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Der Held des Chicagoer Brandes

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Textdaten
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Autor: Eduard Schläger[WS 1]
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Titel: Der Held des Chicagoer Brandes
Untertitel:
aus: Die Gartenlaube, Heft 23, S. 371–374
Herausgeber: Ernst Keil
Auflage:
Entstehungsdatum:
Erscheinungsdatum: 1872
Verlag: Verlag von Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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Quelle: Scans bei Commons
Kurzbeschreibung:
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Der Held des Chicagoer Brandes.


Die Chicago nahezu zerstörende Katastrophe vom 8. und 9. October 1871 hat einem Helden von, wir möchten sagen, antiker Größe zum großartigsten aller Piedestale gedient und damit zugleich den Beweis geliefert, daß der Mensch selbst dem furchtbarsten Schicksale gegenüber seine Ebenbürtigkeit zu behaupten vermag. Der Brand von Chicago, welcher jeden Vergleich mit den Feuern anderer Städte zurückweist, war in seinem Fortschritt wie in seinem, das Leben von Zehntausenden bedrohenden und das von Hunderten wirklich vernichtenden Wesen einer großen Schlacht ähnlich, und wie in dieser die Aufgabe des Feldherrn zugleich in der Leitung des Sturmes und in der innern Freiheit vom Sturm besteht, so mußte auch der Retter par excellence, der Held des Feuers vom 8. und 9. October 1871, jene eigenthümliche Mischung von Kälte, Energie, Ehrgeiz und Gleichgültigkeit gegen Gefahr im höchsten Grade besitzen, ohne welche der Heros in keinem Zeitalter zu seinen Thaten dringen oder gelangen kann. Wenn Bürger in seinem Liede vom „braven Mann“ einen einfachen Kittelträger in den Tönen der höchsten Bewunderung besingt, da er allein mit seinem schwachen Kahne den Zöllner und dessen Familie vom brandungumtobten Brückenpfeiler in der Mitte des rasend gewordenen Flusses rettet, wie soll man der Heldenleistung eines Mannes gerecht werden, welchem viele Tausende von Menschen und Millionen von Werth ihre Befreiung aus jenem feurigen Ofen verdanken, in welchen die Metropole am Michigansee in der nie enden wollenden Nacht vom 8. auf den 9. October im wirklichsten Sinne des Wortes verwandelt war!

Wenn diese Rettung nur durch die Zusammenwirkung menschlicher Kühnheit und Erfahrung mit der gewaltigen Macht des Dampfes in’s Werk gesetzt werden konnte, so verlor oder verliert sie dadurch keineswegs den großartigen Zug; sie erscheint im Gegentheil wie ein nothwendiger Gegensatz des Feuers selbst; die furchtbare Elementargewalt, die „freie Tochter der Natur“, wird durch ihren in Dienst des Menschen gerathenen Bruder, den mächtigen Dampf, selbst bekämpft. Aus dem Pandämonium, aus dem vollständigen Chaos, in welches Chicago in jener Schreckensnacht verwandelt, hebt sich nur ein fester Punkt ab, nur Einer schwebt wie ein unerreichter Gott über dem Sturme hin, es ist der junge [372] Capitain des Schleppdampfers „Magnolia“, Joseph Gilson, welcher den Kampf aufnimmt, den Flammen in ihrem Marsche seewärts und leuchtthurmwärts ein Ziel setzt und dadurch Tausenden von Menschen zum frohbegrüßten Retter wird.

Aus der Jugendgeschichte Joseph Gilson’s, der im Jahre 1846 zu Chicago selbst geboren wurde, läßt sich eben nicht viel erzählen, wenngleich sie bei aller Einfachheit den Beweis liefern würde, wie Gilson’s Freude an Wagnissen und Lebensgefahren mit jedem Jahre wuchs. Nachdem er Bäckerlehrling, Schiffsjunge, Matrose und Salzbohrer gewesen war, betrat er endlich sein eigentliches Feld, den Schleppdampfer, im Sommer 1864 und zwar in Chicago, dessen Schleppdampfer-Capitäne (es sind ihrer sechszig) durch ihre Geschicklichkeit und Verwegenheit in der ganzen Union bekannt und berühmt sind. Gilson begann auf der untersten Sprosse der Leiter, als „Deckarbeiter“ auf dem Schleppdampfer „Monitor“.

