwarze“ mich, wenigstens anfänglich, allein zu den Fremden hingezogen hätte. Das Fremde an sich äußerte eben seinen Reiz, und weil ich sah, wie oft die Leute in Verlegenheit kamen, weil sie sich nicht verständlich machen konnten, so gab ich mir große Mühe, sie verstehen zu lernen, und wurde ihnen bald eine unentbehrliche Hülfe. Und nachdem ich erst ihre Namen kannte, den alten Michel und den jüngern Rudolph, die alte Aenni, die jüngere Grit (Margaretha) und die jüngste Gritli, so war ich auch ihrer Aller Christian, und das gegenseitige Vertrauen bahnte nun den natürlichsten Weg zu der Vertraulichkeit, welche die Jugend, d. h. Gritli und mich, ganz wie von selbst immer öfter und näher zueinanderführte.

Gritli hing durch viele Herzensfäden mit ihrer Berner Heimath zusammen. Wenn wir in den prächtigen Anlagen der Rosenau lustwandelten und ich mich immer von Neuem des Anblicks der wäldergrünen Höhen und der dunklen Thäler erfreute, mit denen der südöstliche Thüringerwald unserm fränkischen Hügelland imponiren zu wollen schien, weilte ihr Geist immer in der großartigeren Heimath und bei den Ihrigen. Sie war die älteste von sieben Geschwistern, denen nur die Mutter noch lebte, seit ihr Vater, dessen Liebling sie gewesen, verunglückt. Sie erzählte mir das oft unter bitteren Thränen. „Ach mein Vater! Wie es Brauch bei uns ist, ging er im Jänner zu Holze. Die Cameraden standen oben, zum Fällen der Bäume, mein Vater unten am Hang, um die herabstürzenden Stämme zu lenken. Ohi! Ohi! geht der Ruf von oben, ein Stamm kam und, Schicksal, fiel über meinen Vater. Nur wenig Minuten, und er hatte sein junges Leben ausgeathmet, und todt wurde er uns in Haus getragen. Wie habe ich allezeit gebetet, daß der Himmel uns vor solchem Unglück bewahre, aber ich hab’s doch noch erleben müssen, daß sie auch meinen ältesten Bruder todt in’s Haus gebracht haben.“

Das schwere Schicksal der Mutter ging meinem Gritli besonders zu Herzen, sie zählte alle ihre Geschwister her, vom zweijährigen Mariannerl bis zum sechszehnjährigen Fritz, und erwog, wie viel sie der Mutter noch Last bereiteten und wie viel sie ihr schon im Haus und Stall und auf Alm und Feld helfen könnten. Der Schluß aber wollte mir mehr und mehr immer weniger gefallen, denn er lautete allemal: „Wenn ich wieder zu Hause komme, werde ich alle Arbeit für die Mutter thun und dann erzählen, wie es in der Fremde ist. Ach, wie viel schöner ist’s doch in der Heimath! Hier sind keine hohen Berge, keine Seen, ach, Alles ist daheim besser und schöner, als hier!“

Ich will mich aber losreißen von diesen Erinnerungen, sonst verirre ich mich zu tief in die liebste Geschichte, die der Glücklichste nur einmal erlebt, in meine Liebesgeschichte. Es vergingen ungefähr drei Jahre. Da kam ein schwerer Schlag. Die Schweizerei war fertig, die beiden Männer waren in die Schweiz zurückgekehrt, und nun erfaßte auch die drei Schweizerinnen die Sehnsucht in die Heimath. Das brachte bittere Tage und harte Kämpfe für mich, aber ich siegte. Mein Gritli blieb, wir hatten einen Helfer gefunden, der wohl erkannte, daß die Trennung zwei Menschen unglücklich machen würde, und das war der Herzog gab mir eine Stellung in der Gärtnerei zu C., die mir gestattete, mein Gritli heimzuführen. Es war recht ein Wort aus ihrem Herzen, als sie mir am Hochzeitstage sagte: „Siehst Du, Christian, Berg und Thal kommen nicht zusammen, aber gute Menschen durch die treue Liebe.“ Einige Zeit später versetzte mein Herzog mich, als die alte Veste restaurirt und aus einem verfallenen Waffenplatz zu einer Kunstburg erhoben und mit freundlichen Anlagen umgeben wurde, dorthin. Wo jährlich Tausende sich das Herz labten an dem köstlichen Ausblick von den Mauern hinüber in die Fernen, da hatte ich innerhalb dieser Mauern für mein Augen- und Herzenslabsal das stille, glückliche Nestchen erworben. Wir lebten, von äußeren Sorgen ungetrübt, zufrieden und einig und, wenn das möglich war, noch inniger verbunden durch ein Kinderpärchen, das unser Glück gar voll machte.

