Ein deutsches Dorf in Attika

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Textdaten
<<< >>>
Autor: Eduard Engel
Illustrator: {{{ILLUSTRATOR}}}
Titel: Ein deutsches Dorf in Attika
Untertitel:
aus: Die Gartenlaube, Heft 33, S. 554–555
Herausgeber: Adolf Kröner
Auflage:
Entstehungsdatum:
Erscheinungsdatum: 1888
Verlag: Ernst Keil’s Nachfolger in Leipzig
Drucker: {{{DRUCKER}}}
Erscheinungsort: Leipzig
Übersetzer:
Originaltitel:
Originalsubtitel:
Originalherkunft:
Quelle: Scans bei Commons
Kurzbeschreibung:
Eintrag in der GND: {{{GND}}}
Bild
[[Bild:|250px]]
Bearbeitungsstand
fertig
Fertig! Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle Korrektur gelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
Um eine Seite zu bearbeiten, brauchst du nur auf die entsprechende [Seitenzahl] zu klicken. Weitere Informationen findest du hier: Hilfe
Indexseite
[554]
Ein deutsches Dorf in Attika.
Reisebild von Eduard Engel.

Der Ausflug, den ich vor einigem Jahren an einem Maisonntage von Athen nach dem deutschen Dorf in Attika Herakli (oder auch Irakli) machte, sollte mir nicht nur ein Bild über den jetzigen Zustand dieses halb vergangenen bayerisch-griechischen Idylls verschaffen, sondern ich hatte dabei auch die Absicht, mir einmal durch ein recht greifbares Beispiel eine deutliche Vorstellung zu verschaffen von dem Entwickelungsgange des griechischen Volkes in seiner Mischung mit fremden Volksbestandtheilen. Was in dieser deutschen Kolonie sich vollzogen, das mußte ja vorbildlich sein für die Bildung des neugriechischen Volksthums überhaupt, denn anders ist es auch, im großen und ganzen, nicht zugegangen während der Ueberfluthung mit fremden Stämmen im frühen und späten Mittelalter und unter der Türkenherrschaft.

Irakli, wie es im Volksmunde heißt; Herakli, wie es die Gebildeten und die Eisenbahnverwaltung in der Erinnerung an ein altes Heraklesheiligthum nennen, ist an Dörfchen von ungefähr 30 Häusern, also 30 Familien, und kaum 200 Seelen; es liegt, mit der Eisenbahn in 20 Minuten erreichbar, nordöstlich von Athen, unweit des Flusses Kephisos, mit schönem Blick auf das Parnesgebirge und den Gipfel des Pentelikon. Das Dorf ist Eisenbahnstation der stark befahrenen Bahn Athen-Kephisia und sogar Knotenpunkt der hier abzweigenden wichtigen Linie Athen-Laurion. Aber der Verkehr nach beiden für Athen so bedeutsamen Orten braust an dem stillen Herakli vorüber; selten steigt jemand auf der kleinen, weit vom Dorf entlegenen Station aus oder ein, und als ich mit einem athenischen Freunde auf dem Frühzuge dort anlangte, erregten wir die neugierigste Aufmerksamkeit der Eisenbahnbediensteten.

In den vierziger Jahren dieses Jahrhunderts ist das Dorf entstanden, und zwar, wie immer bei Neugründungen in Griechenland, auf einer alten Kulturstätte. Bayerische ausgediente Soldaten, Halbinvaliden, die nicht mehr nach der deutschen Heimath zurückkehren wollten, wurden hier von König Otto angesiedelt und mit genügenden Mitteln zum Fortkommen ausgestattet. Der Erdboden eignet sich mehr zum Weinbau als zur Körnerfrucht; er ist, wie fast aller attische Boden hartschollig, stark mit verwittertem Felsgeröll untermischt und schlecht bewässert. Westlich läuft in ziemlicher Entfernung die Fahrstraße nach Tatoi, dem Landsitz des Königs Georg, und nach Dekelea, der alten attischen Gebirgsfestung, vorüber, und bis zur Fahrstraße von Athen nach Kephisia ist’s wohl eine gute Stunde weit. Nicht einmal von der jetzigen Station führt eine Fahrstraße, wäre es auch nur ein leidlicher „Bauernweg“, nach dem ehemals deutschen Herakli. Alle Verkehrsadern laufen daran vorbei, keine berührt es.