Zwischen den verschiedenen Dampfern bestand damals eine heftige Concurrenz; einer suchte dem andern die sich der Mündung des Hafens nähernden Schiffe wegzufangen und zu dem Ende vor dem andern auf dem See vorbeizufahren. Um die dazu nöthige außerordentliche Schnelligkeit zu erlangen, wurden nicht selten die zur Verhütung von Explosionen sich von selbst öffnenden Sicherheitsventile mit Gewalt geschlossen und auch Gilson erhielt einmal den Befehl, den Schluß zu besorgen, ein Geschäft, welches große Gewandtheit erfordert und mit großer Gefahr verbunden ist. Er wurde dabei drei Mal nach dem Hintertheil des in rasender Eile vorwärtsstürmenden Boots zurückgeschleudert, erreichte jedoch trotzdem seinen Zweck. Kein Wunder, daß ein solcher „Deckarbeiter“ schon 1865 zum Capitän des „Montauk“ befördert wurde. Er ging mit dem nach Cairo (am Einfluß des Ohio in den Mississippi gelegen) verkauften Boote dorthin und fuhr zwischen Cairo und Mound City im Kohlenbootschleppdienst. 1866 finden wir ihn jedoch bereits wieder in Chicago als Befehlshaber der „Ida H. Lee“. Im Spätherbst 1866 kaufte Gilson in Gemeinschaft mit einem Herrn Cruver sich selbst das Schleppboot „Magnolia“ für sechstausend Dollars baar.

Gilson’s Verwegenheit war unter den Seeleuten schon damals genügend bekannt und bewundert; im April 1867 jedoch zog der erst einundzwanzigjährige Capitän die Aufmerksamkeit und das Staunen der ganzen Stadt auf sich, als er mit seiner „Magnolia“ bei heftigem Nordostwinde auf den See hinausfuhr, um ein sonst dem sicheren Untergange zutreibendes Schiff, den Schooner „Navagh“, zu retten und in den Hafen zu bugsiren.

Es war ein stürmischer Sonntag-Morgen im April, als Capitän Gilson, auf die Spitze des Hafendammes hinausgehend, der zur Seite der Hafenmündung sich hinstreckenden Sandbank zutreibend ein Schiff bemerkte, das bereits die Nothflagge ausgesteckt hatte. Bei Nordostwind ist die Einfahrt in den Hafen stets eine schwierige Aufgabe; der Aequinoctialsturm-Charakter, welchen der Wind an dem erwähnten Sonntage angenommen, machte die Einfahrt beinahe unmöglich, und es schien den vor der Mündung nach der Sandbank oder gegen das zwei Meilen lange, dem Ufer parallel laufende Schienendammwerk der Illinois-Central-Bahn geschleuderten Schiffen das Schicksal unvermeidlich, entweder auf der „Barre“ oder gegen die Pfähle des Eisenbahndammes in wenigen Minuten in tausend Stücken zerschlagen zu werden. Kein Capitän wollte sich hinauswagen, jeder Versuch einer Rettung wurde als tollkühn, als unsinnig verdammt. Gilson allein beschloß das anscheinend Unmögliche zu unternehmen. Er hatte aus der Flagge des unglücklichen Schooners erkannt, daß der Befehlshaber ein Schulcamerad aus Oswego war, und für diesen war er bereit das Aeußerste zu wagen. Vergeblich versuchte der Schooner seinen Anker in den sandigen Boden zu werfen. Unaufhaltsam trieb das Schiff der unheilvollen Sanddank zu, auf welcher wie auf einem Amboß der Sturm es in einzelne Bretter zerhämmert haben würde Die Zerhämmerung fing bald darauf wirklich an, gerade als Capitän Gilson mit seiner „Magnolia“ zuerst vor dem Hafen erschien. Es gelang ihm auch wirklich, das Schlepptau des Schooners an Bord zu ziehen; aber die „Magnolia“ war nicht stark genug, um den Schooner von der Bank loszumachen, während sie selbst gegen die Bank hämmernd in Gefahr kam in Stücke zu zerschellen.

