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Ein „deutscher“ Mann als Minister

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Titel: Ein „deutscher“ Mann als Minister
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aus: Die Gartenlaube
Herausgeber: Ernst Keil
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Erscheinungsdatum: 1863
Verlag: Verlag von Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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Quelle: Scans bei Commons
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[331]
Ein „deutscher“ Mann als Minister.

Noch sind es nicht dreißig Jahre her, daß die badische zweite Kammer als die kühnste Vorkämpferin für deutsches Verfassungsrecht und die volle Ausbildung des Rechtsstaates in die Schranken trat; die badische Opposition hatte die Augen von ganz Deutschland auf sich gelenkt, die Namen Itzstein, Rotteck und Welcker waren ein leuchtendes Dreigestirn freiheitlicher Denkart, politischer Fähigkeit und ungebeugten Mannesmuthes in der Darlegung ihrer unerschütterlichen Ueberzeugung. Baden half durch sie das Jahr 1848 vorbereiten; aber die Bewegung von 1848 und 1849 tobte sich in Baden auch aus. Von vollberechtigten Anfängen ausgehend, in engem ursächlichem Zusammenhange mit der Durchführung der Reichsverfassung und der Grundrechte wurde sie in ihrem Verlaufe mehr und mehr über die Grenzen der gegebenen politischen Möglichkeiten hinausgetrieben in ein Gebiet, wo ihr zugleich die Kraft und die Sympathie des Volkes fehlen mußte. Aus einer Aufwallung des schönsten und des edelsten Idealismus deutschen Glaubens und deutscher Hingebung an die Idee des Rechtes und die Idee der Einheit artete die deutsche Bewegung in Baden aus zu einem Acte politischer Verzweiflung; durch ihre Anlage nicht, und nicht durch den Charakter ihrer Führer, nur durch ihren Verlauf wurde die badische Bewegung zu dem, was sie allerdings endlich geworden ist, zu einem Heerde ausschweifender politischer Unmöglichkeiten.

Die ganze Reactionsgenossenschaft hatte sich wieder in eine feste Phalanx gesammelt zum Widerstande gegen die 48er Ideen. Mit der wiedergefundenen Kraft waren alle vorgängigen Zusagen in den Wind geschlagen, und die badische Bewegung war der willkommenste Sündenbock für die legitimen Gewalten. Die Geschichte der Niederwerfung des badischen Aufstandes ist noch tief in die deutschen Herzen gegraben. Die Todesurtheile der Standgerichte stehen wie blutige Marksteine an der Grenze zwischen dem fünfziger und dem sechziger Jahrzehnt. In dieser schmalen Grenzscheide liegen viele kugelzerrissene Leiber; sie hatten gesündigt nach dem siegreichen Gesetze, aber selbst in den Verirrtesten war ihr Vergehen herausgewachsen aus wahrer Liebe zum Vaterlande und aus geraubter Hoffnung auf sein Glück.

Es war nothwendig, diesen Schattenriß der Vergangenheit als Grundlage der Gegenwart zu geben. Mit der Niederwerfung des 49er Aufstandes trat die Reaction ein, und was wäre von ihr zu erzählen? Ihre Freunde sagen, sie habe die Verirrten wieder in den Kreis des Gesetzes und der Gottesverehrung zurückgeführt; der landläufige Liberalismus weiß von ihr als besonderes [332] Kennzeichen zu erzählen, daß, nachdem einmal die blutigen Opfer gefallen waren, die schlimmsten Zustände des Rückschlages und das ekelste Extrem des Denunciantenwesens Baden erspart blieb. Was Alle nachträglich erkennen mußten, war, daß auf den letzten Kampf der ausgetobten Leidenschaft die abgespannte Ermattung, die Entmuthigung, die bürgerliche und politische Theilnahmlosigkeit gefolgt war. Es erfolgte keine Aufhebung der Verfassung; wenn das ein Lob ist, nun, so gebührt es der badischen Reactionszeit. Es waren aber gar viele andere Dinge aufgehoben, durch welche diese besondere Aufhebung überflüssig wurde: der Geist des selbstthätigen Bürgerthums, die Freude am Gemeinwesen und das Vertrauen auf eine gute Zukunft. Der österreichische Einfluß war allmächtig, trotzdem doch Preußen den Staat in die Hände des Großherzogs Leopold zurückgegeben hatte; der österreichische Gesandte war einflußreich in allen maßgebenden Kreisen; Familieneinflüsse, kirchliches und Frauenregiment thaten das Ihre in mächtigen Kreisen; der Gedanke, die verirrte Heerde auf den Wegen der Klerisei der strenggläubigen Legitimität in die Arme zu führen, lag ohnehin dem Interesse der Kirche nahe: was Wunder, daß endlich die vermiedenen sittlich religiösen Rettungsgedanken in der Convention mit Rom ihren Ausdruck fanden? Hier lag die Katastrophe, und von hier begann in Wahrheit die neue Aera.

