Der Hasbruch
So schwierig es ist, den Charakter eines Volkes im Allgeinen zu bestimmen, so leicht lassen sich einzelne Eigenthümlichkeiten desselben herausfinden. Von denjenigen, welche bei uns Deutschen in Frage kommen, nimmt die Liebe zum Walde eine hervorragende Stelle ein. Unser Wald! Welches deutsche Leben wäre so arm, daß es nicht eine erquickende Stunde reinen Frohsinnes im Schatten unseres Waldes sein nennen könnte! Aber auch die antike Welt, wenngleich sie in der Auffassung des Waldes durchaus nicht die Innigkeit der unserigen erreicht, hat uns doch in der Sage von den Hainen, an deren Gebiet die Furien ihr Opfer verlassen mußten, eines jener goldenen Bilder hinterlassen, welche noch heute das kostbare Erbtheil unseres Phantasielebens bilden. Wer hätte nicht schon in tiefster Seele die Wahrheit dieser Sage empfunden, wenn er, die Sorgen des Tages in der Brust, zum Walde kam, dessen Bäume ihm tröstend ihre Aeste entgegenstreckten und mit ihrem Blätterdache wie ein Asyl winkten, das mit der Abwehr der Sonnengluth zugleich Sänftigung und Kühlung für das heiße Herz versprach!
Ein Freund der Seele, ein Arzt des Körpers, ein Segenspender unserer Aecker – was ließe sich Alles vom Walde sagen – doch sind das Dinge allgemeinen Werthes, auch dem Angehörigen jeder andern Nation verständlich. Das Band aber, welches den Deutschen mit seinem Walde verbindet, ist ein viel engeres – es schlingt sich in die Tiefen seines ganzen Denkens und Fühlens und vererbt sich von Geschlecht zu Geschlecht; denn die Geschichte seines Volkes knüpft allenthalben an den Wald an. Wie sich in den Nebeln, welche über den deutschen Wäldern lagerten, der Blick des Geschichtsforschers verliert, bis ein ernster Römer den Schleier lüftet und uns ein Volk zeigt, das in, mit und durch den Wald lebt, an Sitten rein wie die Natur, die es umgiebt, so beginnt auch unser Eintritt in die große Weltgeschichte mit einer riesenhaften entscheidungsschweren Waldschlacht, und das Christenthum führt sich bei uns ein, indem es als Symbol, daß ein neuer Glaube in die Wälder einziehe, Axt und Feuer an die heiligen Bäume legt. Und unsere Sage, tritt sie nicht vor uns, ausgestattet mit allem Zauber des Waldes; sind die Gaben, welche unser Märchen mit blauem Auge und lachendem Kindermunde uns darbietet, sind sie nicht zwischen den Farren und Kräutern des Waldes gesammelt? Allenthalben, wir mögen blicken, wohin wir wollen, ragt diese grüne Welt in unser nationales Leben herein – tragen doch selbst jene vierundzwanzig modernen Gnomen, welche die Schätze unseres Wissens geschäftig aller Welt vermitteln, die Buchstaben (d. h. Buchenstäbe) – tragen doch auch sie in ihrem Namen die Reminiscenzen des Waldes und eines seiner schönsten Geschlechter. Darum – wer mit uns einstimmt in „das hohe Lied vom Walde“, der wird uns heute mit Freuden in einen ehrwürdigen heiligen Hain begleiten, den ältesten und schönsten, der seines Gleichen nicht hat in ganz Deutschland.
Nicht weit von da, wo die Oldenburger Geest in der Nähe der alten Cisterzienser-Abtei Hude an die Marsch grenzt, liegt mitten in Waldungen jüngeren und jüngsten Datums wie ein Allerheiligstes der Hasbruch. Gewöhnlich pflegt man ihn mit dem Namen eines Urwaldes zu bezeichnen, doch ist er dies nicht, insofern man als Charakteristikum eines solchen die wildverschlungene Mannigfaltigkeit landschaftlicher Scenerie auffaßt. Diese Bezeichnung kommt vielmehr dem Neuenbürger Urwald zu, der, gleichfalls einzig in seiner Art, hauptsächlich das malerische Element vertritt, während der Hasbruch einen friedlichen, durchaus historischen Charakter trägt.
