Ein deutsches Heiligthum und sein Untergang
„Anmuthig Thal! du immergrüner Hain!
Mein Herz begrüßt euch wieder auf das Beste!“
Mit diesen Worten begrüßte der Altmeister Goethe die ihm lieb gewordene Gegend von Ilmenau in Thüringen, als er im August 1783 wieder einmal dort
Einkehr hielt. Das Gedicht „Ilmenau“, welches mit obigen Worten beginnt und welches dem fürstlichen Freunde Karl August zum Geburtstage, den 3. September 1783 gewidmet war, entstand dort in der zweiten Hälfte des August jenes Jahres. Wir ersehen daraus, wie vielfache und theure Erinnerungen den Dichter an jene Gegend fesselten, in welche er so oft schon „mit wechselndem Geschicke“ zurückgekehrt war. Acht Jahre waren es her, seit er, nach Weimar übergesiedelt, jene liebliche Gegend kennen gelernt hatte, acht unruhige, rastlos durchstrebte, zum Theil in leidenschaftlichem Strudel durchbrauste Jahre. Wohl manchmal während dieses Zeitraumes mahnte der Genius den Dichter zur Einlenkung in andere Bahnen. Schon in jenem ersten Nachtliede vom 12. Februar 1776 „Der du von dem Himmel bist“ seufzte er auf: „ach, ich bin des Treibens müde!“ und sieben Monate, nachdem er in Weimar als Geheimer Legationsrath angestellt worden war, schrieb er in demselben Sinne an Lavater, wie er sich „in dem bunten Treiben der Welt, unter Verdruß, Hoffnung, Liebe, Abenteuern, Haß, Albernheiten, Thorheit, Flachem und Tiefem, unter Festen, Tänzen, Schellen, Seide und Flittern“ bewege. Dazu kam die Sorge um das Gedeihen des jungen Fürsten, der sich ihm ganz hingegeben, und um die schwere Last der Berufsgeschäfte, welche jener auf seine Schultern gelegt hatte.
Da trat am 2. Februar 1783 ein glückliches, ersehntes Ereigniß für Karl August ein, die Geburt eines Erbprinzen, des nachmaligen Großherzogs Karl Friedrich, welches einen wichtigen Wendepunkt auch für Goethe mit sich brachte. Denn wenn Karl-August im Februar desselben Jahres an Merck schrieb: „Sie haben Recht, wenn Sie sich mit mir – (über die Geburt des Erbprinzen) – freuen; wenn je gute Anlagen in meinem Wesen waren, so konnte sich, der Verhältnisse halber, bis jetzt kein früherer Punkt finden, wo sie zu verbinden waren;“ wenn er dann weiter fortfährt, daß er nun einen festen Anhaltspunkt für sein Streben gewonnen habe und „mit Hülfe Goethe’s und des guten Glückes“ womöglich etwas Tüchtiges erreichen werde, wenn er dann schließt: „wünschen Sie mir Glück zu diesem Vorhaben!“ so erhellet klar, wie die Folgen jenes Ereignisses in das Schicksal Goethe’s hineingriffen. Das hochherzige Streben, welches die beiden großen Menschen von jeher verband, wurde fortan durch hohen heiligen Ernst bestimmt. Der Blick richtete sich mehr vom Genusse der Gegenwart ab, dem Gewinn der Zukunft zu.
In der Bethätigung solchen Strebens drang Goethe’s Genius immer mehr hindurch, er sah immer mehr ein, daß er ganz zum Dichter bestimmt sei, diese Erkenntniß aber weckte um jene Zeit schon die stille Sehnsucht nach dem Lande der Kunst, nach Italien, immer mehr und mehr.
