Die Alpenfee

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Autor: Elisabeth Bürstenbinder
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Titel: Die Alpenfee
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aus: Die Gartenlaube, Heft 24–50, S. 389–392, 409–415, 434–439, 453–458, 469–472, 485–490, 501–504, 517–522, 533–536, 549–554, 565–568, 581–587, 597–600, 613–616, 629–632, 649–654, 676–680, 695–699, 718–722, 736–739, 751–755, 766–770, 782–784, 802–805, 819–823, 836–839, 852–859
Herausgeber: Adolf Kröner
Auflage:
Entstehungsdatum:
Erscheinungsdatum: 1888
Verlag: Ernst Keil’s Nachfolger in Leipzig
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Erscheinungsort: Leipzig
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Quelle: Scans bei Commons
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[389]
Die Alpenfee.
Roman von E. Werner.

Hoch über den schneegekrönten Häuptern der Berge stand ein leuchtender Regenbogen. Das Gewitter war vorübergezogen; noch grollte es fern und dumpf in den Schluchten und an den Bergwänden lagerten dichte Wolkenmassen, aber der Himmel war bereits wieder klar, die Hochgipfel hatten sich entschleiert, und jetzt begannen auch dunkle Wälder und grüne Matten langsam aufzutauchen aus dem Nebel- und Wolkenmeer.

Das mächtige, von einem Wildwasser durchbrauste Alpenthal lag tief im Gebirge, so einsam und abgeschieden, als sei es der Welt und ihrem Treiben gänzlich entrückt, und doch hatte die Welt den Weg zu ihm gefunden. Auf der stillen Bergstraße, wo sich sonst nur selten ein Wagen oder ein wandernder Fußgänger zeigte, herrschte jetzt reges Leben und Treiben. Ueberall sah man Gruppen von Ingenieuren und Arbeitern; überall ward besichtigt, gezeichnet, vermessen; die Eisenbahn sollte schon in den nächsten Jahren ihre eisernen Arme in diese Bergeseinsamkeit strecken und die Vorarbeiten dazu waren im vollen Gange.

Oberhalb der Bergstraße, am Rande einer Schlucht, deren felsige Wände schroff abfielen, lag ein Gehöft, das sich auf den ersten Blick nicht viel von den anderen unterschied, die hier und

da am Bergeshang zerstreut waren, beim Näherkommen aber entdeckte man bald, daß es kein Bauernhof war, der da auf der weiten grünen Matte lag. Das Haus hatte festgefügte steinerne Wände und niedrige, aber breite Fenster und Thüren; die beiden halbrunden Erker, die mit ihren spitzen Dächern wie Thürmchen aufragten, gaben ihm ein noch stattlicheres Ansehen, und über dem Eingange prangte, kunstvoll in den Stein gemeißelt, ein Wappenbild.

Es war einer jener alten Herrensitze, wie sie sich bisweilen noch ganz vereinzelt im Gebirge finden, schlicht und einfach, mit einem halb bäurischen Anstrich, grau und verwittert, aber kräftig dem Verfall trotzend, dem schon manche stolze Burg zum Opfer gefallen war. Der aufsteigende Bergwald gab ihm einen äußerst malerischen Hintergrund und darüber hinaus ragte ein mächtiger Berggipfel mit nackten starren Felswänden und schneegekröntem Haupte einsam und stolz empor.

Das Innere des Hauses entsprach seinem Aeußeren. Durch einen gewölbten Flur mit Steinfliesen gelangte man in ein weites, niedriges Gemach, das fast die ganze Vorderseite des Gebäudes einnahm. Das altersbraune Wandgetäfel, der riesige Kachelofen, die hochlehnigen Stühle und der schwere geschnitzte Eichenschrank, das alles war derb, einfach und zeugte von langjährigem Gebrauche. Die Fenster standen weit offen und boten einen prachtvollen Ausblick auf das Gebirge, aber die beiden Herren, die am Tische saßen, achteten nicht auf die sich immer mehr entschleiernde Landschaft, sie befanden sich in lebhaftem Gespräche.

Der eine, ein Mann von etwa fünfzig Jahren, war eine Hünengestalt, mit breiter Brust und kraftvollen Gliedern. Durch das volle Haar und den dichten blonden Bart zog sich noch kein einziger Silberfaden und das wettergebräunte Gesicht strotzte von Leben und Gesundheit, wie die ganze Erscheinung. Sein Gefährte mochte in dem gleichen Alter stehen, aber die schmächtige Gestalt mit den scharfen, klugen Zügen und das schon völlig ergraute Haar ließen ihn weit älter erscheinen. Das Antlitz und die hohe Stirn, in die sich manche tiefe Falte grub, sprachen von rastlosem Sorgen und Ringen, freilich auch von einer Energie, die diesem Ringen gewachsen war; aber es lag zugleich ein Zug von Hochmuth darin, der nichts weniger als angenehm berührte, und in Haltung und Sprache verrieth sich das Selbstbewußtsein eines Mannes, der gewohnt ist, seine Umgebung zu beherrschen.

„So nimm doch Vernunft an, Thurgau,“ sagte er in einem Tone, dem man die Ungeduld anhörte. „Dein Sträuben hilft Dir nichts, Du mußt unter allen Umständen Deine Besitzung abtreten.“

„Ich muß?“ rief Thurgau heftig. „Das wollen wir doch abwarten! So lange ich lebe, wird kein Stein angerührt auf dem Wolkensteiner Hofe.“

„Der Hof liegt uns aber direkt im Wege. Gerade hier soll die große Brücke ihren Ausgang nehmen und die Bahnlinie geht mitten durch Dein Eigenthum.“

„Dann ändert Eure verwünschte Bahnlinie! Führt sie, wohin Ihr wollt, meinetwegen über den Wolkenstein da oben, aber mein Haus laßt in Ruhe. Gieb Dir keine Mühe, Nordheim; ich bleibe bei meinem Nein.“

Nordheim lächelte, halb mitleidig, halb sarkastisch.

„Du scheinst es in Deiner Einsamkeit vollständig verlernt zu haben, mit der Welt und ihren Anforderungen zu rechnen. Bildest Du Dir denn wirklich ein, ein Unternehmen wie das unsrige würde Halt machen, weil es dem Freiherrn von Thurgau beliebt, uns einige Quadratruthen seines Bodens zu verweigern? Wenn Du dabei beharrst, dann bleibt uns nichts übrig, als von unserem Zwangsrechte Gebrauch zu machen. Du weißt ja, daß uns die Vollmacht dazu längst ertheilt worden ist.“

„Oho, mein Recht ist auch noch da!“ rief der Freiherr, indem er dröhnend mit der Faust auf den Tisch schlug. „Ich habe protestirt und werde protestiren bis zum letzten Athemzuge. Der Wolkensteiner Hof bleibt stehen und wenn die ganze Eisenbahngesellschaft, mit dem Herrn Präsidenten Nordheim an der Spitze, sich auf den Kopf stellt.“

„Aber wenn man Dir das Doppelte des Werthes bietet –“

„Meinetwegen das Zehnfache! Ich schachere nicht mit dem letzten Erbe meiner Väter. Der Wolkensteiner Hof bleibt stehen, Punktum!“

„Dein alter Starrsinn, der Dir schon so vieles im Leben verschüttet hat,“ sagte der Präsident gereizt. „Ich hätte es voraussehen können, aber angenehm ist es mir allerdings nicht, wenn mein eigener Schwager die Gesellschaft, an deren Spitze ich stehe, zu einem gewaltsamen Vorgehen zwingt.“

„Deshalb hast Du Dich auch höchstselbst heraufbemüht,“ spottete Thurgau, „zum ersten Male seit Jahren.“

„Ich wollte es noch einmal versuchen, Dir Vernunft zu predigen, da meine Briefe wirkungslos blieben. Uebrigens weißt Du ja, wie sehr ich mit meiner Zeit geizen muß.“

„Ja, das weiß der Himmel! Ich würde mich bedanken für die ruhelose Hetzjagd, die Du Leben nennst. Was hast Du denn eigentlich von Deinen Millionen und von Deinen unglaublichen Erfolgen? Bald bist Du hier, bald da, immer im Fluge, immer mit einer Last von Geschäften. Das geht vom frühen Morgen bis zum späten Abend, und Nachts, wenn vernünftige Leute sich zu Bette legen, setzest Du Dich noch stundenlang an Deinen Schreibtisch. Daher stammen Deine grauen Haare und die Falten auf Deiner Stirn. Sieh mich an!“ Er richtete sich empor und reckte die mächtigen Glieder. „Ich bin ein volles Jahr älter als Du!“

Nordheim blickte auf seinen Schwager, dessen Stirn allerdings noch keine Falten zeigte, aber seine Lippen zuckten spöttisch dabei.

„Ganz recht, aber es ist nicht jedermanns Sache, hier oben bei den Murmelthieren zu leben und Gemsen zu schießen. Du hast ja schon vor zehn Jahren Deinen Abschied genommen, obgleich Dir Dein alter Name die Karrière überall verbürgte.“

„Weil ich nun einmal nicht für den Herrendienst tauge. Die Thurgaus haben alle nicht dafür getaugt – deshalb sind sie auch so heruntergekommen, meinst Du? Ich sehe das an Deinem Spottlächeln. Ja, viel ist freilich nicht übrig geblieben von der einstigen Herrlichkeit, aber ich habe doch wenigstens noch ein Dach über dem Kopfe, und der Grund und Boden, auf dem ich stehe, ist mein: da hat mir niemand zu befehlen und dreinzureden, am wenigsten Deine verwünschte Eisenbahn – Nun, nichts für ungut, Schwager, wir wollen uns nicht zanken über die Geschichte, und vorzuwerfen haben wir uns beide nichts, denn wenn ich starrsinnig bin, so bist Du ein Tyrann. Du regierst Deine hochlöbliche Gesellschaft ja, daß ihr Hören und Sehen vergeht, und wenn Dir einer widerspricht, wird er einfach gemaßregelt und hinausgeworfen.“

„Was weißt Du denn davon?“ fragte Nordheim, der bei den letzten Worten aufmerksam wurde. „Du kümmerst Dich ja nie um unsere Angelegenheiten.“

„Nein, aber ich sprach neulich ein paar von den Ingenieuren, die hier in der Nähe die Vermessungen vornehmen und natürlich keine Ahnung von unseren verwandtschaftlichen Beziehungen haben. Sie schimpften wie die Rohrsperlinge auf Dich und Deine Tyrannei und die Günstlingswirthschaft, die Du eingeführt hättest; es waren recht erbauliche Dinge, die ich da zu hören bekam.“

Der Präsident zuckte gleichgültig die Achseln.

„Vermuthlich die Ernennung des Oberingenieurs für diese Strecke, die den Herren nicht genehm ist. Sie drohten allerdings in eine förmliche Revolte auszubrechen; sie fühlen sich in ihrer Ehre gekränkt, weil man ihnen einen jungen Mann von siebenundzwanzig Jahren zum Vorgesetzten giebt, der mehr in seinem Kopfe hat als sie alle zusammen.“

„Sie behaupten aber, er sei ein Streber, dem jedes Mittel recht sei, um emporzukommen,“ sagte Thurgau derb. „Und Du als Präsident des Verwaltungsrathes hättest Dich überhaupt nicht darum zu kümmern; der Chefingenieur hätte allein das Recht, seinen Stab zu ernennen.“

„Offiziell allerdings und es geschieht auch nicht oft, daß ich meinen Einfluß auf seinem Gebiete geltend mache; thue ich es aber einmal, so erwarte ich auch, daß meinen Wünschen Rechnung getragen wird. Genug, Elmhorst ist Oberingenieur und wird es bleiben. Wenn das den Herren nicht paßt, so mögen sie ihre Entlassung nehmen, ich kümmere mich sehr wenig um ihre Meinung.“

In den Worten lag das ganze hochmütige Selbstbewußtsein eines Mannes, der gewohnt ist, seinem Willen unbedingt und rücksichtslos Geltung zu verschaffen. Thurgau wollte antworten, aber in diesem Augenblick wurde die Thür geöffnet oder vielmehr aufgerissen. Es stürmte etwas herein, das mit nassen Kleidern und wehenden Locken an dem Präsidenten vorüberflog und sich ungestüm an den Hals des Freiherrn warf, dann folgte ein zweites, zottiges Etwas, ebenso naß, das gleichfalls auf den Herrn des Hauses zustürzte und mit lautem Freudengeheul an ihm emporsprang. Die unerwartete und lärmende Begrüßung glich beinahe einem Ueberfall, aber Thurgau mußte wohl daran gewöhnt sein, denn er sträubte sich nicht im mindesten gegen die feuchten Liebkosungen, die ihm reichlich von beiden Seiten zu theil wurden.

„Da bin ich, Papa!“ rief eine helle Mädchenstimme. „Naß wie eine Wassernixe! Das ganze Wetter habe ich ausgehalten droben am Wolkenstein; sieh nur, wie wir aussehen, ich und der Greif!“

„Ja, man merkt es, daß Ihr direkt aus den Wolken kommt,“ sagte Thurgau lachend. „Aber siehst Du denn nicht, Erna, daß wir Besuch haben? Erkennst Du ihn noch?“

Erna richtete sich empor; sie hatte den Präsidenten, der bei dem Einbruch der beiden aufgesprungen und seitwärts getreten war, noch gar nicht bemerkt und schien einige Sekunden lang ungewiß zu sein über seine Persönlichkeit, dann aber jubelte sie auf. „Onkel Nordheim!“ und eilte auf ihn zu, aber er streckte abwehrend die Hände aus.

„Kind, ich bitte Dich, Du sprühst ja förmlich Nässe bei jeder Bewegung! Du gleichst wirklich einer Wassernixe – um Gotteswillen, halte mir den Hund vom Leibe! Wollt Ihr mich hier im Zimmer noch nachträglich mit einem Gewitterregen erfreuen?“

Erna ergriff lachend den Hund am Halsbande und zog ihn zurück. Greif zeigte allerdings Lust, nähere Bekanntschaft anzuknüpfen, was bei dem gänzlich durchweichten Zustande, in dem er sich befand, nicht gerade angenehm für den Betreffenden gewesen wäre. Uebrigens sah seine junge Herrin nicht viel besser aus: ihre Bergschuhe, die derb und plump den kleinen Fuß umschlossen, das hochgeschürzte Kleid von dunklem Lodenstoff und das schwarze Filzhütchen, alles triefte von Nässe. Sie schien sich aber sehr wenig darum zu kümmern, sie warf den Hut auf den ersten besten Stuhl und strich mit beiden Händen die feuchten Locken zurück, aus denen noch einzelne Tropfen rannen.

Erna glich ihrem Vater sehr wenig; nur die blauen Augen und das blonde Haar hatte sie von ihm; sonst existirte nicht die geringste Aehnlichkeit zwischen der hünenhaften Gestalt des Freiherrn, seinen gutmüthigen aber ziemlich ausdruckslosen Zügen und der Erscheinung des etwa sechzehnjährigen Mädchens, das, schlank und geschmeidig wie eine Gazelle, trotz seines ungestümen Auftretens doch in jeder Bewegung eine unbewußte Grazie verrieth. Das Gesicht zeigte die ganze rosige Frische der Jugend; für schön konnte es nicht gelten, wenigstens jetzt noch nicht. Die Züge waren noch sehr kindlich und unentwickelt und um den kleinen Mund lag ein Ausdruck, der auf herben Kindertrotz deutete. Schön waren eigentlich nur die Augen, deren tiefes dunkles Blau an die Farbe der Bergseen erinnerte. Das Haar wurde von keinem Bande, keinem Netze festgehalten; vom Sturme zerzaust, vom Regen durchnäßt, fiel dies wilde üppige Gelock fessellos auf die Schultern nieder. Das Mädchen sah allerdings nicht gerade salonfähig aus, sondern wie ein lebendiggewordener Frühlingssturm.

„Fürchtest Du die paar Regentropfen, Onkel Nordheim?“ fragte sie übermütig. „Was hättest Du denn angefangen in dem Wolkenbruch, dem wir ganz schutzlos preisgegeben waren? Ich machte mir freilich nicht viel daraus, aber mein Begleiter –“

„Nun, ich dächte, dem Greif wäre der Pelz auch oft genug gewaschen worden,“ fiel der Freiherr ein.

„Greif? Den hatte ich, wie gewöhnlich, bei der Sennhütte zurückgelassen; er kann ja nicht klettern und von da an heißt es, mit den Gemsen um die Wette steigen. Ich meine den Fremden, mit dem ich unterwegs zusammentraf. Er hatte sich verstiegen und konnte in dem Nebel den Rückweg nicht finden; hätte ich ihn nicht geführt, er säße noch droben am Wolkenstein.“

„Ja diese Stadtherren!“ sagte Thurgau ärgerlich. „Das kommt hierher mit den großen Bergstöcken, mit den nagelneuen Touristenanzügen und thut, als ob ihm unsere Alpengipfel nur ein Spiel wären; aber bei dem ersten Regenguß kriecht es in eine Felsspalte und holt sich den Schnupfen. Es hat sich wohl sehr gefürchtet, das Herrchen, als das Wetter losbrach?“

Erna schüttelte den Kopf, aber auf ihrer Stirn erschien eine Falte.

„Nein, furchtsam war er nicht; er hielt ganz gelassen neben mir aus unter Sturm und Blitzen und auch beim Abstieg hat er sich tapfer gezeigt, obgleich man sah, daß er die Sache nicht gewohnt war. Aber es war ein abscheulicher Mensch. Er lachte, als ich ihm von der Alpenfee erzählte, die jeden Winter die Lawinen in das Thal niederschickt, und als ich böse wurde, sagte er so ganz von oben herab: ‚Ja freilich, wir sind hier in der Sphäre des Aberglaubens, das hatte ich ganz vergessen!‘ Ich wollte, die Alpenfee hätte ihm gleich auf der Stelle eine Lawine über den Hals geschickt, und das habe ich ihm auch gesagt.“

„Das hast Du einem fremden Herrn gesagt, den Du zum ersten Mal sahst?“ fragte der Präsident, der bisher schweigend, aber mit befremdeter Miene zugehört hatte.

Erna warf trotzig den Kopf zurück.

„Gewiß that ich das! Wir mögen ihn nicht leiden, nicht wahr, Greif? Du hast ihn auch angeknurrt, als ich mit ihm bei der Sennhütte anlangte, und das ist brav von Dir, mein Thier, sehr brav! – Aber jetzt muß ich wirklich sehen, daß ich in trockene Kleider komme; Onkel Nordheim bekommt sonst den Schnupfen von meiner bloßen Nähe.“

Sie eilte fort, ebenso stürmisch wie sie gekommen war; Greif machte Miene, ihr zu folgen; da ihm aber die Thür vor der Nase zufiel, so besann er sich eines anderen. Er schüttelte sich, daß die Tropfen nach allen Richtungen hin sprühten, und lagerte sich dann zu den Füßen seines Herrn.

Nordheim hatte sein Taschentuch hervorgezogen und fuhr damit demonstrativ über seinen feinen schwarzen Rock, obgleich er glücklich von der Douche verschont geblieben war.

„Nimm es mir nicht übel, Schwager, aber es ist wirklich unverantwortlich, wie Du Deine Tochter aufwachsen läßt,“ sagte er scharf.

„Was?“ fragte Thurgau, der augenscheinlich höchst erstaunt darüber war, daß man an seinem Kinde irgend etwas auszusetzen fand. „Was fehlt dem Mädel denn?“

„Nun, ich dächte so ziemlich alles, was man von einem Fräulein von Thurgau erwarten darf. Was war das für ein Aufzug, in dem sie hier erschien! Und Du duldest es, daß sie stundenlang in den Bergen umherschweift und mit dem ersten besten Touristen eine Bekanntschaft anknüpft?“

„Pah, sie ist ja noch ein Kind!“

„Mit sechzehn Jahren? Es war ein Unglück, daß sie so früh die Mutter verlor; seitdem hast Du sie förmlich verwildern lassen. Freilich, wenn ein junges Mädchen in solchen Umgebungen aufwächst, ohne Unterricht, ohne Erziehung –“

„Bitte sehr,“ unterbrach ihn der Freiherr gereizt. „Ich habe damals, als ich beim Tode meiner Frau nach dem Wolkensteiner Hof übersiedelte, einen Lehrer mitgenommen, den alten Magister, der erst im letzten Frühjahr gestorben ist. Erna hat bei ihm alles Mögliche gelernt, und erzogen habe ich sie. Gerade so habe ich sie gewollt; denn eine zarte Treibhauspflanze wie Deine Alice können wir hier oben nicht brauchen. Mein Mädel ist gesund an Leib und Seele; frei ist sie aufgewachsen, wie der Vogel in der Luft, und soll es bleiben. Wenn Du das ‚verwildern‘ nennst – meinetwegen! Mir ist mein Kind recht.“

„Dir vielleicht, aber Du wirst doch nicht immer die einzig maßgebende Persönlichkeit in ihrem Leben sein. Wenn sich Erna dereinst verheirathet –“

„Ver–heirathet? “ wiederholte Thurgau mit starrem Entsetzen.

„Allerdings, Du mußt doch erwarten, daß früher oder später sich ein Bewerber meldet.“

„Das soll sich einer unterstehen! Dem Kerl schlage ich Arme und Beine entzwei!“ schrie der Freiherr in voller Wuth.

„Du versprichst ja ein liebenswürdiger Schwiegervater zu werden,“ bemerkte Nordheim trocken. „Ich dächte, es wäre die Bestimmung der Mädchen zu heirathen, oder glaubst Du vielleicht, daß ich von meiner Alice fordere, sie solle unvermählt bleiben, weil sie meine einzige Tochter ist?“

„Das ist etwas anderes,“ sagte Thurgau langsam, „etwas ganz anderes. Du magst Deine Tochter liebhaben – nun ja, warum denn nicht – aber Du würdest sie sehr leichten Herzens hingeben. Ich habe nichts auf der weiten Gotteswelt als mein Kind, das Einzige, was mir geblieben ist, und das gebe ich nicht her, um keinen Preis. Sie sollen mir nur kommen, die Herren Freier, ich werde sie schon heimschicken, daß sie das Wiederkommen vergessen.“

Der Präsident lächelte; es war jenes kalte, mitleidige Lächeln, mit dem man auf die Thorheiten eines Kindes herabsieht.

„Wenn Du Deinen Erziehungsgrundsätzen treu bleibst, wirst Du überhaupt nicht in den Fall kommen,“ sagte er sich erhebend. „Aber noch eins – Alice trifft morgen in Heilborn ein, wo ich sie erwarte; der Arzt hat ihr die dortigen Bäder und die Alpenluft verordnet.“

„In dem eleganten langweiligen Modenest wird kein Mensch gesund,“ erklärte Thurgau verächtlich. „Du solltest uns das Mädel hierher schicken, da hat sie die Alpenluft aus erster Hand.“

Nordheims Blick glitt mit einem nicht mißzuverstehenden Ausdruck durch das Zimmer, über den schlafenden Greif hin und blieb zuletzt auf seinem Schwager haften.

„Du bist sehr freundlich, aber wir müssen uns wohl an die ärztliche Vorschrift halten. Wir werden uns doch sehen in den nächsten Tagen?“

„Natürlich, Heilborn ist ja kaum zwei Stunden entfernt!“ rief der Freiherr, dem das Kühle und Gezwungene der Einladung völlig entging; „ich komme jedenfalls mit Erna hinüber.“

Er stand gleichfalls auf, um den Gast zu geleiten; die Meinungsverschiedenheiten, denen er bisweilen einen so drastischen Ausdruck gegeben hatte, waren in seinen Augen gar kein Hinderniß für die verwandtschaftliche Zuneigung, und er entließ den Schwager mit der derben Herzlichkeit, die ihm eigen war. Jetzt kam auch Erna wie ein wilder Vogel die Treppe herabgeflattert und alle drei traten auf den Vorplatz des Hauses.

Hier fuhr soeben der Bergwagen vor, der vor einigen Stunden den Präsidenten gebracht hatte und auf den grundlosen Wegen nicht ohne Mühe bis zum Wolkensteiner Hofe vorgedrungen war. Gleichzeitig trat ein junger Mann durch das Eingangsthor und näherte sich grüßend dem Herrn des Hauses.

„Guten Tag, Doktor!“ rief dieser jovial, während Erna mit der Freiheit und Unbefangenheit eines Kindes dem Ankömmlinge entgegeneilte und ihm die Hand bot, und zu seinem Schwager gewendet setzte er hinzu: „Das ist unser Aeskulap und Leibarzt! Dem solltest Du einmal Deine Alice anvertrauen, der Mann versteht seine Sache.“

Nordheim, der mit deutlichem Mißfallen jene vertrauliche Begrüßung seiner Nichte bemerkt hatte, griff nachlässig an seinen Hut und beehrte den jungen Landarzt, der eine etwas unbeholfene und linkische Verbeugung machte, kaum mit einem flüchtigen Blick. Er reichte seinem Schwager die Hand, küßte Erna auf die Stirn und stieg ein; wenige Minuten später rollte der Wagen davon.

„Jetzt kommen Sie herein, Doktor Reinsfeld,“ sagte der Freiherr, dem es erst nach dieser Abfahrt recht behaglich zu werden schien. „Aber da fällt mir ein, daß Sie meinen Schwager so noch gar nicht kennen – den Herrn, der soeben fortfuhr.“

„Präsident Nordheim – ich weiß,“ entgegnete Reinsfeld, während sein Blick dem Wagen folgte, der soeben in einer Biegung des Weges verschwand.

„Merkwürdig!“ brummte Thurgau. „Alle Welt kennt ihn und er ist doch seit Jahren nicht hier gewesen. Es ist gerade, wie wenn ein Potentat durch die Berge fährt!“

Er trat in das Haus; der junge Arzt zögerte noch einen Augenblick, ehe er folgte. Er sah sich nach Erna um, aber diese stand auf der niedrigen Mauer, die das Gehöft umgab, und beobachtete die nicht ganz unbedenkliche Niederfahrt des Wagens.

Doktor Reinsfeld mochte sechs- oder siebenundzwanzig Jahr alt sein; er hatte nicht ganz die riesige Gestalt des Freiherrn, war aber immerhin eine kraftvoll derbe Erscheinung. Hübsch war er allerdings nicht; eher hätte man das Gegentheil behaupten können; aber es wurde einem unwillkürlich warm ums Herz, wenn man in diese blauen Augen schaute, die so klar und kindlich vertrauend in die Welt blickten, in dies Gesicht, dem die Herzensgüte an der Stirn geschrieben stand. Die Haltung und das Auftreten des jungen Mannes verriethen freilich die vollste Unbekanntschaft mit den gesellschaftlichen Formen und auch der Anzug ließ manches zu wünschen übrig. Die graue Gebirgsjoppe und der alte graue Filzhut hatten offenbar schon manchen Tag gesehen, manchen Regenguß miteinander ausgehalten und die Bergschuhe mit ihren nägelbeschlagenen Sohlen trugen reichliche Spuren des durchweichten Bodens. Sie gaben Zeugniß davon, daß dem Herrn Doktor für seine Besuche nicht einmal ein bescheidenes Reitthier zu Gebote stand; er wanderte zu Fuß, wohin seine Pflicht ihn rief.

„Nun, wie geht es, Herr Baron?“ fragte er, als sie im Zimmer einander gegenüber saßen. „Alles in Ordnung? Der Anfall von neulich hat sich doch nicht wiederholt?“

„Alles in Ordnung!“ lachte Thurgau. „Ich bin wieder ganz der Alte. Ich begreife überhaupt nicht, daß Sie von dem kleinen Schwindelanfall so viel Aufhebens machen. Eine Natur wie die meine giebt Ihnen und Ihresgleichen nicht viel zu thun.“

„Wir dürfen die Sache doch nicht zu leicht nehmen! Gerade in Ihren Jahren muß man vorsichtig sein,“ meinte der junge Arzt. „Ich hoffe allerdings, daß es nichts auf sich hat, wenn Sie nur meinen Rathschlägen folgen: vermeiden jeder Erhitzung und Aufregung, eine möglichst einfache Diät, eine theilweise Aenderung Ihrer gewohnten Lebensweise – ich habe Ihnen ja die einzelnen Vorschriften bereits gegeben.“

„Ja, das haben Sie gethan, aber ich befolge sie nicht,“ erklärte der Freiherr ganz gemächlich, indem er sich in seinen Stuhl zurücklehnte.

„Aber, Herr von Thurgau –“

„Lassen Sie mich in Ruhe, Doktor! Das Leben, das sie mir vorschreiben wollen, ist überhaupt gar kein Leben mehr. Ich soll mich schonen, ich, der ich gewohnt bin, den Gemsen nachzusteigen bis auf den höchsten Grat, der sich weder um Sonnengluth, noch um Schneesturm gekümmert hat und immer der Erste war, wenn es etwas Gefährliches gab in unseren Bergen! Ich soll meine geliebte Jagd im Stiche lassen, soll Wasser trinken und mich ängstlich hüten vor jeder Aufregung, wie ein nervenschwaches Frauenzimmer? Unsinn! Fällt mir gar nicht ein!“

„Aber ich habe Ihnen nicht verhehlt, daß jener Anfall bedenklich war, daß die Folgen gefährlich werden können.“

„Meinetwegen! Der Mensch entgeht seinem Schicksale doch nicht und ich tauge nun einmal nicht für ein solches Jammerleben, wie Sie es mir in Aussicht stellen. Lieber ein rasches seliges Ende!“

Reinsfeld sah nachdenklich vor sich hin und sagte halblaut:

„Eigentlich haben Sie recht, Herr Baron, aber –“ er kam nicht weiter, denn Thurgau schlug ein lautes Gelächter auf.