Ursprünglich war der Hasbruch wohl ein heiliger Hain, der wahrscheinlich noch größere Ausdehnung hatte als heute; denn im weiten Umkreise des gegenwärtigen liegen viel Opfersteine und Hünengräber, „de groten Steene“, wie sie die Leute dort nennen. Ja, daß er unter demselben Namen, unter dem wir ihn heute noch kennen, in historisch überlieferter Zeit eine mehr als gewöhnliche Bedeutung genoß, beweist seine Erwähnung durch Karl den Großen im Jahre 786, der ihn als Grenze für das Bremer Gebiet nach Nordwesten bestimmte – er heißt in der Urkunde: Aschbrouch.
Unter dem Schutze ihres geweihten Ansehens mögen die Bäume nun erstarkt und bereits zu so gewaltigem Umfange gelangt sein, daß nur bei Vereinigung von Arbeitskräften die aufgewandte Mühe dem Nutzen des Weghauens entsprechen konnte. Aber die Höfe lagen, wie zum größten Theile noch heute, vereinzelt umher, und jeder kümmerte sich nur um sich. Danach kamen die herrschenden Grafengeschlechter und nahmen den Wald als ihren Jagdgrund in Anspruch – und da braucht wohl nicht hinzugefügt zu werden, daß derselbe nun erst recht verschont blieb. Und als nun endlich in neuerer Zeit eine ernste Gefahr durch die rationelle Forstwirthschaft drohte, da war inzwischen die Zeit der Romantik. herangekommen – der Sinn für Naturschönheit und die Verehrung für unsere Vorzeit hielten Axt und Säge zurück.
Aber für weitere Kreise des Publicums wurde der Hasbruch eigentlich erst gegen die Mitte unseres Jahrhunderts neu entdeckt; Kohl erzählt darüber folgende hübsche Geschichte. Der oldenburgische Maler Willers hatte nach Studien aus dem Hasbruch gemalte Eichenbilder in München ausgestellt, wo sie der König Ludwig sah; dieser wollte jedoch durchaus nicht glauben, daß solche fabelhafte Eichen in Wirklichkeit existirten. Die Sache interessirte ihn aber doch so, daß er seinen Hofmaler in den Hasbruch schickte, um sich von der Wahrheit zu überzeugen – dieser mußte natürlich die Angaben Willers’ vollinhaltlich bestätigen. Von da ab wurde der Hasbruch zu einem vielbesuchten Punkte; Fürsten und Künstler kamen hin, und in den Werkstätten unserer Landschaftsmaler werden wir oft alten Bekannten aus dem Hasbruch begegnen.
In der That, demjenigen muß das Herz zu und der Sinn todt sein, der beim Eintritt in diesen ehrwürdigen Wald nicht den Schauer empfindet, der uns in den feierlichen Räumen eines Domes zu erfassen pflegt. Ein geheimnißvolles Halbdunkel empfängt uns, das sich weiterhin in den Wald zu tiefer Nacht verdichtet – nur hier und da, soweit der Blick vorzudringen vermag, bricht durch das dichte Laubdach, wie durch bemalte
[424]Kirchenfenster, ein gedämpfter warmer Lichtstrahl der die tiefen Schatten daneben nur noch heimlicher erscheinen läßt, ja auf vielen Strecken erreicht der scharfe Wechsel zwischen Dunkelheit und Licht einen solchen Grad, daß man buchstäblich bei hellem Tage Mondscheineffecte vor sich hat.
Wesentlich tragen zu der absonderlichen Beleuchtung des Hasbruch die Hain- oder Kopfbuchen bei, die sich allenthalben, um die Eichen geschaart oder für sich einen kleinen Hain bildend, vorfinden; sie verdanken ihre wunderlichen Formen zum nicht geringen Theil – Napoleon dem Ersten. Die Sache ist ganz einfach: während der napoleonischen Invasion hatte allmählich jede Forstverwaltung aufgehört, und die Landleute in der Nähe des Waldes machten sich das zu Nutze, da sie aber den alten Riesen nicht gut beikommen konnten, hielten sie sich an die Hainbuchen. Diese haben bekanntlich die Eigenschaft, je mehr sie oben abgehauen werden, desto mehr vielgestaltige Triebe anzusetzen, und so finden wir hier eine phantastische Gesellschaft voll der eigenthümlichsten, oft ganz gespenstischen Formen beisammen: hier einen Candelaber, auf dem die neuen Schößlinge wie Kerzen aufsitzen, dort ein vielköpfiges Ungeheuer, das wie zum Sprunge geduckt am Boden hinkriecht, dann wieder einen hochgereckten Stamm, der drohend einen langen Arm mit geballter Faust hinausstreckt oder drei, vier Arme über dem Kopfe zusammenschlägt, Drachen, fabelhafte Wesen, dazu die Stämme und Aeste zum Theil mit Epheu und Moos bedeckt oder durch breite Risse gespalten.