Jene bayerischen Ansiedler hatten zum größeren Theile deutsche Frauen geheirathet, Töchter deutscher Handwerker in Athen, die vom Hofstaat lebten. Aber gleich bei der Gründung des Dorfes war etwas griechisches Blut hineingekommen; einige griechische Frauen wirthschafteten schon damals an der Seite ihrer bayerischen Gatten, und damit war der Gährungsstoff gegeben zu der langsamen, aber unaufhaltsamen Umwandlung des Volkscharakters jener kleinen Gemeinde.

Rundum wohnten Griechen, wie sie heute dort wohnen in den zahlreichen Dörfern und Weilern der attischen Ebene. Auf den Verkehr mit diesen griechischen Nachbarn angewiesen, viel zu weit von Athen entfernt, um regelmäßig mit dem damals noch ziemlich starken deutschen Element der Hauptstadt in Verbindung zu bleiben, hörten die bayerischen Ansiedler beim ersten Schritt aus ihrem Dorf heraus nur Griechisch, welches sie ja schon vorher in der Armee und im städtischen Verkehr erlernt hatten. Es hätte einer größeren Widerstandsfähigkeit bedurft, als sie der einfache Deutsche im Auslande meist besitzt, um sich trotz der guten eigenen Kenntniß des Griechischen und trotz des täglichen Verkehrs mit Griechen die reine Muttersprache zu erhalten. Die Kinder der Mischehen lernten natürlich von der griechischen Mutter zuerst Griechisch und später vom Vater nicht immer Deutsch, denn dieser sprach ja auch mit der Gattin nur griechisch. So wurden schon in der nächsten Generation, eigentlich schon wenige Jahre nach der Gründung, ganze Familien mit deutschem Oberhaupt sprachlich zu Griechen.

König Otto nahm sich freilich nach Kräften seiner eigenthümlichen Schöpfung an und sorgte namentlich dafür, daß sie eine deutsche Schule und einen deutschen Pfarrer erhielt. Die Kirche trägt noch heute äußerlich einen ungriechischen Charakter, wie sie denn auch nicht dem griechisch-katholischen, sondern dem römisch-katholischen Gottesdienst geweiht ist. Was wurde aber aus einer deutschen Schule, deren Kinder im elterlichen Hause und auf der Dorfgasse zum Theil Griechisch hörten und selbst sprachen? Nachdem der erste deutsche Lehrer abgenutzt war, fand sich nicht leicht wieder ein Nachfolger. Denn er hätte ja aus Deutschland bezogen werden müssen; und welcher deutsche Lehrer hätte sich bei kläglichem Gehalt in jene Einsamkeit und Fremdheit verbannen lassen? Man nahm also seine Zuflucht zu einem deutschen Pfarrer, der nun gleichzeitig Lehrer sein mußte. Aber gar bald fand sich auch kein Pfarrer mehr aus Deutschland selber für das verkrüppelte ferne Gemeinwesen, und nun ging der Umwandlungsprozeß mit Riesenschritten vorwärts. Als vollends vor einem Menschenalter König Otto das Land verließ, hatte die letzte Stunde des deutschen Dorfes Herakli geschlagen, denn von nun ab kümmerte sich überhaupt niemand mehr um jenen verlorenen Posten.