Das Alles mußte ich erzählen, nicht um mich von jeder Schuld an dem nun Folgenden frei zu sprechen, sondern mehr um das Unerklärliche und Entsetzliche desselben für mich anzudeuten.

Fünf Jahre waren uns so dahingegangen, und in dieser Zeit war nur ein Schmerz über uns gekommen: der Tod von Gritli’s Mutter. Seit dieser Nachricht beklagte sie es oft, daß sie ihre Lieben nicht habe wiedersehen können. Trotz eines eifrigen Briefwechsels mit ihren Geschwistern, die immer nur Gutes schrieben, vermochte sie die Sorge um sie nicht niederzukämpfen. Ich beruhigte und vertröstete, und das schien zu wirken. Sie klagte freilich nicht mehr, aber die nun verschlossene Klage arbeitete, ohne daß ich’s ahnte, in ihrem Innern zerstörend fort.

Im Laufe des Sommers (1836) trat zuerst die innere Wandlung an den Tag. Bis dahin ein Muster in der Ordnung ihres Haushaltes und in der Sorge für die Kinder, zeigte Gritli sich mehr und mehr gleichgültig gegen Beide, sie wurde nachlässig in Allem, auch, die sonst immer so schmucke Frau, in ihrem Aeußern. Ich fand sie häufig und später immer mit verweinten Augen, und auf all meine noch so liebevollen Fragen erhielt ich keine Antwort. Nachts verließ sie oft unsere Wohnung und ging in’s Freie, meist auf die Bastei mit dem weitesten Fernblick nach Süden. Ich schlich voll Sorge nach, ohne sie zu stören. Sie sprach leise für sich, aber ich konnte nichts davon verstehen, dann brach sie plötzlich in erschütterndes Lachen und gleich darauf in bitterlichstes Weinen aus, und Beides wechselte so oft, daß ich um ihre geistige Gesundheit in Angst und Bangen gerieth. Und lauschte ich am Tag einen Augenblick ab, wo ich sie ruhiger glaubte, und bat sie dringlich, mir ihren Kummer zu entdecken, so wandte sie sich ab und schwieg. – Jedes theilnehmende Herz wird fühlen, was ich litt. Da war etwas zwischen mich und meine geliebte brave Frau getreten, was ich nicht ergründen konnte, und das mich um so tiefer niederdrückte, als die Erscheinung desselben täglich unheimlicher wurde.

So war der Herbst herbeigekommen. Da, an einem Freitag Nachmittag, ging meine Frau, trotzdem es heftig regnete und sie nur leicht gekleidet war, zu dem Oekonomiegute, das außerhalb der Veste, etwa zehn Minuten vom Thore entfernt ist und wo ein laufender Brunnen auch für Bewohner der Veste das nöthige Trinkwasser bietet, denn innerhalb der Veste ist nur eine Cisterne [440] und ein mehrere hundert Fuß tiefer Ziehbrunnen, der jetzt nicht mehr benutzt wird. Während Gritli ihre Eimer voll laufen ließ, öffnete sich das Fenster des Pächterhauses und wer herausschaute, war der Herzog, den das Unwetter auf einem Ritt zur Jagd überrascht hatte und der hier untergetreten war. Gritli stand vom Fenster abgewandt, und erst auf die Ansprache: „Was machst Du denn da? Du wirst ja ganz naß!“ kehrte sie sich dem Fürsten zu, der nun ihr blasses, abgehärmtes Gesicht sah und sie fragte: „Was fehlt Dir? Bist Du krank?“ – „Ach nein, Durchlaucht, mir fehlt nichts.“ Und damit eilte sie fort. Daheim erzählte sie sie mir dies Begegniß und fügte noch hinzu: “Ich habe gelacht und habe gesagt, es fehlt mir nichts.“ Indem ich sie dabei scharf ansah, wurde sie bald roth, bald blaß und ein Fieber begann sie zu schütteln. Sie folgte meinem Rathe, sich zu Bett zu begeben, die Wärme half ihrer an sich gesunden Natur nach, und als sie sich am Abend wieder wohler fühlte, kam zum ersten Male ein Geständniß über ihre Lippen. Sie seufzte: „Ach, es giebt so viele reiche Leute. Wenn die nur wüßten, wie es denen zu Muth ist, die ihre Wünsche nicht befriedigen können und dürfen!“ – „Was hast Du denn für einen Wunsch? Sage es mir, Gritli! Du weißt, wie gern ich Dir jeden Wunsch erfülle, wenn es nur irgend angeht!“ Mit dieser Frage mußte ich die wunde Stelle berührt haben. Ein starres Ansehen war die Antwort – und dann ein Thränenstrom, der nicht enden wollte, so daß auch ich meines Leidens kein Ende wußte.