Auf der westlichen Seite des Hasbruch hat, wie bei allen niederdeutschen großen und kleinen Wäldern, der Nordweststurm gehaust und einen Windbruch von großartiger Romantik hervorgebracht. Gleich im Anfang treffen wir auf eine unter einem durchbrechenden Sonnenstrahle magisch schimmernde umgebrochene Hainbuche, die, mitten aus einander gespalten, mit der einen morschen Hälfte aufrecht steht, mit der andern am Boden liegt, wo sie zwischen Stechpalmen fortgrünt; weiterhin ist der Sturm Sieger über einen jener Riesen geblieben, der im Sturze das ganze Terrain mit allem, was an Büschen und Bäumchen daraufstand, rings um sich mit herausgerissen hat: da und dort liegen
[425]verstreut heruntergebrochene Aeste, die, zum Theil von Rinde entlößt, Ueberresten vorweltlicher Riesenthiere gleichen.
Uebrigens sind die Kronen fast aller Eichen des Hasbruchs gebrochen, mit ganz wenigen Ausnahmen (z. B. der Friederikeneiche), aber weit entfernt, den Eindruck zu beeinträchtigen, erhöht dieser Umstand vielmehr das Bild der Großartigkeit – es sind die Fußstapfen der Jahrhunderte, welche mit ihren Stürmen darüber hingezogen sind. Auf Lichtungen stehen, dem Sturme am meisten ausgesetzt, graue verwetterte Gesellen, welche oft einen geradezu tragischen Anblick gewähren – zerzaust, zerspalten, mit zersplitterten Aesten aber fest im riesigen Stamme und das greise Haupt noch von einer spärlichen Locke grünen Laubes umweht.
Auf weichem Moosboden, in dem wir bis an die Knöchel versinken schreiten wir weiter; freilich, wenn die Zeit kommt, wo der herbstliche Himmel neugierig hineinschaut in die sonst dunklen Waldecken, wenn die Niederschlage beginnen, dann ist für den menschlichen Fuß hier kein Pfad und selbst zu Pferd schwer durch den Morast des Bodens zu gelangen; manche Stellen des Hasbruch trocknen selbst im Sommer nur bei sehr anhaltender Hitze aus; in der nassen Jahreszeit aber bildet der größte Theil einen schwer zugänglichen Sumpf.
Je tiefer wir in den Wald gelangen, desto mehr der alten Riesen tauchen um uns auf, theils aus den Büschen mit breiten Schaltern sich vordrängend, theils aus dem Moosteppich frei und hoheitsvoll auf mächtigen Wurzelknollen emporsteigend; immer feierlicher wird es rings umher. Da sind sie, die schon standen, ehe ein Karl der Große seine Waffen in diese Länder trug, und noch stehen werden, wenn die Geschichte unseres großen Jahrhunderts schon aus ferner Vergangenheit leuchtet. Während draußen die veränderliche Welt ihre bunten Kreise zog, setzten sie gelassen Ring an Ring im geheimnißvollen Zwielicht des Urwaldes; die Opferfeuer sahen sie erlöschen, die alten Götter fortziehen über das graue Meer in die Dämmerung der nordischen Heimath, fortziehen vor dem neuen Gotte aus dem fernen Morgenlande; sie sahen der Menschen Geschlechter kommen und gehen, Jahrhundert um Jahrhundert über die Erde schreiten, und immer noch setzten [426] sie Ring an Ring; selbst die Blitze des Himmels vermochten ihnen nur tiefe Narben in die mächtigen Leiber zu schlagen, der Sturm nur ihre Kronen zu brechen; immer noch stehen sie unentwegt, und voll Scheu blicken wir zu den Ehrwürdigen empor.