„Das nenne ich mir einen gewissenhaften Arzt! Wenn man ihm erklärt, daß man sich den Kuckuck um seine Verordnungen scheert, sagt er: Sie haben ganz recht! Ja, ich habe auch recht, das sehen Sie selbst ein.“

Der Doktor wollte sich gegen diese Auffassung seiner Worte verwahren, aber Thurgau lachte immer unbändiger und jetzt kam auch Erna herein mit Greif, ihrem unzertrennlichen Begleiter.

„Onkel Nordheim ist glücklich über die Brücke gekommen, obgleich sie halb überschwemmt war,“ berichtete sie. „Die Ingenieure stürzten allesammt herbei und halfen den Wagen vorwärts bringen, und dann bildeten sie Spalier zu beiden Seiten und verbeugten sich, so tief.“

Sie ahmte in komischer Weise die Ehrfurchtsbezeigungen der Beamten nach, aber der Freiherr zuckte ärgerlich die Achseln.

„Recht gesinnungsstüchtige Leute, diese Herren! Da schimpfen sie über meinen Schwager und sagen ihm alles mögliche Schlimme nach, und sobald er in Sicht ist, bücken sie sich bis zur Erde. Da soll der Mann nicht hochmüthig werden!“

„Papa,“ sagte Erna, die an den Stuhl ihres Vaters getreten war und jetzt den Arm um seinen Hals legte, „ich glaube, der Onkel Nordheim mag mich nicht, er war so kühl und gemessen.“

„Das ist so seine Art,“ meinte Thurgau, sie an sich ziehend. „Aber an Dir, Du Wildfang, hat er freilich genug auszusetzen.“

„An Fräulein Erna?“ fragte Reinsfeld mit einer so erstaunten und entrüsteten Miene, als ob das mindestens eine Majestätsbeleidigung sei.

„Jawohl, sie soll durchaus ein Fräulein von Thurgau vorstellen; hat er mir doch früher schon einmal angeboten, sie in sein Haus zu nehmen, um sie mit seiner Alice zusammen von den Bonnen und Gouvernanten für die Gesellschaft dressiren zu lassen! Was sagst Du zu dem Vorschlage, Kind?“

„Ich will nicht zu dem Onkel, Papa,“ erklärte Erna trotzig. „Ich will überhaupt nicht fort von Dir, ich bleibe im Wolkensteiner Hofe, mein Leben lang.“

„Ich wußte es ja!“ rief der Freiherr triumphirend, „und da behaupten sie, Du würdest eines Tages heirathen, würdest davongehen mit einem wildfremden Menschen und Deinen Vater in seinem Alter allein lassen! Wir wissen es besser, gelt Erna? Wir zwei gehören zusammen und wir bleiben auch bei einander.“

Er streichelte die wilden Locken seines Kindes mit einer Zärtlichkeit, die bei dem derben rücksichtslosen Manne etwas Rührendes hatte, und Erna schmiegte sich mit leidenschaftlicher Innigkeit an ihn. Die beiden gehörten in der That zusammen, das sah man; eins hing an dem anderen mit ganzer Seele.

[409] Nun, Herr Oberingenieur, Sie haben Ihre neue Stellung also bereits angetreten? Sie ist schwierig und verantwortungsreich, zumal für einen Mann in Ihren Jahren, aber ich hoffe, daß Sie ihr trotzdem gewachsen sind.“

Der junge Mann, an den Präsident Nordheim diese Worte richtete, verbeugte sich ehrfurchtsvoll, aber keineswegs demüthig, als er entgegnete.

„Ich bin mir vollkommen bewußt, daß ich diese Auszeichnung erst noch zu verdienen habe; ich verdanke sie so überhaupt nur Ihrem energischen Eintreten für mich, Herr Präsident.“

„Ja es stand Ihnen mancherlei entgegen,“ sagte Nordheim. „Vor allem Ihre Jugend, die den maßgebenden Persönlichkeiten als ein Hinderniß galt, um so mehr, als ältere und erfahrene Bewerber da waren, die ihre Zurückweisung nun selbstverständlich als eine Kränkung ansehen; endlich erhob sich noch eine Opposition gegen mein persönliches Eingreifen zu Ihren Gunsten. Ich brauche Ihnen wohl nicht erst zu sagen, daß Sie mit all diesen Dingen rechnen müssen; man wird Ihnen Ihre Stellung nicht gerade leicht machen.“

„Ich bin darauf gefaßt,“ erwiderte Elmhorst ruhig; „aber ich werde vor der Feindseligkeit meiner Herren Kollegen auch nicht einen Schritt weichen. Ihnen, Herr Präsident, habe ich meinen Dank bisher nur in Worten abstatten können; ich hoffe zuversichtlich, es dereinst noch mit der That zu thun.“

Die Antwort schien dem Präsidenten zu gefallen und wohlwollender, als es sonst seine Art war, winkte er seinem Günstlinge, Platz zu nehmen. Elmhorst galt bereits dafür in den betreffenden Kreisen, die da wußten, was eine solche Gunst bedeutete.

Der junge Oberingenieur, der bei diesem offiziellen Besuche selbstverständlich den Gesellschaftsanzug trug, war eine äußerst gewinnende Erscheinung, hoch und schlank, mit energischen, regelmäßigen Zügen, denen die leicht gebräunte Farbe und der dunkle Vollbart etwas entschieden Männliches gaben. Das reiche dunkle Haar ließ zurückfallend eine hohe schöne Stirn frei, die auf ungewöhnliche Intelligenz deutete, und auch die Augen wären schön gewesen, wenn sie nicht so unglaublich kalt und nüchtern geblickt hätten. Diese Augen konnten scharf beobachten, vielleicht auch aufblitzen in Stolz und Energie, aber aufflammen in heller Begeisterung, in irgend einer der heißen Regungen des Menschenherzens konnten sie schwerlich: es barg sich kein Jugendfeuer in ihren dunklen Tiefen. Die Haltung war einfach und angemessen; sie wahrte die volle Ehrfurcht vor dem hochgestellten Manne, aber es lag keine Unterwürfigkeit darin.

„Ich bin nicht gerade sehr befriedigt von dem, was ich hier sehe,“ nahm Nordheim wieder das Wort. „Die Herren lassen sich Zeit mit den Vorarbeiten und ich zweifle, ob wir den Bau im nächsten Jahre beginnen können. Es ist kein Zug, keine Energie in der

Sache; ich fange an zu fürchten, daß wir einen Fehler begangen haben, als wir sie in die Hände dieses Chefingenieurs legten.“

„Er gilt für eine Autorität ersten Ranges,“ warf Elmhorst ein.

„Gewiß, aber jetzt ist er alt geworden, körperlich und geistig, und ein solches Werk fordert das Einsetzen der vollsten Manneskraft; mit dem berühmten Namen ist es nicht allein gethan. Er wird sich sehr auf die Leiter der einzelnen Sektionen verlassen müssen, und die Ihrige ist eine der wichtigsten auf der ganzen Bahnstrecke.“

„Wohl die wichtigste überhaupt. Gerade hier haben wir mit allen möglichen elementaren Hindernissen zu kämpfen; ich fürchte, selbst die genauesten Berechnungen werden nicht immer Stand halten.“

„Das ist auch meine Ansicht; der Posten fordert einen Mann, der selbst mit dem Unvorhergesehenen zu rechnen weiß und nöthigenfalls auf eigene Hand eingreift. Allerdings muß er auch die volle Verantwortlichkeit tragen. Ich habe Sie dazu vorgeschlagen und Ihre Ernennung dem fast allgemeinen Widerspruch gegenüber durchgesetzt; rechtfertigen Sie jetzt mein Vertrauen!“

„Ich werde es rechtfertigen,“ war die fest und bestimmt gegebene Antwort. „Sie sollst sich nicht in mir getäuscht haben, Herr Präsident.“

„Ich täusche mich selten in den Menschen,“ sagte Nordheim mit einem prüfenden Blick in das Gesicht des jungen Mannes, „und den Beweis Ihrer technischen Fähigkeiten haben Sie so bereits geliefert. Ihr Plan, die große Brücke nach diesem System über die Wolkensteiner Schlucht zu führen, ist genial.“

„Herr Präsident –“

„Sie brauchen mein Lob nicht abzulehnen, ich bin sonst karg damit; aber als ehemaliger Ingenieur habe ich ein Urtheil darüber und ich sage Ihnen, der Entwurf ist genial.“

„Und doch fand er lange Zeit nirgend Aufnahme oder auch nur Beachtung,“ sagte Elmhorst mit einem Anfluge von Bitterkeit. „Hätte ich nicht den glücklichen Gedanken gehabt, bei Ihnen einen Vortrag zu erbitten, als ich überall abgewiesen wurde, und Ihnen persönlich meine Pläne vorzulegen, sie wären niemals beachtet worden.“

„Möglich, den armen und unbekannten Talenten wird das Emporkommen meist sehr schwer gemacht; das ist nun einmal nicht anders im Leben. Ich habe in früheren Zeiten auch darunter gelitten, aber schließlich überwindet man das und Sie haben es bereits überwunden mit Ihrer jetzigen Stellung. Ich werde Sie darin zu halten wissen, wenn Sie Ihre Pflicht thun; das Uebrige ist Ihre Sache.“

Er stand auf und gab damit das Zeichen zur Entlassung. Auch Elmhorst erhob sich, aber er zögerte noch einen Augenblick.

„Dürfte ich noch eine Bitte aussprechen?“

„Gewiß, reden Sie nur!“

„Ich hatte vor einigen Wochen in der Stadt die Ehre, Fräulein Alice Nordheim zu sehen und ihr flüchtig genannt zu werden, als sie mit Ihnen in den Wagen stieg. Das gnädige Fräulein ist in Heilborn, wie ich höre, – wäre es mir erlaubt, mich persönlich nach ihrem Befinden zu erkundigen?“

Nordheim stutzte und sah den kecken Bittsteller von oben bis unten an. Er pflegte mit den Beamten nur geschäftlich zu verkehren, galt überhaupt für sehr hochmüthig in der Wahl seines Umganges, und jetzt forderte dieser junge Mann, der bis vor kurzem noch einfacher Ingenieur war, eine Gunst, die nicht mehr und nicht weniger bedeutete, als den Zutritt im Hause des allmächtigen Präsidenten. Das schien diesem denn doch etwas stark zu sein; er runzelte die Stirne und sagte in sehr kaltem Tone:

„Die Bitte ist etwas kühn, Herr – Elmhorst.“

„Ich weiß es, aber mit dem Kühnen ist ja immer das Glück!“

Die Worte hätten einen andern Gönner vielleicht verletzt; hier trat das Gegentheil ein. Der einflußreiche Mann, der Millionär war nur zu sehr mit der Schmeichelei und Kriecherei vertraut und verachtete sie aus dem Grunde seiner Seele. Dies ruhige Selbstbewußtsein, das sich auch ihm gegenüber nicht verleugnete, imponirte ihm; er fühlte darin etwas seiner eigenen Natur Verwandtes. „Mit dem Kühnen ist das Glück!“ Das war sein Grundsatz gewesen, mit dem er sich im Leben emporgeschwungen hatte, und dieser Elmhorst sah auch nicht aus, als ob er auf den unteren Stufen stehen bleiben werde. Die Falte verschwand von Nordheims Stirn; aber seine Augen hefteten sich durchbohrend auf die Züge des jungen Oberingenieurs, als wollten sie darin die geheimsten Gedanken lesen. Endlich, nach einer sekundenlangen Pause, sagte er langsam:

„So werden wir wohl auch diesmal dem Sprichworte sein Recht geben müssen. – Kommen Sie!“

In Elmhorsts Augen blitzte es triumphirend auf; aber er verneigte sich nur dankend und folgte dem Voranschreitenden durch mehrere Zimmer nach der andern Seite des Hauses.

Nordheim bewohnte eine der schönsten und elegantesten Villen in dem vornehmen Badeorte. Sie lag halb versteckt in dem schattigen Grün der Anlagen, hatte aber die volle Aussicht auf das Gebirge und ließ auch in ihrer inneren Einrichtung keine von den Annehmlichkeiten vermissen, welche reiche und verwöhnte Gäste beanspruchen. Im Salon stand nur die Glasthür offen, die auf den Balkon führte; die Jalousien der Fenster waren geschlossen, um das grelle Sonnenlicht abzuhalten, und in dem kühlen, halbdunklen Gemach befanden sich nur zwei Damen.

Die ältere, die ein Buch in der Hand hielt und zu lesen schien, war längst über die Jugend hinaus. Ihr Anzug, von dem Spitzenhäubchen an, das den schon leicht ergrauten Scheitel bedeckte, bis zu dem Saum des dunkeln Seidenkleides, verrieth die peinlichste Sorgfalt, und sie saß so steif, so kühl und vornehm da wie die leibhaftige Etikette. Die jüngere, ein Mädchen von höchstens siebzehn Jahren, ein zartes, blasses. offenbar kränkliches Wesen, saß oder lag vielmehr in einem Armstuhl. Den Kopf stützte ein seidenes Kissen, und die Hände ruhten nachlässig verschlungen auf dem weißen, spitzenbesetzten Morgenkleide. Das Gesicht konnte, wenn nicht schön, doch anmuthig genannt werden; aber es hatte einen müden, apathischen Ausdruck, der es fast leblos erscheinen ließ, zumal jetzt, wo die junge Dame mit halbgeschlossenen Augen zu schlummern schien.

„Herr Wolfgang Elmhorst.“ sagte der Präsident, seinen Begleiter vorstellend. „Ich glaube, er ist Dir nicht mehr ganz fremd, Alice – Frau Baronin Lasberg.“

Alice schlug langsam die Augen auf, ein Paar große braune Augen, die aber genau denselben apathischen Ausdruck hatten wie das Antlitz. Es lag nicht das mindeste Interesse in diesem Blick, und sie schien sich weder des Namens noch der Persönlichkeit zu entsinnen. Frau von Lasberg dagegen sah etwas erstaunt auf bei der Vorstellung. Nur Wolfgang Elmhorst und nichts weiter? Rang- und titellose Herren pflegten sonst nicht im Nordheimschen Hause zu verkehren; aber mit diesem jungen Manne mußte doch wohl irgend etwas Besonderes sein, da der Präsident selbst ihn einführte! Trotzdem wurde seine tiefe Verbeugung mit kalter Gemessenheit erwidert.

„Ich kann unmöglich erwarten, daß Fräulein Nordheim sich noch meiner erinnert,“ sagte Wolfgang nähertretend. „Die Begegnung war eine nur sehr flüchtige; um so dankbarer bin ich dem Herrn Präsidenten für die heutige Vorstellung. Aber ich fürchte – das gnädige Fräulein ist doch nicht leidend?“

„Nur etwas ermüdet noch von der Reise,“ antwortete der Präsident an Stelle seiner Tochter. „Wie geht es Dir heute, Alice?“

„Ich fühle mich sehr angegriffen, Papa,“ erwiderte die junge Dame mit einer sanften, aber völlig ausdruckslosen Stimme.

„Die Sonnengluth in dem engen Thalkessel ist auch unerträglich,“ mischte sich Frau von Lasberg ein. „Diese schwüle Temperatur wirkt immer ungünstig auf Alices Nerven; ich fürchte, sie wird es hier nicht aushalten.“

„Die Aerzte haben sie aber eigens nach Heilborn gesandt; wir müssen wenigstens erst das Resultat abwarten“ sagte Nordheim in einem Tone, der mehr ungeduldig als zärtlich klang. Alice erwiderte keine Silbe und schien überhaupt mit jener kurzen Antwort ihre Sprechlust erschöpft zu haben; sie überließ es dem Vater und Frau von Lasberg, das Gespräch zu führen.

Elmhorst betheiligte sich anfangs nur bescheiden an demselben; aber ganz unmerklich übernahm er die Führung der Unterhaltung, und man mußte es ihm lassen, daß er zu unterhalten verstand. Es waren nicht die gewöhnlichen Redensarten über das Wetter und die nächste Umgebung; er sprach vielmehr von Dingen, die dem Interesse der Damen ziemlich fern zu liegen schienen: von der im Entstehen begriffenen Gebirgsbahn. Er schilderte den mächtig emporragenden Wolkenstein, der das ganze Berggebiet beherrschte, die aufgähnende Schlucht, über welche man die Brücke führen wollte, die stürzenden Bergwasser und dann den eisernen Weg, der durch Felsklüfte und Wälder, über Ströme und Abgründe hinweg geschaffen werden solle. Das waren keine trockenen Beschreibungen, keine technischen Einzelheiten – wie ein farbenprächtiges Bild entrollte er das ganze Riesenwerk in lebendigster Darstellung vor seinen Zuhörerinnen, und es gelang ihm wirklich, sie zu fesseln. Frau von Lasberg wurde um einige Grade weniger kühl und vornehm; sie that sogar einige Fragen, welche ihr Interesse an der Sache verriethen, und Alice verharrte zwar in ihrem Schweigen, hörte aber offenbar zu, und bisweilen streiften ihre Augen mit einem halb verwunderten Ausdruck den Sprechenden.

Der Präsident schien gleichfalls überrascht von dieser Unterhaltungsgabe seines Schützlings, mit dem er bisher nur über amtliche und technische Dinge gesprochen hatte. Er wußte, daß der junge Mann aus sehr einfachen Verhältnissen hervorgegangen war und noch nie in der eigentlichen Gesellschaft verkehrt hatte, und jetzt bewegte sich dieser im Salon und den Damen gegenüber mit einer Ungezwungenheit und Sicherheit, als sei er von frühester Jugend an in solcher Umgebung gewesen. Dabei hatte sein Benehmen durchaus nichts Vordringliches; er wußte genau die Grenzen einzuhalten, die ihm bei diesem ersten Besuche gezogen waren.

Man war noch mitten im Gespräche, als ein Diener erschien und mit etwas verlegener Miene meldete:

„Ein Herr, der sich Baron Thurgau nennt, wünscht –“

„Ja wohl, er wünscht seinen allergnädigsten Herrn Schwager zu sprechen,“ unterbrach ihn eine laute, zornige Stimme, während er zugleich von einem kräftigen Arme bei Seite geschoben wurde. „Donnerwetter, was ist das hier für eine Wirtschaft bei Dir, Nordheim! Ich glaube, man gelangt leichter zum Kaiser von China, als zu Dir. Drei Instanzen haben wir durchmachen müssen, und schließlich wollten uns die betreßten Lümmel noch den Eingang verwehren. Du hast ja einen ganzen Troß davon mitgebracht!“

Alice war erschreckt zusammengefahren beim Klange der dröhnenden Stimme und Frau von Lasberg erhob sich langsam und feierlich, in stummer Entrüstung, während ihr Blick zu fragen schien, was dieser Eindringling denn eigentlich wolle. Auch dem Präsidenten schien diese Art der Anmeldung nicht gerade angenehm zu sein; indessen faßte er sich rasch und ging seinem Schwager entgegen, der in Begleitung seiner Tochter jetzt in den Salon trat.

„Du hast Dich wahrscheinlich erst nachträglich genannt,“ sagte er; „sonst hätte ein solcher Irrthum nicht vorfallen können. Die Dienerschaft kennt Dich ja noch gar nicht.“

„Nun, es wäre auch gerade kein Unglück gewesen, wenn sie einen einfachen ehrlichen Mann zu Dir gelassen hätte,“ grollte Thurgau, noch immer hochroth vor Aerger. „Aber das scheint hier nicht Sitte zu sein; erst als ich mit dem ‚Baron‘ herausrückte, ließ man sich zu der Anmeldung herab.“

Der Irrthum der Dienerschaft konnte allerdings verzeihlich erscheinen; denn der Freiherr war auch heute in der Gebirgstracht, an die er sich seit Jahren gewöhnt hatte, und Erna sah gleichfalls nicht aus wie eine junge Baroneß, obgleich sie sich diesmal nicht in Sturm- und Regentoilette zeigte. Sie trug einen sehr einfachen dunklen Anzug, der mehr auf Bergwanderungen als auf Besuche berechnet war, und ein ebenso einfaches Strohhütchen auf den Locken, die heute allerdings durch ein seidenes Netz gebändigt wurden, aber sich offenbar nur sehr ungern diesem Zwange fügten. Sie schien die anfängliche Abweisung noch tiefer zu empfinden als ihr Vater, denn sie stand finster, mit trotzig aufgeworfenen Lippen neben ihm und blickte fast feindselig auf die Anwesenden. Hinter den beiden aber wurde der unvermeidliche Greif sichtbar, der den Versuch des Dieners, ihn von dem Salon auszuschließen, mit einem grimmigen Zähnefletschen beantwortet hatte und nun seinen Platz behauptete in der unerschütterlichen Ueberzeugung, daß er dahin gehöre, wo seine Herrschaft weilte.

Der Präsident suchte die Sache möglichst auszugleichen, aber Thurgau, dessen Zorn ebenso schnell verrauchte, als er aufgeflammt war, ließ ihn nicht zu Worte kommen.

„Da ist ja auch Alice!“ rief er. „Grüß Gott, Kind! Sieht man Dich auch einmal wieder? Aber wie siehst Du denn aus? Hast ja keinen Blutstropfen im Gesicht, Mädel! Du bist ja ein richtiges Jammerwesen!“

Mit diesen schmeichelhaften Worten schritt er auf die junge Dame zu, um sie seiner Meinung nach zärtlich in die Arme zu drücken; aber da trat Frau von Lasberg mit einem im schärfsten Tone ausgesprochenen. „Ich bitte!“ so entschieden zwischen ihn und Alice, als müsse sie diese vor einem Attentate schützen.

„Nun, nun, ich thue meiner Nichte kein Leid,“ sagte Thurgau ärgerlich. „Sie brauchen sie nicht so ängstlich vor mir zu hüten wie das Lamm vor dem Wolfe. Mit wem habe ich denn eigentlich die Ehre?“

„Ich bin die Baronin Lasberg!“ erklärte diese, den Titel mit vollem Nachdruck betonend; ihre ganze Haltung sprach eine eisige Abwehr aus, aber das verfing hier nicht. Der Freiherr faßte gemüthlich eine der abwehrend ausgestreckten Hände und schüttelte sie, daß der Dame Hören und Sehen verging.

„Freut mich, meine Gnädige, freut mich außerordentlich! Ich bin ja wohl bereits angemeldet, und das da ist meine Tochter. Nun, Erna, was stehst Du denn so fremd da, willst Du Alice nicht begrüßen?“

Erna kam langsam näher; der finstere Ausdruck lag noch auf ihrem Gesichte; aber er verschwand völlig, als sie auf ihre junge Verwandte blickte, die so matt und bleich in den Kissen ruhte; sie schlang plötzlich in ihrer gewohnten stürmischen Weise beide Arme um den Hals derselben und rief:

„Arme Alice, es thut mir so leid, daß Du krank bist!“

Alice nahm die Umarmung hin, ohne sie zu erwidern; als aber das blühende, rosige Antlitz sich an ihre farblose Wange schmiegte, als zwei frische Lippen sich auf die ihrigen drückten und der warme, innige Ton an ihr Ohr schlug, da flog etwas wie ein Lächeln über die apathischen Züge und sie erwiderte leise:

„Ich bin nicht krank, nur müde.“

„Bitte, Baroneß, nicht so stürmisch,“ sagte Frau von Lasberg kalt. „ Alice muß sehr geschont werden; sie hat äußerst empfindliche Nerven.“

„Was hat sie? Nerven?“ fragte Thurgau. „Das ist auch so eine Angewohnheit der Stadtleute! Bei uns auf dem Wolkensteiner Hofe kennt man solches Zeug gar nicht. Sie sollten einmal mit Alice zu uns heraufkommen, gnädige Frau; ich gebe Ihnen mein Wort darauf, in drei Wochen haben Sie beide keinen einzigen Nerven mehr.“

„Das glaube ich selbst,“ entgegnete die Dame mit einem empörten Blick.

„Komm, Thurgau, laß die jungen Mädchen Bekanntschaft machen, sie haben sich ja seit Jahren nicht gesehen,“ sagte Nordheim, der an die Derbheiten seines Schwagers zwar längst gewöhnt war, in dieser Umgebung aber doch peinlich dadurch berührt wurde. Er wies nach dem Nebenzimmer, aber jetzt trat Elmhorst hervor, der sich während der Familienscene rücksichtsvoll in eine der Fensternischen zurückgezogen hatte. Er griff nach seinem Hute, um sich zu verabschieden, bei welcher Gelegenheit der Präsident ihn natürlich seinen Verwandten vorstellte.

Thurgau erinnerte sich sofort des Namens, den die Kollegen des jungen Oberingenieurs ihm in einer allerdings nicht empfehlenden Weise genannt hatten. Er musterte den „Streber“ vom Kopf bis zu den Füßen, und die gewinnende Erscheinung desselben schien ihn nur in seinem Mißtrauen zu bestärken. Erna hatte sich gleichgültig umgewandt; auf einmal aber stutzte sie und trat einen Schritt zurück.

„Es ist nicht das erste Mal, daß ich die Ehre habe, Baroneß Thurgau zu sehen,“ sagte Elmhorst, sich ihr mit voller Artigkeit nähernd. „Das gnädige Fräulein hatte die Güte, meine Führerin zu sein, als ich mich an den Abhängen des Wolkenstein verirrte – ihren Namen freilich erfahre ich erst heute.“

„So, das war also der Fremde, mit dem Du zusammengetroffen bist?“ brummte Thurgau, der von dieser Begegnung nicht sehr erbaut zu sein schien.

„Die Baroneß war doch hoffentlich nicht allein?“ fragte Frau von Lasberg in einem Tone, der ihr ganzes Entsetzen über eine solche Möglichkeit verrieth.

„Natürlich war ich allein!“ rief Erna, welcher der scharfe Tadel in den Worten nicht entging, mit aufflammendem Trotze. „Ich gehe immer allein in die Berge, nur den Greif nehme ich mit mir. Ruhig, Greif! Leg’ Dich!“

Elmhorst hatte den Versuch gemacht, das schöne Thier zu streicheln, wurde jedoch von ihm mit einem zornigen Knurren abgewehrt. Auf den Ruf seiner jungen Herrin aber schwieg es sofort und legte sich gehorsam zu ihren Füßen nieder.

„Der Hund ist doch nicht böse?“ fragte Nordheim mit einem sehr deutlich kundgegebenen Mißvergnügen, „sonst müßte ich wirklich bitten –“

„Greif ist gut!“ fiel Erna beinahe heftig ein „Er thut keinem Menschen etwas zuleide und läßt sich gern von Fremden streicheln, aber den Herrn hier mag er nun einmal nicht, und –“

„Baroneß – ich bitte Sie!“ murmelte Frau von Lasberg, die nur mit Mühe noch ihre gemessene Haltung bewahrte; Elmhorst dagegen nahm die Worte mit einer tiefen Verbeugung und einem überlegenen spöttischen Lächeln hin.

„Ich bedaure unendlich, bei Herrn Greif und, wie ich fürchte, auch bei seiner Herrin in Ungnade gefallen zu sein,“ versicherte er, „aber ich bin wirklich schuldlos daran. Darf ich mich jetzt den Damen empfehlen?“

Er trat zu Alice, neben der sich Frau von Lasberg wie ein Posten aufgestellt hatte, als müsse sie ihre Schutzbefohlene vor jeder ferneren Berührung mit dieser wilden Gesellschaft behüten, die so urplötzlich in den Salon eingebrochen war und die man leider nicht hinausweisen konnte, weil es sich, ganz abgesehen von der Verwandtschaft, um einen geborenen Baron handelte.

Dagegen benahm sich der junge Mann mit dem einfach bürgerlichen Namen wirklich wie ein Kavalier. Weich und sympathisch klang seine Stimme, als er die Hoffnung aussprach, Fräulein Nordheim werde sich in der stärkenden Luft von Heilborn völlig erholen; ritterlich küßte er die Hand der älteren Dame, die ihm gnädig gereicht wurde; dann wandte er sich an den Präsidenten, um sich auch von ihm zu verabschieden, als ein ganz unerwarteter Zwischenfall eintrat.

Draußen auf dem Balkon der, wie die Wohnung überhaupt, im Erdgeschoß lag und rings mit blühenden Gewächsen umstellt war, erschien ein Kätzchen, das wahrscheinlich vom Garten aus den Weg hierher gefunden hatte. Es näherte sich mit harmloser Neugier der offenen Glasthür und kam dabei unglücklicherweise in den Gesichtskreis Greifs. Dieser, der mit dem gesammten Katzengeschlechte in Erbfeindschaft lebte , fuhr mit wüthendem Gebell auf, riß Frau von Lasberg beinahe um und schoß dann, an der tödlich erschreckenden Alice vorüber, aus den Balkon hinaus, wo nun eine wilde Jagd begann. Das geängstigte kleine Thier fuhr blitzschnell hin und her, ohne einen Ausweg zu finden, der Verfolger ihm nach; die Scheiben der Glasthür klirrten, die Blumentöpfe fielen um und zerbrachen und dazwischen tönte der gellende Pfiff des Freiherrn und der Ruf Ernas. Aber der noch sehr junge und ungebärdige Hund war einmal in Jagdeifer gerathen und gehorchte keinem Rufe mehr – es war ein Höllenlärm.

Endlich gelang es dem Kätzchen, die Brüstung des Balkons zu erreichen und von dort in den Garten hinabzuspringen. Aber Greif ließ seine Beute nicht fahren, er schoß ihr mit mächtigem Satze nach, wobei die letzten der noch unversehrten Blumentöpfe krachend in Trümmer gingen, und gleich darauf hörte man unten im Garten sein wüthendes Gekläff, zugleich mit dem lauten Angstgeschrei einer Kinderstimme.