Schon am nächsten Morgen kam der Kammerdiener, jener Schweizer, den ich oben erwähnte, zu mir auf die Veste, offenbar im Auftrag des Herzogs, denn nach allerlei Hin- und Herreden sagte er, wie im Vorbeigehen: „Ja so, lieber Landsmann (wir nannten uns so, meiner schweizerischen Frau wegen), gestern war der Herzog hier oben und hat Ihre Frau so leidend aussehend gefunden. Er möchte wissen, was ihr fehle und ob Sie seiner Hülfe bedürften?“

„Was meiner Frau fehlt? Ja, wenn ich das wüßte!“ Ich erzählte ihm Alles, was ich beobachtet hatte. Sein Gesicht wurde immer bedenklicher, und als ich geendet hatte, sagte er:

„Landsmann, Ihre Frau hat das Heimweh im höchsten Grade! Trösten Sie sie, es wird sie beruhigen, wenn Sie ihr die Versicherung geben, daß der Herzog ihre Wünsche erfüllen werde.“

Das Heimweh! Ich war erschreckt und erstaunt zugleich, daß so etwas einer Menschenseele so fürchterlich zusetzen könne. Halb im Unglauben dachte ich doch, es würde für Gritli das Beruhigendste sein, wenn ich ihr des Kammerdieners Auftrag einfach mittheilte. Hatte ich denn eine Ahnung davon, wie das eine Wort auf das kranke Herz wirke?

Meine Frau kam von einem Ausgang heim. Freudig eilte ich ihr entgegen und sagte: „Du, Gritli, der Kammerdiener war da und hat sich im Auftrag des Herzogs erkundigt, warum Du so blaß aussähest, und Dein Landsmann hat gemeint, Du hättest das Heimweh – –“

Wie von einem Blitz getroffen, stürzte sie zusammen und wälzte sich auf dem Boden, weinend und lachend durcheinander und schrie dazwischen gräßlich: „Hahaha – Heimweh! Heimweh! Ich weiß es nicht, weiß es nicht – hahaha – in die Heimath will ich wieder!“ Und Lachen und Schreien und Weinen – und nicht vom Boden auf – stundenlang! Jammernd, bittend und zitternd an allen Gliedern, stand ich da und konnte nicht helfen, bis endlich die Gewalt des Seelensturms sich selbst ausgetobt hatte. Erst dann ward sie meinen Versicherungen zugänglich, daß sie sicherlich in die liebe Heimath reisen solle. Aber an Ruhe war nicht zu denken, die Rinde des Schweigens war gelöst, die ganze Nacht redete und erzählte sie von der Heimath und von den Gräbern ihrer Mutter und ihres Vaters und von ihren Geschwistern und wie dort Alles, Alles besser sei, das Land und die Menschen und Alles!

Tags darauf ward ich in’s Residenzschloß beschieden. Der Herzog fragte mich, ob ich mit meinem Gehalt ausreiche, ob vielleicht Nahrungssorgen auf meiner Frau gelastet. Ich mußte offen und dankbar bekennen, daß wir bisher glücklich und zufrieden gelebt. „Dann,“ sagte der edle Fürst, „ist es wirklich nur das Heimweh, das Deine Frau, krank gemacht hat, und da muß rasch geholfen werden. Ich will Euch Beide in die Schweiz reisen lassen, denn allein darf Deine Frau in ihrem jetzigen Zustand nicht sein. Sage das Deiner Frau. Ich habe diese Leute nicht aus ihren Bergen herauskommen lassen, daß sie hier unglücklich sein sollen.“

Wie ich diesmal den Berg zur Veste hinaufkam, weiß ich nicht. Nur das weiß ich, daß ich von heißem Dank, ja von Begeisterung erfüllt war für meinen Herzog, der für den einfachen, niedern Mann ein Herz voll theilnehmender Menschenliebe hatte. Und als ich meiner Gritli die Botschaft verkündete: „In acht Tagen können wir reisen, Du und ich, in Deine Heimath!“ – da schlug sie vor Freude die Hände zusammen und umschlang mich und rief: „Ach, der liebe Herr, wie gut der ist, – aber, Christian, Du darfst nicht mit! Allein muß ich sein, und sollte ich zu Fuß gehen – Du darfst nicht mit!