Der Deutsche vergleicht deutsches Leben gern der Eiche; sie hauptsächlich ist ihm der nationale Baum, und ein tiefer Sinn liegt diesem Vergleiche zu Grunde: wie ein eigenwilliger, eigensinniger Individualismus, im Einzelnen wie im Stamme, den Deutschen charakterisirt und ihm zum Segen wie zum Unheil geworden ist, so giebt es allerdings keinen Baum, der diesen Charakter in höherem Grade sein Eigen nennen könnte, als die Eiche; jede Wurzel, jede Furche des Stammes ist ein Charakter; jedes Blatt hat seine krause Eigenart; jeder Ast springt in eigensinnigen, trotzigen Windungen vom Stamme ab. Die Aufgabe, einen ganzen Wald solcher uralter Charaktere schildern zu wollen, wäre unmöglich zu lösen; wir müssen uns darauf beschränken, Einzelnes herauszuheben, und hier stehen wir wieder rathlos vor dem mächtigen Reichthume an Formen und Gestaltungen rings um uns: Wurzeln, bald wie eine Riesenklaue in den Boden geschlagen, bald wie eherne Pfeiler den Stamm stützend, bald wie ein aufbäumendes Thier scheinbar daran emporkletternd; Stämme in allen möglichen Formen, mit tiefgefurchter, von Rillen zerrissener Rinde, zwischen den Streifen derselben Knorren, alte Astansätze, Aststumpfe, auf denen neuer Samen Wurzel geschlagen, oder klaffendschwarze Höhlungen, aus denen der Sturm den Ast mit Stumpf und Stiel gebrochen hat. Ganz besonders wunderbar aber gestalten sich die Risse, welche durch den Frost oder anderweite Verletzungen der Epidermis entstanden sind und um welche Jahrhundert auf Jahrhundert eine neue Schicht gelagert hat, sodaß sie jetzt als Wülste erscheinen, die eingesprengten Felsblöcken gleichen. Interessant ist es übrigens, daß die hier und da herabhängenden Stücken der Epidermis, so lange sie, wenn auch nur durch ein schwaches Band, mit dem Stamme zusammenhängen, Jahrhunderte lang der Fäulniß widerstehen, während sie, losgelöst, binnen weniger Jahre zerfallen.
Und nun das Astwerk! Indem die Eiche immer die Entwickelung der Nebenknospe begünstigt, entstehen jene fabelhaften phantastischen Bewegungen und Verschlingungen der Aeste, die wir schon an jeder einzelnen Eiche bewundern – man denke sich nun die wilde Mannigfaltigkeit in diesem knorrigen Eichenhaine!
Hier bäumt sich ein Ast hinaus und greift dann, plötzlich geradeaus schießend, in das Astwerk des Nachbars; dort wächst ein anderer in sanfter Biegung aus dem Stamm hervor, neigt sich hinunter zu den schmeichlerisch emporrankenden Brombeerbüschen und springt dann plötzlich mit höhnischem Schwunge steil nach oben, wo ihn ein Nachbar in den tollsten Schlangenwindungen förmlich anzufallen scheint. Ganz besonders malerisch sind die kahlen, von jeder Rinde entblößten und oft fast blank polirten Aeste, welche wie die Knochen eines Gerippes, ein Bild des Todes, aus dem frischen, lebendigen Grün hervorragen. Ein großer Theil derselben ist hohl; manchmal fährt man erschrocken herum; denn dicht hinter Einem ertönt ein laut durch den Wald schallendes Klopfen – aber nichts ist zu sehen. Da ertönt es wieder, und nun entdecken wir zu unserem Erstaunen, daß ein winziger Specht das Geräusch hervorbringt; der Ast, auf dem er hämmert, ist durch und durch hohl, und seine Wände sind so dünn, daß er bei seinem gewaltigen Umfange wie ein riesiger Resonanzboden das schwache Picken des Vogels als lauten Schall weit hinaus in den Wald sendet.
Neben den kraftstrotzenden Bäumen aber stehen die Stumpfe sterbender und abgestorbener voll melancholischer Poesie. Gleich dem Menschen, welcher die sterblichen Ueberreste der Seinigen mit Blumen zu schmücken pflegt, hat die Natur ihre modernden Kinder mit einem lieblichen Geranke von Epheu, wilden Rosen, Brombeergebüschen und Farrenkräutern umwoben; ringsum in weitem Umkreise liegt dann roth und braun ausgestreut der sogenannte Ulm, die Asche dieser Riesen, der, wenn ihn ein verlorener Sonnenstrahl trifft, in der tiefumschatteten Umgebung wie glühende Kohlen leuchtet. Wunderbar gestaltet sich der Eindruck, wenn die inwendig durchaus hohl gewordenen Bäume noch aufrecht stehen. Die schönste dieser Art ist „de holle Eek“, welche unser Bild zeigt, ein Baum von ungewöhnlich interessanten Formen, dessen bis in die Aeste hinaufragender weitklaffender Spalt in das Innere wie in eine Höhle blicken laßt. Um den riesigen Umfang dieses Baumes ganz zu würdigen, muß man wissen, daß das Innere desselben nicht weniger als acht Personen zu beherbergen vermag.