Drei Mal wurde wieder hinausgefahren und drei Mal mußte der Rückzug angetreten werden. Endlich gelang es, das tausendfünfhundert Pfund schwere Schlepptau der Bark „Dunderberg“ an das des Schooners zu befestigen, wodurch es der „Magnolia“ möglich gemacht wurde, in tieferem Wasser zu arbeiten und die Kraft größerer Schleppdampfer, die in solcher Entfernung von der Bank ohne sonderliche Gefahr nun arbeiten konnten, zum Losmachen des Schooners zu benutzen. Nachdem Gilson im Ganzen sechs Mal hinausgefahren, triumphirte er endlich und brachte den Schooner in Sicherheit.

Nicht weniger als dreißigtausend Menschen hatten am Ufer, von den flachen Dächern der riesigen Kornspeicher, von den Spitzen der Schiffe im Hafen, dem hin- und herschwankenden Kampfe zwischen dem Dampfer und dem Sturm mit stets steigender Spannung, trotz des rauhen und unangenehm kalten Wetters zugeschaut. Sie sollten unmittelbar darauf Augenzeugen eines noch verwegneren Stückes werden. Gilson war offenbar in Geschmack der Gefahr gekommen, und als er den Schooner „Albany“ in derselben Richtung, wie kurz vorher den „Navagh“, der Sandbank zutreiben sah, besann er sich keinen Augenblick, er ließ das für solche Fälle im Hafen bereite Rettungsboot mit auserlesenen Leuten bemannen, nahm es und sie an Bord der „Magnolia“ und dampfte nach der gefährlichen Stelle in See hinaus. Jedermann gab den Dampfer verloren, indem derselbe, um der Sandbank sich genügend zu nähern, in der heftigsten Weise gegen den Boden des Sees (an der Stelle nur acht bis neun Fuß tief) auf- und niedergestoßen wurde. Das Rettungsboot wurde trotz alledem ausgesetzt, die halb erfroren im Takelwerk des Schooners hängende Mannschaft desselben gerettet und an Bord des Dampfers gebracht. Es war die höchste Zeit gewesen, denn fünf Minuten später war von dem Schooner „Albany“ auch keine Spur mehr zu sehen, Schiff und Ladung waren vollständig verschwunden.

Die Zeitungen veröffentlichten ganze Spalten über diese Doppelthat Gilson’s und sein Ruf als das des kühnsten Capitäns von Chicago war so begründet, daß er namentlich im Frühjahr und Herbst Schwierigkeit fand, Mannschaft zu bekommen; nur eine ganz besondere Classe von Leuten, welche die Gefahr um ihrer selbst willen liebten, ließ sich zuletzt von ihm anwerben. Es gab in der That für Gilson kein Sturmwetter, das ihn abgehalten hätte, auf den See hinauszufahren, und häufig gingen selbst Schiffscapitäne auf den Hafendamm hinaus, um den jungen Wagehals aus dem sicheren Hafen in den finsteren See sich hinauswagen zu sehen, während nicht wenige andere Capitäne den Kopf schüttelten und murmelten: „Er wird zuletzt einmal draußen bleiben und nicht zurückkommen.“

Daß ein solcher Mann bei dem größten Ereigniß, das seine Vaterstadt betroffen, eine bedeutende Rolle spielen würde, ließ sich erwarten; besondere Umstände machten sie zu einer wahrhaft großartigen.