Das alles geschah in kaum zwei Minuten, und als Thurgau auf den Balkon eilte, um Frieden zu stiften, war es bereits zu spät. Inzwischen herrschte drinnen im Salon eine unbeschreibliche Verwirrung. Alice lag in einem Nervenanfall mit geschlossenen Augen da, Frau von Lasberg hielt sie in den Armen; Elmhorst hatte sich, rasch entschlossen, eines Flakons bemächtigt, das er auf dem Nebentischchen erblickte, und netzte der Ohnmächtigen mit dem kölnischen Wasser Stirn und Schläfe, während der Präsident mit tiefverfinstertem Gesicht nach der Klingel griff, um die Dienerschaft herbeizurufen. Inmitten all dieser Hilfeleistungen aber hatten die drei einen Anblick, der sie sämmtlich innehalten ließ. Die junge Baroneß, das Freifräulein von Thurgau, stand urplötzlich oben auf der Brüstung des Balkons, aber nur für einen Moment, dann sprang sie als dritte in den Garten hinab.

Das war zu viel! Frau von Lasberg ließ Alice aus den Armen und sank selbst auf den nächsten Stuhl; Elmhorst sah sich genöthigt, auch ihr mit dem kölnischen Wasser zu Hilfe zu kommen, das er nun abwechselnd nach rechts und links spendete.

Unten im Garten schien Ernas Dazwischenkunft allerdings nothwendig. Das Kind, dessen Angstrufe sie zu dem Sprunge veranlaßt hatten, ein kleiner Bube, hielt mit beiden Armen sein Kätzchen umfaßt, das sich in seiner Noth zu ihm geflüchtet hatte, und vor ihm stand der riesige Greif, drohend und bellend, aber ohne den Kleinen anzugreifen. Dieser war augenscheinlich in Todesangst und fuhr in seinem lauten Jammergeschrei fort, bis Erna herbeeilte und den Hund am Halsband packte.

Baron Thurgau stand inzwischen ganz ruhig auf dem Balkon und sah dem Verlauf der Dinge zu. Er wußte, daß dem Kinde kein Leid geschah, denn Greif war in der That nicht bösartig. Als Erna aber mit dem sehr kleinlaut gewordenen Missethäter in das Haus zurückkehrte, während Bübchen und Kätzchen unversehrt davonsprangen , wandte sich der Freiherr triumphirend um und rief mit seiner Donnerstimme in den Salon hinein:

„Habe ich Dir nicht gesagt, Nordheim, meine Erna ist ein Prachtmädel!“

* *
*

Präsident Nordheim gehörte zu jenen Männern, die all ihre Erfolge nur sich selbst verdanken. Der Sohn eines untergeordneten Beamten und von Hause aus ganz mittellos, hatte er sich zum Ingenieur ausgebildet und in den engsten und einfachsten Verhältnissen gelebt, bis er auf einmal mit einer technischen Erfindung hervortrat, welche die Aufmerksamkeit des ganzen Berufskreises auf ihn lenkte. Man nahm gerade damals den Bau der ersten Gebirgsbahnen in Angriff, und der junge, noch gänzlich unbekannte Ingenieur reichte den Entwurf zu einer neuen Lokomotive ein, welche die Bahnzüge auf die Höhen befördern sollte. Es war ein Plan, der, ebenso sinnreich wie praktisch, den Sieg über all die andern Vorschläge davontrug und von der Gesellschaft angenommen wurde. Sie erwarb schließlich das Patent von dem Erfinder und zahlte dafür ein Kapital, das in seinen damaligen Verhältnissen als ein Vermögen gelten konnte, jedenfalls legte es den Grund zu seinem künftigen Reichthum; denn er trat damit selbst in die Reihen der Unternehmer ein.

Wider Erwarten verfolgte Nordheim die Laufbahn, in der er doch einen so glänzenden Erfolg errungen hatte, nicht weiter; er schien merkwürdigerweise das Interesse daran verloren zu haben und wandte sich einem anderen, allerdings verwandten Gebiete zu. Er übernahm die Bildung und die finanzielle Leitung einer großen Baugesellschaft, die er in wenigen Jahren zu einer ungeahnten Blüthe brachte, während sein eigenes Vermögen sich dabei verzehnfachte.

Dem einen Unternehmen folgten bald andere; mit den großartigen Mitteln, die er jetzt verwenden konnte, wuchs auch die Großartigkeit seiner Pläne, und es zeigte sich in der That, daß er hier erst das eigentliche Feld für seine Begabung gefunden hatte. Er war kein Mann des Sinnens und Grübelns, der jahrelang über irgend einem technischen Entwurfe brüten konnte; er mußte mitten hineingreifen in das Leben, mußte wagen und schaffen, im engsten Anschluß daran sich alle möglichen Interessen dienstbar machen und sein mächtiges Organisationstalent nach allen Richtungen hin entfalten.

Der rastlos tätige Mann wußte immer die rechten Menschen auszuwählen und sie an den rechten Ort zu stellen; er überwand jedes Hinderniß, erschloß sich überall neue Hilfsquellen, und seiner Energie kam bald auch das Glück zu Hilfe. Die Unternehmungen, an deren Spitze Nordheim stand, waren immer erfolgreich, und während er selbst dabei zum Millionär wurde, wuchs sein Einfluß in all den Kreisen, zu denen er in Beziehung stand, ins Ungemessene.

Dem Präsidenten war vor einigen Jahren seine Gattin gestorben, ein Verlust, den er nicht tief empfand, denn es war keine besonders glückliche Ehe gewesen. Er hatte sich noch als einfacher Ingenieur verheiratet und die stille, anspruchslose Frau verstand es nicht, sich in den wachsenden Glanz des Hauses zu finden und die große Dame zu spielen, wie ihr Gemahl es verlangte. Dazu kam, daß der Sohn, den sie ihm schenkte und in dem er sich auch einen geistigen Erben zu erziehen dachte, schon im Kindesalter starb. Erst einige Jahre später wurde ihm Alice geboren, das schwächliche kränkliche Kind, für dessen Leben man fortwährend bangen mußte und dessen apathisches Wesen der energischen Natur des Vaters durchaus widerstrebte. Sie war seine einzige Tochter, seine dereinstige Erbin und wurde als solche mit allem umgeben, was der Reichthum zu bieten vermag; aber eine andere Bedeutung hatte sie kaum für ihn, und er war froh, als er ihre Pflege und Erziehung in die Hände der Baronin Lasberg legen konnte.

Die einzige Schwester Nordheims, die in seinem Hause lebte, hatte dem damaligen Hauptmann von Thurgau die Hand gereicht. Ihrem Bruder, der zu jener Zeit seine ersten Erfolge errungen hatte und schon für einen reichen Mann galt, wäre ein anderer Bewerber wohl willkommener gewesen als der letzte Sproß eines verarmten adligen Hauses, der nichts besaß als seinen Degen und ein kleines Gütchen hoch oben in den Bergen; aber da die beiden sich von ganzem Herzen liebten und gegen die Persönlichkeit des Freiers nichts einzuwenden war, so ließ sich die Zustimmung nicht verweigern.

Das Ehepaar lebte zwar in bescheidenen Verhältnissen, aber auch in einem Familienglück, das dem reichen Nordheimschen Hause fehlte, und das einzige Kind, die kleine Erna, wuchs im vollen Sonnenschein dieser Liebe und dieses Glückes empor. Leider verlor Thurgau seine Frau schon nach sechsjähriger Ehe, und ihn, den Gemüthsmenschen, warf der unerwartete Schlag so vollständig nieder, daß er nun auch nichts mehr von der Welt wissen wollte, sondern seinen Abschied zu nehmen beschloß. Nordheim, der in seinem rastlosen Ehrgeiz und Thatendrang einen solchen Entschluß überhaupt nicht begriff, bekämpfte ihn aufs heftigste, aber vergebens; sein Schwager hielt mit der ganzen Hartnäckigkeit seines Charakters daran fest. Er quittirte wirklich den Dienst, in dem er bis zum Major vorgerückt war, nahm sein Kind und zog sich mit ihm nach dem Wolkensteiner Hofe zurück, dessen geringe Einkünfte, im Verein mit der Pension, für seine einfachen Bedürfnisse genügten.

Seitdem war eine gewisse Entfremdung zwischen den beiden Schwägern eingetreten; der vermittelnde Einfluß der Gattin und Schwester fehlte und dazu kam noch die räumliche Entfernung. Sie sahen sich immer seltener und schrieben sich auch nur selten, bis der Bau der Gebirgsbahn und die Nothwendigkeit, Thurgaus Besitzung dafür zu erwerben, wieder eine persönliche Annäherung veranlaßte…

Seit jenem Besuche in Heilborn mochte etwa eine Woche vergangen sein, als Doktor Reinsfeld wieder den Weg nach dem Wolkensteiner Hofe einschlug; er war aber diesmal nicht allein, denn an seiner Seite ging Oberingenieur Elmhorst.

„Das hätte ich mir nicht träumen lassen, Wolfgang, daß das Schicksal uns hier zusammenführen würde,“ sagte der junge Arzt heiter. „Als wir uns vor zwei Jahren trennten, hast Du mich verspottet, weil ich in die ,Wildniß‘ ging, wie Du Dich auszudrücken beliebtest, und jetzt kommst Du selbst hierher.“

„Um dieser Wildniß die Kultur zu bringen,“ ergänzte Wolfgang. „Du scheinst Dich freilich darin ganz behaglich zu fühlen; Du hast Dich ja förmlich angesiedelt in dem elenden Alpendorfe, wo ich Dich aufspürte, Benno. Ich arbeite hier nur für meine Zukunft.“

„Nun ich dächte, Du könntest schon mit der Gegenwart zufrieden sein,“ meinte Benno. „Mit siebenundzwanzig Jahren Oberingenieur – das macht Dir so leicht keiner nach! Im Vertrauen gesagt, Deine Herren Kollegen sind wüthend über diese Ernennung. Nimm Dich in Acht, Wolf, Du geräthst in ein Wespennest!“

„Glaubst Du, daß ich Wespenstiche fürchte? Gespürt habe ich sie allerdings schon. Ich habe den Herren bereits klar gemacht, daß ich nicht gesonnen bin, mir unnöthige Schwierigkeiten bereiten zu lassen, und daß sie in mir den Vorgesetzten zu respektiren haben. Wenn sie den Krieg wollen – ich scheue ihn nicht!“

„Ja, Du warst immer eine kampflustige Natur, ich hielte es nicht aus, mit meiner Umgebung fortwährend auf dem Kriegsfuße zu leben.“

„Das glaube ich; Du bist der alte friedfertige Benno geblieben, der keinem ein böses Wort sagen konnte und deshalb auch ganz folgerichtig von seinen lieben Nebenmenschen malträtirt wurde bei jeder Gelegenheit. Wie oft habe ich es Dir schon gesagt: damit kommst Du nicht vorwärts im Leben, und vorwärts muß man doch nun einmal!“

„Bei Dir geht es freilich mit Siebenmeilenstiefeln vorwärts,“ sagte Reinsfeld trocken. „Du bist ja der erklärte Günstling des allmächtigen Präsidenten Nordheim, wie es heißt. Ich habe ihn kürzlich wiedergesehen, als er auf dem Wolkensteiner Hofe war.“

„Wiedergesehen? Kennst Du ihn denn überhaupt?“

„Gewiß, aus meinen Knabenjahren. Er und mein Vater waren Jugendfreunde und Studiengenossen; Nordheim kam damals fast täglich in unser Haus – wie oft habe ich auf seinen Knieen gesessen, wenn er den Abend bei uns zubrachte!“

„In der That? Nun, Du hast ihn doch hoffentlich daran erinnert bei dem Zusammentreffen?“

„Nein, Baron Thurgau nannte überhaupt meinen Namen nicht –“

„Und da hast Du es natürlich auch nicht gethan!“ rief Wolfgang lachend. „Das sieht Dir ähnlich! Der Zufall bringt Dich in Beziehung zu dem einflußreichen Manne, dem es nur ein Wort kostet, Dir irgend eine vortheilhafte Stellung zu eröffnen, und Du nennst Dich nicht einmal! Da werde ich das Versäumte wohl nachholen müssen, sobald ich den Präsidenten sehe, werde ich ihm sagen –“

„Ich bitte Dich, Wolf, laß das,“ fiel Benno hastig ein. „Es ist besser, Du redest nicht davon.“

„Aber warum denn nicht?“

„Weil – der Mann ist so hoch gestiegen im Leben; er liebt es vielleicht nicht, an die Zeit erinnert zu werden, wo er noch einfacher Ingenieur war.“

„Da thust Du ihm unrecht. Er ist stolz auf seine einfache Herkunft, wie alle tüchtigen Männer, und er wird die Erinnerung an einen Jugendfreund nicht zurückweisen.“

Reinsfeld schüttelte leise den Kopf.

„Ich fürchte, die Erinnerung würde eine peinliche sein. Es ist später irgend etwas vorgefallen – was? das habe ich nie erfahren; ich war ja noch ein Knabe, aber ich weiß, daß der Bruch ein vollständiger war. Nordheim betrat unser Haus nicht wieder und mein Vater vermied es sogar, seinen Namen zu nennen; sie hatten sich völlig entzweit.“

„Dann kannst Du allerdings nicht auf sein Wohlwollen rechnen,“ sagte Elmhorst enttäuscht. „Wie ich den Präsidenten kenne, vergiebt er nie eine vermeinte Beleidigung.“

„Ja, er soll unglaublich hochmüthig und herrschsüchtig geworden sein. Mich wundert es nur, daß Du mit ihm auskommst. Du liebst es doch grade nicht, Dich zu bücken.“

„Und eben deshalb begünstigt er mich! Das Bücken und Kriechen überlasse ich den Bedientenseelen, die sich vielleicht irgend eine untergeordnete Stellung damit erschleichen. Wer wirklich empor will, der muß den Kopf hoch tragen und den Blick aufwärts gerichtet nach seinem Ziele; sonst bleibt er ewig am Boden kleben“

„Nun, Du wirst Dir wohl auch einige Millionen zum Ziele genommen haben,“ spottete Benno. „Du warst nie bescheiden in Deinen Zukunftsplänen. Was willst Du denn eigentlich werden? Etwa auch Präsident des Verwaltungsrathes?“

„Vielleicht in Zukunft – vorläufig nur sein Schwiegersohn!“

„Dachte ich es mir doch, daß so etwas zum Vorschein kommen würde!“ rief Benno, laut auflachend. „Eigentlich hast Du ganz recht, Wolf: warum willst Du Dir nicht lieber gleich die Sonne da oben herunterholen? – Das ist ebenso leicht.“

„Glaubst Du, daß ich scherze?“ fragte Wolfgang kühl.

„Ja, ich bin so frei, das zu glauben, denn im Ernste denkst Du doch wohl nicht an die Tochter des Mannes, dessen Reichthum und Erfolge beinahe sprichwörtlich geworden sind. Nordheims Erbin wird wohl unter so und so viel Freiherren und Grafen zu wählen haben, wenn sie nicht gleichfalls einen Millionär vorzieht.“

„Dann kommt es eben darauf an, diesen Freiherren und Grafen den Rang abzulaufen“ sagte der junge Oberingenieur mit vollkommener Ruhe, „und das denke ich zu thun.“

Doktor Reinsfeld blieb plötzlich stehen und sah seinen Freund mit einer gewissen Besorgniß an, er machte sogar eine Bewegung, als wolle er nach dessen Puls greifen.

„Dann bist Du entweder übergeschnappt oder verliebt,“ entgegnete er kurz und bündig. „Ein Verliebter freilich hält alles für möglich, und Dir scheint der Besuch in Heilborn verhängnißvoll geworden zu sein. Armer Junge, das ist allerdings eine traurige Geschichte!“

„Verliebt?“ wiederholte Wolfgang, während ein unendlich spöttisches Lächeln um seine Lippen zuckte. „Nein, Benno, Du weißt, ich habe nie Zeit und Lust gehabt, mich mit Liebesgedanken abzugeben und jetzt weniger als je. – So sieh mich doch nicht so entsetzt an, als ob das ein Hochverrath wäre! Ich gebe Dir mein Wort darauf, Alice Nordheim würde es nicht bereuen, wenn sie mir die Hand reichte; sie würde an mir den aufmerksamsten und rücksichtsvollsten Gatten haben.“

„Nun, dann nimm es mir nicht übel, wenn ich diese ganze Berechnung erbärmlich finde,“ brach der junge Arzt heftig aus. „Du bist jung und talentvoll; Du hast eine Stellung errungen, um die Dich Hunderte beneiden, die Dich aller Sorgen enthebt; die ganze Zukunft steht Dir offen und Du hast nichts im Kopfe, als die Jagd nach einer reichen Frau – Du solltest Dich schämen, Wolf!“

„Lieber Benno, das verstehst Du nicht,“ erklärte Wolfgang, der den Vorwurf sehr gelassen hinnahm. „Ihr Idealisten begreift es ja überhaupt nicht, daß man mit dem Leben und den Menschen rechnen muß. Du wirst natürlich aus Liebe heirathen, wirst in irgend einem kleinen Landstädtchen mühselig das Brot für Frau und Kinder erwerben, vielleicht mit Sorge und Noth ringen und endlich klanglos in die Grube fahren, mit dem erhebenden Bewußtsein, daß Du Deinem ,Ideal‘ treu geblieben bist. Ich bin nun einmal anders geartet; ich will alles vom Leben oder nichts.“

„Nun, dann in des Kuckucks Namen erobere es Dir durch eigene Kraft!“ rief Benno, der immer hitziger wurde. „Dein großes Vorbild, Präsident Nordheim, hat es auch gethan.“

„Gewiß, aber er hat mehr als zwanzig Jahre dazu gebraucht. Wir steigen auch hier auf der Bergstraße langsam und mühselig zur Höhe, im Schweiße unseres Angesichts. Sieh Dir den geflügelten Burschen da an!“ er wies auf einen mächtigen Raubvogel, der über der Schlucht seine Kreise zog. „Den tragen seine Schwingen in wenigen Minuten bis zum Gipfel des Wolkenstein. Ja es muß schön sein, dort oben zu stehen, die ganze Welt zu seinen Füßen zu sehen und der Sonne nahe zu sein! Ich will nicht damit warten, bis ich alt und grau geworden bin; jetzt will ich empor und, verlaß Dich darauf: ich wage den Flug, früher oder später.“

Er hatte sich hoch aufgerichtet; die dunklen Augen blitzten, und die schönen Züge spannten sich in energischer Willenskraft. Man glaubte es dem Manne, daß er fähig war, einen Flug zu unternehmen, von dem andere nicht einmal zu träumen wagten.

Da rauschte es in dem Lärchenwalde, der zur Seite der Straße anstieg. In großen Sätzen kam Greif von der Höhe herab und begrüßte den jungen Arzt, von dem er wedelnd die gewohnte Liebkosung forderte. Jetzt wurde oben zwischen den Bäumen auch seine junge Herrin sichtbar, die den gleichen Weg nahm. Das ging im vollen Lauf über Steine und Baumwurzeln, mitten durch das Gestrüpp, bis sie endlich mit glühenden Wangen unten anlangte.

Frau von Lasberg würde trotzdem eine gewisse Genugthuung empfunden haben, wenn sie gesehen hätte, wie die Verbeugung des Herrn Oberingenieurs erwidert wurde, kühl und fremd, ganz wie es einer Baroneß Thurgau zukam, und dabei streifte ein halb verächtlicher Blick die elegante Erscheinung des jungen Mannes.

Elmhorst trug heute einen leichten, bequemen Anzug, der sich einigermaßen der Gebirgstracht näherte und dem seines Freundes sehr ähnlich war, aber ihm stand das ausgezeichnet; er sah darin aus wie ein vornehmer Tourist, der in Begleitung seines Führers einen Ausflug macht. Doktor Reinsfeld mit seiner nachlässigen Haltung verlor allerdings sehr neben dieser schlanken, hochgewachsenen Gestalt; seine graue Joppe und sein Hut hatten inzwischen noch einen Regenguß mehr ausgehalten, was sie nicht grade verschönte; aber ihn schien das wenig zu kümmern. Seine Augen leuchteten in heller Freude, als er das junge Mädchen erblickte, das sich ihm mit gewohnter Zutraulichkeit näherte.

„Sie wollen zu uns, Herr Doktor, nicht wahr?“ fragte sie.

„Gewiß, Fräulein Erna,“ bestätigte er. „Es ist doch alles wohl daheim?“

„Papa war heute morgen gar nicht wohl,“ sagte Erna; „trotzdem ist er auf die Jagd gegangen. Ich wollte ihm mit Greif entgegen, aber wir haben ihn nicht getroffen, er muß einen anderen Rückweg genommen haben.“

Sie schloß sich den beiden Herren an, die jetzt die Bergstraße verließen und den ziemlich steilen Weg nach dem Wolkensteiner Hofe einschlugen. Greif schien jedoch mit der Anwesenheit des jungen Oberingenieurs durchaus nicht einverstanden zu sein; er begrüßte ihn mit dem üblichen Knurren und wies ihm freundschaftlich die Zähne.

„Was hat denn Greif?“ fragte Reinsfeld verwundert. „Er ist doch sonst gutmüthig und zutraulich gegen alle Welt.“

„Ich scheine aber in seine allgemeine Menschenliebe nicht eingeschlossen zu sein,“ sagte Elmhorst achselzuckend. „Er hat mir schon verschiedene Male eine derartige Kriegserklärung gemacht, und seine Gutmüthigkeit scheint auch nicht überall Stand zu halten; in Heilborn veranlaßte er einen wahren Aufruhr im Salon des Herrn Präsidenten. Fräulein von Thurgau unternahm eine förmliche Heldenthat, um ein kleines Kind zu beruhigen, das er in Todesangst gejagt hatte.“

„Und Herr Elmhorst gab sich inzwischen mit den ohnmächtigen Damen ab,“ spottete Erna. „Ich sah es noch, als ich zurückkam, wie ritterlich er von Alice zu Frau von Lasberg lief und wahre Fluthen von kölnischem Wasser über beide ausgoß. O, es war zum Todtlachen!“

Sie lachte laut und übermütig. Wolfgang preßte einen Moment die Lippen zusammen und warf einen sehr gereizten Blick aus das junge Mädchen, dann aber erwiderte er mit voller Artigkeit:

„Sie nahmen die Heldenrolle so entschieden für sich selbst in Anspruch, mein gnädiges Fräulein, daß mir nur dieser bescheidene Ritterdienst übrig blieb. Daß ich nicht grade furchtsam bin, haben Sie wohl kürzlich am Wolkenstein gesehen, wenn ich auch bei meiner völligen Unbekanntschaft mit Weg und Steg den Gipfel nicht erreichte.“

„Den erreichst Du überhaupt nicht,“ mischte sich Reinsfeld ein. „Der Gipfel ist unersteiglich; selbst die kühnsten Bergfahrer machen Halt vor diesen senkrechten Wänden und mehr als einer hat den tollkühnen Versuch mit dem Leben bezahlen müssen.“

„Hütet die Alpenfee ihren Thron so eifersüchtig?“ fragte Elmhorst lachend. „Es scheint überhaupt eine sehr energische Dame zu sein, die mit den Lawinen um sich wirft wie mit Schneebällen und ganz wie die heidnischen Gottheiten sich jährlich so und so viele Menschenopfer schlachten läßt.“

Er blickte nach dem Wolkenstein hinauf, der auch heute seinem Namen Rechnung trug: während all die anderen Berge sich in voller Klarheit zeigten, war seine Spitze allein von weißem Gewölk umlagert.

„Du solltest nicht darüber spotten, Wolfgang,“ sagte der junge Arzt halb unwillig. „Du hast noch keinen Herbst und Winter hier durchlebt und kennst sie noch nicht, unsere wilde Alpenfee, die furchtbare Elementargewalt der Alpen, die nur zu oft das Leben und die Hütten der armen Gebirgsleute bedroht. Man fürchtet sie nicht umsonst hier in ihrem Reiche, aber Du scheinst ja schon ganz vertraut zu sein mit der Sage.“

„Fräulein von Thurgau hatte die Güte, meine Bekanntschaft mit der gestrengen Dame zu vermitteln,“ sagte Wolfgang. „Freilich empfing sie uns sehr ungnädig an der Schwelle ihres Bergpalastes – mit einem Hochgewitter, und einer persönlichen Vorstellung bin ich überhaupt nicht gewürdigt worden.“

„Hüten Sie sich nur davor, das möchte Ihnen theuer zu stehen kommen!“ rief Erna, gereizt durch den Spott. Elmhorst lächelte, mit einer Ueberlegenheit, die allerdings etwas Verletzendes hatte.

„Mein gnädiges Fräulein, von mir dürfen Sie keinen Respekt vor den Berggeistern verlangen; ich bin ja eigens gekommen, um den Kampf mit ihnen zu unternehmen. Die Arbeiten des neunzehnten Jahrhunderts vertragen sich nicht mit der Gespensterfurcht. – Bitte, sehen Sie nicht so empört aus. Unsere Bahnzüge gehen ja nicht über den Wolkenstein und Ihre Alpenfee bleibt vorläufig unangefochten auf dem Thron sitzen. Allerdings muß sie es von dort mit ansehen, wie wir Besitz von ihrem Reiche nehmen und es in unsere Fesseln schlagen. – Aber ich beabsichtige nicht entfernt, Ihnen Ihren ‚kindlichen‘ Glauben zu nehmen. In Ihrem Alter ist das noch vollkommen begreiflich.“

Er hätte seine jugendliche Gegnerin nicht schlimmer reizen können, als durch diese Worte, die sie so vollständig zu den Kindern wiesen; es war das die schwerste Beleidigung, die man einem sechzehnjährigen Fräulein anthun konnte, und sie that auch ihre Wirkung. Erna fuhr auf, so zornig und leidenschaftlich, als habe man gedroht, sie selbst in Fesseln zu schlagen; ihre Augen sprühten, und während der kleine Fuß heftig den Boden stampfte, brach sie im vollen Kindertrotze aus:

„Nun, so wollte ich, die Alpenfee käme einmal im Sturme hernieder vom Wolkenstein und zeigte Ihnen ihr Antlitz – Sie verlangten sicher nicht zum zweiten Male danach!“

Damit wandte sie ihm den Rücken und flog, ohne sich weiter um ihn und Reinsfeld zu kümmern, über die Matte hin, Greif ihr nach. Schon nach wenigen Minuten verschwand die schlanke Gestalt mit den heut wieder fessellos wehenden Locken in der Thür des Hauses. Wolfgang blieb stehen und sah ihr nach; das spöttische Lächeln weilte noch auf seinen Lippen, aber seine Stimme hatte einen scharfen Klang.

„Was denkt sich Baron Thurgau eigentlich dabei, wenn er seine Tochter so aufwachsen läßt? Sie ist ja unmöglich für civilisirte Verhältnisse, sie paßt höchstens für diese Bergwildniß.“

„Ja, wild und frei ist sie aufgewachsen, wie eine Alpenrose!“ sagte Benno, dessen Augen ebenfalls an der Thür hingen. Elmhorst wandte sich bei diesen Worten plötzlich um und sah den Freund forschend an.

„Du wirst ja förmlich poetisch! Hast Du vielleicht Feuer gefangen?“

„Ich?“ fragte Benno überrascht, fast bestürzt. „Was fällt Dir ein!“

„Nun, ich meinte nur, weil Du in Bildern sprichst; das ist doch sonst nicht Deine Art. Vorläufig ist Deine ‚Alpenrose‘ noch ein sehr eigensinniges und ungezogenes Kind, Du wirst sie erst erziehen müssen.“

Es lag nicht etwa eine harmlose Neckerei in den Worten; sie hatten einen höhnischen, herben Beigeschmack und verletzten offenbar den jungen Arzt, welcher ärgerlich erwiderte:

„Laß doch die Possen! Sage mir lieber, was Du eigentlich im Wolkensteiner Hofe zu thun hast – Du willst den Freiherrn sprechen?“

„Jawohl, aber unsere Erörterungen werden nicht grade freundschaftlicher Natur sein. Du weißt ja, daß wir die Besitzung nothwendig brauchen für unsere Bahnlinie, daß sie uns verweigert wurde und wir von unserem Zwangsrechte Gebrauch machen mußten. Der alte Starrkopf da oben aber gab sich noch immer nicht zufrieden; er protestirte immer wieder von neuem und weigerte sich hartnäckig, auf seinem Grund und Boden irgend

eine Vermessung vornehmen zu lassen. Der Mann bildet sich in seiner Beschränktheit wirklich ein, er könne mit seinem Nein irgend etwas ausrichten! Man ist natürlich über seine Proteste zur Tagesordnung übergegangen, und da der ihm gestellte Termin jetzt abgelaufen ist und wir den Besitz antreten, werde ich ihm ankündigen, daß die Vorarbeiten nun unverzüglich beginnen.“

Reinsfeld hatte schweigend zugehört, aber seine Miene war ernst geworden und seine Stimme verrieth eine gewisse Besorgniß, als er sagte: „Wolf, ich bitte Dich, geh nicht wieder mit Deiner gewohnten Rücksichtslosigkeit zu Werke. Der Freiherr ist wirklich nicht ganz zurechnungsfähig in diesem Punkte. Ich habe mir ja auch oft genug Mühe gegeben, ihn zu überzeugen, daß sein Sträuben umsonst ist, aber er hat sich förmlich verrannt in den Gedanken, niemand könne und dürfe ihm seinen alten Erbhof nehmen. Er hängt mit jeder Faser seines Herzens daran, und wenn er ihn wirklich hergeben muß – ich fürchte, das geht ihm ans Leben.“

„Warum nicht gar! Er wird sich fügen, wie alle unvernünftigen Menschen, sobald sie die unbedingte Nothwendigkeit sehen. Ich werde allerdings rücksichtsvoll sein, da es sich um den Schwager des Präsidenten handelt; sonst hätte ich überhaupt nicht so viel Umstände mit ihm gemacht, sondern ihm einfach die Ingenieure in das Haus geschickt. Aber Nordheim wünscht, daß die Sache in möglichst schonender Weise erledigt werde, und deshalb habe ich sie persönlich übernommen.“

„Es wird eine Scene geben,“ meinte Benno. „Baron Thurgau ist der beste Mensch von der Welt, aber unglaublich jähzornig und leidenschaftlich, wenn er sich in seinen vermeintlichen Rechten gekränkt glaubt. Du kennst ihn noch nicht.“

„Doch, ich habe die Ehre, ihn und seine Urwüchsigkeit zu kennen. Er gab mir schon in Heilborn verschiedene Proben davon, und ich bin heute nun vollends auf die möglichste Grobheit gefaßt. Aber Du hast ganz recht; der Mann ist unzurechnungsfähig in ernsten Dingen, und darnach werde ich ihn behandeln.“

Sie hatten jetzt das Haus erreicht und traten ein. Thurgau war in der That soeben erst zurückgekommen; seine Flinte lag noch auf dem Tische und daneben zwei Steinhühner, seine heutige Jagdbeute. Erna mochte ihn wohl schon von dem bevorstehenden Besuche unterrichtet haben, denn er zeigte keine Ueberraschung beim Anblick des jungen Oberingenieurs.

