Die Wahrheit von der Kanderner Affaire
[477] Die Wahrheit von der Kanderner Affaire. Wir haben in dem Artikel über das „Hambacher Fest“ (Nr. 22) unsere gerechte Entrüstung darüber ausgesprochen, daß von nicht wenigen Geschichtsschreibern den Berichten und Urtheilen der von der Censur zugestutzten und officiellen Zeitungen nur allzu unbedingter Glaube geschenkt und dadurch der geschichtlichen Wahrheit mancher schwere Eintrag gethan werde, – und nur zwei Nummern später verfallen wir derselben Schwäche. Wir haben uns ebenfalls verführen lassen, die damals von der reactionären Presse verbreitete Behauptung, General v. Gagern sei unmittelbar nach seiner Unterredung mit Friedrich Hecker auf der Kanderner Brücke niedergeschossen worden, nachzuerzählen und dadurch zu einer Geschichtsfälschung beizutragen. Gottlob kann die Gartenlaube sich auf ihre wahren Freunde verlassen, die ihr lieber Alles, als die Wahrheit schenken. Und so beeilen wir uns denn, die uns über die unrichtige Darstellung jenes Vorgangs zugegangene Berichtigung aus der Feder eines Mannes, der theilweise ein Augenzeuge desselben war, sofort zu veröffentlichen. Herr G. Kramer aus Pforzheim schreibt uns:
[478] „Ein Theil der Hecker’schen Schaaren campirte in der Nacht vom 19. zum 20. April 1848 in dem Städtchen Kandern bei Müllheim, um von dort aus am andern Morgen die Rheinebene zu betreten. In der Nacht kam noch die Nachricht, daß badische und hessische Truppen im Anzug seien, und so wurde früh alarmirt. Beim ersten Tagesgrauen erschien der badische Regierungsrath Stefani und verlas auf dem Marktplatz zu Kandern die Aufruhracte, und dann begann erst die Thätigkeit Gagern’s. Die Schaaren Hecker’s zogen sich in Ordnung auf der Straße nach Schlechtenhaus und Steinen hin zurück, die Truppe folgten. Als die Schaaren Hecker’s den Wald erreichten, wurde Halt geboten und nun erfolgte richtig auf der Brücke hinter Kandern jene in Bildern verewigte Unterredung Hecker’s in Begleitung seines Adjutanten Schöninger mit Gagern.
Nachdem die Unterredung resultatlos geendet hatte und Hecker zu den Seinigen zurückgekehrt, begann der Rückzug derselben auf der Straße nach Schlechtenhaus und Steinen. Auf der sogenannten Scheideck bei Kandern, einem großen Plateau, sicher eine starke halbe Stunde von der Brücke, wo die Unterredung stattgefunden, entfernt, machten die Hecker’schen Halt, traten in Schlachtordnung und erwarteten den Angriff. Von Hecker war der gemessene Befehl gegeben, nicht zuerst zu schießen, weil er auf ein Uebergehen der Soldaten hoffen mochte. So marschirten diese unbehelligt den Berg herauf gegen die Scheideck. Die Hessen, die das Vordertreffen bildeten, wurden von den Hecker’schen mit ‚Hoch deutsche Brüder!‘ empfangen, und Einzelne wagten sich sogar bis zur Fronte der Soldaten vor und reichten ihnen die Hände. Dies mochte General Gagern gesehen haben und um seine Truppen vor solchem Fraternisiren zu bewahren, sprengte er in die vordersten Reihen, gab den Befehl zum Feuern und in diesem Augenblick fielen die auch für ihn tödtlichen Schüsse.
Ein einfacher Stein auf der Scheideck bei Kandern bezeichnet die Stelle, wo Gagern fiel. Ich selbst sah den folgenden Tag noch die Blutlache auf der Scheideck, wo der General gefallen war, und wollte heute noch auch ohne Denkstein die Stelle bezeichnen, so fest blieb jener Vorgang mir im Gedächtniß.
Nach dem Fall des Generals dauerte das eigentliche Gefecht kaum eine starke Viertelstunde. Wie es von ungeübten Schaaren eben zu erwarten war, stoben sie auseinander, als sie sahen, daß die Soldaten Stand hielten; nun begann die bekannte Verfolgung durch den badischen Dragonerobersten Hinckeldey, der an Gagern’s Stelle den Oberbefehl übernommen hatte.“
Hecker und seine Anhänger haben gegen die erlogenen Berichte der beeinflußten Presse von dem angeblich meuchelmörderischen Anfall auf den General v. Gagern sofort und besonders von Muttenz, Hecker’s schweizerischem Zufluchtsorte, aus Verwahrung eingelegt; allein die Stimme der Wahrheit reichte in der damaligen Aufregung und bei den sich überstürzenden Ereignissen nicht weit genug, um überall vernommen zu werden. Becker’s Weltgeschichte (Fortsetzung von Eduard Arnd, 18. Band, S. 341), die sich schon am „Hambacher Fest“ arg versündigt hat, ging uns auch hier mit dem schlechten Beispiel voran. Um so dankbarer sind wir dem treuen Manne von Pforzheim, der uns vor der Gefahr gerettet hat, unserm Friedrich Hecker als Gruß zu seiner erhofften Wiederkehr einen solchen alten reactionären Aerger entgegenzubringen.