Durch zwei furchtbare Eigenthümlichkeiten zeichnete sich der große Brand von Chicago vor allen andern aus, nämlich durch seine ganze Stadttheile in unnahbare, in vollständig lebensgefährliche Regionen verwandelnde Gluth, und durch eine beispiellos rasche und unregelmäßige Verbreitung, in Folge welcher vielen Tausenden der Weg zur Flucht landeinwärts ganz und gar versperrt wurde und der Rand des Seeufers, ja das Wasser des Sees selbst die einzige Sicherheit vor den von allen Seiten, die Ost- oder Seeseite allein ausgenommen, gegen sie vorrückenden Flammen darbot. Zum besseren Verständniß der weiter unten beschriebenen Scenen sind einige Bemerkungen über die Topographie der Stadt zweckmäßig. Chicago wird durch den Chicago-Fluß und dessen beide Arme, die sich einige tausend Schritt vor der Mündung von dem Hauptfluß abzweigen, in drei Theile getheilt. Der südlich vom Hauptfluß und östlich vom Südarm liegende Stadttheil führt den Namen der Südseite und enthält in seinem nördlichen, dem Hauptfluß nahen Theile das Hauptgeschäftscentrum, alle öffentlichen Gebäude, Theater und Haupthôtels. Nördlich vom Hauptfluß und durch vier Drehbrücken mit der Südseite verbunden, befindet sich die Nordseite, deren Grenze im Westen der Nordarm des Flusses bildet. Im Osten zieht für Nord- und Südseite der Michigansee die Grenze. Der Theil der Stadt, welcher westlich vom Nord- und Südarme des Flusses oder westlich von Süd- und Nordseite sich weit in die Prairie hinauserstreckt, trägt den Namen der Westseite, welche nur einige tausend Häuser von ihren etwa fünfundzwanzigtausend [373] Gebäuden durch das Feuer verlor, und eben deshalb die Hauptzufluchtsstätte namentlich für die fünfundsiebenzigtausend obdachlos gewordenen Bewohner der Nordseite nach dem Feuer darbot.

Die zweistöckige Wohnung unseres Capitains befand sich nur wenige „Blocks“ (ein „Block“ ist in der Regel dreihundertzwanzig Fuß lang und dann folgt jedesmal eine neue Querstraße) vom Hauptfluß entfernt auf der Nordseite. Um zwölf Uhr Nachts (8.–9. October) war das nach neun Uhr Abends auf der Westseite ausgebrochene Feuer schon im Geschäftsherzen der Stadt angelangt, und die Nordseite und namentlich der in der Nähe der bereits brennenden Südseite gelegene Theil derselben mußte im Voraus als verloren betrachtet werden. Gilson, der natürlich ebenso wenig zu Bett gegangen war wie der größte Theil der dreihunderttausend Einwohner der Stadt, beschloß, wie die Griechen vor Troja, sich mit seiner Familie und seinen Habseligkeiten auf seine so oft im Sturm erprobte „Magnolia“ zu flüchten und dann hinaus auf den See, der jetzt allein vor dem feurigen Element sicher schien. Er eilte zu dem Ende nach dem in der Nähe der Hafenmündung befindlichen Dock der Illinois-Centralbahn, an welchem der Schleppdampfer lag. Der Capitain fand seine Mannschaft an Bord und in Bereitschaft. Ehe jedoch der Weg flußaufwärts angetreten wurde, hatte sich die Lage der Dinge wenige Blocks vom Schleppdampfer so rasch und furchtbar gestaltet, daß der ursprüngliche Entschluß Gilson’s, vor Allem für sich selbst zu sorgen, über Bord geworfen und dagegen die „Magnolia“ nebst Capitain und Mannschaft dem Dienst und der Rettung der Tausende geweiht wurde, welche, aus dem Geschäftscentrum der Südseite vertrieben, auf den Docks und auf den Dampf- und Segelschiffen im Hafen eine, wie sie glaubten, sichere Zuflucht gefunden hatten. Es zeigte sich bald, daß sie den gefährlichsten aller Plätze gewählt hatten. Das Vordringen der Flammen nach dem See zu (von Südwesten nach Nordosten) wurde durch die entgegenstehenden Reihen von Steingebäuden nur etwas verzögert. Als die Flammen schließlich den Riesenbahnhof am See, etwa tausend Fuß südlich vom Chicago-Fluß gelegen, erreichte, war der Schrecken unter den östlich (noch weiter in den See hinaus) an Docks und auf Schiffen zusammengedrängten Tausenden um so größer, als die Gefahr ihnen als eine völlig unerwartete erschien. Der Schrecken stieg, als einer der beiden riesenhaften Kornspeicher (elevator) der Illinois-Central, die auf der einen Seite das goldene Korn vom Geleise der Bahn per Dampf aufsaugen, um es auf der anderen Seite in die Getreideflotten der nordwestlichen Seen gleichfalls per Dampf zu ergießen, als einer dieser Millionen von Bushel (etwa ein Berl. Scheffel) bergenden Elevatoren in Brand gerieth und die dicht dabei liegenden Schiffe, sowie den weiter östlich (seewärts) liegenden Riesencameraden bedrohte.