„Nun, Doktor,“ rief er lachend Reinsfeld entgegen. „Sie kommen gerade recht, um zu sehen, wie ungehorsam ich gewesen bin. Da liegen die Verräther!“ Er wies auf seine Flinte und die Jagdbeute.

„Das zeigt mir schon Ihr Aussehen,“ entgegnete Reinsfeld mit einem Blick in das dunkelrothe, erhitzte Gesicht des Hausherrn. „Und noch dazu waren Sie heute morgen unwohl, wie ich höre.“

Er wollte nach dem Puls greifen, aber Thurgau entzog ihm die Hand.

„Das hat Zeit, wir können später davon reden; Sie bringen uns ja einen Gast mit.“

„Ich habe mir allerdings erlaubt, Sie aufzusuchen, Herr von Thurgau,“ sagte Wolfgang nähertretend, „und wenn ich nicht unwillkommen bin –“

„Als Mensch sind Sie mir willkommen, als Oberingenieur nicht,“ erklärte der Freiherr in seiner derben Weise. „Ich freue mich, Sie zu sehen, aber kein Wort von Ihrer verwünschten Eisenbahn – das bitte ich mir aus, sonst werfe ich Sie trotz aller Gastfreundschaft zur Thür hinaus. So, nun machen Sie es sich bequem im Wolkensteiner Hofe!“

Er schob ihm einen Stuhl hin und nahm selbst seinen gewohnten Platz ein. Elmhorst sah gleich in der ersten Minute, wie schwer ihm seine Mission gemacht wurde; er empfand überhaupt die Rücksicht, welche die Verhältnisse ihm auferlegten, als eine lästige Fessel; aber sie mußte doch nun einmal genommen werden, und so schlug er vorläufig den Ton des Scherzes an.

„Ich weiß bereits, welch einen grimmigen Feind unser Werk an Ihnen hat. Mein Amt ist die schlechteste Empfehlung, mit der ich mich bei Ihnen einführen konnte; ich habe mich deshalb auch nicht allein hergewagt, sondern meinen Freund zum Schutze mitgenommen.“

„Doktor Reinsfeld ist Ihr Freund?“ fragte Thurgau, in dessen Achtung der junge Beamte plötzlich zu steigen schien.

„Mein Jungendfreund; wir haben uns schon in der Schule zusammengefunden und später an demselben Orte studirt, wenn auch in verschiedenen Berufszweigen. Ich habe Benno schleunigst aufgesucht, als ich hierherkam, und denke, wir werden auch jetzt gute Kameraden bleiben.“

„Ja, wir lebten hier sehr gemüthlich, so lange wir unter uns waren,“ bemerkte der Freiherr anzüglich. „Als Sie mit Ihrer verdammten Eisenbahn kamen, fing der Aerger an, und wenn das Gepfeife und Gesause da drüben erst losgeht, wird es wohl ganz aus sein mit der Ruhe und Behaglichkeit.“

„Papa, jetzt übertrittst Du selbst Dein Verbot und sprichst von der Eisenbahn,“ rief Erna lachend. „Aber nun müssen Sie mit mir kommen, Herr Doktor! Ich muß Ihnen zeigen, was wir meine Kousine Alice aus Heilborn geschickt hat, es ist so allerliebst!“

Mit dem Eifer und Ungestüm eines Kindes, das nicht die Zeit erwarten kann, seine Herrlichkeiten zu zeigen, zog sie den jungen Arzt in das Nebenzimmer und gab damit dem Herrn Oberingenieur von neuem Gelegenheit, sich über ihre Erziehung oder vielmehr Erziehungslosigkeit zu ärgern – er war in diesem Punkte durchaus einverstanden mit Frau von Lasberg. Welch eine Art, mit einem jungen Manne umzugehen und wenn er zehnmal der Arzt und Hausfreund war!

Benno warf einen besorgten Blick auf die beiden Zurückbleibenden, als er folgte; er wußte, was jetzt zur Sprache kommen mußte, aber er verließ sich auf das diplomatische Talent seines Freundes, und überdies blieb die Thür offen. Wenn der Sturm gar zu heftig wurde, konnte man im Nothfall dazwischen treten.

„Ja wohl, man kommt nicht los von der Geschichte,“ brummte der Freiherr, und Elmhorst, der jetzt endlich zur Sache kommen wollte, knüpfte sofort an diese Worte an.

„Sie haben ganz recht, Herr Baron; man kommt immer wieder darauf zurück, und auf die Gefahr hin, daß Sie Ihre Drohung wahr machen und mich wirklich zur Thür hinauswerfen, muß ich mich Ihnen jetzt als Bevollmächtigten der Bahngesellschaft vorstellen, der Ihnen eine Mittheilung zu machen hat. Die Vermessungen und Vorarbeiten auf dem Wolkensteiner Hofe können unmöglich länger aufgeschoben werden, und die Ingenieure werden in den nächsten Tagen damit beginnen.“

„Das werden sie bleiben lassen!“ fuhr Thurgau zornig auf. „Wie oft soll ich es denn noch sagen; ich leide nicht, daß dergleichen auf meinem Grund und Boden vorgenommen wird!“

„Auf Ihrem Grund und Boden? Aber die Besitzung ist so gar nicht mehr Ihr Eigenthum,“ sagte Elmhorst ruhig. „ Die Gesellschaft hat sie schon vor Monaten erworben und ebenso lange liegt der Kaufpreis für Sie bereit. Das ist so alles längst abgemacht.“

„Nichts ist abgemacht!“ schrie der Freiherr, dessen Gereiztheit sich steigerte. „Denken Sie etwa, ich werde mich um Urtheile kümmern, die jedem Recht Hohn sprechen und die Ihre Gesellschaft Gott weiß wie erschlichen hat? Denken Sie, ich werde von Haus und Hof gehen, um Ihren Lokomotiven Platz zu machen? Keinen Schritt weiche ich, und wenn –“

„Bitte, regen Sie sich nicht so auf, Herr von Thurgau,“ fiel Wolfgang ein. „Es ist ja vorläufig gar keine Rede davon, Sie zu vertreiben; nur die nothwendigsten Vorarbeiten sollen in Angriff genommen werden; das Haus selbst bleibt zu Ihrer unbeschränkten Verfügung bis zum nächsten Frühjahr.“

„Sehr gütig!“ lachte Thurgau bitter. „Also bis zum nächsten Frühjahr! Und was dann?“

„Dann muß es allerdings fallen.“

Der Freiherr wollte von neuem auffahren, aber es lag etwas in dieser kühlen Gelassenheit, was ihn wider Willen zur Mäßigung zwang. Er machte wenigstens den Versuch, sich zu beherrschen; aber sein Gesicht färbte sich noch dunkler, und sein Athem ging kurz und heftig, als er im herbsten Tone sagte:

„Das scheint Ihnen wohl ganz selbstverständlich? Freilich, was wissen Sie davon, wie man an seinem Erbe hängt! Sie sind ja auch aus dem Zeitalter des Dampfes wie mein Schwager. Der baut sich drei, vier Paläste, einen immer kostbarer als den andern, aber heimisch ist er in keinem. Heute bewohnt, morgen verkauft er sie, wie ihn gerade die Laune anwandelt. – Der Wolkensteiner Hof ist seit zwei Jahrhunderten bei den Thurgaus und soll es bleiben, bis der letzte Thurgau die Augen schließt, darauf –“

Er brach mitten in der Rede ab und hielt sich, wie von einem plötzlichen Schwindel ergriffen, am Tische fest; doch das dauerte nur einige Sekunden; wie zornig über die ungewohnte Schwäche, schüttelte er sie ab und richtete sich wieder empor, während er mit steigender Bitterkeit fortfuhr: „Alles andere haben wir verloren; wir verstanden es eben nicht, zu sparen und zu schachern, und da ist eines ums andere hingegangen! Aber das alte Nest, wo die Wiege unseres Hauses stand, das hat keiner hergegeben, das haben wir festgehalten in Sturm und Noth und Unglück. Lieber hätten wir gedarbt und gehungert, als davon gelassen. Und nun kommt Ihre Eisenbahn und will mein Haus dem Boden gleich machen, will hundertjährige Rechte zerreißen und mir nehmen, was von Gottes und Rechtswegen mein ist? Sie soll es nur versuchen! Ich sage Nein und nochmals Nein – das ist mein letztes Wort!“

Er sah in der That aus, als wolle er dies Recht auf Leben und Tod vertheidigen, und ein anderer hätte dem leidenschaftlichen Manne gegenüber wohl geschwiegen oder die Auseinandersetzung verschoben. Wolfgang dachte nicht daran; er hatte sich nun einmal vorgenommen, die Sache zu Ende zu bringen, und ging unbeirrt seinen Weg.

„Die Berge da draußen stehen noch länger als der Wolkensteiner Hof,“ sagte er ernst, „und die Wälder wurzeln noch fester im Boden, als Sie in Ihrer Heimath, und doch müssen sie weichen. Ich fürchte, Herr von Thurgau, Sie haben keine Vorstellung davon, welch ein Riesenwerk unser Unternehmen ist, mit welchen Mitteln es arbeitet und was für Hindernisse es überwinden muß. Wir graben uns mitten durch die Felsen und Wälder, zwingen die Ströme in ihrem Lauf, überbrücken die Schluchten und was uns im Wege steht, das muß nieder. Wir nehmen den Kampf mit den Elementen auf und bleiben Sieger darin – fragen Sie sich selbst, ob da der Wille eines Einzelnen uns Halt gebieten kann?“

Es folgte eine sekundenlange Pause. Thurgau gab keine Antwort; sein wilder Jähzorn schien sich zu brechen an der unerschütterlichen Ruhe dieses Gegners, der in rücksichtsvollster Haltung vor ihm stand und streng den Ton der Höflichkeit festhielt. Aber die klare Stimme hatte einen eisernen, unerbittlichen Klang, und der Blick, der so fest und kalt auf den Freiherrn gerichtet war, schien diesen förmlich zu bannen. Er war bisher jeder Vorstellung, jedem Zureden unzugänglich gewesen; mit der ganzen Hartnäckigkeit seines Charakters hatte er sich an sein vermeintliches Recht geklammert, das in seinen Augen so unerschütterlich war wie die Berge selbst. Jetzt zum ersten Male kam ihm eine Ahnung, daß sein Trotz gebrochen werden könne, daß er unterliegen müsse im Kampfe mit einer Macht, die ihre eiserne Hand selbst an die Berge legte. Er stützte sich wieder schwer auf den Tisch und rang nach Athem; es war, als versagte ihm die Sprache.

„Sie dürfen überzeugt sein, daß wir mit aller nur möglichen Rücksicht zu Werke gehen,“ nahm Wolfgang wieder das Wort. „Die Vorarbeiten, die wir zunächst in Angriff nehmen, werden Sie kaum stören, und während des Winters bleiben Sie überhaupt ganz unbehelligt; erst mit dem Frühjahr beginnt der eigentliche Bau, und dann allerdings –“

„Muß ich weichen, meinen Sie?“ ergänzte Thurgau mit heiserer Stimme.

„Ja, Sie müssen, Herr Baron!“ sagte Elmhorst kalt.

Das verhängnißvolle Wort, dessen Wahrheit er gleichwohl empfand, raubte dem Freiherrn den letzten Rest seiner Fassung; er bäumte sich dagegen auf mit einer Heftigkeit, die etwas Erschreckendes hatte und wirklich an seiner Zurechnungsfähigkeit zweifeln ließ.

„Ich will aber nicht – will nicht, sage ich Euch!“ stieß er außer sich hervor. „Und wenn Euch Felsen und Wälder weichen, ich gehe nicht aus dem Wege. Aber nehmt Euch in Acht mit unseren Bergen, die Ihr so hochmüthig zwingen wollt, daß sie nicht herabstürzen und all Eure Bauten und Brücken wie Splitter entzweibrechen. Ich wollte, ich könnte dabei stehen und es mit ansehen, wie das ganze verfluchte Werk in Trümmer geht; ich wollte –“

Er vollendete nicht, sondern griff zusammenzuckend mit beiden Händen nach seiner Brust, das letzte Wort erstarb in einem dumpfen Stöhnen, und dann stürzte die mächtige Gestalt wie vom Blitze getroffen zu Boden.

„Um Gotteswillen!“ rief Doktor Reinsfeld, der schon während der letzten stürmischen Scene in der Thür des Nebenzimmers erschienen war und jetzt herbeieilte. Aber Erna war ihm bereits zuvorgekommen; sie erreichte den Vater zuerst und warf sich mit einem Schreckensrufe bei ihm nieder.

„Aengstigen Sie sich nicht, Fräulein Erna!“ sagte der junge Arzt, sie sanft zurückdrängend, während er mit Elmhorsts Hilfe den Bewußtlosen aufhob und auf das Sofa legte. „Es ist eine Ohnmacht – ein Schwindelanfall, wie ihn der Herr Baron schon vor einigen Wochen gehabt hat – er wird sich auch diesmal erholen.“

Das junge Mädchen war ihnen gefolgt und stand jetzt da mit krampfhaft verschlungenen Händen, die Augen starr auf das Gesicht des Sprechenden gerichtet; sie mochte wohl etwas darin lesen, was den tröstenden Worten widersprach.

„Nein, nein!“ stieß sie angstvoll hervor. „Sie täuschen mich, das ist etwas anderes. Er stirbt, ich sehe es! – Papa, Papa, ich bin es! Kennst Du Deine Erna nicht mehr?“

Benno antwortete nicht, sondern riß den Rock des Kranken auf; Elmhorst wollte ihm dabei Hilfe leisten; aber Erna stieß mit furchtbarer Heftigkeit seine Hand zurück.

„Rühren Sie ihn nicht an!“ rief sie mit halb erstickter Stimme. „Sie haben ihm den Tod gebracht, mit Ihnen ist das Verderben in unser Haus gekommen! Fort von ihm! Ich leide nicht, daß Sie auch nur seine Hand anrühren!“

Wolfgang wich unwillkürlich zurück und blickte betroffen, fast erschreckt auf das Mädchen, das in diesem Augenblick kein Kind mehr war. Sie hatte sich vor den Vater geworfen mit weit ausgebreiteten Armen, als müsse sie ihn schützen und vertheidigen und ihre Augen flammten in so wildem, grenzenlosem Hasse, als sei es ein Todfeind, der da vor ihr stehe.

„Geh’, Wolfgang!“ sagte Reinsfeld leise, indem er ihn fortzog. „Das arme Kind ist ungerecht in seinem Schmerze und Du kannst überhaupt nicht bleiben. Es ist möglich, daß der Baron noch einmal zur Besinnung kommt – dann darf er gerade Dich nicht sehen.“

„Noch einmal?“ wiederholte Elmhorst. „Du fürchtest also–?“

„Das Schlimmste! Geh’ und schicke mir die alte Vroni zur Hilfe, sie wird wohl irgendwo im Hause zu finden sein. Warte draußen, ich bringe Dir sobald als möglich Nachricht.“

Er drängte mit diesen nur geflüsterten Worten den Freund nach der Thür. Wolfgang kam schweigend der Weisung nach; er schickte die alte Magd, die er im Hausflur traf, in das Zimmer und trat dann ins Freie, aber auf seiner Stirn lag eine finstere Wolke. Wer konnte auch einen solchen Ausgang ahnen! –

Eine Viertelstunde mochte vergangen sein, da erschien Benno Reinsfeld. Er war sehr blaß, und seine sonst so klaren Augen hatten einen feuchten Schimmer.

„Nun?“ fragte Wolfgang hastig.

„Es ist vorüber!“ entgegnete der junge Arzt halblaut. „Ein Schlaganfall, der unbedingt tödlich war – ich sah es in der ersten Minute.“

Wolfgang schien eine solche Nachricht doch nicht erwartet zu haben; seine Lippen zuckten, als er in gepreßtem Tone sagte:

„Die Sache ist mir furchtbar peinlich, Benno, wenn ich auch keine Schuld an dem unseligen Zufall trage! Ich bin mit aller Rücksicht zu Werke gegangen. Aber wir werden den Präsidenten benachrichtigen müssen.“

„Gewiß, er ist der einzige nähere Verwandte, so viel ich weiß. Ich bleibe inzwischen bei dem armen Kinde, das ganz fassungslos ist. Willst Du es übernehmen, einen Boten nach Heilborn zu schicken?“

„Ich fahre selbst hinüber und bringe Nordheim die Nachricht. Leb’ wohl!“

„Leb’ wohl,“ sagte Benno einsilbig und kehrte in das Haus zurück. Wolfgang wandte sich zum Gehen, hielt aber plötzlich inne und trat dann langsam an das Fenster, das zur Hälfte offen stand.

Drinnen im Zimmer lag Erna auf den Knieen und hielt mit beiden Armen die Leiche des Vaters umklammert. Der leidenschaftliche Mann aber, der noch vor einer Viertelstunde hier in voller Lebenskraft gestanden und sich so trotzig aufgebäumt hatte gegen eine unabwendbare Nothwendigkeit, lag jetzt still und regungslos ausgestreckt; er vernahm nicht mehr das verzweiflungsvolle Weinen seines verwaisten Kindes. Das Schicksal hatte seine Worte zur Wahrheit gemacht: der Wolkensteiner Hof blieb bei dem alten Geschlechte, dessen Wiege er gewesen war, bis der letzte Thurgau die Augen geschlossen hatte für immer.

[453] Das Haus, welches Präsident Nordheim in der Hauptstadt bewohnte, entsprach mit seiner wahrhaft fürstlichen Einrichtung vollkommen dem Reichthum seines Besitzers. Das große, palastartige Gebäude lag im vornehmsten Theile der Stadt und war von einem der ersten Architekten erbaut worden; die inneren Räume zeigten eine verschwenderische Pracht, und eine zahlreiche Dienerschaft stand zur Verfügung; kurz es fehlte nichts, was ein Haushalt im großen Stile fordert.

An der Spitze dieses Haushaltes stand schon seit Jahren die Baronin Lasberg. Die verwitwete und ganz mittellose Dame, die von einem ihrer hochgestellten Verwandten dem Präsidenten empfohlen war, hatte sehr gern die Stellung im Hause des reichen Emporkömmlings angenommen, der sie unbeschränkt schalten und walten ließ, und Nordheim, so wenig schwach er auch in solchen Punkten war, empfand es doch als eine Annehmlichkeit, daß eine wirklich vornehme Dame seine Gäste empfing und bei seiner Tochter und Nichte Mutterstelle vertrat. Seit drei Jahren lebte auch Erna von Thurgau im Hause des Onkels, der zugleich ihr Vormund war und sie unmittelbar nach dem Tode ihres Vaters zu sich genommen hatte.

In seinem Arbeitszimmer saß der Präsident, im Gespräch mit einem Herrn, der ihm gegenüber Platz genommen hatte. Es war einer der ersten Rechtsanwälte der Stadt und der juristische Vertreter der Bahngesellschaft, an deren Spitze Nordheim stand; er schien jedoch zu den näheren Bekannten des Hauses zu gehören, denn die Unterhaltung hatte einen vertraulichen Anstrich, wenn sie sich auch augenblicklich um geschäftliche Dinge drehte.

„Sie sollten mit Elmhorst persönlich die Sache besprechen,“ sagte der Präsident. „Er kann Ihnen jedenfalls die beste Auskunft darüber geben.“

„Er ist also hier?“ fragte der Rechtsanwalt etwas überrascht.

„Seit gestern, und wird voraussichtlich eine Woche bleiben.“

„Das ist mir lieb; aber unsere Hauptstadt scheint eine besondere Anziehungskraft auf den Herrn Oberingenieur auszuüben; er ist ziemlich oft hier, wie mir scheint.“

„Allerdings, auf meinen Wunsch. Ich lege Werth darauf, über manches eingehender unterrichtet zu werden, als es durch Briefe geschehen kann. Ueberdies nimmt Elmhorst nur dann Urlaub, wenn er sich wirklich entbehrlich weiß; davon können Sie überzeugt sein, Herr Doktor.“

Doktor Gersdorf, ein Mann von etwa vierzig Jahren, eine äußerst stattliche Erscheinung, mit ernsten geistvollen Zügen, schien die Worte anders gemeint zu haben; denn er lächelte ein wenig spöttisch, als er erwiderte:

„Den Pflichteifer des Herrn Elmhorst zweifle ich gewiß nicht an, wir wissen ja alle, daß er darin eher zuviel thut als zu wenig. Die

Gesellschaft kann sich Glück wünschen, eine so tüchtige Kraft gewonnen zu haben.“

„Nun, das ist wahrhaftig nicht das Verdienst der Gesellschaft,“ sagte Nordheim achselzuckend. „Ich habe damals, als es sich um seine Ernennung handelte, Kämpfe genug gehabt, und ihm selbst hat man seine Stellung auch so schwer gemacht, daß ein anderer vielleicht gewichen wäre. Es trat ihm ja überall die ausgesprochenste Feindseligkeit entgegen.“

„Er ist aber ziemlich schnell damit fertig geworden,“ meinte Gersdorf trocken. „Ich erinnere mich, es gab im Anfange bedenkliche Stürme von Seiten der Kollegen, die sich dieses souveräne Auftreten nicht gefallen lassen wollten, aber sie verstummten nach und nach. Ich glaube, der Herr Oberingenieur ist sehr energisch in solchen Dingen, und er hat so auch in den drei Jahren so ziemlich alles in seine Hand gebracht. Man weiß es nun nachgrade, daß er keinen über oder auch nur neben sich duldet als allenfalls den Chefingenieur, und der ist jetzt auch gänzlich auf seiner Seite.“

„Ich tadle diesen Ehrgeiz durchaus nicht,“ sagte der Präsident kühl; „wer empor will, muß sich freie Bahn schaffen. Meine Menschenkenntniß hat wieder einmal recht behalten, all dem Lärm gegenüber, der damals losbrach, als ich dem allerdings noch sehr jungen Manne die wichtige Stellung sicherte. Auch der Chefingenieur war anfangs gegen ihn eingenommen und gab nur widerwillig nach. Jetzt ist er froh, eine so unbedingte Stütze zu haben, und was nun vollends die Wolkensteiner Brücke betrifft, Elmhorsts eigenstes Werk – ich denke, damit kann er sich getrost in die erste Reihe stellen.“

„Die Brücke verspricht allerdings ein Meisterwerk zu werden,“ stimmte Gersdorf bei. „Ein kühnes, großartiges Bauwerk schon in der Anlage, es wird zweifellos der Glanzpunkt der ganzen Bahnlinie. – Es bleibt also dabei, daß ich selbst mit dem Oberingenieur spreche; ich finde ihn doch in seinem gewohnten Hôtel?“

„Nein, Sie finden ihn diesmal bei mir. Ich habe ihm die Gastfreundschaft meines Hauses angeboten.“

„Ah so!“ Ueber das Gesicht des Doktors glitt ein eigenthümliches Lächeln. Er wußte, daß Nordheim Beamte von dem Range des jungen Oberingenieurs stundenlang in seinem Vorzimmer warten ließ; diesen Elmhorst lud er als Gast in sein Haus ein. Man erzählte sich freilich noch viel erstaunlichere Dinge von seiner Vorliebe für den Mann, der von Anfang an sein Günstling gewesen war.

Der Rechtsanwalt aber ließ die Sache für diesmal auf sich beruhen; er hatte andere, wichtigere Dinge im Kopfe und verabschiedete sich etwas zerstreut und eilig von dem Präsidenten mit der Bemerkung, daß er Herrn Elmhorst sogleich aufsuchen werde. Trotzdem schien er keine besondere Eile damit zu haben; denn die Karte, welche er draußen dem Diener übergab, war für die Damen des Hauses bestimmt, bei denen er sich anmelden ließ.

Die Wohn- und Empfangsräume lagen im oberen Stockwerk, und im Salon thronte Frau von Lasberg in gewohnter feierlicher Gemessenheit. Nicht weit von ihr saß Alice; auch sie hatte sich kaum verändert in den drei Jahren. Es war noch immer die zarte, blasse Erscheinung, mit dem müden, theilnahmlosen Ausdruck in den anmuthigen Zügen, die „Treibhauspflanze“, die ängstlich vor jedem rauhen Luftzuge behütet wurde und ein Gegenstand fortwährender Sorge und Schonung für ihre Umgebung war. Ihre Gesundheit schien sich allerdings etwas mehr befestigt zu haben; aber es lag auch nicht ein Hauch von Jugendfrische und Jugendfreude auf dem farblosen Antlitz.

Die junge Dame, welche neben der Baronin Lasberg saß, hatte um so mehr davon. Es war eine kleine, zierliche Gestalt, der die dunkelblaue Straßentoilette mit dem pelzbesetzten Jäckchen allerliebst stand. Unter dem blauen Sammethute blickte ein reizendes, rosiges Gesichtchen hervor, mit dunklen, muthwillig blitzenden Augen, und eine Fülle von schwarzen Ringellöckchen krauste sich über der Stirn. Dazu lachte und plauderte der kleine Mund unaufhörlich; das etwa achtzehnjährige Mädchen war von übersprudelnder Lebhaftigkeit.

„Wie schade, daß Erna ausgegangen ist!“ rief sie. „Ich hatte etwas Wichtiges mit ihr zu besprechen; aber Du erfährst keine Silbe davon, Alice; es handelt sich um eine Ueberraschung zu Deinem Geburtstage. Es wird doch hoffentlich getanzt bei dem Feste?“

„Ich glaube kaum,“ sagte Alice gleichgültig; „wir sind ja schon im März.“

„Aber noch mitten im Winter! Heut morgen hat es geschneit, und tanzen kann man überhaupt immer!“ versicherte die junge Dame, und dabei geriethen ihre Füßchen in eine eigenthümlich zuckende Bewegung, als wolle sie gleich auf der Stelle den Beweis davon liefern. Frau von Lasberg sandte den vorwitzigen kleinen Füßen einen strafenden Blick zu und bemerkte kühl:

„Ich glaube, Sie haben in diesem Winter sehr viel getanzt, Baroneß Wally.“

„Aber noch lange nicht genug!“ erklärte die kleine Baroneß. „Wie bedauere ich die arme Alice, der das Tanzen verboten ist! Man will doch seine Jugend genießen, und wenn man heirathet, ist es ohnehin vorbei damit. ‚Ehe bringt Wehe!‘ pflegte unsere alte Kinderfrau immer zu sagen, und dann weinte sie regelmäßig und sprach von ihrem Seligen. Eine schlimme Prophezeiung! Glaubst Du auch daran, Alice?“

„Alice giebt sich schwerlich mit solchen Gedanken ab,“ sagte die alte Dame zurechtweisend. „Ich muß Ihnen überhaupt gestehen, liebe Wally, daß ich dieses Thema unpassend finde.“

„O!“ rief Wally, „finden Sie das Heirathen auch unpassend, gnädige Frau?“

„Wenn es mit Zustimmung und Billigung der Eltern, mit Beobachtung aller nöthigen Rücksichten geschieht – nein.“

„Dann ist es aber meist sehr langweilig!“ platzte die junge Baroneß heraus und erweckte damit sogar Alice aus ihrer Theilnahmlosigkeit.

„Aber Wally!“ mahnte sie vorwurfsvoll.

„Baroneß Ernsthausen scherzt selbstverständlich,“ sagte Frau von Lasberg mit einem vernichtenden Blick; „aber selbst solche Scherze sind nicht zu billigen. Eine junge Dame kann nicht vorsichtig genug sein in ihren Aeußerungen und ihrem Benehmen; die Gesellschaft ist leider sehr zu Klatschereien geneigt.“

Die Worte mochten wohl irgend eine geheime Beziehung haben; denn um die Lippen Wallys zuckte es, als unterdrücke sie das Lachen; aber sie entgegnete mit der unschuldigsten Miene:

„Da haben Sie vollkommen recht, gnädige Frau. Denken Sie nur, im vergangenen Sommer hat die ganze Badegesellschaft von Heilborn über die häufigen Besuche des Herrn Oberingenieur Elmhorst geklatscht. Er kam allerdings fast in jeder Woche –“

„Zu dem Herrn Präsidenten,“ schnitt ihr die alte Dame das Wort ab. „Herr Elmhorst hatte die Pläne und Zeichnungen für die neue Gebirgsvilla entworfen und leitete selbst den Bau; da war eine häufige Rücksprache unerläßlich.“

„Ja, das wußte alle Welt, aber man klatschte doch! Man hielt sich an die Blumenspenden und die sonstigen Liebenswürdigkeiten des Herrn Baumeisters und meinte –“

„Baroneß, ich muß Sie wirklich bitten, uns mit derartigen Berichten zu verschonen,“ unterbrach sie Frau von Lasberg, indem sie sich in zürnender Majestät aufrichtete. Die vorlaute junge Dame hätte wahrscheinlich noch eine längere Strafpredigt erhalten, wenn nicht ist diesem Augenblick der Diener eingetreten wäre und gemeldet hätte, daß der Wagen vorgefahren sei. Die Baronin erhob sich und wandte sich zu Alice.