In solcher Stimmung ist „Ilmenau“ geschrieben. An Wald und Berg richtet der Dichter die Worte:
„Verjüngt euch mir, wie ihr es oft gethan,
Als fing’ ich heut ein neues Leben an.“
Und er sieht sich erhört:
„Ihr seid mir hold, ihr gönnt mir diese Träume;
Sie schmeicheln mir und locken alte Reime,
Mir wieder selbst, von allen Menschen fern,
Wie bad’ ich mich in euren Düften gern!“
„Er fühlte um jene Zeit, daß sein gährendes Dichtergemüth sich zu beruhigen und zu klären begann.“ (Viehoff, Erläuterungen.)
Nächst der glücklichen Wendung in den äußeren Lebensverhältnissen war es die besänftigende, heilende Kraft jener herrlichen Natur, welche solche Wirkung hervorgebracht hatte. Wie ein Kind in seines Herzens Beängstigung, sich vertrauensvoll an die Brust der Mutter wirft und das sanfte Mutterwort Ruhe und Trost in die bebende Seele gießt, so warf sich Goethe in die Arme der Mutter Natur: er eilte in seine lieben Ilmenauer Berge. Und sie waren ihm hold, fern von den Menschen fand er sich selbst wieder. Von Tag zu Tag setzte sich jenes beseligende Gefühl immer mehr in der Dichterbrust fest. Am 7. September 1783 schrieb er das wunderbar schöne, innige „Nachtlied“:
„Ueber allen Gipfeln
Ist Ruh’.
In allen Wipfeln
Spürest du
Kaum einen Hauch.
Die Vögel schlafen im Walde;
Warte nur, balde
Ruhest du auch.“
Klingt es nicht wie süßinniger Ton aus Muttermund, dem beängstigten Liebling zugeflüstert? Welche Zuversicht in dem aus Seelenruhe geborenen Trostworte am Schluß des Liedes!
So kennzeichnet dieses einfache Lied eine bedeutsame Wandlung in Goethe’s Leben und deshalb eine bemerkenswerthe Epoche in der deutschen Literaturgeschichte. –
Es war, wie erwähnt, in der Nacht des 7. September 1783, [657] als Goethe dieses Lied in einem Bretterhäuschen auf der Höhe des Kickelhahnberges bei Ilmenau mit Bleistift auf ein rohes Brett der Innenwand neben einem Fenster aufschrieb. Schon früher hatte er sich wiederholt, einmal sogar acht Tage lang mit einem Diener, in diesem Häuschen aufgehalten, und auch späterhin kehrte er noch gern dahin zurück. Zunächst am 29. August 1813, wo er die Schriftzüge des „Nachtliedes“ noch einmal mit Bleistift überzog, diese Erneuerung auch mit eigener Hand beurkundete, indem er unmittelbar darunter schrieb: „Ren. (renovatum) 29. August 1813.“
Im Jahre 1783 war die Kuppe des Kickelhahn noch nicht mit Bäumen bestanden. Zur Hegung des Wildes wurde damals Hafer und Kohl dort gebaut. Frei ragte das zweistöckige, thurmähnliche, mit Holzschindeln gedeckte Bretterhäuschen empor, und ungehindert konnte der Blick über alle Gipfel dahinschweifen. Das Häuschen diente ursprünglich zu Jagdzwecken; seit Goethe’s öfterem Verweilen darin und namentlich nach dessen Tode blieb es pietätvoll ausschließlich jener großen Erinnerung geweiht. In der Folge wurde auf dem Kickelhahne Nadelgehölz angepflanzt, welches im Jahre 1831 bereits bis zur Höhe des Häuschens herangewachsen war. Ein Neubau des Häuschens hat seit 1783 nicht stattgefunden, auch nicht einmal ein größerer Reparaturbau; sorgfältig überwacht, wurde jeder entstehende Schaden durch alsbaldige Reparatur beseitigt.
Das letzte Mal war Goethe am Vorabend seines letzten Geburtstages, am 27. August 1831, dort. Als er jene Zeilen wieder durchlas, erfaßte ihn tiefe Rührung,
und Thränen strömten über seine Wangen. Wehmüthig wiederholte er laut die Schlußworte: „Warte nur! balde, balde ruhest Du auch!“ Ein Zeitraum von achtundvierzig Jahren war seit der Entstehung des Liedes vergangen. Als er diesmal die Worte las, da mag er wohl an die Grabesruhe gedacht haben, die ihn erwartete; sieben Monate später sank er hinab. Auch jenes letzte Mal hat er, wie er an Zelter schrieb, „die Inschrift recognoscirt“.