Der Zustand, in dem ich Herakli im Mai des Jahres 1886 vorfand, war vollends ein kritischer. Bis dahin hatte es einen Pfarrer gehabt, der mit bewundernswerther Hingebung sich der Wahrung des Deutschthums annahm, ohne selbst ein Deutscher zu sein. Herr Armágos, der bisherige Ortspfarrer, dem ich die meisten Angaben über Herakli verdanke, stammt von der Insel Syra her, dem Hauptsitz des römischen Katholicismus in Griechenland. Er hat seine Studien in München gemacht, spricht ein angenehmes Bajuwarendeutsch, hat Verständniß und Liebe für deutsche Art, deutsche Litteratur und deutsches Volk und ist während vieler Jahre ein treuer Hüter des ihm anvertrauten fremden Menschengutes gewesen. Auf die Dauer aber hat er die furchtbar bedrückende Einsamkeit nicht ertragen und selbst die neugeschaffene Eisenbahnverbindung mit Athen hat nicht vermocht, ihm seine Bürde leichter zu machen. Als ich ihn besuchte, war er im Begriff, Herakli den Rücken zu kehren auf Nimmerwiedersehn, und wenige Wochen später traf ich ihn dann auf dem Dampfer, der mich von Korinth der Heimath zuführte, auf dem Wege nach München begriffen.

Schon Herr Armágos hat sich genöthigt gesehen, griechisch zu predigen und griechisch die Christenlehre zu treiben. Unter den Frauen des Dörfchens sind nur noch sehr wenige, die Deutsch genug verstehen, um dem höheren deutschen Stil in Predigt und kirchlicher Unterweisung zu folgen. Sie hören von ihren Männern wohl die wichtigsten deutschen Wörter des täglichen Verkehrs in Haus und Hof, aber sie selbst sprechen sie nicht nach.

[555] Aehnlich stand es um die Zeit, wo ich Herakli besuchte, mit der von Herrn Armágos geleiteten Dorfschule. Zwar hielt er streng darauf, daß es eine Unterrichtsstunde „deutsch Lesen“ gab; aber den Unterricht selber mußte er in griechischer Sprache ertheilen, weil die Kinder die höhere abstrakte Sprache eines deutschen Unterrichts nicht mehr verstanden. – Der Nachfolger des Herrn Armágos ist kein Deutscher, sondern hat nur nothdürftig etwas Deutsch in Griechenland gelernt.

Man kommt nach mühsamer Wanderung von der Eisenbahnstation, querfeldein über Sturzäcker und Weinfelder, über Gräben und Wildbachschründe („Rewmata“ nennt sie der Grieche), nach dem hoch gelegenen Dörfchen, auf dessen stillen Gassen sich blondköpfige Jungen mit funkelnden, schwarzen Augen herumtummeln. Die Farbe des Gesichts und der Haare ist deutsch, aber der Blick ist griechisch, und die Zunge ist auch griechisch geworden, wie wir bei der Antwort auf die erste Frage nach dem Namen merken. Dieser Knirps sagt, er heiße Franz (oder vielmehr Franziskos) Müller; jener nennt sich Lukas Setz; ein dritter Georg (genauer Jorji) Kegelmeier; doch schon an der Aussprache dieser Namen hören wir, daß es hier aus ist mit der deutschen Sprache als einem lebendigen Dinge.

Ein besonders lehrreiches Beispiel für die Art, wie sich der Umwandlungsprozeß in solchen Zwitterbildungen zu vollziehen pflegt, bietet die Familie des angesehensten Bürgers von Herakli, des deutschen Bierbrauers Fix. Der Name hat unter den Deutschen in Athen guten Klang, denn der „alte Fix“, der Vater des Herakliers, ist der Begründer und Pfleger der Bierbereitung und des Biertrinkens in Griechenland. Die berühmte Bierstube von Bernudakis in der Hermesstraße zu Athen verzapft Fixsches Bier, und daß es erbärmlich schmeckt, daran ist wahrscheinlich nicht des Herrn Fix Bierbraukunst schuld, sondern die schlechte Art der Aufbewahrung und Behandlung durch griechische bier-unverständige Hände. Der junge Fix, der in Herakli wirthschaftet, spricht selber noch vorzügliches Bayerndeutsch, aber daneben auch ein vollkommenes Volksgriechisch und in seinem eigenen Hause fast nur das letztere; denn seine Frau, obwohl eine geborene Deutsche, ist in einem römisch-katholischen griechischen Kloster erzogen und hat dort nur griechisch und französisch gesprochen, so daß nun diese beiden deutschen Eheleute im eigenen Hause und im Verkehr mit den Kindern sich nur des Griechischen bedienen. So geht es mit dem Deutschthum dieser versprengten deutschen Menschen inmitten eines ganz fremden Volksthums.