„Ich muß in die Sitzung des Frauenvereins, mein Kind, Du darfst heut selbstverständlich nicht ausfahren bei dieser rauhen Luft. Du scheinst überhaupt etwas angegriffen zu sein, und ich fürchte –“

Ein sehr bezeichneter Blick ergänzte die Worte und gab das dringende Verlangen nach einer baldigen Entfernung des Besuches kund, aber leider vergebens.

„Ich bleibe bei Alice und leiste ihr Gesellschaft,“ versicherte Wally, mit der liebenswürdigsten Bereitwilligkeit. „Sie können ganz ohne Sorge sein, gnädige Frau.“

Die gnädige Frau preßte in gelinder Verzweiflung die Lippen zusammen; aber sie wußte aus Erfahrung, daß dies enfant terrible nicht fortzubringen war, wenn es sich einmal in den Kopf gesetzt hatte zu bleiben; sie küßte deshalb Alice auf die Stirn, neigte das Haupt gegen deren junge Freundin und nahm einen würdevollen Abgang.

Kaum hatte sich die Thür hinter ihr geschlossen, so flog Wally wie ein Gummiball in die Höhe.

„Gott sei Dank, daß sie fort ist, Deine allergnädigste Frau Oberhofmeisterin! Ich habe Dir etwas anzuvertrauen, Alice, etwas unendlich Wichtiges; das heißt, eigentlich wollte ich Erna ins Vertrauen ziehen, aber sie ist ja leider nicht da, also mußt Du mir helfen, Du mußt! Oder Du machst zwei Menschen unglücklich, für Zeit und Ewigkeit!“

„Ich?“ fragte Alice, die sich bei dieser bedenklichen Einleitung denn doch veranlaßt sah, die Augen aufzuschlagen.

„Jawohl, aber Du weißt ja noch gar nichts! Jetzt muß ich Dir das alles erst auseinandersetzen, und es ist schon zwölf Uhr und Albert wird gleich hier sein – den Doktor Gersdorf meine ich. – Er liebt mich nämlich, und ich liebe ihn, und wir wollen uns natürlich heirathen; aber meine Eltern wollen das nicht zugeben, weil er bürgerlich ist. Mein Gott, Alice, so sieh doch nicht so erstaunt aus! Ich habe den Doktor so in Eurem Hause kennen gelernt, und in Eurem Wintergarten hat er mir die Liebeserklärung gemacht, vor acht Tagen, als der berühmte Virtuos im Musiksaal spielte und all die anderen zuhörten.“

„Aber –“ versuchte Alice einzuwerfen; sie kam jedoch nicht zu Worte bei der kleinen Baroneß, die ihre ganze Liebes- und Leidensgeschichte unaufhaltsam hervorsprudelte.

„Unterbrich mich nicht, ich habe Dir ja noch gar nichts gesagt! Als wir also an jenem Abende nach Haus kamen, erklärte ich meinen Eltern, daß ich Braut sei und daß Albert am nächsten Tage kommen werde, um mich anzuhalten. Da brach aber ein Lärm los! Der Papa war entrüstet, die Mama empört und der Großonkel schnaubte förmlich vor Wuth. Er ist nämlich eine ungeheure Respektsperson, der Großonkel, weil er so sehr reich ist und wir ihn einmal beerben werden, aber dazu muß er doch erst todt sein, und er hat noch gar keine Lust zum Sterben. Das ist sehr schlimm für uns, sagt der Papa, denn wir haben gar nichts; der Papa kommt nie aus mit seinem Gehalt, und der Großonkel rückt bei Lebzeiten auch nicht das Geringste heraus – so, nun bist Du im Klaren!“

„Nein, ich bin durchaus nicht im Klaren,“ sagte Alice, förmlich betäubt von diesem unendlichen Redestrom, mit dem sie überstürzt wurde. „Was willst Du denn mit Deinem Großonkel?“

Wally schlug verzweiflungsvoll die Hände zusammen über diesen Mangel von Begriffsvermögen.

„Alice, ich bitte Dich, sei nicht so gleichgültig! Ich versichere Dir, sie haben förmlich Gericht gehalten über mich. Die Mama sagte, sie bekomme schon Nervenzucken bei dem Gedanken, ich könne einmal Frau Gersdorf genannt werden; der Papa behauptete, ich dürfe mich nicht wegwerfen, weil ich dereinst eine ‚Partie‘ sein werde, und der Großonkel schnitt ein fürchterliches Gesicht dazu, weil er die Anspielung auf die Erbschaft gewaltig übelnahm; aber er selbst schrie am lautesten Zeter über die Mesalliance. Er zählte mir all unsere Ahnen und Urahnen auf, die sich sämmtlich im Grabe umdrehen würden. Das ist mir nun eigentlich sehr gleichgültig; die alten Herren mögen sich umdrehen, so viel sie wollen; dann haben sie doch eine Abwechselung in ihrer langweiligen Ahnengruft. Aber ich ließ mir unglücklicherweise beikommen, das zu sagen, und nun kam das Ungewitter über mich von drei Seiten zugleich. Der Großonkel hob die Hand empor und that einen Schwur, aber ich schwor auch! So habe ich vor ihm gestanden,“ sie stampfte mit beiden Füßchen den Teppich, „und ihm erklärt, daß ich von meinem Albert nicht lasse, nun und nimmermehr!“

Die kleine Baroneß mußte jetzt endlich einmal Athem schöpfen und benutzte diese unfreiwillige Pause, um an das Fenster zu eilen, da man soeben einen Wagen fortrollen hörte; dann flog sie ebenso schleunig wieder zurück in das Zimmer.

„Da fährt sie hin, die Frau Oberhofmeisterin, Gott sei Dank, jetzt sind wir sie los! Sie ahnt etwas von der Sache; ich bekam nicht umsonst vorhin die spitzen Bemerkungen! Aber jetzt kommt sie vorläufig nicht wieder; denn die Sitzung dauert mindestens zwei Stunden, das wußte ich und darauf habe ich meinen Plan gebaut. Du kannst wohl denken, Alice, daß mir jeder schriftliche und mündliche Verkehr mit Albert streng verboten wurde; natürlich schrieb ich ihm sofort, und sprechen muß ich ihn auch. Ich habe ihn deshalb hierher in Deinen Salon bestellt, und Du sollst der Schutzgeist unserer Liebe sein.“

Alice schien nicht sehr erbaut von der Rolle, die man ihr zuwies. Sie hätte die ganze Eröffnung in einer Weise aufgenommen, welche die heißblütige Wally zur Verzweiflung brachte, ohne jedes Ah und O, nur mit stummer Verwunderung darüber, daß so etwas überhaupt passiren konnte! Eine Verlobung ohne, ja gegen den Willen der Eltern, lag völlig außerhalb des Gesichtskreises der jungen Dame; dazu hatte Frau von Lasberg sie viel zu gut erzogen. Sie richtete sich deshalb mit einer gewissen Entschiedenheit aus ihrer bequemen Stellung empor und sagte:

„Nein, das schickt sich nicht.“

„Was schickt sich nicht – daß Du ein Schutzgeist bist?“ rief Wally entrüstet. „Willst Du mein Vertrauen täuschen, willst Du uns in Unglück, Verzweiflung, in den Tod jagen? Denn wir sterben alle beide, wenn wir uns nicht heirathen dürfen. Kannst Du das wirklich auf Dein Gewissen nehmen?“

Es blieb glücklicherweise keine Zeit, diese Gewissensfrage zu erörtern; denn soeben wurde Doktor Gersdorf gemeldet, und es trat ein peinlicher Moment des Zögerns ein. Alice schien wirklich geneigt, sich für krank zu erklären und den Besuch abweisen zu lassen; aber Wally, die das fürchten mochte, stellte sich dicht vor sie hin und sagte laut und diktatorisch: „Der Herr Doktor ist willkommen!“

Der Diener verschwand, und Alice sank mit einem Seufzer wieder in ihren Sessel zurück. Sie hatte das Aeußerste gethan und sich sträuben wollen; da man ihr aber den entscheidenden Befehl vor dem Munde fortnahm, fand sie sich nicht zu weiteren Anstrengungen veranlaßt, sondern ließ die Sache ihren Lauf nehmen.

Doktor Gersdorf trat ein und Wally flog ihm entgegen, bereit, sich in seine weitgeöffneten Arme zu stürzen; aber er öffnete keineswegs die Arme, sondern zog nur ihre Hand an seine Lippen und trat dann, die kleine Hand noch fest in der seinen haltend, zu der jungen Dame des Hauses.

„Mein gnädiges Fräulein, ich habe vor allen Dingen um Verzeihung zu bitten für die eigenthümliche Art, in der meine Braut Ihre Freundschaft in Anspruch genommen hat; die Verhältnisse zwingen uns leider dazu. Sie wissen vermuthlich schon, daß ich Wally meine Hand angetragen und ihr Jawort erhalten habe; ich wollte am nächsten Tage die Zustimmung ihrer Eltern erbitten, aber der Herr Oberregierungsrath hat meinen Besuch nicht einmal angenommen.“

„Und mich hat er eingesperrt,“ schob Wally empört dazwischen, „den ganzen Vormittag lang!“

„Ich stellte darauf meinen Antrag schriftlich,“ fuhr Gersdorf fort, „und erhielt eine eisig verneinende Antwort, ohne jede Angabe von Gründen. Baron Ernsthausen schrieb mir –“

„Einen ganz abscheulichen Brief!“ fiel Wally wieder ein; „aber der Großonkel hat ihn diktirt. Ich weiß es, ich stand am Schlüsselloch!“

„Jedenfalls war es eine Ablehnung meiner Bitte; da Wally mir aber freiwillig Herz und Hand gegeben hat, so werde ich mein Recht darauf zu behaupten wissen, und deshalb glaubte ich mich auch zu dieser Unterredung berechtigt, obgleich sie ohne Vorwissen der Eltern geschieht. Noch einmal, Verzeihung, gnädiges Fräulein! Sie dürfen überzeugt sein, daß wir Ihre Güte nicht mißbrauchen werden.“

Das klang alles so offen, so männlich und herzlich, daß Alice anfing, die Sache minder unschicklich zu finden, und mit einigen Worten ihre Zustimmung zu erkennen gab. Freilich begriff sie es nicht, daß dieser ernste, zurückhaltende Mann, der nur seinen Berufspflichten zu leben schien, die kleine quecksilberne, übersprudelnde Wally liebte und daß seine Neigung erwidert wurde; aber bezweifeln ließ sich diese Thatsache nicht mehr.

„Du brauchst gar nicht zuzuhören, Alice,“ sagte Wally tröstend. „Nimm doch ein Buch und lies, oder wenn Du wirklich angegriffen bist, so lege den Kopf zurück und schlummere ein wenig. Wir nehmen Dir das durchaus nicht übel, ganz im Gegentheil – nur sorge dafür, daß wir ungestört bleiben.“

Damit ergriff sie ihren Albert am Arm und zog ihn in den Erker, den die halb zurückgeschlagenen türkischen Vorhänge theilweise vom Salon abschlossen. Das Gespräch wurde anfangs im Flüstertone geführt; aber die kleine lebhafte Baroneß hielt das nicht lange aus; sie sprach bald genug erregt und laut, und auch Gersdorf erhob unwillkürlich die Stimme, so daß Alice schließlich die ganze Unterredung mit anhörte. Sie hatte gehorsam ein Buch ergriffen, ließ es aber urplötzlich sinken, da das entsetzliche Wort „Entführung“ an ihr Ohr schlug.

„Es bleibt uns durchaus kein anderes Mittel,‘ sagte Wally, ebenso diktatorisch wie vorher, als sie den Eintritt des Doktors

[458] erzwang. „Du mußt mich entführen, und zwar übermorgen Mittag um zwölf Uhr dreißig Minuten. Dann reist nämlich der Großonkel nach seinem Gute zurück und Papa und Mama begleiten ihn bis auf die Bahn; sie machen immer so entsetzlich viel Umstände mit ihm. Inzwischen können wir mit aller Bequemlichkeit durchgehen; wir reisen nach Gretna Green, lassen uns schleunigst trauen – ich habe einmal gelesen, daß es dort kein Standesamt und sonstige Umständlichkeiten giebt – und kommen als Mann und Frau zurück. Dann mögen sich all meine todten Ahnen auf den Kopf stellen und der lebendige Großonkel dazu; ich frage gar nichts danach, wenn ich erst Deine Frau bin.“

Der ganze Entführungs- und Reiseplan wurde in höchst überzeugender Weise vorgetragen, fand aber leider nicht die erwartete Zustimmung; denn Gersdorf sagte mit ruhiger Entschiedenheit:

„Nein, Wally, das geht nicht.“

„Nicht? Warum nicht?“

„Weil es verschiedene Gesetze und Paragraphen giebt, die dergleichen romantische Exkursionen nachdrücklich verbieten. Dein kleines Sprudelköpfchen hat freilich noch keine Ahnung von dem Leben und seinen Pflichten; aber ich kenne sie, und es würde mir, der ich eigens berufen bin, das Recht zu schützen, schlecht anstehen, wollte ich dies Recht mit Füßen treten.“

„Was gehen mich denn Deine Gesetze und Paragraphen an!“ fragte Wally, höchlich beleidigt durch diese kühle Aufnahme ihres romantischen Planes. „Wie kannst Du überhaupt von so prosaischen Dingen sprechen, wenn es sich um unsere Liebe handelt! Was sollen wir denn anfangen, wenn Papa und Mama bei ihrem Nein bleiben?“

„Vor allen Dingen warten, bis Dein Großonkel wirklich abgereist ist. Mit diesem starren alten Aristokraten ist nicht zu rechten; ich bin als Bürgerlicher in seinen Augen gänzlich unfähig, eine Baroneß Ernsthausen heimzuführen. Sobald aber sein Einfluß nicht mehr so ausschließlich in Deinem Elternhause vorherrscht, werde ich mir Gehör bei Deinem Vater verschaffen und versuchen, seine Vorurtheile zu überwinden; so leicht und schnell wird das allerdings nicht gehen, wir müssen eben Geduld haben und warten.“

Die kleine Baroneß stand ganz starr vor Schreck bei dieser Auseinandersetzung; sie sah all ihre Luftschlösser zusammenstürzen. Statt des geträumten Romans mit Flucht und heimlich geschlossener Ehe empfahl man ihr geduldiges Warten und Ausharren bei den tyrannischen Eltern, und der Geliebte, von dem sie erwartete, er werde sie im Sturme auf seinen Armen davon tragen, benahm sich so nüchtern und verständig, als beabsichtige er einen regelrechten Prozeß um ihren Besitz zu führen; das war zu viel für ihre heißblütige Natur, sie fuhr zornig auf:

„So sage es doch lieber gleich heraus, daß Dir an meiner Hand nichts liegt, daß Du nicht den Muth hast, etwas dafür zu wagen! Damals, als Du mir Deine Liebe erklärtest, sprachst Du ganz anders. Aber ich gebe Dir Dein Wort zurück, ich trenne mich auf ewig von Dir, ich –“ hier begann sie laut zu schluchzen, „ich werde irgend einen Menschen mit unendlich viel Ahnen heirathen, den mir der Großonkel aussucht; aber ich werde sterben vor Gram darüber, und ehe ein Jahr vergeht, liege ich selbst in der Ahnengruft!“

„Wally!“ sagte die ernste milde Stimme des Doktors vorwurfsvoll.

„Laß mich!“ sie versuchte ihm ihre Hand zu entreißen, aber er hielt sie fest.

„Wally, sieh mich an! Glaubst Du wirklich nicht an meine Liebe?“

Das war wieder jener Ton der vollsten Zärtlichkeit, den Wally nur zu gut kannte von jenem Abende her, wo sie beide allein waren in dem duftigen, dämmernden Wintergarten, wo sie mit klopfendem Herzen und glühenden Wangen das Geständniß der Liebe empfing, während drüben aus dem Saale die Töne der Musik herüberklangen. Sie hörte auf zu schluchzen und blickte durch den Thränenschleier zu dem Geliebten empor, der sich tief herabbeugte.

„Hat meine süße kleine Wally denn gar kein Vertrauen zu mir? Du hast Dich mir zu eigen gegeben, und nun bist und bleibst Du mein, mag sich auch alles dagegen setzen. Ich werde mir mein Glück sicher nicht entreißen lassen, wenn es auch noch eine Weile dauert, bis ich mein Weib in die Arme schließen kann.“

Das klang so warm, so innig, daß die Thränen der jungen Baroneß völlig versiegten, leise sank ihr Köpfchen an seine Brust, und es zuckte schon wieder ein Lächeln um ihre Lippen, als sie halb schelmisch und halb ängstlich fragte:

„Aber, Albert, so lange wird es doch nicht dauern, bis Du so alt wie der Großonkel geworden bist?“

„Nein, so lange nicht!“ tröstete Albert, indem er die letzte Thräne fortküßte, die noch an der Wimper hing. „Dann würde dies böse trotzige Kind, das sich so ohne weiteres von mir lossagt, wenn ich ihm nicht gleich auf der Stelle den Willen thue, mich schwerlich noch wollen.“

„O, Dich will ich immer!“ rief Wally mit stürmisch ausbrechender Zärtlichkeit. „Ich habe Dich ja so lieb, Albert, so grenzenlos lieb!“

Er zog sie in die Arme; aber seine Stimme sank jetzt zum Flüstern herab; Wally antwortete ebenso, und der Schluß der Unterredung blieb unverständlich. Nach etwa fünf Minuten traten beide wieder in den Salon, gerade zur rechten Zeit; denn soeben erschien Oberingenieur Elmhorst, der als Hausgenosse keiner Anmeldung bedurfte und von diesem Rechte Gebrauch machte.

[469] Wolfgangs äußere Erscheinung hatte entschieden noch gewonnen in den letzten drei Jahren; die Züge waren noch fester, männlicher geworden, die Haltung stolzer und energischer. Der junge Mann, der damals den ersten Fuß auf die Stufenleiter setzte, die ihn emporführen sollte, hatte es gelernt, zu steigen und zu befehlen: das sah man, aber trotzdem hatte das Selbstbewußtsein, das sich in seinem ganzen Auftreten kundgab, nichts Verletzendes; man empfing unwillkürlich den Eindruck, daß hier eine überlegene Natur das ihr zustehende Recht in Anspruch nahm.

Er hielt einen duftenden Blumenstrauß in der Hand, den er mit einigen artigen Worten der jungen Dame des Hauses übergab. Eine gegenseitige Vorstellung war nicht notwendig; denn Gersdorf hatte schon öfter mit dem Oberingenieur verkehrt, und Wally kannte ihn von Heilborn her, wo sie im vergangenen Sommer mit ihren Eltern gewesen war. Man plauderte eine Weile, blieb aber nicht lange beisammen; der Doktor ergriff die erste Gelegenheit sich zu empfehlen, und zehn Minuten später brach auch Wally auf. Sie wäre zwar gern noch geblieben, um ihr Herz gegen Alice auszuschütten, aber dieser Herr Elmhorst schien fürs erste nicht weichen zu wollen; trotz all seiner Artigkeit fühlte die kleine Baroneß doch, daß er ihre Anwesenheit als sehr überflüssig betrachtete; sie verabschiedete sich daher gleichfalls, aber draußen im Vorzimmer legte sie den Finger an das zierliche Näschen und sagte weisheitsvoll:

„Ich glaube – da drinnen entwickelt sich etwas!“

Sie mochte nicht unrecht haben, aber vorläufig ließ diese Entwicklung noch auf sich warten.

Alice hielt den prachtvollen Strauß von Kamelien und Veilchen in der Hand und athmete deren Duft ein, aber sie sah sehr gleichgültig dabei aus. Die reiche Erbin, die stets der Gegenstand allseitiger Bemühungen und Aufmerksamkeiten war, wurde mit Blumengaben überschüttet von allen Seiten; sie schien auch auf diese Artigkeit kein besonderes Gewicht zu legen. Wolfgang hatte ihr gegenüber Platz genommen und unterhielt sie in seiner lebhaften, anregenden Weise; er sprach augenblicklich von der neuen Villa, welche Nordheim im Gebirge hatte erbauen lassen und welche die Familie in diesem Sommer zum ersten Male bewohnen sollte.

„Bis zu Ihrer Ankunft wird auch die innere Einrichtung vollendet sein,“ sagte er. „Das Haus selbst war schon im Herbste fertig und die Nähe der Bahnlinie machte es mir möglich, alles persönlich zu überwachen und zu leiten. Sie werden sich bald genug an den Gebirgsaufenthalt gewöhnen, gnädiges Fräulein.“

„Ich kenne ihn ja bereits,“ erwiderte Alice, noch immer mit den Blumen beschäftigt. „Wir sind regelmäßig im Sommer in Heilborn gewesen.“

„In der großen Sommerpromenade der Residenz, mit einer Alpenlandschaft im Hintergrunde!“ spottete Elmhorst. „Das sind nicht die Berge; die werden Sie erst in Ihrem neuen Heim kennen lernen; die Lage ist herrlich, und ich schmeichle mir mit der Hoffnung, daß auch dies Heim selbst Ihnen gefallen wird, mein Fräulein. Es ist freilich nur eine einfache Villa im Gebirgsstil, aber das war mir ausdrücklich vorgeschrieben.“

„Papa meint, es sei ein kleines Meisterwerk der Baukunst,“ bemerkte Alice ruhig.

Wolfgang lächelte und schob mit einer scheinbar zufälligen Bewegung seinen Sessel etwas näher heran.

„Es würde mich sehr freuen, wenn ich auch als Architekt Ehre einlegte mit meinem Werke. Es ist ja eigentlich nicht mein Fach, aber es handelte sich um Ihren Sommersitz, mein Fräulein, und den wollte ich keiner andern Hand überlassen. Ich erbat und erhielt von dem Herrn Präsidenten das Recht, das Bergschlößchen zu erbauen, das, wie er mir mittheilte, zu Ihrem ausschließlichen Eigenthum bestimmt ist.“

Der Hinweis war deutlich genug und auch das von dem Vater ertheilte Recht wurde leise und doch merklich hervorgehoben; aber die junge Dame erröthete weder dabei, noch gerieth sie in Verwirrung; sie sagte nur in ihrer matten gleichgültigen Weise:

„Ja, Papa hat mir die Villa zum Geschenk bestimmt; deshalb soll ich sie auch nicht eher sehen, als bis alles vollendet ist. Es war sehr freundlich von Ihnen, Herr Elmhorst, den Bau zu übernehmen.“

„Bitte, loben Sie mich nicht so unvorsichtig,“ fiel Wolfgang rasch ein: „Es war im Gegentheil sehr egoistisch, daß ich mich zu der Aufgabe drängte; denn jeder Baumeister fordert schließlich seinen Lohn, und meine Forderung wird Ihnen vielleicht allzu hoch erscheinen. Darf ich sie trotzdem aussprechen, eine Bitte aussprechen, die mir schon lange am Herzen liegt?“

Alice hob langsam die großen braunen Augen zu ihm empor; es war ein fragender, beinahe trauriger Blick, der in den schönen energischen Zügen des Mannes irgend etwas zu suchen schien. Dort stand allerdings lebhaft gespannte Erwartung, aber weiter auch nichts – und die fragenden Augen verschleierten sich wieder unter den langen Wimpern, ohne daß eine Antwort erfolgte.

Wolfgang schien das gleichwohl als eine Ermuthigung anzusehen; er erhob sich und trat an den Sessel des jungen Mädchens, während er fortfuhr:

„Sie ist kühn, diese Bitte, ich weiß es, aber ‚mit dem Kühnen ist das Glück!‘ Das sagte ich einst dem Herrn Präsidenten, als ich mir die erste Vorstellung bei Ihnen erbat; das ist mein steter Wahlspruch gewesen, und er soll es auch heute sein – wollen Sie mich anhören, Alice?“

Sie neigte leicht das Haupt und widerstrebte auch nicht, als er ihre Hand faßte und sie an seine Lippen zog. Er sprach weiter. Es war ein Antrag in aller Form, und er wurde in ehrfurchtsvoller ritterlicher Weise gestellt, während die klangvolle Stimme beredt genug die Worte unterstützte. Nur die Wärme fehlte darin; es war eine Bewerbung, keine Liebeserklärung.

Alice hörte schweigend, aber ohne Ueberraschung zu; es war ihr längst kein Geheimniß mehr, daß Elmhorst um sie warb, und sie wußte auch, daß ihr Vater, der sich anderweitigen Bemühungen gegenüber sehr ablehnend verhielt, gerade ihn begünstigte. Er gestattete dem jungen Manne einen Verkehr und eine Vertraulichkeit in seinem Hause, deren sich kein anderer rühmen durfte, und hatte schon verschiedene Male in Gegenwart seiner Tochter nachdrücklichst erklärt, Wolfgang Elmhorst habe eine bedeutende Zukunft vor sich und das gelte ihm unendlich mehr als die Wappenschilder vornehmer Herren, die mit fremdem Gelde den verblichenen Glanz ihres Namens wieder herstellen wollten. Alice selbst war viel zu passiv, um in diesem Punkte einen eigenen Willen zu haben; man hatte es ihr so auch von frühester Jugend an eingeprägt, daß eine wohlerzogene junge Dame sich nur nach Bestimmung der Eltern vermählen dürfe, und sie hätte in diesem so ganz korrekten Antrage sicher nichts vermißt, wenn Wally nicht auf die Idee gekommen wäre, sie feierlichst zum Schutzgeist ihrer Liebe zu erheben.

Es hatte doch so ganz anders geklungen, das Flüstern und Plaudern, das vorhin aus dem Erker zu der Lauschenden herüberdrang, dies Kosen, Trotzen, Schmeicheln des übermüthigen Mädchens, das gleichwohl mit ganzer Seele an dem viel älteren ernsten Manne hing! Und welche überströmende Zärtlichkeit kam von seinen Lippen! – Hier warb man respektvoll um die Hand der reichen Erbin, nur um ihre Hand, von dem Herzen war gar nicht die Rede gewesen!

Wolfgang hatte geendet und harrte auf Antwort; jetzt beugte er sich nieder und fragte vorwurfsvoll:

„Alice – haben Sie mir gar nichts zu sagen?“

Alice sah wohl ein, daß sie irgend etwas sagen müsse; aber sie war es nicht gewohnt, selbständig zu entscheiden, und ihre Antwort klang denn auch so, wie es einem Zöglinge der Frau von Lasberg zukam.

„Ich muß vor allen Dingen mit meinem Papa sprechen, was er bestimmt –“

„Ich komme soeben von ihm,“ fiel Elmhorst ein, „und ich komme mit seiner vollen Zustimmung und Erlaubniß. Darf ich ihm mittheilen, daß meine Bitten und Wünsche Erhörung gefunden haben? Darf ich ihm meine Braut zuführen?“

Alice sah auf, ebenso fragend und bang wie vorhin, dann erwiderte sie leise:

„Sie werden viel Nachsicht mit mir haben müssen. Ich bin oft und schwer krank gewesen in meinen Kinderjahren, und das liegt noch jetzt auf mir wie ein Druck, den ich nicht abwerfen kann. Sie werden auch darunter leiden, und ich fürchte –“

Sie brach ab, aber es lag etwas kindlich Rührendes in ihrem Ton, in dieser Bitte um Nachsicht aus dem Munde der jungen Erbin, die mit ihrer Hand einen fürstlichen Reichthum zu vergeben hatte. Wolfgang mochte das fühlen; denn zum ersten Mal während der ganzen Unterredung brach etwas wie Wärme aus seinem Innern hervor.

"Sprechen Sie nicht weiter, Alice! Ich weiß es ja, daß Sie eine zarte Natur sind, die behütet und geschützt werden muß, und ich werde Sie schützen vor jeder rauhen Berührung des Lebens. Vertrauen Sie mir, legen Sie Ihre Zukunft in meine Hand und ich verspreche es Ihnen bei meiner –“ Liebe hatte er sagen wollen; aber die Lüge wollte nicht über die Lippen des stolzen Mannes, der wohl berechnen, aber nicht heucheln konnte, er vollendete langsamer – „bei meiner Ehre, Sie sollen es nie bereuen!“

Die Worte klangen fest und männlich und es war ihm ernst damit. Das empfand auch Alice; willig legte sie ihre Hand in die seinige und duldete es, daß er sie in die Arme schloß. Die Lippen des Bräutigams berührten zum ersten Male die ihrigen; er sprach ihr seinen Dank, seine Freude aus, nannte sie seine theure Braut, kurz, die Verlobung vollzog sich in aller Form. Es fehlte nur eine Kleinigkeit dabei, jenes jubelnde Geständniß, das die kleine Wally vorhin zwischen Lachen und Weinen ausgesprochen hatte: „Ich habe Dich so lieb, so unendlich lieb!“




Die Festräume des Nordheimschen Hauses strahlten im hellsten Lichtglanze, man beging zugleich mit dem Geburtsfeste der Tochter deren Verlobungsfeier. Es war eine überraschende Neuigkeit für die Gesellschaft gewesen, die trotz aller Gerüchte und Klatschereien doch niemals ernstlich an diese Verbindung geglaubt hatte. Es war ja auch unerhört, daß ein Mann, der notorisch zu den Reichsten des Landes gehörte, die Hand seines einzigen Kindes einem jungen Ingenieur zugestand, der bürgerlich, aus den einfachsten Verhältnissen hervorgegangen und gänzlich vermögenslos, nichts besaß, als sein Talent, das ihm allerdings die Zukunft verbürgte.