Die „Magnolia“ war der einzige Schleppdampfer am Platze. Die anderen neunundfünfzig Schlepper befanden sich, da bei Südwestwind für sie keine Beschäftigung vom See aus in Aussicht stand, weiter flußaufwärts und die mittlerweile in Brand gerathenen Brücken zwischen Süd- und Nordseite hätten die Fahrt nach der Mündung unmöglich gemacht, selbst wenn man ihnen eine Botschaft hätte zustellen können, was während der ganzen Nacht so gut wie unmöglich war. Capitain Gilson und sein Schleppdampfer waren somit die einzigen Retter und sie unterzogen sich der kolossalen Aufgabe mit einem Eifer und einer Aufbietung aller Kräfte, die selbst das Gesetz zu übertreten nicht scheute, nach welchem der Dampfdruck nicht über neunzig Pfund betragen darf. Zunächst wurden die zwischen den beiden Elevatoren liegenden Schiffe aus dem „Slip“ oder Canal in den Hauptfluß gebracht und dadurch der eine Elevator mit seinem an zwei Millionen Dollars werthen Inhalt gerettet.

Außer den durch die „Magnolia“ nach dem Fluß bugsirten Schiffen lagen noch viele andere an den auf dem rechten oder südlichen Ufer des Flusses befindlichen Docks. Die Capitaine der Schiffe wiesen anfangs das Anerbieten Gilson’s, sie in den See hinauszuschaffen, zurück, für so sicher hielten sie trotz des immer näher heranbrausende Flammenmeeres ihre Stellung. Aber eine der festen Steinburgen nach der anderen westlich und südlich von den Schiffen stürzte zusammen, und die fünftausend Menschen, welchen die Hitze das Athmen immer mehr erschwerte, mußten so rasch als möglich auf die Nordseite des Flusses oder auf den See hinausgeschafft werden.

An den nördlichen Docks glaubte man sich ziemlich sicher, insofern die Gegend nicht in der Hauptrichtung des Feuers lag, welches von Südwesten in einem Winkel von fünfundvierzig Grad über der Süd- und Nordseite wegfegte, und insofern der an der Mündung breitere Fluß einigen Schutz versprach. Aber das Eigenthümliche eines nach Quadratmeilen zu berechnenden Feuers sind eben seine Unregelmäßigkeiten; trotz des vorherrschenden Südwestwindes oder Sturmes entstanden während und durch das Feuer selbst Gegenströmungen, das Feuer fraß direct gegen den Wind seit- und rückwärts, und während die erwähnten Schiffe und die auf ihnen befindlichen Tausende den feurigen Feind vom Süden erwarteten, erschien er plötzlich vom Norden her, der lang am nördlichen Ufer nach der Mündung zu sich erstreckende Holzhof der Peshtigo-Company loderte mit einer Masse von Brettern, Ständern, Schindeln und Balken, welche zehn Holzhöfe in Hamburg gefüllt haben würden, in hellen Flammen empor.