Ich habe diese Darstellung der Verhältnisse von Herakli nicht gegeben, um daran wehmüthige Betrachtungen über einen „verlorenen Bruderstamm“ oder dergleichen zu knüpfen. Es mag schade sein um die paar armen Leute, die nicht wieder in ihre eigentliche Heimath gelangen und doch auf dem fremden spröden Boden nicht gedeihlich fortkommen konnten; aber Deutschland hat andere sprachliche und nationale Verluste im Auslande zu beklagen, als daß es lange klagen sollte um jenes Häuflein verlorener Söhne in Attika. Ich selbst habe vielmehr Herakli an und für sich angesehen und möchte es als solches auch den Lesern vorführen, als ein im hellen Sonnenlicht der Gegenwart sich darstellendes Belegstück für die Art, wie das griechische Volksthum sich zu den fremden Eindringlingen im Mittelalter verhalten hat. Was sich an diesem abgelegenen Fleck Erde Attikas in dem kurzen Zeitraum von 40 Jahren vollzogen hat, das hat sich unzählige Male in den Thälern des Peloponnes, auf den Ebenen von Thessalien und an den Berghängen der Inseln abgespielt.

Niemand leugnet, daß Welle auf Welle fremder Volksstämme über das griechische Volk, über die Nachkommen der „alten Griechen“ hingefluthet ist seit dem Untergange des römischen Reichs bis zur Unterwerfung unter das Türkenjoch. Die Geschichte bietet kein Beispiel, daß ein eroberndes Heer die Sprache und die Sitten des von ihm ausgerotteten Volkes angenommen, und die slavischen Stämme, die im frühen Mittelalter in Griechenland eindrangen, sowie die französischen und italienischen Heere, die ihnen im späteren Mittelalter folgten, waren allesammt nicht zahlreich genug, um das griechische Volksthum und die griechische Sprache so zu ändern, daß man von einem neuen Volke, kaum von einem Mischvolke, reden darf. Slaven, Franken, Italiener ließen sich unter den Griechen nieder, gründeten wohl auch eigene Dörfer, ganz wie die bayerischen Veteranen in Herakli; aber sie heiratheten die Töchter des Landes, sie verkehrten freundschaftlich mit den Dörflern desselben Bezirks, ihre Kinder spielten miteinander. Just so, wie es den Deutschen in Attika ergangen, so ist es auch den fremden Eroberern griechischen Bodens geschehen: sie haben nach zwei, drei Menschenaltern Art, Sprache, ja selbst ihre Namen verloren und sind zu Griechen geworden. Gerade von den der Zahl nach mächtigsten Eindringlingen haben die Neugriechen am wenigsten aufgenommen: von den Slaven. Das Neugriechische hat überhaupt nur sehr wenige Fremdwörter; am wenigsten aber, wenn überhaupt welche, aus dem Slavischen.

In wenigen Jahren wird das schöne lebendige Beispiel Herakli nicht mehr unmittelbar zum Studium sprachlicher und nationaler Umbildung benutzt werden können, denn alsdann wird wohl auch die letzte Spur ehemaligen Deutschthums dort verschwunden sein. Um so wichtiger erschien mir der Versuch, wenigstens den Zustand dieses deutschen Dorfes in Attika festzuhalten, in welchem ich es vor nun zwei Jahren fand; wer es heute aufsucht, wird ihn schon wesentlich verändert finden.