Zur weiteren Erläuterung der Größenverhältnisse der Hasbruchbäume diene noch folgende heitere Geschichte, welche einem Bauer aus der dortigen Gegend passirte. Diese Bauern haben nämlich das Weiderecht in dem Walde; bald begegnet man einer Stute, die mit ihrem Füllen die duftigen Waldkräuter abgrast, bald Kühen, einzeln oder in einem Trupp, welche den Fremden mit großen Augen anblicken und sich ihm neugierig nähern, um bei der ersten Bewegung desselben mit hochgehobenem Schwanze in den Wald hinein zu galoppiren. Alle haben Glocken um den Hals, wenn man die alten klappernden Blechbüchsen so nennen darf; sinkt die Sonne, so hört man sie von verschiedenen Seiten wie auf Verabredung den heimathlichen Höfen zueilen. Es sind dies auch die eigentlichen thierischen Bewohner des Hasbruch; denn Wild giebt es dort keines mehr; nur das Geschlecht Reinecke ist zahlreich vertreten, und dann und wann sieht man einen Bussard mit breitem Flügelschlage gleich einem dunkeln Schatten durch den Wald streichen. Eine jener Kühe nun kam eines Abends nicht mit nach Hause, und der Besitzer machte sich andern Tags daran, sie zu suchen, aber vergeblich; kreuz und quer durchforschte er den Hasbruch – er fand sie nicht; ihre Spuren verloren sich in der Nähe eines jener umgestürzten Riesen. Manchmal hatte er schon ein sonderbares Getön gehört; jetzt erklang es unmittelbar vor ihm, als käme es aus dem Baume heraus; er spähte hinein, und siehe da, in dem hohlen Stamme, ziemlich weit drinnen, knieete die Kuh wie eine büßende Magdalena – Gott weiß, welcher Versucher das „fußnachschleppende Rindvieh“ dahinein gelockt hatte. Kurz, sie war darin, und was das Schlimmste, man konnte sie in keiner Weise aus ihrem Gefängnisse erlösen; es blieb also nichts übrig, als ihr Futter und Wasser, durch Einkriechen von der andern Seite des Stammes darzureichen und sie dann herauszusägen.
Der gewaltigste Baum des Hasbruch ist die sogenannte „dicke Eiche“. Ihr Umfang beträgt zehn Meter; von den Aesten könnte jeder wieder als ein respektabler Baum gelten, und als einmal einer derselben herunterbrach, hatten vier Pferde Mühe ihn vom Platze zu bringen. Der Baum ist durch eine Hecke eingehegt, und nebenan sind Sitzbänke angebracht; denn der Hasbruch ist das beliebte Ziel der Bremer Sonntagsausflüge. Doch giebt es noch eine stattliche Reihe von Bäumen, welche diesem an Umfang nahe kommen; die sieben-, sechs- und fünfmetrigen, welche in anderer Umgebung als gewaltige Exemplare angestaunt werden würden, bilden nur so den Troß, den Mittelschlag.