Daß es sich hier um keine Herzensgeschichte handelte, wußte man; Alice galt überhaupt für sehr beschränkt und keiner tieferen Neigung fähig. Trotzdem war sie eine Partie ersten Ranges und die Nachricht ihrer Verlobung rief manche bittere Enttäuschung hervor in aristokratischen Kreisen, wo man sich um die Erbin bemüht hatte. Dieser Nordheim zeigte wieder einmal, daß er die Vorrechte gar nicht zu schätzen verstand, die sein Reichthum ihm gewährte. Er hätte seiner Tochter eine Grafenkrone damit erkaufen können; statt dessen suchte er sich den Schwiegersohn unter den Beamten seiner Bahngesellschaft. Man war förmlich entrüstet darüber; dennoch kam alles zum Feste, was überhaupt geladen war. Man wollte doch den Glückspilz kennenlernen, der all den vornehmen Bewerbern den Rang abgelaufen hatte und den das Schicksal so plötzlich auf die Höhen des Lebens erhob, indem es ihn zum dereinstigen Herrn über Millionen machte.

Es war kurz vor dem Beginn des Festes und soeben trat der Präsident mit dem Bräutigam in den großen Empfangssaal. Er war augenscheinlich in bester Laune und im besten Einvernehmen mit seinem künftigen Schwiegersohn.

„Du mußt Dich ja heute erst der Residenzgesellschaft vorstellen, Wolfgang,“ sagte er. „Bei Deinen kurzen flüchtigen Besuchen hast Du immer nur in unserer Familie verkehrt. Jetzt knüpfen sich auch für Dich all diese Beziehungen an, da Ihr Euren künftigen Wohnsitz hier nehmen werdet. Alice ist an das großstädtische Leben gewöhnt und Du wirst auch nichts dagegen einzuwenden haben.“

„Gewiß nicht, Papa,“ versicherte Wolfgang. „Ich liebe es sehr, im Mittelpunkte dieses großartigen Lebens und Treibens zu stehen, es vertrug sich bisher nur nicht mit meinen Berufspflichten. Daß es in Zukunft möglich sein wird, sehe ich freilich an Deinem Beispiel. Du leitest ja von hier aus Deine sämmtlichen Unternehmungen.“

„Diese Thätigkeit fängt aber nachgerade an, erdrückend zu werden,“ versetzte Nordheim. „Ich habe es in der letzten Zeit doch gefühlt, daß ich einer Stütze bedarf, und rechne darauf, daß Du mich theilweise entlastest. Vorläufig bist Du allerdings noch unentbehrlich bei Vollendung der Bahnlinie; der Chefingenieur mit seiner zunehmenden Kränklichkeit giebt ja eigentlich nur den Namen her für die oberste Leitung.“

„Ja, sie ruht tatsächlich in meinen Händen, und wenn er ganz zurücktritt – ich weiß, daß er ernstlich mit dem Gedanken umgeht – so habe ich Dein Wort, Papa, daß ich sein Nachfolger werde.“

„Gewiß, und ich denke, diesmal wird man mir keine Schwierigkeiten dabei machen. Es ist freilich wohl das erste Mal, daß ein Mann in Deinen Jahren an die Spitze eines solchen Unternehmens gestellt wird; aber Du leistest mit der Wolkensteiner Brücke Dein Probestück, und meinem künftigen Schwiegersohne darf man die erste Stellung überhaupt nicht verweigern.“

„Du giebst mir viel mit diesem Familienbande, Papa, ich weiß es,“ sagte Elmhorst ernst, „unendlich viel – ich kann Dir nur einen Sohn dafür geben.“

Die Augen des Präsidenten ruhten nachdenklich auf dem Antlitz des Sprechenden, und mit einem Anflug von Wärme, der bei dem kühlen Geschäftsmann äußerst selten war, entgegnete er:

„Ich hatte einen einzigen Sohn, an den sich all meine Pläne und Hoffnungen knüpften; er starb schon im Kindesalter und es ist mir oft ein bitterer Gedanke gewesen, daß irgend ein vornehmer Nichtsthuer die Früchte meiner Arbeit ernten und vergeuden könne, wo ich gesammelt habe. Zu Dir habe ich ein besseres Vertrauen; Du wirst fortführen und erhalten, was ich schuf, wirst vollenden, was ich vielleicht unfertig zurücklassen muß; in Deine Hände kann ich dereinst auch mein geistiges Erbe legen.“

„Und ich werde es zu wahren wissen,“ ergänzte Wolfgang mit einem festen Händedruck, der ebenso erwidert wurde. Es fanden sich ja hier zwei durchaus gleichartige Naturen zusammen; aber es war doch ein merkwürdiges Gespräch bei der Verlobungsfeier in Erwartung der jungen Braut. Die beiden sprachen ausschließlich von ihren Angelegenheiten und Plänen; Alice wurde dabei gar nicht erwähnt. Der Vater forderte alles Mögliche von seinem künftigen Schwiegersohn; das Glück seiner Tochter zu fordern fiel ihm nicht ein, und der Bräutigam, der so klar die Vorteile dieses „Familienbandes“ erkannte, nannte nicht einmal den Namen seiner Braut. Sie redeten von Bauten und Brücken, von dem Chefingenieur und der Bahngesellschaft, so kühl und geschäftsmäßig, als ob es sich um eine Kompagnonschaft handelte, die heute zwischen ihnen abgeschlossen wurde, und im Grunde war es so auch nichts anderes; sie hätten beide die Verwandtschaft dabei entbehren können. Die Herren wurden aber jetzt unterbrochen; es trat ein Diener heran, um den Befehl des Präsidenten bei einer Anordnung der Tafel zu erbitten, und Nordheim fand es für nöthig, selbst in den Speisesaal zu gehen, um die Entscheidung an Ort und Stelle zu treffen.

Es war noch zu früh für die Ankunft der Gäste und auch die Damen des Hauses zeigten sich noch nicht. Die Diener waren bei der Tafel beschäftigt oder schon auf ihren Posten in den Vorzimmern und Wolfgang befand sich augenblicklich allein in den Gesellschaftsräumen, welche das ganze oberste Stockwerk des Hauses einnahmen.

Von dem großen Empfangssaal, mit seinen purpurfarbenen Tapeten und Sammetvorhängen, zwischen denen überall die reichste Vergoldung blitzte, übersah man die ganze Flucht dieser Räume, eine Reihe von Gemächern, deren Pracht gerade jetzt, wo sie noch leer und einsam waren, um so blendender hervortrat. Ueberall eine verschwenderische Fülle von kostbaren Gegenständen; überall Gemälde, Statuen und sonstige Kunstwerke, von denen jedes einzelne ein kleines Vermögen gekostet hatte, und am Ende der langen Zimmerreihe, wie ein märchenhafter Abschluß all dieses Glanzes, der nur matt erhellte Wintergarten, der eine exotische Pflanzenwelt von seltener Pracht barg. In der nächsten Stunde füllten sich diese lichtstrahlenden blumendurchdufteten Säle mit den ersten Persönlichkeiten der Residenzgesellschaft, die sämmtlich im Hause des Eisenbahnfürsten verkehrten.

Wolfgang stand regungslos da und ließ seine Blicke langsam umherschweifen. Es war in der That ein berauschendes Gefühl, sich als Sohn dieses Hauses zu wissen, als dereinstiger Erbe all dieser Herrlichkeit. Man konnte es dem jungen Manne nicht verdenken, daß seine Brust sich stolzer hob und seine Augen triumphirender aufblitzten. Er hatte das Wort gelöst, das er sich selbst gegeben, und den kühnen Plan verwirklicht, den er einst dem Freunde anvertraute; er hatte den Flug gewagt und die Höhe erreicht. In dem Alter, wo andere erst anfangen, sich ihre Zukunft zu erbauen, riß er sie mit einem kühnen Griffe vollendet an sich. Jetzt stand er droben auf dem einst erträumten Gipfel, und sie nahm sich schön aus, die Welt, die da unten zu seinen Füßen lag.

Da wurde die Thür des Saales geöffnet; Elmhorst wandte sich um und that einige Schritte dorthin, blieb aber plötzlich stehen; denn statt seiner Braut, die erwartet wurde, trat Erna von Thurgau ein. Sie sah jetzt freilich anders aus, als damals, wo sie mit dem verirrten Bergwanderer an den Abhängen des Wolkenstein zusammentraf. Das ungestüme Kind, das in seinen Bergen so frei und fessellos aufgewachsen war, hatte nicht umsonst drei Jahre in dem vornehmen Hause des Onkels gelebt und die „Dressur“ der Frau von Lasberg über sich ergehen lassen.

Die kleine Alpenrose hatte sich in eine junge Dame verwandelt, die mit vollendeter Grazie, aber auch mit vollendeter Förmlichkeit, die Verneigung Wolfgangs erwiderte; aber schön war sie geworden, blendend schön!

Die einst so kindlichen Züge hatten sich zur vollsten Regelmäßigkeit entwickelt; sie blühten auch jetzt noch in rosiger Frische; aber es lag ein Hauch von Ernst und Kälte darauf, den das frohe, übermüthige Kind des Freiherrn von Thurgau nie gekannt hatte, und auch die Augen leuchteten nicht mehr in unbekümmerter, lachender Jugendlust. Jetzt barg sich etwas anderes in diesen feuchten schimmernden Tiefen, rätselhaft wie die Fluthen der heimischen Bergseen, von denen sie ihre Farbe entlehnten, und geheimnißvoll und mächtig anziehend wie diese Fluth selbst. Jedenfalls war es eine hohe stolze Erscheinung, die da im blendenden Glanze des Kronleuchters stand, in dem duftigen weißen Gewande, das nur einzelne Seerosen schmückten. Den gleichen Schmuck trug das Haar, das freilich nicht mehr in wilden Locken um die Stirn flatterte; aber die Mode erlaubte ihm doch, seine ganze Fülle zu zeigen, und die mattschimmernde weiße Blume lag wie hingestreut in den blonden Haarwellen.

„Alice und Frau von Lasberg werden sogleich erscheinen,“ sagte sie, vollends in den Saal tretend. „Ich glaubte, der Onkel sei schon hier.“

„Er ist augenblicklich im Speisesaale,“ versetzte Elmhorst, dessen Begrüßung ebenso förmlich gewesen war wie die ihrige.

Erna machte eine Bewegung, als wolle sie dem Präsidenten dorthin folgen; es schien ihr aber doch einzufallen, daß dies eine Unhöflichkeit gegen den nunmehrigen Verwandten sei; sie blieb stehen und sandte einen prüfenden Blick durch die lange Zimmerreihe.

„Sie sehen die Festräume ja wohl zum ersten Male in ihrem vollen Glanze, Herr Elmhorst? Sie sind schön, nicht wahr?“

„Sehr schön! Und wenn man, wie ich, aus der winterlichen Einsamkeit der Berge kommt, machen sie einen geradezu blendenden Eindruck.“

„Mich hat es auch geblendet, als ich hierherkam,“ sagte die junge Dame gleichgültig; „aber man gewöhnt sich sehr leicht an derartige Umgebungen; die Erfahrung werden Sie auch machen, wenn Sie Ihren künftigen Wohnsitz hier nehmen. Es bleibt also dabei, daß Ihre Vermählung mit Alice erst in einem Jahre gefeiert wird?“

„Allerdings – im nächsten Frühjahr.“

„Das ist ein etwas langer Termin. Sind Sie wirklich damit einverstanden?“

Dem Bräutigam schien merkwürdigerweise dies Gespräch über seine Vermählung lästig zu sein. Er betrachtete angelegentlich eine große Majolikavase, die in seiner Nähe stand, und erwiderte, offenbar bestrebt, auf ein anderes Thema überzugehen:

„Ich muß es wohl sein, da ich vorläufig weder über meine Zeit, noch über meinen Aufenthalt frei verfügen kann. Es handelt sich zunächst um die Vollendung der Gebirgsbahn, deren Oberingenieur ich bin.“

„Sind Sie denn so fest gebunden?“ fragte Erna mit leisem Spott. „Ich sollte meinen, es könnte Ihnen nicht schwer werden, sich frei zu machen.“

„Frei zu machen – wovon?“

„Von einem Berufe, den Sie später doch jedenfalls aufgeben werden.“

„Nehmen Sie das als so selbstverständlich an, gnädiges Fräulein?“ sagte Wolfgang, gereizt durch ihren Ton. „Ich wüßte in der That nicht, was mich dazu veranlassen sollte.“

„Nun, einfach die Stellung, die Sie in Zukunft einnehmen – als Gemahl von Alice Nordheim.“

Die Stirn des Oberingenieurs färbte sich dunkelroth und ein drohender Blick traf die junge Dame, die es wagte, ihn daran zu erinnern, daß er eine Geldheirath machte. Sie lächelte zwar und ihre Bemerkung klang scherzhaft; aber ihre Augen redeten eine andere, verächtlichere Sprache, die er nur zu gut verstand. Doch Wolfgang Elmhorst war nicht ein Mann, den man so ohne weiteres mit der Verachtung des Glücksritterthums abfertigen konnte; er lächelte gleichfalls und erwiderte mit kühler Artigkeit:

„Ich bedaure sehr, mein Fräulein, aber da befinden Sie sich doch im Irrthum. Mir ist der Beruf, die Arbeit ein Lebensbedürfniß; zum thatenlosen trägen Genuß des Lebens bin ich nicht geschaffen. Das scheint Sie allerdings zu befremden –“

„Durchaus nicht,“ fiel Erna ein. „Ich begreife es vollkommen, daß ein echter Mann sich einzig und allein auf die eigene Kraft stellt.“

Wolfgang biß sich auf die Lippen, aber er parirte auch diesen Schlag.

„Ich darf das wohl als ein Kompliment nehmen. Ich habe mich allerdings ganz auf meine eigene Kraft gestellt, als ich den Plan zu der Wolkensteiner Brücke entwarf, und ich hoffe, mit meinem Werke Ehre einzulegen, selbst als ‚Gemahl von Alice Nordheim‘. Doch Verzeihung, das sind Dinge, die eine Dame nicht interessiren können.“

„Mich interessiren sie,“ sagte Erna herb. „Es war ja mein Vaterhaus, das dieser Brücke weichen mußte, und Ihr Werk hat noch ein anderes, schwereres Opfer von mir gefordert.“

„Das mir nie verziehen worden ist, ich weiß es,“ ergänzte Wolfgang. „Sie lassen mich noch immer einen unseligen Zufall büßen und Ihr Gerechtigkeitsgefühl mußte Ihnen doch sagen, daß ich den Vorwurf nicht verdiene.“

„Ich mache Ihnen keinen Vorwurf, Herr Elmhorst.“

„Sie haben ihn mir gemacht, in jener verhängnißvollen Stunde, und Sie thun es noch heute.“

Erna gab keine Antwort, aber ihr Schweigen war beredt genug. Elmhorst schien doch eine, wenn auch nur formelle Abwehr erwartet zu haben; denn in seiner Stimme verrieth sich eine aufquellende Bitterkeit, als er fortfuhr:

„Ich habe es selbst am meisten beklagt, daß grade ich dazu ausersehen wurde, die letzte Verhandlung mit Baron Thurgau zu führen. Geführt mußte sie unter allen Umständen werden, und ihr trauriger Schluß lag außerhalb jeder menschlichen Berechnung. Nicht ich, mein Fräulein, die eiserne Nothwendigkeit verlangte das Opfer Ihres Vaterhauses; die Wolkensteiner Brücke ist daran ebenso unschuldig wie ich selbst.“

„Ich weiß es,“ erklärte Erna kalt; „aber es giebt Fälle, in denen man nun einmal nicht gerecht sein kann; das sollten Sie einsehen, Herr Elmhorst. Sie sind jetzt ein Glied unserer Familie geworden und dürfen überzeugt sein, daß ich Ihnen keine einzige der Rücksichten verweigern werde, die der nunmehrige Verwandte fordern darf – über meine Gefühle habe ich niemand Rechenschaft zu geben.“

Wolfgang richtete den Blick voll und finster aus ihr Gesicht.

„Das heißt mit andern Worten: Sie hassen mein Werk und – mich?“

Erna schwieg; sie hatte längst den Kindertrotz abgelegt, mit dem sie einst dem fremden Manne ins Gesicht sagte, daß sie ihn nicht leiden mochte, mit dem sie voll Empörung seinen Spott über ihre Bergsagen zurückwies. Die junge Dame wußte jetzt sehr genau, daß sich das nicht schicke, und sie stand auch in vollkommen ruhiger Haltung vor ihm, mit unbewegten Zügen. Aber ihre Augen hatten es noch nicht verlernt, aufzuflammen, und was in diesem Moment daraus hervorbrach, verrieth, daß die stürmische Natur des Mädchens nur äußerlich gebändigt war, daß sie noch unberührt in der Tiefe schlummerte. Sie flammten wie Blitze, diese Augen, und sprachen ein glühendes, energisches Ja zu der letzten Frage, wenn auch die Lippen stumm blieben.

Wolfgang konnte das unmöglich mißverstehen, und doch hing sein Blick an diesen feindseligen, dunkelblauen Tiefen, als hätten sie die Macht, ihn festzuhalten, freilich nur einige Sekunden; dann wandte sich Erna ab und sagte in leichtem Tone.

„Wir sind wahrhaftig in ein seltsames Gespräch gerathen! Wir reden von Opfern, von Haß und Vorwürfen, und das alles an Ihrem Verlobungstage!“

Wolfgang trat mit einer raschen, beinahe heftigen Bewegung zurück.

„Sie haben recht, gnädiges Fräulein – reden wir von anderen Dingen!“

Sie redeten gleichwohl nicht; es trat vielmehr ein Schweigen ein, das drückend war für beide. Die junge Dame hatte sich niedergelassen und studirte angelegentlich die Zeichnung ihres Fächers, während ihr Gefährte auf die Schwelle des nächsten Gemaches trat und noch einmal die Prachträume zu mustern schien; aber seine Züge verriethen jetzt nichts mehr von der stolzen Genugthuung, die er eine Viertelstunde vorher bei dieser Musterung empfunden hatte; es lag ein tief gereizter Ausdruck auf denselben.

Da öffnete sich die Thür des Empfangssaales von neuem; Alice und Frau von Lasberg traten ein.

[485] Frau von Lasberg, die mit Alice eingetreten war, zeigte eine gewisse ergebungsvolle Miene; denn sie begrub an dem heutigen Tag einen Lieblingswunsch. Sie hatte fest darauf gerechnet, Alice, die sie ganz in ihrem Sinne erzogen hatte, dereinst in die Reihen der Aristokratie einzuführen, und einer der vornehmen Bewerber, der einem alten Grafenhause entstammte, erfreute sich ihrer ganz besonderen Begünstigung – und jetzt trug Wolfgang Elmhorst den Preis davon! Er war freilich der einzige Mensch, dem Frau von Lasberg das verzieh, denn er hatte es längst verstanden, auch sie zu gewinnen; aber es blieb nichts desto weniger eine schmerzliche Thatsache, daß dieser Mann, der so ganz zum Kavalier geschaffen war und an dessen Persönlichkeit selbst die gestrenge Frau Oberhofmeisterin nichts auszusetzen fand, einen einfach bürgerlichen Namen trug.

Alice, in einem Atlaskleide von zartblauer Farbe, mit überreichem Spitzenbesatz und langer Schleppe, sah nicht besonders vortheilhaft aus. Der schwere Faltenwurf des kostbaren Stoffes schien die zarte Gestalt förmlich zu erdrücken, und die Diamanten, welche an Hals und Armen funkelten, ein Geschenk des Vaters zu dem heutigen Festtage, vermochten es nicht, das Matte, Farblose der ganzen Erscheinung zu heben. Sie war nun einmal nicht geschaffen für einen solchen Rahmen; ein luftiges, blumengeschmücktes Ballkleid hätte ihr viel besser gestanden.

Wolfgang ging rasch seiner Braut entgegen und zog ihre Hand an seine Lippen. Er war voll zarter Aufmerksamkeit gegen sie, voll Artigkeit gegen die Baronin Lasberg, aber die Wolke auf seiner Stirn wich erst, als der Präsident zurückkam und gleichzeitig die ersten Gäste vorfuhren. Allmählich begannen sich die Säle zu füllen mit einer in jeder Hinsicht glänzenden Versammlung. Es waren in der That die ersten Persönlichkeiten der Hauptstadt, die sich hier zusammenfanden. Geburts- und Geistesadel, Finanzwelt und Kunst, Militär und höheres Beamtenthum waren mit ihren besten Namen vertreten. Neben den kostbarsten Toiletten, die an Pracht einander überboten, blitzten zahlreiche Uniformen, und das alles schimmerte, wogte und rauschte durch einander – die Gesellschaft entsprach vollkommen dem Glanze, den das Nordheimsche Haus bei dieser Gelegenheit entfaltete.

Den Mittelpunkt der allgemeinen Aufmerksamkeit bildete selbstverständlich das Brautpaar, oder vielmehr der Bräutigam, der den meisten noch gänzlich unbekannt war und eben deshalb ein verdoppeltes Interesse erregte. Er war ja ein schöner Mann, dieser Wolfgang Elmhorst, das ließ sich nicht leugnen, und man zweifelte auch nicht an seiner Begabung und seinem Talente; aber mit diesen Eigenschaften allein gewann man doch nicht die Hand einer der reichsten Erbinnen, die ganz andere Ansprüche erheben konnte. Und dabei schien der junge Mann sein unerhörtes Glück, das jeden andern berauscht hätte, durchaus selbstverständlich zu finden! Auch nicht die leiseste Unsicherheit oder Befangenheit verrieth, daß er sich zum ersten Male in diesem glänzenden Kreise bewegte. Seine Braut am Arme, stand er ruhig und stolz neben dem künftigen Schwiegervater, ließ sich vorstellen, empfing und beantwortete jeden Glückwunsch mit der gleichen Artigkeit und fand sich mit der Hauptrolle, die der heutige Tag ihm auferlegte, in bewundernswerther Weise ab. Er war so ganz der Sohn des Hauses, der

mit aller Entschiedenheit die ihm zukommende Stellung in Anspruch nahm, und bisweilen sah es aus, als nehme er die Vorstellung der gesammten Gesellschaft entgegen.

Unter den Gästen befand sich auch der Oberregierungsrath von Ernsthausen, ein vornehmer, steifer Bureaukrat, der heute ohne seine Gemahlin erschienen war, aber dafür sein Töchterlein am Arme führte. Die kleine Baroneß sah reizend aus in dem luftigen, rosigen Ballanzuge mit dem Kranz von Schneeglöckchen in den krausen schwarzen Locken, und sie strahlte förmlich vor Freude und Triumph darüber, daß sie nach heißen Kämpfen den Besuch des Festes doch durchgesetzt hatte. Die Eltern hatten sie anfangs davon ausschließen wollen, weil auch Doktor Gersdorf eingeladen war und sie erneute Annäherungsversuche von dieser Seite fürchteten. Jedenfalls war der Herr Papa gewappnet und gerüstet gegen die feindliche Macht; er ging wie eine Schutzwache neben seiner Tochter her und hielt ihren Arm so fest, als wolle er ihn während des ganzen Abends nicht wieder loslassen.

Der Doktor schien aber nicht gesonnen, sich einer erneuten Zurückweisung auszusetzen, und begnügte sich mit einem artigen Gruße aus der Ferne, den Baron Ernsthausen sehr steif erwiderte. Wally neigte das Köpfchen so ernsthaft und verständig, als sei sie ganz einverstanden mit der väterlichen Eskorte; natürlich hatte sie ihren Feldzugsplan längst entworfen und machte sich sofort an die Ausführung, mit einer Energie, die nichts zu wünschen übrig ließ.

Sie umarmte und beglückwünschte zunächst die Braut, wobei sie nothgedrungen den Arm des Vaters loslassen mußte, begrüßte dann Frau von Lasberg mit größter Liebenswürdigkeit, was die alte Dame ziemlich kühl aufnahm, und ward endlich von einer überströmenden Zärtlichkeit für Erna ergriffen, die sie denn auch glücklich bei Seite zog. Der Oberregierungsrath blickte ihnen etwas argwöhnisch nach; da aber Gersdorf ruhig am anderen Ende des Saales blieb, so beruhigte auch er sich wieder und glaubte seines Hüteramtes trefflich zu walten, wenn er den Feind unausgesetzt im Auge behielt. Er ahnte nicht, welcher arglistige Streich hinter seinem Rücken geplant und ausgeführt wurde.

Das Geflüster in der Fensternische dauerte nicht lange, dann verschwand Fräulein von Thurgau plötzlich aus dem Saale, während Wally ganz unbefangen zu dem Vater zurückkehrte und sich mit einigen Bekannten in eine angelegentliche Unterhaltung vertiefte. Sie sah es aber trotzdem recht gut, daß Erna nach Verlauf von einigen Minuten zurückkehrte, sich dem Doktor Gersdorf näherte und ihm einige leise Worte sagte. Er sah etwas überrascht auf, verneigte sich aber zustimmend und die kleine Baroneß breitete triumphirend ihren Fächer aus. Die Aktion war eingeleitet und der Herr Papa matt gesetzt für den größten Theil des Abends.

Der Präsident vermißte inzwischen seine Nichte und sah sich ungeduldig nach ihr um. Er sprach mit einem Herrn, der soeben erst in den Saal getreten war und jedenfalls nicht zu den gewöhnlichen Gästen des Hauses gehörte. Derselbe mußte aber wohl besondere Rücksichten beanspruchen können, denn Nordheim empfing und behandelte ihn mit einer Auszeichnung, die er nur sehr wenigen Persönlichkeiten zu theil werden ließ. Erna war kaum wieder sichtbar geworden und in seine Nähe gekommen, als er mit seinem Begleiter aus sie zutrat und diesen vorstellte.

„Herr Ernst Waltenberg, dessen Namen ich Dir bereits genannt habe – meine Nichte, Fräulein von Thurgau.“

„Ich hatte das Unglück, die Damen bei meinem gestrigen Besuche zu verfehlen, und bin daher dem gnädigen Fräulein noch ganz fremd,“ sagte Waltenberg, sich artig verneigend.

„Nicht doch, ich habe bei Tische viel von Ihnen erzählt,“ fiel Nordheim rasch ein. „Ein Weltfahrer wie Sie, der schon die ganze Erde umkreist hat und direkt aus Persien kommt, ist immer eine interessante Persönlichkeit für die Damen und in meiner Nichte kann ich Ihnen noch eine besonders aufmerksame Zuhörerin versprechen, wenn Sie von Ihren Erlebnissen erzählen. Das Seltsame und Ungewöhnliche ist ganz ihr Geschmack.“

„In der That, gnädiges Fräulein?“ fragte Waltenberg, dessen Augen mit unverhohlener Bewunderung an den Zügen des schönen Mädchens hingen. Nordheim bemerkte das und lächelte; ohne seiner Nichte Zeit zu einer Antwort zu lassen, fuhr er fort:

„Verlassen Sie sich darauf. Aber wir müssen vor allen Dingen versuchen, Sie wieder etwas heimischer in Europa zu machen, dem Sie gänzlich fremd geworden sind. Es wird mich freuen, wenn mein Haus etwas dazu beitragen kann; Sie wissen ja, daß es Ihnen immer offen steht.“

Er reichte seinem Gaste in der zuvorkommendsten Weise die Hand und trat dann zurück. Es lag eine gewisse Absichtlichkeit in der Art, wie er die beiden einander näherte und sie sich dann selbst überließ; aber Erna bemerkte das nicht. Sie hatte die Vorstellung gleichgültig hingenommen; überseeische Fremde waren keine Seltenheit im Nordheimschen Hause, welches überall Verbindungen hatte; doch der flüchtige Blick, mit dem sie den Gast musterte, blieb gefesselt haften an diesen eigenartigen Zügen.

Ernst Waltenberg war kein junger Mann mehr, er stand im Anfange der Vierzig und seiner nicht allzugroßen, aber sehnigen Gestalt sah man es an, daß er Anstrengungen und Gefahren gewachsen war. Das dunkle Antlitz mit seiner tiefbraunen Färbung verrieth den jahrelangen Aufenthalt in den Tropenländern; es war durchaus nicht schön, aber um so ausdrucksvoller und zeigte jene tiefen Linien, welche nicht die Jahre, sondern die Erfahrungen den Menschengesichtern einzuprägen pflegen. Das krause tiefschwarze Haar umgab eine breite Stirn mit dichten schwarzen Brauen, die stahlgrauen Augen hatten einen düsteren Blick und doch schienen sie aufflammen zu können in voller Leidenschaft: das sah man an ihrem gelegentlichen Aufblitzen. In der ganzen Erscheinung lag etwas Ungewöhnliches, Fremdartiges, das sich scharf und bedeutsam unterschied von all den glänzenden, aber meist sehr uninteressanten Gestalten, die hier durch die Säle flutheten. Auch die Stimme hatte einen eigenthümlichen Tonfall; sie klang tief, aber gleichfalls fremdartig, vielleicht infolge der langen Gewöhnung an andere Sprachen. Jedenfalls war Waltenberg vollkommen vertraut mit den gesellschaftlichen Formen; die Art, wie er neben Fräulein von Thurgau Platz nahm und die Unterhaltung führte, verrieth den Weltmann.

„Sie kommen aus Persien zurück?“ fragte Erna, an die Worte ihres Onkels anknüpfend.