Jenes einsame Bretterhäuschen ward so zu einem theuren Heiligthum geweihet; unter der Bezeichnung „Goethehäuschen“ wurde es weithin bekannt und nahm einen ehrenvollen Platz ein unter den classischen Stätten unserer größten Literaturepoche. Tausende und Abertausende wallfahrteten herbei, um zwischen den rohen Bretterwänden jenes heiligen Schauers theilhaftig zu werden, der den Verehrer geistiger Größe an den Orten so mächtig erfaßt, wo große Geister einst gewaltet haben.
Während der Sommerzeit wurde das Häuschen stets offen gehalten und den Besuchern keinerlei Hinderniß in den Weg gelegt. Aber wenn auch das Auge Kilian Merten’s, des Forstaufsehers auf dem Gabelbache bei Ilmenau, in dessen Aufsichtsbezirk das Goethehäuschen lag, mit ängstlicher Sorgfalt darüber wachte, daß das seiner Obhut schon seit einer langen Reihe von Jahren anvertraute Heiligthum nicht profanirt werde, so konnte er doch nicht verhindern, daß rohe Hände durch Einschreiben und Einschneiden von Namen und allerlei Thorheiten die Stätte entweihten.
Als man bereits angefangen hatte, unmittelbar neben der Inschrift herumzukritzeln und zu schneiden, brachte Merten, um wenigstens letztere zu schützen, eine Glastafel darüber an, welche durch Kopfnägel an der Wand festgehalten wurde. Diese Tafel hatte einst ein frecher Tempelschänder, den Merten für einen blonden Sohn Albions hielt, abgenommen und schickte sich eben an, das werthvolle Brettstück mit einer kleinen Säge herauszuschneiden, als glücklicherweise Merten gerade hinzukam. Zwei derbe Thüringer Fäuste machten mit verschiedenen Körperbestandtheilen jenes Spitzbuben gründliche Bekanntschaft. „Verklagt hat er mich nicht!“ setzte der „Faustrichter“ treuherzig hinzu, als er mir die Geschichte später erzählte. Nun wurde zwar die Glastafel mittels vier Rahmen fest mit der Bretterwand verbunden, aber die Besorgniß eines Verlustes wollte nicht mehr von dem treuen Hüter weichen. Um für den schlimmsten Fall wenigstens etwas zu retten, ließ er vor einigen Jahren das denkwürdige Manuscript photographisch nachbilden.
Und dafür wissen wir ihm Dank! Ist dieses Blättchen doch ein wesentliches Hülfsmittel, die Erinnerung an ein untergegangenes Heiligthum treu zu bewahren!
Seit dem 12. August 1870 existirt das Goethehäuschen nicht mehr; nur das geringe Fundamentalgemäuer, auf dem es errichtet war, ist noch zu sehen. Das Häuschen selbst wurde an jenem Tage, früh zwischen sechs und sieben Uhr ein Raub der Flammen. Die Tagesblätter haben damals vielfach über die Katastrophe berichtet; zum Theil gegen die Wahrheit. So liegt mir zum Beispiel ein amerikanisches Blatt vor, der „Baltimore Wecker“, Nr. 212, wonach „eine tempelschänderische Frevlerhand“ das Goethehäuschen bei Ilmenau durch Brandstiftung vernichtet haben soll. Dem ist aber nicht also. Von dem Redacteur der Gartenlaube veranlaßt, theile ich auf Actenkunde gestützt, den Hergang in Folgendem mit; gilt es doch zugleich eine Ehrenrettung.