Kein Warum und kein Bitten änderte ihren Sinn, alles Zureden wies sie mit dem entschiedenen Ausspruch zurück: „Ich muß allein sein!“ Ich kann nicht verschweigen, daß, nach dem vielen Bittern, das ich im Verlauf dieser Krankheit ertragen, mich dieses Letzte am tiefsten schmerzte, weil es mir wie Lieblosigkeit, ja wie Widerwillen gegen mich erschien. Indeß ließ ich mich gern belehren, daß sich damit eben nur ein neuer Zug der entsetzlichen Krankheit äußere, der mit der Krankheit selbst verschwinden werde.

Der Herzog gestattete ihr nun die Reise mit der Post, und das war für die kranke, schwache Frau ein schweres Unternehmen, denn während jetzt Eisenbahn und Dampfschiff uns in einem Tage von unserer Residenzstadt bis in die Schweiz tragen, nahm dies damals sieben volle Tage und sieben Nächte in Anspruch. So, kam’s denn – und zwar Mitte des sehr strengen December – zur Abreise und zur letzten schmerzlichen Aeußerung der Krankheit: Gritli schied von mir und von unsern Kindern so gleichgültig, als ob sie nur in die nächste Nachbarschaft ginge. Mit banger Sorge blickte ich dem abfahrenden Wagen nach, meine arme Frau war zum Skelet abgezehrt; Gottes Hand mußte sie führen, wenn sie ihre Heimath und uns wiedersehen sollte.

Fünf Wochen vergingen; ich erhielt keine Nachricht in dieser für mich so peinlichen Zeit. Aber – meine Gritli kam selbst! Fünf Wochen – und welche Wandelung! Wieder kerngesund und stark, mit lebenstrahlenden Augen trat sie bei uns ein. Die Kinder wollten nicht glauben, daß das ihre Mutter sei, und ich konnte mich vor freudigem Staunen kaum fassen: sie war ganz wieder „das kleine, schwarze Ding“ geworden, ganz wieder Bernerin in Tracht und Sprache, und ganz wieder das frische Herz voll der alten, treuen Liebe.

„Da hast Du mich wieder, Du guter, herziger Mann, und Ihr, liebe Kinder! Ich war gegen Dich garstig und nachlässig gegen Euch, aber nun werde ich Dir wieder die gute Frau und Euch die treue, sorgende Mutter sein.“ Das war ihr Gruß, und nun konnte sie mit Ruhe über ihre Krankheit sprechen, ja sie hielt jetzt eine möglichst offene und klare Darlegung ihres damaligen Zustandes für ihre Pflicht, um all der Angst und des Kummers willen, die sie mir gemacht.

„Was habe ich erlebt!“ rief sie aus. „O Heimweh, du fürchterliches Wort! Und kein Schweizerherz ist vor ihm sicher, ob es noch so viel Liebe erfährt und ob’s ihm noch so gut geht in der Fremde. Als es so nach und nach über mich kam, war es anfangs nur Sehnsucht, aber dann wurde es Zorn über Alles, was mich umgab. Mein Verstand sah ein, daß ich Euch und Andern Unrecht that, aber das Herz besaß nur noch so viel Widerstandskraft, daß ich mich Euch gegenüber wenigstens nur gleichgültig zeigte. Wäre mir nicht geholfen worden durch die Heimathreise, so stehe ich nicht davor, selbst gegen Euch, mein Liebstes auf der Welt, wär’ noch der Groll Herr geworden. Es war die höchste Zeit, daß ich gerettet wurde.