„Ja, gnädiges Fräulein, dort war ich zuletzt wenigstens. Es sind mehr als zehn Jahre, daß ich den europäischen Boden nicht betreten habe.“

„Und doch sind Sie ein Deutscher? Vermutlich hielt Ihr Beruf Sie so lange fern?“

„Mein Beruf?“ wiederholte Waltenberg mit einem flüchtigen Lächeln. „Nein, ich folgte darin nur meiner eigenen Neigung. Ich gehöre nicht zu den seßhaften Naturen, die in Haus und Heimath festwurzeln; mich hat es von jeher hinausgezogen in die weite Welt und ich habe diesem Drange schrankenlos nachgegeben.“

„Und haben Sie in diesem ganzen Jahrzehnt niemals Heimweh empfunden?“

„Offen gestanden, nein! Man entwöhnt sich nachgerade von der Heimat und ihren Beziehungen und wird schließlich fremd darin. Ich bin auch jetzt nur zurückgekommen, um geschäftliche und persönliche Angelegenheiten zu ordnen, und glaube kaum, daß mein Aufenthalt von langer Dauer sein wird. Mich fesselt so auch hier keine Familie, ich stehe allein.“

„Aber das Vaterland selbst sollte Sie doch fesseln,“ warf Erna ein.

„Vielleicht, aber ich bin bescheiden genug, zu glauben, daß es mich nicht braucht. Es sind so viele Bessere da.“

„Und Sie brauchen Ihr Vaterland gleichfalls nicht?“

Die Bemerkung war etwas ungewöhnlich für eine junge Dame und Waltenberg sah in der That überrascht auf; aber der Blick, der dem seinigen begegnete, verschärfte noch den Tadel, der in jenen Worten lag.

„Sie sind darüber entrüstet, mein Fräulein, ich sehe es,“ sagte er ernster. „Trotzdem muß ich mich schuldig bekennen. Aber glauben Sie mir, ein Leben, wie ich es jahrelang geführt habe, frei von allen Schranken und Fesseln, inmitten einer Natur, die in verschwenderischer Fülle prangt, wo die unserige mit jeder Blüthe kargt, das wirkt wie ein berauschender Zaubertrank. Wer einmal davon gekostet hat, der kann ihn nicht wieder entbehren. Wenn ich wirklich dauernd zurückkehren müßte in dies Schein- und Formenwesen der sogenannten Gesellschaft, unter diesen grauen winterlichen Himmel, ich glaube – doch das sind ketzerische Ansichten in den Augen einer gefeierten jungen Dame, die im Mittelpunkte dieser Gesellschaft steht.“

„Und die Sie doch vielleicht versteht,“ sagte Erna mit aufwallender Bitterkeit. „Ich bin in den Bergen aufgewachsen, in der mächtigen Einsamkeit des Hochgebirges, fern von der Welt und ihrem Treiben, und ich entbehre sie schwer, sehr schwer, die sonnige, goldige Freiheit meiner Kindertage!“

„Auch hier?“ fragte Waltenberg, indem er auf die lichtstrahlenden Säle deutete, wo die Gesellschaft plaudernd und lachend auf und nieder wogte.

„Grade hier am meisten!“

Die Antwort klang leise, kaum hörbar und es war ein eigenthümlich müder und trauriger Blick, der durch das glänzende Gewühl streifte; aber schon im nächsten Augenblick schien die junge Dame zu bereuen, daß sie sich zu diesem halb unwillkürlichen Geständnisse hatte hinreißen lassen, denn sie brach plötzlich ab und sagte scherzend:

„Doch Sie haben recht, das sind ketzerische Ansichten, und mein Onkel würde sehr wenig damit einverstanden sein; er beabsichtigt ja im Gegentheil, Sie in unserer Gesellschaft wieder heimisch zu machen. – Darf ich Sie mit dem Herrn dort bekannt machen? Es ist eine unserer ersten Berühmtheiten, die Sie sicher interessiren wird.“

Ihre Absicht, eine Unterhaltung zu beenden, die eine so ungewöhnlich ernste Richtung genommen hatte, war deutlich genug. Waltenberg verneigte sich zustimmend, aber es lag ein unverkennbarer Ausdruck von Mißvergnügen auf seinem Gesichte, als er der Berühmtheit vorgestellt wurde, und sein Gespräch mit derselben dauerte kaum einige Minuten. Dann suchte er den Doktor Gersdorf auf, einen von den Wenigen, die er noch aus früherer Zeit kannte; sie waren alte Universitätsfreunde.

„Nun, Ernst, Du fängst wohl nachgrade an, Dich hier bei uns zu akklimatisiren?“ rief ihm der Rechtsanwalt entgegen. „Du hast Dich ja sehr eingehend mit Fräulein von Thurgau unterhalten! Ein schönes Mädchen, nicht wahr?“

„Ja, und es verlohnt sich sogar der Mühe, mit ihr zu reden,“ erwiderte Ernst, während er mit dem Freunde etwas abseits trat. Dieser lachte und sagte in gedämpftem Tone: „Ein artiges Kompliment für die anderen Damen! Mit denen zu sprechen lohnt es wohl der Mühe nicht?“

„Nein,“ erklärte Waltenberg kühl, aber gleichfalls in leiserem Tone. „Ich wenigstens gewinne es nicht über mich, den ganzen Abend lang inhaltlose Phrasen zu hören und zu beantworten. In der Nähe des Brautpaares ergeht man sich ganz besonders darin. Welch ein Schwall von nichtssagenden Redensarten! Uebrigens sieht die junge Braut recht unbedeutend aus und sie scheint auch etwas beschränkter Natur zu sein.“

Gersdorf zuckte die Achseln.

„Sie heißt aber Alice Nordheim und das fiel wohl allein ins Gewicht bei dem Bräutigam. Es giebt hier im Saale manchen, der mit ihm tauschen möchte; er war aber klug genug, sich die Gunst des Vaters zu sichern, und damit gewann er den Preis.“

„Eine Geldheirath also? Ein bloßer Streber?“

„Wenn Du willst – ja, aber jedenfalls einer von den energischen und begabten, die ihres Erfolges sicher sind. Er regiert bereits die sämmtlichen Beamten seiner Bahn ebenso absolut, wie sein künftiger Schwiegervater den Verwaltungsrath, und wenn Du sein Riesenwerk, die Wolkensteiner Brücke, siehst, so wirst Du zugestehen, daß sein Talent nicht zu den gewöhnlichen gehört.“

„Gleichviel, mir ist jedes Streberthum verhaßt in tiefster Seele,“ sagte Waltenberg verächtlich. „Dem Unbedeutenden mag es noch hingehen, er hat überhaupt keinen Anspruch auf Beachtung; aber dieser Elmhorst sieht aus wie ein Charakter und verkauft sich und seine Freiheit für Geld – erbärmlich!“

„Mein lieber Ernst, man hört es, daß Du aus der Wildniß kommst,“ versetzte Gersdorf trocken. „Dergleichen ‚Erbärmlichkeiten‘ kannst Du in unserer vielgepriesenen Gesellschaft täglich erleben und sogar bei sonst ganz ehrenwerthen Leuten. Bei Dir spielt das Geld allerdings keine Rolle; Du gebietest ja selbst über verschiedene Hunderttausende. Wirst Du denn nie Dein ruheloses Wanderleben aufgeben und versuchen, wie es sich am häuslichen Herde ruht?“

„Nein, Albert, dazu bin ich nicht geschaffen. Meine Braut ist die Freiheit und der bleibe ich treu.“

„Ja, das habe ich auch gesagt,“ lachte der Doktor, „aber mit der Zeit macht man doch die Erfahrung, daß diese Braut etwas kalter Natur ist, und wenn einem dann noch das Unglück passirt, sich zu verlieben, dann ist es aus mit der Freiheitslust und der angehende Hagestolz verwandelt sich ohne alle Gewissensbisse in einen rechtschaffenen Ehemann. Ich bin eben dabei, diesen Umwandlungsprozeß durchzumachen.“

„Ich kondolire,“ warf Ernst sarkastisch ein.

„Bitte, ich befinde mich ganz vortrefflich dabei. Uebrigens habe ich Dir meine Liebes- und Leidensgeschichte ja bereits anvertraut; wie findest Du die künftige Frau Doktor Gersdorf?“

„So reizend, daß sie Deine schmähliche Fahnenflucht einigermaßen entschuldigt. Es ist allerliebst, dies rosige, lachende Gesichtchen.“

„Ja, meine kleine Wally ist der verkörperte Sonnenschein!“ sagte Albert warm, während sein Auge das junge Mädchen suchte. „Bei den Eltern steht das Barometer freilich noch auf Sturm, aber wenn der Oberregierungsrath auch seine sämmtlichen Ahnen gegen mich ins Feld führt und den berühmten Großonkel dazu – der, nebenbei gesagt, viel schlimmer ist als all die Hochseligen – ich bin entschlossen, unter allen Umständen zu siegen.“

„Herr Waltenberg, darf ich Sie bitten, meine Nichte zu Tische zu führen?“ sagte der Präsident, der soeben vorüberging und auf einen Augenblick zu den beiden Herren trat.

„Mit Vergnügen,“ versicherte Waltenberg, und das Vergnügen über diese Anordnung prägte sich in der That so deutlich auf seinem Gesichte aus, daß Gersdorf ein spöttisches Lächeln nicht unterdrücken konnte.

„Sieh da! Am Ende bin ich nicht der einzige Fahnenflüchtige!“ murmelte er, als sein Freund ihn jetzt ohne weiteres im Stiche ließ und sich eiligst Fräulein von Thurgau näherte. Der Frauenverächter fing an galant zu werden.




Die Thüren des Speisesaales wurden jetzt geöffnet und die Gesellschaft begann sich paarweise zu ordnen. Baron Ernsthausen bot Frau von Lasberg, die ihm zur Tischnachbarin bestimmt war, den Arm; er hatte zu seiner großen Befriedigung von ihr erfahren, daß Lieutenant von Alven seine Tochter führen werde und daß Doktor Gersdorf seinen Platz am anderen Ende der Tafel habe. Das Paar schritt würdevoll davon und ihm nach fluteten die übrigen; aber merkwürdigerweise verneigte sich Lieutenant Alven vor einer anderen jungen Dame und Doktor Gersdorf trat auf Baroneß Ernsthausen zu.

„Was bedeutet das, Wally?“ fragte er leise. „Ich soll Dich zu Tisch führen, wie Fräulein von Thurgau mir sagte? Du hast doch nicht etwa Frau von Lasberg –?“

„O, die ist längst im Komplott mit meinen Eltern,“ flüsterte Wally, indem sie seinen Arm nahm. „Denke nur, die ganze Länge der Tafel wollten sie zwischen uns legen! Mama hat Migräne, aber sie hat dem Papa die strengste Weisung gegeben, mich nicht aus den Augen zu lassen, und Frau von Lasberg figurirt als Schutzwache Nummer zwei – aber sie sollen es einmal versuchen, mit mir etwas anzufangen! Ich habe ihnen allesammt eine Nase gedreht.“

„Was hast Du denn eigentlich gethan?“ fragte Gersdorf, etwas beunruhigt.

„Die Tischkarten habe ich vertauscht!“ triumphirte Wally. „Oder vielmehr Erna hat es thun müssen. Sie wollte anfangs nicht; aber ich fragte sie, ob sie es auf ihr Gewissen nehmen könne, uns beide in grenzenlose Verzweiflung zu stürzen. Das konnte sie nicht und da hat sie nachgegeben.“

Der kleinen Baroneß waren die Phrasen, mit denen sie die verschiedenen Schutzgeister ihrer Liebe vorführte, schon recht geläufig geworden; der Doktor schien aber nicht sehr erbaut zu sein von diesem Staatsstreiche, er schüttelte den Kopf und sagte vorwurfsvoll:

„Ich bitte Dich, Wally, das kann ja unmöglich verborgen bleiben, und wenn Dein Vater uns erblickt –“

„Dann wird er wüthend sein!“ ergänzte Wally mit vollster Seelenruhe. „Aber weißt Du, Albert, das ist er jetzt eigentlich immer und da kommt es auf etwas mehr oder weniger wirklich nicht an. Und nun sieh nicht so pedantisch ernsthaft aus; ich glaube wahrhaftig, Du willst mit mir zanken wegen meiner klugen Idee!“

[490] „Ich sollte es eigentlich thun,“ sagte Albert, wider Willen lächelnd; „aber wer kann mit Dir rechten, Du übermüthiger Puck!“

In dem allgemeinen Geplauder war das Geflüster der beiden unbemerkt geblieben; sie schlossen sich jetzt den anderen Paaren an und traten in den Speisesaal, wo der Oberregierungsrath bereits an der Seite seiner Dame Platz genommen hatte. Er liebte die Tafelfreuden außerordentlich und die Erwartung eines guten Diners stimmte ihn ganz menschenfreundlich. Auf einmal aber versteinerte sich sein Antlitz, als habe er das Medusenhaupt erblickt, und es war doch nur das höchst vergnügte Gesicht seines Töchterleins, das soeben am Arme des Doktor Gersdorf auftauchte.

„Gnädige Frau, um Gotteswillen!“ flüsterte der Baron ganz fassungslos. „Sie sagten mir doch, daß Lieutenant von Alven –“

„Er führt Wally zu Tische, gewiß, und ich habe auf Ihren ausdrücklichen Wunsch den Doktor Gersdorf –“

Frau von Lasberg verstummte mitten in der Rede und schien nun ihrerseits zu versteinern, denn jetzt erblickte auch sie das Paar, das sich soeben am anderen Ende der Tafel niederließ.

„An seiner Seite!“ knirschte der Oberregierungsrath und schleuderte über dreißig Couverts hinweg einen vernichtenden Blick auf den Doktor.

„Ich begreife nicht, wie das möglich ist, ich habe selbst die Tafelordnung festgestellt.“

„Vielleicht ein Irrthum der Diener –“

„Nein, es ist eine Intrigue der Baroneß,“ fiel Frau von Lasberg empört ein. „Aber ich bitte Sie, nur jetzt kein Aufsehen, keine Scene! Wenn die Tafel aufgehoben wird –“

„Dann fahre ich sofort mit Wally nach Hause!“ ergänzte Ernsthausen und packte seine Serviette mit einer Wuth, die der ungehorsamen Tochter das Schlimmste verhieß.

Die Tafel nahm ihren Anfang und Verlauf, mit all dem Glanze, den man von einem Festdiner im Nordheimschen Hause erwarten durfte. Die Tische waren fast überladen mit schwerem Silber und leuchtendem Krystall und dazwischen dufteten die seltensten Blumen; es folgte eine endlose Menge von Gerichten, mit den edelsten Weinsorten, die üblichen Toaste auf das Brautpaar wurden ausgebracht, die üblichen Reden gehalten und über dem Ganzen lag die übliche Langeweile, die von solchen Schaustellungen eines fürstlichen Reichthums unzertrennlich ist.

Das schloß jedoch nicht aus, daß einige von den jüngeren Herrschaften sich trefflich unterhielten, in erster Linie Baroneß Wally, die ganz unbekümmert um das ihrer harrende Strafgericht unaufhörlich mit ihrem Tischnachbar plauderte und lachte, und Gersdorf, der kein Liebender hätte sein müssen, wenn er nicht auch seinerseits alles Uebrige vergessen und mit vollen Zügen das unerwartete Glück dieses Beisammenseins genossen hätte.

Nicht minder lebhaft, wenn auch ernster und inhaltreicher war das Gespräch, das am oberen Ende der Tafel geführt wurde. Fräulein von Thurgau hatte als nächste Verwandte des Hauses ihren Platz dem Brautpaare gegenüber und Ernst Waltenberg war die gleiche Auszeichnung zu theil geworden. Er hatte sich vorhin der Gesellschaft gegenüber sehr kühl und schweigsam benommen, jetzt zeigte er, daß er mit seiner Unterhaltung fesseln konnte, wenn es ihm wirklich darauf ankam zu fesseln.

Er sprach freilich von Ländern und Menschen, die in weiter Ferne lagen, aber sie schienen lebendig zu erstehen vor den Augen seiner Zuhörerin. Er schilderte den Zauber der südlichen Meere, die Pracht der Tropenlandschaft; die ganze weite Welt that sich auf in diesen glühenden poesiedurchwobenen Schilderungen, und Erna, die mit leuchtenden Augen zuhörte, schien ganz hingerissen davon zu sein. Der Blick des Bräutigams streifte bisweilen mit einem eigentümlich forschenden Ausdrucke die beiden; sein Gespräch mit Alice zeichnete sich allerdings nicht durch besondere Lebhaftigkeit aus, und er war doch sonst ein Meister in der Unterhaltung.

[501] Endlich wurde die Tafel aufgehoben und man kehrte in die Gesellschaftsräume zurück; die Stimmung war zwangloser und heiterer geworden. Es bildeten sich überall einzelne Gruppen, das Lachen und Plaudern klang lauter und die ganze Gesellschaft wogte und fluthete so durch einander, daß es schwer ward, jemand darin aufzusuchen. Das mußte Oberregierungsrath Ernsthausen zu seinem tiefsten Aerger erfahren; sein Fräulein Tochter hatte sich vorläufig unauffindbar gemacht.

Ernst Waltenberg hatte seine Dame nach dem Wintergarten geführt und saß, die lebhafte Unterhaltung von vorhin fortsetzend, an ihrer Seite, als das Brautpaar eintrat. Wolfgang stutzte einen Moment, als er die beiden erblickte; dann verneigte er sich kühl gegen Waltenberg, der von seinem Sitze aufsprang, um der jungen Braut Platz zu machen, und sagte:

„Alice klagt über Ermüdung und wünschte den stilleren Wintergarten aufzusuchen – wir stören doch nicht?“

„Wen?“ fragte Erna ruhig.

„Sie und Herrn Waltenberg. Sie waren ja in so lebhafter Unterhaltung und wir würden sehr bedauern –“

Statt aller Antwort ergriff Erna die Hand ihrer Kousine und zog sie an ihre Seite.

„Du hast recht, Alice, Du mußt Dich erholen; es ist selbst für stärkere Naturen, als Du es bist, eine Aufgabe, der Mittelpunkt eines solchen Festes zu sein.“

„Ich wollte mich nur auf einige Minuten zurückziehen,“ sagte Alice, die in der That etwas angegriffen aussah. „Aber wir scheinen wirklich gestört zu haben; Herr Waltenberg war mitten in einer gewiß sehr interessanten Schilderung und brach plötzlich ab, als wir eintraten.“

„Ich sprach von meinem letzten Aufenthalt in Indien,“ erklärte Waltenberg, „und ich habe die Gelegenheit benutzt, Baroneß Thurgau eine Bitte vorzutragen, die ich auch an Sie richten möchte, gnädiges Fräulein. Ich habe im Laufe der zehn Jahre, die ich fern von Europa zubrachte, eine Menge fremdländischer Schätze gesammelt. Sie wurden gelegentlich nach Hause gesandt und jetzt ist ein förmliches Museum daraus geworden, das ich eben von kundiger Hand ordnen und ausstellen lasse. Darf ich mir einmal den Besuch der Damen erbitten? Selbstverständlich auch den Ihrigen, Herr Elmhorst! Ich glaube Ihnen manches Interessante zeigen zu können.“

„Ich fürchte nur, daß meine Zeit es nicht erlauben wird, Ihrer freundlichen Einladung zu folgen,“ entgegnete Elmhorst mit einer Artigkeit, die etwas Eisiges

hatte. „Ich habe nur noch einige Tage zur Verfügung bis zu meiner Abreise.“

„Sie wollen abreisen? So kurz nach Ihrer Verlobung?“

„Ich muß, denn ich kann bei dem jetzigen Stande unserer Arbeiten keinen längeren Urlaub in Anspruch nehmen.“

„Sind sie damit einverstanden, gnädiges Fräulein?“ wandte sich Waltenberg an Alice. „Ich sollte meinen, die Braut hat in solchem Falle doch das erste Recht.“

„Das erste Recht hat die Pflicht, Herr Waltenberg – in meinen Augen wenigstens.“

„Nehmen Sie es so ernst damit – auch jetzt noch?“

Wolfgangs Augen blitzten auf, er verstand dies „auch jetzt noch?“ und verstand auch den Blick, der dem seinigen begegnete; er hatte ihn so erst vor wenigen Stunden in einem andern Antlitz gesehen. Der stolze Mann biß die Zähne zusammen; zum zweiten Male wurde er heute daran erinnert, daß er für die Gesellschaft nur der „künftige Gemahl von Alice Nordheim“ war, der sich mit dem Gelde seiner Braut von jeder übernommenen Verpflichtung loskaufen konnte.

„Für mich ist jede Pflicht eine Ehrensache,“ erwiderte er kalt.

„Ja, wir Deutsche sind Fanatiker der Pflicht,“ sagte Waltenberg nachlässig. „Ich habe diese nationale Eigenthümlichkeit einigermaßen abgelegt in der Fremde. – O mein gnädiges Fräulein, schon wieder dieser strafende Blick! Ich werde mich noch unmöglich machen bei Ihnen mit meiner unseligen Aufrichtigkeit; aber bedenken Sie, daß ich aus einer ganz anderen Welt komme und nach europäischen Begriffen gänzlich verwildert bin.“

„In Bezug auf Ihre Ansichten scheinen Sie das allerdings zu sein,“ versetzte Erna scherzend, aber doch mit einiger Schärfe.

Er lächelte, und sich auf die Lehne des Divans stützend, beugte er sich tiefer herab.

„Ja, ich muß erst wieder zum Menschen und braven Deutschen erzogen werden. Vielleicht nimmt sich irgend jemand barmherzig meiner an. Glauben Sie, daß es der Mühe lohnen würde?“

„Alice, hältst Du es wirklich aus in dieser schwülen, erstickenden Temperatur?“ fragte Wolfgang mit kaum verhehlter Ungeduld. „Ich fürchte, sie ist Dir nachtheiliger als die Hitze in den Sälen.“

„Aber dort ist ein solches Gewühl von Menschen,“ warf Alice ein. „Bitte, Wolfgang, laß uns noch bleiben!“

Er preßte die Lippen zusammen, konnte aber bei dem so deutlich kund gegebenen Wunsche seiner Braut nichts anderes thun als sich fügen.

„Es ist Tropenluft,“ sagte Waltenberg achselzuckend.

„Ja wohl! Erdrückend und entnervend für jedes Wesen, das gewohnt ist, frei zu athmen.“

Die Aeußerung klang beinahe schroff, aber der, dem sie galt, schien es nicht zu bemerken; sein Auge hing noch immer an Erna, während er erwiderte:

„Die Palmen und Orchideen fordern sie doch! Sehen Sie nur, gnädiges Fräulein, sie entzücken das Auge selbst hier in der Gefangenschaft. In der mächtigen Tropenwelt, wo sie in voller Freiheit aufragen und ranken, ist der Anblick ein überwältigender.“

„Ja, sie muß schön sein, diese Welt!“ sagte Erna leise und ihr Blick irrte träumerisch über die fremdartige Blüthenpracht hin, die ringsum aus dem Grün hervorleuchtete und den ganzen Wintergarten erfüllte mit ihrem süßen, aber betäubenden Duft.

„Sie waren lange im Orient, Herr Waltenberg?“ fragte Alice in ihrer kühlen theilnahmlosen Art.

„Jahrelang, aber ich bin so ziemlich in allen Welttheilen zu Hause und kann mich rühmen, sogar bis in die Tiefen von Afrika eingedrungen zu sein.“

Wolfgang wurde aufmerksam bei den letzten Worten.

„Als Mitglied einer wissenschaftlichen Expedition vermuthlich?“ warf er hin.

„Nein, das hat für mich nie einen Reiz gehabt. Ich hasse nichts so sehr als den Zwang, und bei solchen Unternehmungen kann man nicht seine persönliche Freiheit wahren. Man ist gebunden an das Reiseziel, an die Gefährten, an alles Mögliche, und ich bin es gewöhnt, darin nur meinem eigenen Willen zu folgen.“

„Ah so!“ Um die Lippen Wolfgangs spielte ein halb verächtliches Lächeln. „Ich bitte um Verzeihung; ich glaubte wirklich, Sie seien als Pionier der Wissenschaft nach Afrika gegangen.“

„Mein Gott, wie ernsthaft Sie das alles nehmen, Herr Elmhorst,“ sagte Waltenberg spöttisch. „Muß denn jedes Leben notgedrungen eine Arbeit sein? Ich habe niemals gegeizt nach dem Ruhm des Forschers; ich habe die Freiheit und Schönheit der weiten Welt in vollen Zügen getrunken und mir immer neue Kraft und neue Jugend geschöpft aus diesem Zauberquell. Wenn ich anfangen sollte, ihn nutzbar zu machen, wäre seine Poesie für mich dahin.“

Elmhorst zuckte die Achseln und in einem anscheinend gleichgültigen Tone, in dem sich gleichwohl etwas Verletzendes barg, entgegnete er:

„Jedenfalls eine sehr bequeme Art, sich das Leben einzurichten! Mein Geschmack wäre es trotzdem nicht, und es ist wohl überhaupt nur den wenigsten möglich. Man muß dazu nothwendigerweise im Schoße des Reichthums geboren sein.“

„So unbedingt nothwendig ist das nicht,“ gab Waltenberg ebenso zurück. „Man kann ja auch durch irgend einen Glücksfall reich werden.

Wolfgang richtete sich empor mit einem so tief gereizten Ausdruck, daß man sah, er hatte eine sehr scharfe Antwort auf den Lippen; aber auch Erna sah das und kam ihm zuvor, indem sie dem Gespräch rasch eine andere Wendung gab.

„Ich fürchte wirklich, mein Onkel muß es aufgeben, Sie wieder bei uns heimisch zu machen,“ sagte sie. „Sie sind so verloren in den Zauber Ihrer Tropenwelt, daß Ihnen in der Heimath alles klein und dürftig erscheint. Ich glaube, nicht einmal unsere Bergwelt vermag es noch, Ihnen Bewunderung abzugewinnen; da aber finden Sie in mir eine entschiedene Gegnerin.“

Waltenberg wandte sich zu ihr; er mochte ihre Absicht errathen und wohl selbst fühlen, daß er zu weit gegangen war.

„Sie thun mir unrecht, mein Fräulein,“ erwiderte er. „Ich habe sie noch nicht vergessen, die heimische Alpenwelt mit ihren hochragenden Gipfeln, ihren tiefblauen Seen und – den holden Gestalten der Sage, die sie bevölkern; diese Erscheinungen,“ hier verschleierte sich seine Stimme, „wie aus Duft und Alpenschnee gewoben mit der weißen, märchenhaften Blume der Gewässer in den blonden Locken!“

Das Kompliment war kühn; aber die Art, wie es gesagt wurde, nahm ihm das Verwegene und die Augen des Mannes strahlten aus in leidenschaftlicher Bewunderung, als sie an der weißen, wie in Schneeduft gehüllten Gestalt des schönen Mädchens hingen.

„Alice, hast Du Dich jetzt erholt?“ fragte Wolfgang laut. „Wir dürfen uns heute wirklich nicht so lange der Gesellschaft entziehen; komm, laß uns in den Saal zurückkehren!“

Die Worte klangen beinahe befehlend; Alice erhob sich folgsam und legte ihren Arm in den seinigen, sie verließen in der That den Wintergarten.

„Herr Elmhorst scheint eine bedeutende Anlage zum Befehlen zu haben,“ sagte Waltenberg sarkastisch, indem er ihnen nachblickte. „Der Ton hatte schon etwas von dem künftigen Herrn und Gebieter, und das am Verlobungstage! Ich finde, Fräulein Nordheim hat eine in mehr als einer Hinsicht überraschende Wahl getroffen.“

„Alice ist eine sehr sanfte, fügsame Natur,“ bemerkte Erna einsilbig.

„Um so schlimmer! Ihr Verlobter scheint gar nicht das Bewußtsein zu haben, daß diese Verbindung allein ihn zu einer Stellung erhebt, auf die er persönlich wohl nie hätte Anspruch machen können.“

Die junge Dame hatte sich erhoben und war zu einer Pflanzengruppe getreten, deren schwere, purpurfarbene Blüthen aus dunklem Grün niederhingen. Erst nach einer sekundenlangen Pause erwiderte sie:

„Ich glaube, Wolfgang Elmhorst ist nicht der Mann, der sich ‚erheben‘ läßt.“

„Und weshalb hätte er denn sonst – Verzeihung, ich möchte keinen Vorwurf gegen Ihren künftigen Verwandten aussprechen.“

Erna antwortete nicht und er schien ihr Schweigen als eine halbe Zustimmung zu betrachten, denn er fuhr ernster fort: „Glauben Sie, daß bei dieser Bewerbung ideale Gründe maßgebend waren?“

„Nein!“

Das Wort kam eigenthümlich herb von den Lippen des Mädchens, aber das Antlitz senkte sich noch tiefer herab auf die Purpurblumen.

„Das ist auch meine Ansicht und damit steht mein Urtheil über Herrn Elmhorst fest. – Bitte, mein Fräulein, athmen Sie nicht so unausgesetzt den Duft dieser Blüthen ein; ich kenne ihn, er ist berauschend, aber tückisch und wird Ihnen Kopfschmerz zuziehen, seien Sie vorsichtig damit.“

Erna richtete sich empor und fuhr mit der Hand über die Stirn.

„Sie haben recht,“ sagte sie mit einem tiefen Athemzuge. „Es ist wohl überhaupt Zeit, daß wir zu der Gesellschaft zurückkehren – ich bitte, Herr Waltenberg!“

Er schien nicht ganz damit einverstanden zu sein, bot ihr aber mit voller Artigkeit den Arm und führte sie in die Säle, wo die Gesellschaft noch vollzählig beisammen war.