Die Capitaine, welche vorher Gilson’s Aufforderung, sich auf den See hinausbringen zu lassen, verschmäht hatten, schrieen jetzt um die Wette nach der „Magnolia“. Man wird fragen: warum dampften denn die Schrauben- und Raddampfer nicht selbst mit eigenem Dampfe zum Hafen hinaus? Sie konnten das einfach aus dem Grunde nicht, weil der heftige Südwestwind sie so dicht und fest an das nördliche Ufer preßte, daß sie sich nicht rühren konnten.

Capitän Gilson verrichtete mit seiner „Magnolia“ wahre Wunder. Gleichgültig gegen Explosionsgefahr steigerte er den Dampfdruck seiner Maschine auf 150 Pfund und schaffte zuerst das Schraubenschiff Ira Chaffee, welches für mehr als tausend Personen einen Zufluchtsort bot, aus dem Hafen. In ähnlicher Weise wurden noch mehrere Dampfer und Schooner gerettet und damit ein Zufluchtsplatz für die zwischen Feuer und Wasser eingekeilten Tausende gesichert, während Gilson durch die Entfernung der Schiffe zugleich die Ausbreitung des Brandes weiter ostwärts, nach dem Leuchtthurm zu verhinderte, in dessen Nähe Tausende der abgebrannten Bewohner der Nordseite in ähnlicher Weise eine Sicherheit gesucht hatten, wie die wiederholt erwähnten fünftausend Abgebrannten der Südseite; Capitain Gilson eilte daher seewärts und postirte sich in der Nähe des neuen Leuchtthurms vor die Einfahrt in den Ogden’schen Canal. Zwischen diesem Canal und dem Fluß, auf einer verhältnißmäßig kleinen Fläche, standen Tausende, ängstlich den Fortgang der auf sie zukommenden Flammen beobachtend und sich mit größter Mühe durch über den Kopf gezogene Mäntel und Tücher vor dem unablässigen Funken- und Feuerregen schützend. Zwar hatte Gilson die Gefahr directer Verbrennung dieser Tausende durch die oben berichtete Fortschaffung der Schiffe verhindert, aber nicht die Gefahr eines von Norden kommenden Feuer- oder doch Erstickungstodes. Diese Gefahr trat ein, als der in Ogden’s Canal liegende Schooner „Swallow“ in Folge des in Brand gerathenen nahen Kohlenhofs von Paine und Dyer Feuer fing und nach den Tausenden zutrieb, die ohnehin vor Hitze und Qualm schon halb erstickt waren, und ohne das rasche Handeln Gilson’s würden am Ufer des Michigansees Massenerstickungsscenen erfolgt sein, welche die von Peshtigo an Grausen noch übertroffen haben würden. (Im Peshtigo-Fluß kamen in Folge des Waldbrandes mit einem Male, und zwar auch in der Nacht vom achten bis neunten October, dreihundert Personen jeden Alters und Geschlechts um.)

Wie enorm die Hitze in der Umgebung bereits war, bewiesen die keine dreihundert Fuß von den Menschenmassen hochrückig gewordenen Eisenbahnschienen. Capitän Gilson dampfte rasch den Canal hinauf, nahm den brennenden Schooner ins Schlepptau und entfernte ihn aus dem Bereich der Massen. Diese hatten sich mittlerweile immer mehr nach der Einfahrt des Canals zugedrängt und standen großentheils auf dem etwa zwanzig Fuß breiten, mit Steinen bedeckten westlichen Seitendamm. Als die „Magnolia“ nun selbst unmittelbar vor dem Seitendamm in Sicht kam, wehten alle möglichen Tücher und ertönten alle möglichen Geldangebote. Jeder wollte zuerst an Bord genommen und nach den im Hintergrunde winkenden Propellern geschafft werden. Gilson wies jedoch alle Geldanerbietungen zurück. Zeit, so erklärte er, sei oder bedeute diesmal nicht Geld, sondern Menschenleben, und so viel als möglich von den letzteren zu retten, ohne Unterschied der Person, sei seine einzige Aufgabe. Die Ueberfahrt nach dem östlichen oder äußersten Seitendamm, der fünfzig Fuß breit [374] ist und an dessen Ende sich der Leuchtthurm erhebt, wurde dann begonnen, und von diesem Seitendamm die Einschiffung auf die draußen im See stehenden Dampfer bewerkstelligt.