Hier taucht zuerst der Name des Freiherrn Franz von Roggenbach auf. Monde vor der Entscheidung war der Kampf gegen die Vereinbarung in badischen Blättern eröffnet worden. Einige der glänzendsten Artikel – ob mit Recht oder Unrecht, ist heute noch nicht festgestellt – schrieb man damals, es war an der Wende des Jahres 1859 in das Jahr 1860, dem Herrn v. Roggenbach zu. Und je lebhafter die Entscheidung drängte, um so greifbarer trat auch, aber immer noch ohne feste Anhaltspunkte für die öffentliche Meinung, dieser Name in den Vordergrund. Der Kampf und die Entscheidung selbst waren merkwürdig genug. Der Donner der Schlachten von Magenta und Solferino hatte auch den politischen Schlaf der badischen Bevölkerung gestört; die entsetzliche Hilflosigkeit der Bundesmaschinerie hatte uns das Bewußtsein der erlösenden Zerrissenheit wiedergegeben. Wir waren zu schlimmer Erkenntniß aufgeschreckt, aber wir wachten doch wieder, und der „Schulsack“ des Volkes war, Dank dem deutschen Unterrichte, doch reichlich genug gefüllt, um die Erkenntniß des geistigen Unheils, das in der Vereinbarung enthalten war, allen Schichten zugänglich zu machen. Das sittliche Allgemeingefühl bäumte sich auf – und Baden war befreit von dem Alp der Convention. In mehrtägiger Schlacht kämpfte die zweite Kammer, in ihrer Mehrheit aus Beamten bestehend, gegen die Minister von Meysenbug und Stengel. Das Land war wie im Fieber und die Entscheidung des Hofes schwankend bis zum letzten Augenblicke. In die widerstreitenden Gerüchte mischte sich stets der Glaube an den ernsten Willen des Großherzogs, dem Wahrspruch seines Volks über das Vertragswerk gerecht zu werden; gegen die Bemühungen der Concordatsritter und ihre verborgenen, mächtigen Einflüsse wirkten vorzugsweise zwei Männer – so hieß es im Volke – der allbeliebte Bruder des Großherzogs, Prinz Wilhelm, und der bis dahin so gut wie unbekannte Freiherr von Roggenbach.

Von diesem Augenblicke trat der Name Roggenbach immer stärker in den Vordergrund. Lange entfremdet dem Lande, dem er durch Geburt, durch weitverzweigte, vielfach in politischer Denkart freilich ihm höchst entgegengesetzte Familienbeziehungen angehört, führte ihn erst der Frühlingsathem schönerer und freierer, durch seine eigene Thätigkeit mit herbeigeführter Tage in das engere Vaterland und auf das Schloß der Ahnen (bei Schopfheim im prächtigen Wiesenthale) häufiger zurück. Die ersten Tage des April 1860 hatten das Ministerium Stabel-Lamey gebracht. Herr Stabel, der schon unmittelbar nach der Niederwerfung der 49er Bewegung Minister gewesen war, versah nahezu ein Jahr lang neben den Geschäften seines speciellen Fachministeriums auch das Ressort der auswärtigen Angelegenheiten. Wie Habichte warfen sich die gegnerischen Organe auf den neuen Minister. Man wußte wenig von seiner staatsmännischen Vergangenheit. Der 36jährige Mann (Roggenbach ist geboren am 23. März 1826 in Mannheim) hatte keine „staatliche Carriere“ hinter sich. Er hatte als Student mit den Häuptern der einstigen „Deutschen Zeitung“, mit Gervinus, Häusser, Mohl, insbesondere auch mit Schlosser verkehrt; er hatte als Volontär im Reichsministerium der auswärtigen Angelegenheiten gearbeitet. Man sagte ihm nach, er habe mit kalter Besonnenheit und feuriger Energie den schönrednerischen Idealismus der Reichsversammlung verurtheilt, als diese in langen Monden die „Grundrechte eines Staates berieth, den sie vorher zu schaffen versäumt hatte.“