Und warum Du nicht mit mir reisen durftest? Das war keine Lieblosigkeit, sondern Scheu, beobachtet zu werden in meinem Wesen, Scheu vor irgend einer Bemerkung über meine Geschwister, die Dir hätte entschlüpfen können, – und ich wußte ja nicht, wie ich dann gegen Dich werden würde. Als es überstanden war, bereute ich’s tausend Mal, daß Du nicht mit mir die Herrlichkeiten der Heimath sehen konntest. Ueberstanden war es aber erst, als in einer Nacht der Conducteur (ich hatte ihn jeden Tag ein paar Mal gefragt: sind wir noch immer nicht an der Schweizergrenze?) mir zurief: ‚Hier ist Schweizerboden!‘ Da sprang ich aus dem Wagen und kniete hin und küßte die Heimatherde. – Und dann noch mehr in Zürich, wo Alles schweizerisch sprach und Jedes mir [441] mit Zureden und gutem Rath entgegenkam. Dort im Gasthof war’s auch, daß ich zufällig durch das Thürfenster hinaus in die Küche schaute, wo die Dienstboten Birnschnitze und geräucherte Ripperle aßen. Da ging ich sogleich hinaus, setzte mich mit an den Tisch, nahm mir frisch heraus und aß zum ersten Mal seit der ganzen Reise, ja seit dem Anfang der bösen Krankheit mich einmal wieder herzhaft satt. Und nun nach Bern und dann nach Thun und da mußte ich übernachten. Als ich mit der Wirthin sprach und ihr gestand, wer ich sei und woher und daß ich das Heimweh hätte und mich nach meinen Geschwistern sehnte, erhob sich ein Mann am Tisch, der sah mich an und rief plötzlich: ‚Gritli, Du bist es und kommst aus Deutschland? Gieb Dich zufrieden und laß Dein Sehnen, alle Deine Geschwister sind wohlauf und Allen geht es gut!‘ Da war’s Peter, ein Schulcamerad, der mich so begrüßte und tröstete. Und am andern Tag mit dem Postschiff über den See. Es war ein klarer Morgen. Wie betrachtete ich die heimischen Gletscher und Berge! Welch ein Jubel in meiner Brust! Es kam mir vor, als seien die Berge höher, der See größer und die Heimath viel schöner, wie damals, als ich fortging. Und endlich das Heimathsdorf, die Geschwister, die mir entgegenfuhren, weil Peter ihnen von mir schon erzählt hatte, – und da saß ich im Vaterhaus, und um mich herum Alle, die Großmutter, die Tante, die Geschwister, der Schwager – und alles Leid war vergessen – und das Heimweh aus Seele und Leib gebannt bis zum letzten Herzenswinkel. Und nun wollen wir das Leben wie von vorn anfangen, es kommt kein Heimweh mehr über mich und Eure Heimath ist nun auch die meine.“

Und so ward es nun, und so blieb es noch sechsundzwanzig Jahre lang. Kein Schatten hat unser häusliches Leben mehr getrübt; nur einmal kam eine tiefe Trauer über uns Beide und betrübte uns zu Thränen treuesten Dankgefühls: als unser guter Herzog starb.

Bis hierher bin ich in Obigem der Mittheilung meines alten, lieben Freundes gefolgt. Zum Schluß füge ich an, daß er selbst noch auf der alten Veste, der „Schwester der Wartburg“, lebt, aber sein treues Gritli schlummert seit vier Jahren auf dem Plätzchen, das sie sich im Leben zur Ruhestätte erwählt, in dem stillen, grünen Friedhof am nahen Bergwald, in den früher die Bewohner der Veste gebettet wurden. Obwohl seit Jahren verschlossen, öffnete er sich noch einmal und zum letzten Male für das Kind der fernen Berge. Wer von der Veste Coburg die breite, hohe Straße nach Osten einschlägt, um an der sogenannten „Schäferei“ (dem oben erwähnten Oekonomiegut) vorüber den reizenden Weg durch die Buchenhallen des Bausenbergwaldes nach Oeslau und der Rosenau mit ihrer blühenden Schweizerei zu lustwandeln, sieht vor dem Eintritt in den Wald zur Linken die alte Friedhofstätte mit ihren Steinen und Kreuzen und ihrem verfallenden Bahrhäuschen. Das üppigste Grün überwuchert sie, der Bergwald beschattet sie und die ersten Nachtigallen begrüßen sie – und doch liegt sie nicht so abseits allein und verlassen, sondern Menschen, die sich der Schöpfung Gottes freuen, ziehen mit gehobener Seele vorüber und mancher theilnehmende Blick begrüßt noch immer die stillen Gräber. Da ruht sich’s wohl.
Fr. Hofmann.