Welch brillanter Vorwurf für den Maler würde nicht die Darstellung dieses Fährdienstes der „Magnolia“ sein! Rechts der westliche Seitendamm mit den ängstlich sich nach dem Wasser zu drängenden Menschenmassen, die vor dem Feuer so weit, als sie nur können, zurückzuweichen scheinen; links, durch den tausend Fuß breiten Wasserstreifen gedeckt, die bereits zur Einschiffung auf die gastlichen und Erfrischungen bereit haltenden Dampfer draußen im See sich anschickenden Uebergesetzten; westwärts und ostwärts nichts als Qualm, Flammen, der Himmel selbst vollständig unsichtbar durch die vom Sturm über den ganzen Horizont gejagten, von Feuer durchzogenen Rauchwolken. Dazu die Leuchtthürme, deren sonst so helles Licht in dieser unheimlich blendenden Helle matt und fahl erscheint wie eine Dämmerung der Götter, und dahinter der in Dunkel gehüllte unruhige See mit seinen kurzen, scharfen Wellen unmuthig an die Ufer und Steindämme schlagend, als beschwere er sich über diese durch Schuld der Menschen in Scene gesetzte Riesenstörung seiner nächtlichen Ruhe.

Erst am Montag Nachmittag war es möglich, vom Seeufer und See aus einen Weg zurück in die Welt aufsuchen zu lassen. Die „Magnolia“, welche die letzte gewesen war, die Mündung des Flusses zu verlassen, war die erste, den gefährlichen Weg flußaufwärts anzutreten und den draußen harrenden Fünfzehntausend Kunde über die Größe des Feuers und Rettung aus Hunger und Kälte zu bringen. Der brave Capitain, welcher seit dem Ausbruche des Feuers unausgesetzt thätig gewesen, ließ sich hiervon weder durch die noch immer furchtbare Hitze abschrecken, noch durch die Gefahr, von Zeit zu Zeit auf seiner Fahrt von den nach dem Flusse zu einstürzenden Mauern abgebrannter Lagerhäuser belästigt zu werden; er dachte nur an die fünfzehntausend hungernden und frierenden, theilweise von ihren Lieben getrennten, über ihre Zukunft in traurigstem Dunkel und Zweifel sich abquälenden Menschen.

Die Fahrt wurde glücklich zurückgelegt und Capitain Gilson fand zu seinem freudigen Erstaunen, daß die Westseite von Chicago sammt ihren Häusern noch da stand, wo sie vor dem Brande gestanden. Sofort wurde eine ganze Flotte von Schleppdampfern nach dem See und dem Seeufer auf der Nordseite aufgeboten. Bis zum Abend wurden viertausend Menschen vom See auf die Westseite geschafft, und am Dienstag Nachmittag (10. October), 5 Uhr, wurde vom Schleppdampfer „Little Giant“ (kleiner Riese) die letzte Ladung Unglücklicher wieder unter Menschen gebracht.

Während der edle Capitain sich um die Rettung von Tausenden solche Verdienste erwarb, während er zur Vertheidigung von Schiffen und Lagerhäusern seine Person und sein bestes Gut, die „Magnolia“, einsetzte, verbrannte seine Wohnung sammt seiner ganzen sonstigen Habe zu Asche. Ueberdies haben die ungeheuren Anstrengungen während des Feuers, das Einathmen der glühend heißen Luft, die Lunge Gilson’s in so hohem Grade angegriffen, daß ihm die Aerzte die äußerste Vorsicht empfehlen mußten. Hoffentlich wird seine Gesundheit nicht dauernd erschüttert sein.