Am 12. August 1870, früh halb sieben Uhr, war Kilian Merten von einem Streifgange durch den Wald zurückgekehrt, als sich in der Richtung vom Kickelhahn her eilige Schritte seiner Wohnung näherten. Dichter, feuchter Nebel stand auf dem Gebirge, so daß man nicht weitersehen als greifen konnte. Daraus hervor trat ein Mann aus Ilmenau, der hastigen Bericht dahin erstattete, daß der Kickelhahn Feuer speie, denn es sei droben ein Knistern und Prasseln, und glühende Steine flögen durch die Luft. Der Mann hatte sich mit einem Holzfuhrwerke bis auf einige hundert Schritte dem Goethehäuschen genähert, als er durch das urplötzlich hereinbrechende unheimliche Geräusch erschreckt wurde. Merten eilte schleunigst an Ort und Stelle und fand da, wo das Goethehäuschen gestanden, nur noch einen qualmenden Trümmerhaufen. Von dem Goethe’schen Manuscripte war natürlich keine Spur zu finden, es war mit verbrannt.
Die über die Entstehung des Feuers geführte Untersuchung hat folgendes Resultat ergeben:
Am 11. August 1870 hatten sich drei Personen aus dem zwei Stunden entfernten Dorfe Geschwende in die Nähe von Gabelbach in den Wald begeben, um Beeren zu suchen, welche sie dann in Ilmenau verwerthen wollten. Durch starke Regengüsse wurden die Leute durchnäßt; sie beschlossen, als der Abend herbeikam und sie das genügende Quantum von Beeren noch nicht zusammengebracht hatten, ihre Heimath auch zu entfernt war, in dem stets offen gehaltenen Goethehäuschen zu übernachten und ihr Geschäft dann am andern Morgen fortzusetzen. Sie gingen nach dem Goethehäuschen und nahmen Besitz von dem obern Raume, in welchem sich eben das Goethe’sche Manuscript befand. Dort entzündete ein Mann auf einem kleinen Estrichguß, worauf früher ein Ofen gestanden, ein Feuer, um die nassen Kleider zu trocknen und die frierenden Glieder zu wärmen. Als die Leute am andern Morgen früh gegen fünf Uhr das Häuschen verließen, glimmten noch Kohlen auf der Feuerstätte und es stieg noch schwacher Rauch auf. Um diesem Abgang zu verschaffen, öffnete derselbe Mann, der das Feuer angezündet hatte, beim Weggange ein Fenster und ließ die Thür offen stehen. Es ist nicht zu bezweifeln, daß die Fahrlässigkeit jenes Mannes die Ursache des Brandes geworden, indem durch den hergestellten Luftzug das noch glimmende Feuer angefacht worden ist, welches dann das dürre Holzwerk entzündet haben mag.
Die angestellten Erörterungen hatten den Verdacht der Thäterschaft sofort auf jene Beerensucher gelenkt, die denn auch gleich am 12. August, als sie sich in Ilmenau blicken ließen, in vorläufige Haft genommen wurden. Dieselben hatten noch keine Ahnung von dem Unglück, welches durch die Schuld jenes [658] Mannes angerichtet worden war. Weinend beklagte derselbe im Gerichtszimmer das Ereigniß mit dem Bemerken, er wisse wohl, daß der große Dichter Goethe im Häuschen gewesen sei. Vom großherzoglichen Kreisgericht Arnstadt wurde der Schuldige wegen fahrlässiger Brandstiftung zu zwei Monaten Gefängniß verurtheilt. –
So ist denn wieder eine Erinnerungsstätte deutscher Poesie Schutt und Asche. Aber die Magie geistiger Größe ist gewaltiger als die Macht des vernichtenden Schicksals: das Goethehäuschen sank in Trümmer – aber die Stätte, wo es gestanden, bleibt eine geweihte bis in die spätesten Tage deutschen Lebens, und wer die Berge von Ilmenau durchwandert, der gedenkt auf den ausgebrannten Resten des Goethehäuschen in Andacht des großen Mannes, der hier sein herrliches „Nachtlied“ gedichtet.