Mit „sittlichem Schauder“ erkannte die Bureaukratie, der Theil der Adels, der blindlings nach Oesterreich hinneigte, erkannte die katholische Partei in Roggenbach einen Mann, dessen Laufbahn man nicht auf der Stufenleiter des badischen Regierungsblattes nachklettern konnte. Wo man das Leben des Mannes zu fassen und eine Seite seiner Vergangenheit aufzuschlagen vermochte, da sah man ihn im Verkehre mit fürstlichen Personen oder mit hervorragenden Größen deutscher Geschichtsschreibung und deutscher Staatsrechtswissenschaft. Und als auf den Trümmern des Dreikönigsbundes die preußische Politik die Apotheose ihrer eigenen Gehaltlosigkeit beging, als der wenn auch unschöpferische Idealismus der Bewegungsjahre dem nackten, tödtlichen Cynismus der legitimen Gewalten Platz machte, die in der Orgie der Reaction Volksrechte preisgaben nach innen und außen, in Kurhessen und in Schleswig-Holstein – da sah man Roggenbach dem hoffnungslosen und entsittlichten Treiben eines siegreichen Legitimitätsrausches den Rücken kehren und in der Einkehr zur strengen praktischen Staatswissenschaft, auf weiten, erfahrungsreichen Reisen, im Verkehre mit den politischen Größen europäischer Weltstädte, von denen er London mit Vorliebe festhielt, die Gesundheit der politischen Denkungsart und den Schatz echten Freisinns sich erretten, durch die er heute noch seinen bureaukratischen, ständischen und kirchlichen Gegnern ein Gräuel ist. Roggenbach ist ein „improvisirter Minister“; er hat nicht die bureaukratische Wohlerfahrenheit eines wohlbezopften Mandarinen mit in sein Amt gebracht, aber den guten Willen, den frischen Sinn, die geistige Begabung, den festen Charakter, und vor Allem die echte, thatenlustige Vaterlandsliebe, wie sie einzig und allein aus einem der Volksart und dem innersten Volkssinn verwandten Herzen herauswachsen kann.

Als Roggenbach in das Ministerium trat, konnte man die Eigenschaften seines Geistes und seines Charakters nur erst ahnen; seither hat er sie voll und ganz bethätigt. Niemals wird es gelingen, seine ministerielle Thätigkeit in dem ganzen Adel ihrer Denkart zu verstehen, wenn man nur die einzelnen diplomatischen Aeußerungen, einzelne badische „Noten“ als solche betrachtet. Diese Thätigkeit hat vielmehr ein oberstes philosophisch-praktisches Grundprincip, das Roggenbach mit Lamey, dem trefflichen badischen Minister des Innern, theilt und das der badischen Staatsleitung in ihren beiden hervorragendsten Vertretern ihr eigenthümliches, hellleuchtendes Gepräge giebt. Dieser oberste Grundsatz ist: der Glaube an die Nothwendigkeit des staatlichen Fortschritts durch Bildung und Freiheit. In diesem Grundsatze liegt der unmittelbarste Gegensatz zu der durch Metternich’s Beispiel zu Schanden gewordenen Staatsleitungsmethode ausgesprochen. In diesem Grundsatze liegt die Nothwendigkeit des Anschlusses an den bewegenden Volksgeist ausgesprochen. Die Regierung taucht hinab in den Geist des Volkes; sie läutert die Gedanken, die sie in der Tiefe des Volkslebens findet, in dem Feuer der Wissenschaft, der höchsten Bildung und im Kampfe mit den bestehenden feindlichen Verhältnissen. Und indem sie sich über uns erhebt, erfüllt sie uns doch stets mit dem Bewußtsein, daß sie Blut von unserem Blute, daß sie aus den Wurzeln unseres Seins und Wesens herausgewachsen ist.

Von diesem höhern Gesichtspunkte betrachtet wird man erst den vollen Sinn der Worte verstehen, die Großherzog Friedrich von Baden sprach: „Ich kann nicht finden, daß ein trennender Widerspruch besteht zwischen Fürstenrecht und Volksrecht“; von diesem Grundprincip aus wird man begreifen, daß die ganze Thätigkeit Roggenbachs in allen ihren einzelnen Aeußerungen durchgeistigt ist von dem Athem, der sein höchstes und heiligstes Wort beseelt: „Die künftige deutsche Centralgewalt muß erfüllt sein und in Bewegung gesetzt werden von dem Gewissen des deutschen Volkes.