Bemerkenswerth und die Verwirrung bezeichnend, welche noch wochenlang nach dem 10. October in den Gemüthern herrschte, ist der Umstand, daß erst im November eine Notiz in den Tagesblättern den heroischen Leistungen Gilson’s einigermaßen gerecht wurde, ohne sie jedoch in ihrer vollen Bedeutung zu erfassen.

Die vorliegende Skizze ist die erste, welche die Episode – wenn dies Wort überhaupt zulässig ist – in ihrer ganzen Vollständigkeit darlegt. Wir haben die Daten aus Gilson’s eigenem Munde geschöpft. Die Zeit wird nicht fern sein, wo die „Wunderstadt“ Chicago dem hellsten Sterne ihrer dunkelsten Nacht in einer ihrer würdigen Weise ihre Anerkennung zollen und ihn für die Verluste überreich entschädigen wird, welche er in ihrem Dienste freiwillig und großherzig erlitten.

Capitain Joseph Gilson ist, wie alle Männer der That, in seinem Auftreten anspruchslos und zurückhaltend; selbst das ihm schon im Jahre 1867 so reich von den Zeitungen, d. h. von der öffentlichen Meinung gespendete Lob hat ihn keineswegs eitel gemacht. Wenn er auch die Bedeutung seiner letzten Leistungen nicht unterschätzt, so ist er doch weit entfernt, davon besonderes Aufheben zu machen. Er gehört eben zu der Classe von Männern, welche keine Furcht kennen und bei deren Blick die Gefahr aufhört Gefahr zu sein. Seine Gesichtszüge tragen den Stempel einer concentrirten, aber gleichsam schlummernden Entschlossenheit, nur in seinen scharfblickenden braunen, von dichten Brauen überschatteten Augen hat sich eine Art Sprungbereitschaft in Permanenz erklärt, vor welcher eben jede Gefahr sich schleunigst in ihre Höhle zurückzieht. Während im länglichen und scharf ausgeprägten Gesicht der allgemein amerikanische Typus vorherrscht, weist sein kräftiger, ungemeine Schnelligkeit der Bewegung stets andeutender Körper auf seinen westlichen Ursprung hin. In seinen Gewohnheiten ist er mäßig; seine einzige Leidenschaft ist die Gefahr und zwar die mit dem Schleppdampferdienst auf dem Michigansee verbundene, einem See, dessen Stürme weit gefährlicher für die Schifffahrt sind als die des Oceans. Während des Winters (die Schifffahrt schließt gewöhnlich Ende November und beginnt wieder Mitte März) liegt die „Magnolia“ im einsamen Winterquartier, während ihr Herr und Meister, um doch nicht ganz aus dem Verkehr mit der Gefahr zu kommen, die schnellsten und wildesten Pferde vor seinem offenen „Buggy“ (leichtgebauter, mit einem Sitze für Zwei versehener vierrädriger Wagen) mit eiserner Hand und sicherem Blick bändigt. Wenn unser Capitain eine Schwäche besitzt, so theilt er sie mit der ungeheuren Mehrzahl der in der Oeffentlichkeit lebenden und dort ihren Mittelpunkt findenden Amerikaner: er sieht es nicht ungern, wenn die Zeitungen über ihn schreiben. Er erfreut sich an dem „Gruseln“ Anderer, obgleich er selbst das „Gruseln“ so wenig lernen wird, wie jener fabelhaft phantasielose Junge des Märchens, den sein Vater ausschickte, das „Gruseln“ zu lernen, und der von dieser seltsamen Wanderschaft die schönste Prinzessin nebst Thron mit nach Hause brachte.



Anmerkungen (Wikisource)

  1. Der Name des Autors findet sich im Kleinen Briefkasten von Heft 37, im dort erwähnten Buch (Google) wird auch der Vorname genannt.