Die schönste jedoch von allen Hasbruch-Eichen, die imposanteste, malerischste und zugleich diejenige, welche die hervorragendsten Eigentümlichkeiten in sich vereinigt und so gewissermaßen als Typus gelten kann, ist die Amalien-Eiche – so benannt nach der Prinzessin des großherzoglichen Hauses, der nachmaligen Königin von Griechenland. In seinem Umfange steht dieser Baum der dicken Eiche nicht nach, besser aber als jede Maßangabe wird ein Blick auf unsere Illustration und ein Vergleich des Stammes mit den nebenan stehenden Kühen – ausgewachsenen, großen Exemplaren – die ungeheuere Dimension veranschaulichen. Welch ein Baum! Die Wurzeln wie für ein Jahrtausend gegründet, der Stamm kraftstrotzend und doch von edeln Linien. Als jene Eichel, aus welcher dieses Wunderwerk der Natur emporwuchs, von dem Aste an dem sie saß, in den feuchten Moosboden hinabfiel – da war es vielleicht um jene Zeit, als Gunther, der König des Nibelungenliedes, seinen Namen unter die lex Burgundionum setzte; als jener Riß, den wir noch heute als Scharte auf dem mächtig darüber gewachsenen Wulste erblicken, sei es durch den Frost einer Maiennacht, sei es durch das Horn eines Wisent, entstand – da war es vielleicht um die Zeit, da Kaiser Rothbart in den Kyffhäuser hinabstieg, und als der erste zarte Keim zu jenem Aste ansetzte, der jetzt kahl und todt aus dem Laube hervorragt – da erschallten vielleicht die Hammerschläge an der Kirchthür zu Wittenberg – und – wenn diese Eiche einst auch ein zerfallender Stumpf ist, über den die Büsche ihre Ranken schlingen, dann wird wieder ein halbes Jahrtausend verrauscht sein – und Menschen werden leben, die unser gedenken als eines längst verschollenen Geschlechtes.
Den Leser möchte gegenüber dem Gesagten ein Zweifel beschleichen, ob wir uns mit dem riesigen Umfange der Zeiträume, mit denen wir rechnen, nicht einiger Uebertreibung schuldig gemacht hätten. Eine genaue Messung möge beweisen, daß wir [427] noch lange nicht weit genug gegangen sind. Als einmal eine der größeren Eichen umgehauen wurde, nahm der Oberförster eine Zählung der Jahresringe vor, setzte sie da, wo das bloße Auge nicht mehr unterscheiden konnte, mit der Lupe fort und erhielt eine Summe von elfhundert Jahren – ein Resultat, das mit den amtlichen Messungen anderer Bäume übereinstimmte – nun war aber die Eiche im Inneren weiterhin verfault und in der Mitte ganz hohl – der Leser mag sich da an der Hand der Chronologie selbst ein Bild vom Alter der Hasbruch-Eichen machen.
Indeß wir so bewundernd im Walde umherwandern, hat sich die Sonne dem Horizonte genähert, und es beginnt nun ein Schauspiel von überraschender Schönheit. Während sich allenthalben in den Büschen dicht um uns schon die Dämmerung eingenistet hat, beginnen jetzt über uns die Wipfel der Bäume zu schimmern und zu leuchten. Die bleichen, todten Aeste der Kronen erglühen wie zu neuem Leben, und da, wo weit drüben im Holze eine Lichtung ist oder ein stürzender Baum eine Lücke riß, ergießt sich ein siegreicher Lichtstrom in den Wald, Büsche und Bäume in feuriger Lohe entzündend; man hat ganz den Eindruck, als sähe man aus einem dunkeln Zimmer in die Thür eines hellerleuchteten Festsaales, kurze Zeit später aber, wenn die Sonne unter den Horizont sinkt, ist es, als lösche eine Geisterhand den Purpur von Wipfel und Aesten; die Dämmerung huscht an den Stämmen empor – die Dunkelheit hält ihren Einzug, und durch die Waldnacht spinnen sich Geheimnisse von Baum zu Baum.
In dem Augenblicke, da wir uns anschicken, den ehrwürdigen Hain zu verlassen, die Seele erfüllt von Eindrücken, als hätten wir einen Blick in die früheste Geschichte unseres Vaterlandes gethan – in diesem Augenblicke übernimmt es eine mächtigere Stimme, als die unsere, diesen Gefühlen Ausdruck zu verleihen: ein dumpfes Grollen dringt über den stillen Wald her – der Fremde würde es sich nicht deuten können, wir aber verstehen es – es sind die schweren Geschütze von Wilhelmshaven; wiederum dröhnt es herüber – und wie es der Abendwind einherträgt, der rauschend über die Wipfel streicht, da glauben wir den Flügelschlag des deutschen Adlers zu vernehmen – nicht, wie einst wohl, müssen wir gesenkten Hauptes den Blick niederschlagen unter diesen lebendigen Zeugen deutscher Vergangenheit, sondern stolz, als Söhne eines einigen, thatenstarken Volkes, blicken wir zu ihnen empor, und ihre Antwort bleibt nicht aus. Wie die germanischen Krieger einst ihre Schilde, so schlagen die altersgrauen Recken knarrend die Aeste zusammen, und ein Brausen geht durch die Tiefen des Waldes.