Unmöglich kann es die Aufgabe dieser Skizze sein, die politische Thätigkeit Roggenbach’s in allen ihren einzelnen Kundgebungen zu verfolgen. Seine Note in der deutschen Frage, seine Abstimmung für das Verfassungsrecht in Kurhessen, seine Vernichtung des Delegirtenplanes vom Standpunkte eines höheren, unwiderstehlichen Rechtes auf wahrhafte politische Sammlung, sein Einstehen für den preußisch-französischen Handelsvertrag und damit für den Grundsatz [333] des Freihandels, seine offene Kritik der neuen „Mißregierung“ in Preußen, wofür die Galle der Kreuzzeitung mit all ihrer Ekelhaftigkeit über ihn ausgegossen wird, sein hochherziges Auftreten für den „verlassenen Bruderstamm“ – das Alles sind nicht lose, ungegliederte Aeußerungen eines freisinnigen Ministers, der seinen weniger freisinnigen Berufsgenossen ein Paroli biegen möchte, sondern es sind organische, in sich selbst verbundene Folgerungen aus einem und demselben großen rechtserzeugenden Grundgedanken. Ihm sind Schleswig und Holstein nicht unbenannte Größen, mit denen die Politik auf offenem Markte feilschen darf; ihm sind sie Glieder unseres Leibes, welche mit der Kraft und mit dem Rechte unseres Volkes aus der Sclaverei losgelöst werden müssen, in deren Fänge sie durch eine entsittlichte Reactionspolitik

Franz von Roggenbach.

gerathen sind, aus einer Sclaverei, durch deren henkergleichen Mißbrauch Dänemark uns die Mittel zur Sühne selbst in die Hand gegeben hat. Ihm stand von Anbeginn das Recht des „kurhessischen“ Volkes unerschütterlich fest.

Der badische Antrag am Bunde (4. Juli 1861) ging von der Ueberzeugung aus, daß der vom Bunde eingeschlagene Revisionsweg nach Bundesrecht und öffentlichem Rechtsbewußtsein ein unmöglicher war, wie dies von R. von Mohl, dem badischen Bundestagsgesandten, in seiner zerschmetternden Denkschrift so meisterhaft nachgewiesen wurde. Das Ergebnis der staatsrechtlichen Untersuchung war: Zu-Recht-Bestehen der 31er Verfassung sammt Erläuterungen und Abänderungen von 1848 und 1849 und dem Wahlgesetz von 1849; Vereinbarung mit den hiernach einberufenen Ständen über die Abänderung der unmöglichen, weil mit dem bestehenden Bundesrechte unvereinbaren Bestimmungen. Noch ist es glücklicher Weise nicht zu spät, der kurhessischen Regierung das warnende Wort zuzurufen, das in der badischen Erwiderung auf die kurhessische Abwehrnote seine Stelle fand: daß höher als die Bundesbeschlüsse das Interesse der gemeinschaftlichen Aufrechterhaltung der Hoheit und der Würde monarchischer Ordnung und die unantastbare Heiligkeit bestehender Verfassungen steht.

Die ganze sittliche Kraft von Roggenbach’s Welt- und Staatsanschauung tritt freilich am klarsten heraus in seinem Verhalten zur deutschen Frage. Ihm ist die deutsche Frage keine Frage, sondern ein unwiderlegliches Recht. Wie ein Blitz schlug darum mit der zündenden Kraft der Wahrheit jene Note in die deutschen Gemüther, mit der der Präsident des badischen Ministeriums der auswärtigen Angelegenheiten die Beust’schen Reformvorschläge vom Standpunkt des nationalen Gewissens zurückwies, eine Note, deren ergreifend wahrer, dem warmen Herzen des Volkes entnommener Gedankenfluß sich ergänzt aus der mächtigen Rede, die Roggenbach in der Adreßdebatte der badischen zweiten Kammer am 13. December 1861 hielt. Kann es eine zu gleicher Zeit wahrere und vernichtendere Charakteristik geben, als die, mit welcher hier Roggenbach das Wesen des Bundestags schilderte? „Von der ganzen Nation aufgegeben, von allen Regierungen aufgehoben, hat die höchste Bundesbehörde, seitdem sie unter wesentlichen Vorbehalten und mit zweifelhaftem Rechte wiederhergestellt worden ist, wenig gethan, eine bessere Meinung zu gewinnen. Und doch ist sie für das herrschende System, die gegenwärtige Bundesorganisation der adäquate Ausdruck desselben und des Widerstreites der vielfachen Interessen in ihr. Es ist die formelle Gestaltung eines falschen politischen Systems, weil sie seinen Zwecken am besten dient.“ Kein Zusammenballen parlamentarischer Stoffe mit dieser der Theilnahme des Volkes längst entrückten Behörde vermag auch nur den entferntesten Anspruch zu machen auf eine Befriedigung des großen deutschen nationalen Bedürfnisses der politischen Sammlung. Eine Volksvertretung am Bunde ist nach den eigenen Worten Roggenbach’s nichts anderes als eine Ableitung der von den Regierungen gefürchteten Gefahr einer Centralgewalt. Jede parlamentarische Vertretung am Bunde bringt nur neue Zerfahrenheit, ein Regiment Aller gegen Alle. Eine parlamentarische Versammlung würde dann gegenüberstehen dem 35stimmigen Widerspruche einer Behörde ohne Verantwortung und ohne Willen. Was kann für solche Auffassung der Delegirtenplan mit seiner verfassungswidrigen Berathung eines unvorhandenen Obligationenrechts Anderes sein, als „ein Vorschlag, der dem Volke für seinen Hunger statt eines Stückes Brod einen Stein bietet“?

Die Lösung der deutschen Verfassungsfrage kann eben nicht in einer Umgehung gefunden werden, sondern nur in der Anerkennung und Befriedigung des nationalen Bedürfnisses. Wie glänzend verwirft, von diesem Gedanken ausgehend, die badische Note das Alternat im Bundesvorsitze als Ausgleichungsmittel! Mit dem einfachen Hinabtauchen in die Denkart des Volkes ist dieser Vorschlag vernichtet, denn er befriedigt vielleicht den betroffenen Einzelstaat, aber ist gänzlich gleichgültig und wesenlos für das Gemeininteresse. Jeder Vorschlag hat nur dann Werth, wenn er dem großen politischen Interesse, dem Interesse deutscher Macht und Unabhängigkeit Befriedigung gewährt. Die bewegende Frage der deutschen Gegenwart faßt sich damit ganz bestimmt zusammen auf den von den deutschen Regierungen ewig umgangenen Brennpunkt der Centralgewalt. Keine Macht der Welt wird einen Plan ersinnen, wie eine kraftvolle thatfähige Centralgewalt gebildet werden könne, ohne daß sie ihre Bausteine hole aus den Machtbefugnissen der bis jetzt in vollster Unbeschränktheit bestehenden Souverainetät der Einzelstaaten. Roggenbach sucht nicht, wie die übrigen Weltweisen [334] einer vermoderten deutschen diplomatischen Kunst, diesen Brennpunkt zu vertuschen, sondern er geht festen Auges und sicheren Schrittes auf ihn zu. So ferne ihm der Gedanke eines das selbständige Leben des Einzelstaatwesens vernichtenden Einheitsstaates liegt, so klar ist ihm doch andererseits der Gedanke des Opfers „aller Staatsfunctionen, durch welche politische Macht im Verkehr mit fremden Staaten entwickelt und bethätigt wird.“ Was der Einzelstaat hergiebt, das sei dann aber auch völlig einer einheitlichen Bundesgewalt unterworfen. Der Einzelstaat muß den Gedanken des Aufgebens dieser Rechte völlig in sich aufnehmen; kein kleinlicher Ehrgeiz wird ihn dann antreiben, sein Staatsinteresse durch Theilnahme an der Centralgewalt und damit durch Zersplitterung derselben bethätigen zu wollen. Der Centralregierung muß die vollständige gesammelte Energie der Entschließung bleiben, aber die Einwirkung der Einzelregierung müßte gewahrt sein durch eine Vertretung derselben, die allen berechtigten Interessen Rechnung trägt, ohne einer kleinlichen für das Gesammtwohl zweck- und machtlosen Eitelkeit zu fröhnen.

Zu dieser Politik des Opfermuthes bedarf es freilich anderer und werkthätigerer Tugenden, als die landläufige „conservative“ Reformpolitik aufzuweisen vermag. Es bedarf dazu eines Fürsten, der einen hohen Geist und ein warmes Herz dem Verlangen seines Volkes entgegenträgt, und es bedarf eines Ministeriums, das sprechen kann, wie Roggenbach für sich und seine Collegen ausrief: „Wenn ein deutscher Minister den Verrath nicht begehen wollte, seinen Fürsten zu Opfern an seiner Souverainetät zu veranlassen, so werden wir den größeren Verrath nicht begehen, ihm zu rathen, er solle zurückstehen hinter seinem Volke an Patriotismus und Hingebung!

Eine dem sittlichen Bewußtsein des Volkes so greifbar entwachsene Ueberzeugung besitzt ihren eigenen, keiner Einschüchterung zugänglichen Muth. Sie begreift in ihrem vollsten Umfange die Hindernisse, die sich ihrem hohen Ziele entgegenstemmen, aber sie sind, wie Roggenbach so oft wiederholt, nur eben so viele Gründe ungebeugter Ausdauer und machtvoller Kraftanstrengung. Mit fester Hand und unerschrockenem Muthe trennt Roggenbach die badische Handelspolitik von den Bahnen seiner süddeutschen Nachbarn und erklärt, im äußersten Nothfalle ein badisches Freihandelsgebiet gründen zu wollen. Die Energie, wie sie in diesem von dem politischen Glauben seines Volkes erfüllten Staatsmanne lebt, ist eben die treue Begleiterin einer gesunden sittlichen Ueberzeugung und die Mutter jener edlen, feinfühligen Bescheidenheit, die jedes laute Lob von sich weist, so lange das ersehnte Ziel noch so ferne steht. Hat auch die badische Bevölkerung in drei Bezirken Roggenbach zum Abgeordneten gewählt, das ist dem bescheidenen Manne kein Anlaß zu befriedigter Eigenliebe; es ist ihm nur ein neuer, mächtiger Sporn, solch reiches Vertrauen fort und fort durch die That und durch den Erfolg zu verdienen. Und so steht an einem Wendpunke deutscher Geschichte Baden wiederum glänzend vor den Augen von Deutschland und Europa. Wieder ist es die volksthümliche Opposition, durch die das herrliche kleine Land die Blicke auf sich lenkt; aber es ist nicht mehr die Opposition der badischen Kammer gegen die badische Regierung, es ist die volksthümliche Opposition der badischen Regierung gegen die Bundestagspolitik und ihre souverainen Vertreter. Die volksthümliche Opposition ist von der Straße hinweggenommen und hinaufgehoben in die organische Gewalt. Ja, ihr Männer von Würzburg, ihr habt ganz Recht: Baden ist isolirt – in der Liebe und in dem Vertrauen des deutschen Volkes!

Wie bezeichnend ist der grimmige Haß der „conservativen“ Parteien gegen Baden und seine Regierung! Er entsprang vollständig der schlagähnlichen Ueberraschung, die politische Ueberzeugung, die politische Sehnsucht, das politische Recht des Volkes von einer deutschen Regierung vertreten zu sehen. Und die feinen Politiker des Würzburger Lagers begreifen nicht, welches vernichtende Zeugniß ihrer Vergangenheit und ihrer Zukunft sie sich schon durch die nackte Thatsache dieser Ueberraschung ausstellen, in der die weite, tiefe Kluft zwischen Volksbewußtsein und deutscher Regierungspolitik mit schreckensvoller Deutlichkeit zur Erkenntniß kommt? Freilich mit dieser Diplomatie des souverainen, selbstvergötternden Egoismus kann Franz von Roggenbach nicht in Mitwerbung treten. Er ist ein hochgesinnter, edeldenkender, von Vaterlandsliebe erfüllter deutscher Mann, der in dem Herzen seines Volkes den tödtlichen Zwiespalt zwischen idealem Kraftbewußtsein und realer Thatunfähigkeit aus mangelnder politischer Sammlung mit allen Fibern seines Wesens nachzufühlen versteht. Und das ist die Bürgschaft einer großen, einer goldenen Zukunft für das deutsche Volk, daß das Licht froher Hoffnung und erhebenden Vertrauens mächtig emporstrahlte, sobald das Blut, das in unsern Adern pulsirt, einströmte in das Wesen und die Gesinnung auch nur einer deutschen Regierungsgewalt. Daß er ein deutscher Mann ist in des Wortes vollster Bedeutung und daß er es geblieben ist auf dem Posten des Ministeriums der auswärtigen Angelegenheiten eines deutschen Mittelstaates, getragen von dem Vertrauen eines Volkes, festgehalten durch das Vertrauen seines Fürsten – dies hier ausgesprochen zu haben, sei unsere ganze Verherrlichung des Namens Franz von Roggenbach. Er hat es ausgesprochen und bethätigt im Namen seines Fürsten, daß es eine Versöhnung giebt zwischen Fürstenrecht und Volksrecht auf dem Boden der echten Vaterlandsliebe und in der gemeinsamen Hingebung an die Idee der deutschen Einheit.