In einer Ecke saß der Oberregierungsrath mit seinem grimmigen Vaterzorn und mit Frau von Lasberg, die es sich angelegen sein ließ, das Feuer noch zu schüren. Sie hatte durch Nachfrage bei der Dienerschaft festgestellt, daß die Tischkarten in der That vertauscht worden waren, und ließ ihrer Empörung darüber freien Lauf. Sie sprach in leisem, aber nachdrücklichem Tone auf den unglücklichen Vater einer solchen Tochter ein und schloß ihre Rede endlich mit der vernichtenden Erklärung:

„Mit einem Worte – ich erlaube mir das Benehmen des Doktors empörend zu finden!“

„Ja, es ist empörend!“ murmelte Ernsthausen wüthend. „Und dabei suche ich Wally seit einer halben Stunde, um mit ihr nach Hause zu fahren, und kann ihrer nicht habhaft werden – es ist ein schreckliches Kind!“

„Ich hätte ihr den Besuch des Festes unter keiner Bedingung gestattet,“ eiferte die alte Dame. „Ich erklärte der Frau Baronin schon damals, als sie mir ihr Herz ausschüttete, daß sie energische Maßregeln ergreifen müsse.“

„Das haben wir ja bereits gethan,“ versicherte Ernsthausen verzweiflungsvoll, „aber es half nichts. Meine Frau hat schon Migräne von all dem Aerger, und das pflegt bei ihr tagelang anzuhalten! Ich bin durch mein Amt in Anspruch genommen – wer soll da diesen Irrwisch hüten und all seine tollen Streiche pariren?“

„Schicken Sie Wally aufs Land zu dem Großonkel,“ rieth Frau von Lasberg. „Da ist kein persönlicher Verkehr mit Gersdorf möglich, und wie ich den alten Baron kenne, wird er auch einen Briefwechsel zu verhindern wissen.“

Der Oberregierungsrath sah aus, als sei plötzlich ein Lichtstrahl in die Finsterniß seiner Seele gefallen; er ergriff den Vorschlag mit einer förmlichen Begeisterung.

„Das ist eine Idee!“ rief er. „Sie haben recht, gnädige Frau, vollkommen recht! Wally soll zu meinem Onkel, schon in den nächsten Tagen, schon übermorgen. Er war ja außer sich über die Sache und wird jedenfalls der beste Hüter sein; ich schreibe ihm gleich morgen früh.“

Er war so erfüllt von diesem Gedanken, daß er schleunigst aufbrach und von neuem versuchte, seiner Tochter habhaft zu werden, aber das war ein schwieriges Unternehmen. Er hätte ebenso leicht einen Schmetterling fangen können; denn Wally entwickelte ein unglaubliches Talent, gerade dann zu verschwinden, wenn der Vater sie endlich zu Gesicht bekam. Ernst Waltenberg, der ja auch zu den Eingeweihten gehörte, wurde zweimal als Blitzableiter dem nahenden Ungewitter entgegengestellt und mußte es mit seiner Unterhaltung ableiten. Inzwischen tauchte die kleine Baroneß unter in irgend einer plaudernden Gruppe und kam an einer ganz anderen Stelle wieder an die Oberfläche. Sie schien die ganze Gesellschaft als eine Versammlung von Schutzgeistern zu betrachten, die sie je nach Bedarf verwendete, und sogar der Minister, der hohe Chef ihres Vaters, der gleichfalls anwesend war, mußte sich in dieser Eigenschaft benutzen lassen.

Sie flüchtete schließlich zu Seiner Excellenz und klagte in beweglichen Worten, daß der Papa durchaus schon nach Haus fahren wolle, während sie noch so gern bliebe. Der alte Herr nahm sofort Partei für das reizende Kind, und als der Oberregierungsrath auftauchte und sich mit einem grollenden „Wally, der Wagen wartet!“ der jungen Dame bemächtigen wollte, fiel ihm jener freundschaftlich in die Rede.

„Lassen Sie ihn warten, lieber Geheimrath. Man darf der Jugend ihr Recht nicht verkümmern und ich habe der Baroneß versprochen, Fürsprache einzulegen. Sie bleiben noch, nicht wahr?“

Ernsthausen wüthete innerlich, während sein äußerer Mensch sich höflich zustimmend verbeugte; als Anerkennung dafür verwickelte ihn der Chef in ein sehr eingehendes Gespräch und gab ihn erst nach einer Viertelstunde frei. Jetzt aber kannte der Baron keine Rücksicht mehr; er brach geradezu ein in das feindliche Lager, wo seine Tochter höchst vergnügt zwischen Waltenberg und Gersdorf Stellung genommen hatte. Da trat ihm der Doktor mit voller Artigkeit entgegen.

„Herr Oberregierungsrath, ich wollte mir erlauben, Sie morgen oder übermorgen aufzusuchen. Darf ich bitten, mir irgend eine Stunde zu bestimmen?“

Ernsthausen warf ihm einen vernichtenden Blick zu.

„Ich bedaure, Herr Doktor, dringende Geschäfte –“

„Ganz recht, davon wollte ich eben mit Ihnen reden,“ fiel Gersdorf ein. „Es handelt sich um eine Angelegenheit der Bahngesellschaft, deren juristischer Vertreter ich bin, wie Sie ja wissen; und Seine Excellenz der Herr Minister hat mich an Sie gewiesen. Sie gestatten aber wohl, daß ich Sie nicht im Ministerium, sondern in Ihrer Wohnung aufsuche, da ich noch eine Privatsache mit Ihnen besprechen möchte.“

Der Baron konnte leider nicht im Zweifel sein über diese Privatsache; da er aber den Juristen in dieser Eigenschaft nothgedrungen empfangen mußte, so richtete er sich in seiner ganzen Vornehmheit auf und antwortete kühl:

„Uebermorgen um fünf Uhr Nachmittags stehe ich zu Ihren Diensten.“

„Ich werde pünktlich sein,“ versicherte der Doktor, sich mit einer Verbeugung von Wally verabschiedend. Diese fand es nun endlich für gut, sich der väterlichen Gewalt zu fügen und sich fortführen zu lassen, aber draußen auf der Treppe erklärte sie mit voller Energie:

„Papa, übermorgen lasse ich mich aber nicht wieder einsperren. Ich will dabei sein, wenn man um meine Hand wirbt.“

„Uebermorgen bist Du bereits auf dem Lande,“ versetzte Ernsthausen mit Nachdruck. „Du fährst mit dem ersten Zuge; ich bringe Dich der Sicherheit wegen selbst auf die Bahn und an der Station nimmt Dich der Großonkel in Empfang, bei dem Du vorläufig bleiben wirst.“

Wallys Köpfchen fuhr ganz entsetzt aus der weißen Kaputze. Einen Moment lang war sie sprachlos; dann aber nahm sie eine äußerst kriegerische Stellung an.

„Das thue ich nicht, Papa! Ich bleibe nicht bei dem Großonkel; ich laufe davon, zu Fuß laufe ich nach der Stadt zurück!“

„Das wirst Du bleiben lassen,“ sagte der Oberregierungsrath. „Ich dächte, Du kenntest den alten Herrn und seine Grundsätze. Du bist nach seinem Tode eine Partie ersten Ranges, merke Dir das!“

„Ich wollte, der Großonkel reiste nach Monaco und verspielte dort all sein Geld,“ schluchzte Wally zornig, „oder er adoptirte ein Waisenkind und vermachte ihm sein ganzes Vermögen.“

„Kind, um Gotteswillen, was hast Du für entsetzliche Einfälle!“ rief Ernsthausen erschrocken; aber die kleine Baroneß fuhr in voller Empörung fort:

„Dann wäre ich keine ‚Partie‘ mehr und dann könnte ich Albert heirathen. – Ich will alle Tage beten, daß der Großonkel solch einen dummen Streich macht, trotz seiner siebzig Jahre!“

Damit sprang sie, noch immer schluchzend, in den Wagen und warf sich in die Polster. Der Vater folgte ihr, aber er murmelte verzweiflungsvoll:

„Ein schreckliches Kind!“

Droben in den Festräumen begann es allmählich leerer und stiller zu werden. Einer nach dem andern verabschiedete sich, bis endlich der Präsident, der soeben die letzten Gäste entlassen hatte, sich allein mit Wolfgang in dem großen Empfangssaale befand.

„Waltenberg hat uns eingeladen, seine Reisesammlungen zu besichtigen,“ sagte er. „Ich werde dazu schwerlich Zeit haben, aber Du –“

„Ich noch weniger,“ fiel Elmhorst ein. „Die drei Tage, die ich überhaupt noch zur Verfügung habe, sind schon vollauf in Anspruch genommen.“

„Ich weiß, aber Du wirst trotzdem Alice begleiten müssen; sie und Erna haben bereits zugesagt, und ich wünsche überhaupt nicht, daß diese Einladung abgelehnt wird.“

Wolfgang stutzte und sah seinen künftigen Schwiegervater forschend an, dann fragte er rasch:

„Wer und was ist dieser Waltenberg eigentlich, Papa? Du scheinst ihn mit einer ganz besonderen Rücksicht zu behandeln und doch tauchte er heute zum ersten Male in Deinem Hause auf. Du kennst ihn von früher her?“

„Allerdings. Sein Vater war bei verschiedenen meiner Unternehmungen beteiligt. Ein tüchtiger, umsichtiger Geschäftsmann, der Millionen hätte verdienen können, wenn er länger gelebt hätte. Leider hat der Sohn gar nichts geerbt von diesen praktischen Eigenschaften. Der zieht es vor, kreuz und quer durch die Welt zu reisen und sich bei allen möglichen wilden Völkerschaften herumzutreiben. Nun, sein Vermögen erlaubt ihm ja dergleichen Extravaganzen, und jetzt verdoppelt es sich beinahe. Seine Tante, die einzige unvermählte Schwester seines Vaters, ist vor einigen Monaten gestorben und hat ihn gleichfalls zum Erben eingesetzt. Er ist überhaupt nur zurückgekommen, um diese Angelegenheit zu ordnen, und spricht schon wieder von Davongehen – ein unbegreiflicher Mensch!“

Der Ton, in welchem Nordheim von dem Manne sprach, den er so auszeichnete, verrieth, daß er persönlich gar keine Sympathie für ihn hegte, und Elmhorst schien in dem gleichen Falle zu sein, denn er stimmte sofort ein:

„Ich finde ihn unerträglich! Er sprach ja bei Tische nur von seinen Reisen und in einer Art, als wolle er Vortrag darüber halten. Man hörte nur von ‚blauen Meerestiefen‘, von ‚hochragenden Palmen und träumerischen Lotosblumen‘– es war kaum mehr zum Aushalten! Fräulein von Thurgau allerdings schien ganz hingerissen davon zu sein. Offen gestanden, Papa, ich fand, daß diese poetisch orientalische Unterhaltung viel zu vertraulich war für den ersten Tag der Bekanntschaft.“

Die Worte sollten sarkastisch sein, aber es barg sich eine nur mühsam verhehlte Gereiztheit dahinter. Der Präsident bemerkte das jedoch nicht, sondern erwiderte ruhig:

„In diesem Falle habe ich gegen die Vertraulichkeit durchaus nichts einzuwenden, ganz im Gegentheil.“

„Das heißt – Du hast eine bestimmte Absicht mit den beiden?“

„Gewiß,“ versetzte Nordheim, etwas verwundert über das Hastige, Gepreßte dieser Frage. „Erna ist neunzehn Jahre; man muß jetzt ernstlich an ihre Vermählung denken, und ich habe als Verwandter und Vormund die Pflicht, sie möglichst gut zu versorgen. Das Mädchen wird so unendlich gefeiert in der Gesellschaft, aber mit einem wirklichen Antrage hat sich ihr noch keiner genaht, sie ist eben keine Partie.“

„Nein, sie ist keine Partie!“ wiederholte Wolfgang wie mechanisch und dabei richtete sich sein Blick auf das Nebenzimmer, wo die Damen noch weilten. Alice saß auf dem Sofa und Erna stand vor ihr; die Thüröffnung umschloß wie ein Rahmen die schlanke, weiße Gestalt.

„Ich kann das den Männern nicht verdenken,“ fuhr der Präsident fort. „Ernas einziges Erbtheil sind die paar tausend Mark, die für den Wolkensteiner Hof gezahlt wurden, und wenn ich meiner Nichte auch selbstverständlich eine Aussteuer mitgebe, so ist das doch so gut wie nichts für einen Mann, der gewohnt ist, Ansprüche an das Leben zu machen. Waltenberg braucht nicht auf Vermögen zu sehen; er ist selbst reich, aus gutem Hause, kurz, eine glänzende Partie. Ich habe sofort nach seiner Rückkehr den Plan gefaßt, und ich denke, die Sache wird sich machen.“

Er setzte das alles so kühl und geschäftsmäßig auseinander, als ob es sich um eine neue Spekulation handle. Im Grunde war die „Versorgung“ seiner Nichte ja auch nur ein Geschäft für ihn, ebenso wie die Verlobung der eigenen Tochter. In dem einen Falle wurde Vermögen, in dem andern Intelligenz eingetauscht für die Hand des jungen Mädchens, und Nordheim konnte sich auch ganz rückhaltlos darüber aussprechen gegen seinen künftigen Schwiegersohn, der genau auf demselben Standpunkte stand und nach denselben Grundsätzen gehandelt hatte. In diesem Augenblicke aber lag eine eigenthümliche Blässe auf dem Gesichte des jungen Mannes, und es war ein seltsamer Ausdruck, mit dem seine Augen an jenem Bilde hingen, das sich noch immer in der Thüröffnung zeigte, vom hellsten Kerzenglanze umflossen.

„Und Du glaubst, daß Fräulein von Thurgau einverstanden ist?“ fragte er endlich langsam, ohne den Blick abzuwenden.

„Sie wird doch nicht die Närrin sein, ein solches Glück von sich zu stoßen! Freilich, das Mädchen ist unberechenbar in seinen Launen, starrsinnig wie der Vater und in manchen Punkten gar nicht zu regieren. Wir beide passen überhaupt nicht zusammen, das zeigt sich oft genug, aber diesmal, denke ich, werden wir übereinstimmen. Ein Mann wie Waltenberg mit all seinen excentrischen Neigungen ist grade nach dem Geschmack Ernas. Ich glaube, sie wäre im Stande, sein tolles Wanderleben mit ihm zu theilen, wenn er sich nicht entschließen kann, es aufzugeben.“

„Warum denn nicht?“ sagte Wolfgang herb. „Es ist ja so ungemein poetisch und interessant, dies Leben in der Fremde, ohne Beruf und Vaterland. Man ist losgelöst von allen Pflichten; man schwärmt und träumt unter den Palmen und verträumt schließlich das ganze Leben im thatenlosen Genuß. Ich finde es erbärmlich, wenn ein Mann mit seinem Dasein nichts weiter anzufangen weiß; mir wäre das unmöglich!“

„Du ereiferst Dich ja förmlich,“ sagte Nordheim, ganz erstaunt über diesen heftigen Ausfall. „Du vergißt aber, daß Waltenberg von Hause aus reich gewesen ist. Du und ich, wir mußten arbeiten, um emporzukommen; für ihn existirte diese Nothwendigkeit nicht; er stand von Anfang an auf der Höhe, und solche Menschen taugen selten für eine ernste Thätigkeit.“

Er wandte sich zu einem Diener, der soeben eintrat, und gab ihm noch einige Befehle. Wolfgang stand finster und unbeweglich da; seine Augen hingen noch immer an jener weißen Gestalt, an der Erscheinung „wie aus Duft und Alpenschnee gewoben, mit der märchenhaften Blume der Gewässer in den blonden Locken“, und unhörbar, aber mit dem Ausdruck der tiefsten Bitterkeit murmelte er: „Ja, er ist reich – und darum hat er das Recht, glücklich zu sein!“

[517] Das Waltenbergsche Haus lag ziemlich entfernt vom Mittelpunkte der Stadt; es war eine schöne, geräumige Villa, inmitten eines parkartigen Gartens, die der Vater des jetzigen Besitzers erbaut und bis zu seinem Tode bewohnt hatte. Seitdem freilich war sie leer geblieben; denn der Sohn, der ja immer auf Reisen lebte, dachte bei seinem Reichthum nicht daran, das Haus nutzbar zu machen. Er hatte die Aufsicht einem Verwalter übergeben, dem zugleich die Pflicht oblag, die von Zeit zu Zeit aus weiter Ferne eintreffenden Sendungen auspacken und aufstellen zu lassen, bis endlich, nach einem vollen Jahrzehnt, die verschlossenen Läden und Thüren wieder geöffnet wurden und die so lange verödeten Räume sich wieder belebten.

Das große Balkonzimmer, das in der Mitte des Hauses lag, hatte dieselbe Einrichtung behalten wie zu Lebzeiten des alten Herrn. Es herrschte dort keine blendende Pracht, wie in der Nordheimschen Wohnung, aber überall zeigte sich die Gediegenheit und Behaglichkeit eines vornehmen Bürgerhauses. Die Menschen freilich, welche sich augenblicklich hier bewegten, nahmen sich fremdartig genug aus in dieser Umgebung. Ein Neger, von dunkelster Färbung, mit krausem, wolligem Haar, und ein schlanker brauner Malayenknabe, beide in der phantastischen und malerischen Tracht des Orients, waren eben beschäftigt, einen Tisch mit Blumen und mit allerlei Erfrischungen zu besetzen, während ein Dritter in der Mitte des Zimmers stand und die nöthigen Anweisungen gab.

Die Kleidung des Letzteren war allerdings von europäischem Schnitt, schien aber die Mitte zwischen einem Matrosen- und einem Farmeranzuge zu halten. Der schon ältere Mann, eine ungewöhnlich lange und hagere Gestalt, zeigte gleichwohl einen kräftigen Gliederbau. Das kurzgeschnittene Haar begann schon hier und da zu ergrauen und das durchfurchte, sonnenverbrannte Gesicht gab in seiner dunklen Färbung dem Braun des Malayen kaum etwas nach. Aus diesem braunen Antlitz aber blickte ein Paar Augen von echt germanischem Blau und von den Lippen kam ein so echtes, derbes, unverfälschtes Deutsch, wie es nur dem eigen ist, der in seiner Muttersprache redet.

„Die Blumen in die Mitte!“ kommandirte er. „Die Geschichte muß poetisch aussehen, hat Herr Waltenberg gesagt, also machen wir sie durch und durch

poetisch! Said, Mensch, Du stellst ja die silbernen Fruchtschalen neben einander wie ein paar Grenadiere! An die beiden Enden des Tisches gehören sie. Und was willst Du denn mit den Krystallgläsern, Djelma? Am Seitentische soll der Wein eingeschenkt werden, habt Ihr verstanden?“

„O yes, master,“ versicherte der Neger, aber der Andere fuhr ihn an.

„Deutsch sollst Du sprechen! Hast Du es noch nicht gelernt? Wir sind jetzt in Deutschland, auf diesem gottverlassenen Boden, wo man sich im März noch die Nase erfriert, wo die Sonne alle Monat nur einmal scheint und dann auch nur auf obrigkeitlichen Befehl. Ich kann es so wenig leiden wie Herr Waltenberg, aber wenn Ihr mir nicht Deutsch lernt, dann kommt ein Donnerwetter über Euch!“

„Ik schon sprecken deutsch, Master Hron’ – wundervoll!“ erklärte Said mit großem Selbstgefühl.

„Wundervoll, jawohl! Nicht einmal meinen Namen kannst Du aussprechen. Veit Gronau heiße ich, nicht ‚Master Hron’‘; hundertmal habe ich Dir das schon gesagt, aber solch ein Heide begreift das nicht.“

Said nahm eine äußerst gekränkte Miene an bei diesem Vorwurf.

„Bitte, Master Hron’ – au ik sein guter Christ.“

„Ja, getauft bist Du wenigstens,“ sagte Gronau trocken; „aber Du bist doch noch ein halber Heide und der Djelma ist ein ganzer. Bei dem hat man seine liebe Noth, ihm den Allah und Mohammed aus dem Kopfe zu bringen und den lieben Herrgott dafür hineinzusetzen. Djelma, Du Schaf, was siehst Du mich so an? Hast wohl wieder nicht verstanden, was ich sage?“

Der Malayenknabe, der mit dem Deutschen augenscheinlich noch auf sehr gespanntem Fuße stand, schüttelte verneinend den Kopf, so daß sich Said veranlaßt sah, ihm mit seiner „wundervollen“ Sprachkenntniß zu Hilfe zu kommen und den Dolmetscher zu machen.

„Das hat der Herr davon, daß er mit Euch fortwährend in Eurem Kauderwelsch redet,“ grollte Veit Gronau „Wenn ich Euch nicht das Deutsche beibrächte, Ihr verständet noch heute kein Wort davon. – So, nun ist der Tisch in Ordnung! Lauter Blumen und Früchte und nichts Ordentliches zu essen und zu trinken! Das ist wahrscheinlich auch poetisch; ich finde es verrückt, aber das kommt auf eins heraus.“

„Es kommen auch – ladies?“ fragte Said neugierig.

„Damen!“ verbesserte ihn sein Mentor. „Ja, die kommen leider auch mit. Ein Vergnügen ist das nicht, aber eine Ehre; denn sie werden hier zu Lande ungeheuer respektvoll behandelt, ganz anders wie Eure schwarzen und braunen Weiber, also nehmt Euch zusammen!“

Er hätte den beiden wahrscheinlich noch weitere Verhaltungsmaßregeln ertheilt, aber in diesem Augenblick öffnete sich die Thür und der Herr des Hauses trat ein. Er musterte flüchtig den mit Blumen und Früchten überladenen Tisch, gab Said einen Wink, sich in das Vorzimmer zu verfügen, und sprach einige indische Worte zu Djelma, der daraufhin ebenfalls verschwand, dann wandte er sich zu Veit Gronau und sagte:

„Präsident Nordheim hat sich entschuldigen lassen, aber die anderen Herrschaften werden erscheinen; auch Doktor Gersdorf hat zugesagt. Sie entgehen also für diesmal der gefürchteten Begegnung, Gronau.“

„Gefürchtet?“ wiederholte Veit. „Daß ich nicht wüßte! Ein großes Vergnügen wäre es mir allerdings nicht gewesen, von einem ehemaligen Spielkameraden, mit dem ich auf Du und Du gestanden habe, mit einem allergnädigsten Kopfnicken beehrt und ihm als eine Art von Bedienter vorgestellt zu werden.“

„Als mein Sekretär,“ betonte Waltenberg. „Ich dächte, eine solche Stellung hätte nichts Entwürdigendes.“

Gronau zuckte die Achseln.

„Sekretär, Haushofmeister, Reisebegleiter, alles in einer Person! Sie haben mich freilich immer als Landsmann behandelt, Herr Waltenberg, nicht als Untergebenen. Als Sie mich damals in Melbourne auffischten, war ich grade am Verhungern und wäre auch verhungert ohne Sie – vergelt’s Gott!“

„Thorheit,“ sagte Ernst, fast unwillig den Dank ablehnend. „Sie waren mir mit Ihren Sprachkenntnissen und all Ihren praktischen Erfahrungen ein ganz unschätzbarer Fund und ich glaube, wir sind in den sechs Jahren beide zufrieden mit einander gewesen. – Also der Präsident und Sie waren Jugendfreunde?“

„Ja, wir sind zusammen aufgewachsen als Nachbarskinder und haben auch später noch zusammengehalten, bis der eine hierhin und der andere dahin ging im Leben. Er hat es mir freilich vorausgesagt, daß ich ein armer Teufel bleiben würde, mir und dem Benno Reinsfeld, der auch dabei war.“

Waltenberg war an das Fenster getreten und sah etwas ungeduldig hinaus, aber er hörte aufmerksam zu. Die Jugendzeit des Mannes, den er nur in der Fülle des Reichthums und Glückes kannte, schien ihn zu interessiren.

„Wir hatten natürlich alle drei ungeheure Zukunftspläne,“ fuhr Veit mit gutmütiger Selbstverspottung fort. „Ich wollte in die weite Welt gehen und als goldbeladener Nabob zurückkommen, Reinsfeld wollte mit irgend einer Erfindung die ganze Menschheit in Erstaunen setzen, wir waren eben Buben, die da meinten, daß die Welt ihnen gehöre! Aber der kluge Nordheim saß dabei und goß uns einen kalten Wasserstrahl über die erhitzten Köpfe. ,Ihr werdet beide nichts zu Stande bringen,‘ sagte er, ‚denn Ihr versteht nicht zu rechnen!‘ Wir lachten ihn damals aus, den zwanzigjährigen Rechner, mit seiner nüchternen Weisheit, aber er hat doch recht behalten. Ich habe mich tüchtig in der Welt herumgetrieben und alles Mögliche versucht, aber bei mir hieß es immer: Wie gewonnen, so zerronnen! Ich blieb arm wie eine Kirchenmaus und Reinsfeld ist mit all seinem Talent auch irgendwo sitzen geblieben, als armseliger Ingenieur – unser Kamerad Nordheim aber wurde Millionär und Präsident und Eisenbahnprinz – weil er zu rechnen verstand!“

„Ja, das hat er von jeher verstanden,“ sagte Waltenberg kühl. „Jedenfalls nimmt er eine einflußreiche und in mancher Hinsicht allmächtige Stellung ein. – Doch da kommen unsere Gäste!“

Er trat rasch vom Fenster zurück und ging den Ankommenden entgegen. Draußen war in der That ein Wagen vorgefahren, der Frau von Lasberg und Alice in Begleitung Elmhorsts brachte. Wolfgang hatte sich doch nicht der Pflicht entziehen können, seine Braut zu begleiten, und es hatte sich auch kein Vorwand gefunden, die Einladung abzulehnen, deren Annahme sein Schwiegervater so dringend wünschte. Er fügte sich also der Nothwendigkeit; aber wer ihn genauer kannte, sah, daß er ein Opfer damit brachte, wenn er es auch nicht an Höflichkeit fehlen ließ, ebenso wenig wie der Herr des Hauses. Die beiden Männer, die vom ersten Augenblick der Bekanntschaft an eine instinktmäßige Abneigung gegen einander fühlten, stellten sich gegenseitig auf den Standpunkt kühler Artigkeit und das geschah auch bei dem heutigen Besuche.

„Fräulein von Thurgau verspätete sich; sie fuhr erst bei dem Oberregierungsrath vor, um Baroneß Ernsthausen abzuholen.“ Frau von Lasberg, die das mittheilte, war gleichwohl etwas befremdet darüber. Ihrer Meinung nach mußte Wally schon seit gestern auf dem Lande sein, in der sicheren Hut des Großonkels. Statt dessen war heut morgen ein Briefchen an Erna gekommen, mit der Bitte, sie zu dem Besuch im Waltenbergschen Hause abzuholen. Die Reise war also aufgeschoben worden, vermuthlich um einige Tage. Aber das Mißfallen der alten Dame darüber verwandelte sich in Empörung, als sie den Doktor Gersdorf eintreten sah. Also ein förmliches Rendezvous! Und man erkühnte sich sogar, die Damen des Nordheimschen Hauses zu Mitschuldigen zu machen, indem man sich gewissermaßen unter ihrem Schutze zusammenfand. Das konnte und durfte den Eltern nicht verborgen bleiben; noch heute sollten sie es erfahren und Frau von Lasberg, die nicht die geringste Anlage zu einem Schutzgeiste hatte, ließ vorläufig dem Doktor einen eisigen Empfang zu theil werden. Leider machte das nicht den mindesten Eindruck auf ihn; auf seinen ernsten Zügen lag heute ein eigenthümliches Leuchten und er betheiligte sich mit ungewohnter Heiterkeit an der Unterhaltung.

Erna war inzwischen, der Verabredung gemäß, an der Ernsthausenschen Wohnung vorgefahren und da es schon etwas zu spät war, so sandte sie nur den Diener hinauf. Nach fünf Minuten erschien auch die junge Baroneß, sprang in den Wagen und überfiel, kaum daß der Schlag geschlossen war, ihre Freundin mit einer so ungestümen Umarmung, daß diese fast erschrocken zurückwich.

„Was hast Du denn, Wally?“ fragte sie. „Du bist ja ganz außer Dir?“

„Verlobt bin ich!“ jubelte Wally. „Ich bin Alberts Braut und in drei Monaten werde ich seine Frau. O dieser vortreffliche, unvergleichliche Großonkel! Ich möchte ihm um den Hals fallen, wie Dir, wenn er nur nicht so garstig wäre!“

Erna war nicht so leicht aus der Fassung zu bringen wie Alice, aber diese Nachricht kam ihr doch zu unerwartet – sie kannte ja den Widerstand der ganzen Ernsthausenschen Familie gegen diese Verbindung.

„Deine Eltern haben eingewilligt?“ fragte sie. „So ganz plötzlich? Das schien ja noch vor wenigen Tagen unmöglich zu sein?“

„Nichts ist unmöglich!“ rief Wally entzückt. „O, ich habe den Himmel so gebeten, dem Großonkel irgend einen dummen Streich einzugeben! Daß er auf diesen Streich verfallen würde, das ahnte ich allerdings nicht, das glaubst Du auch nicht, Erna; das muß man überhaupt erlebt haben, um es zu glauben!“

„So sprich doch vernünftig! Erkläre doch endlich!“ sagte Erna, mit einem vorwurfsvollen Blick in das glückstrahlende Gesicht der kleinen Baroneß.

„Geheirathet hat er!“ platzte diese heraus. „Geheiratet, mit siebzig Jahren, und nun ist er ein junger Ehemann – es ist zum Todtlachen!“ Und damit warf sie sich in die Polster zurück und lachte, bis ihr die Thränen in die Augen traten.

„Der alte Baron hat sich – vermählt?“ wiederholte Erna, die das gleichfalls unerhört fand.

„Jawohl, mit einem uraltadligen Stiftsfräulein. Die Sache war schon längst abgemacht; aber sie wurde geheim gehalten, weil er die Scenen mit meinen Eltern fürchtete. Er ist überhaupt nur hergekommen, um sein Testament zurückzunehmen, das er hier beim Gericht niedergelegt hatte, und gleich nach der Rückkehr hat er sich trauen lassen, standesamtlich und kirchlich, niet- und nagelfest, wie der Papa sagt, und das ganze Vermögen hat er seiner Frau beschrieben, auch niet- und nagelfest, und wir bekommen gar nichts und nun bin ich keine Partie mehr – denke nur, welches Glück!“

Die junge Dame hatte eine höchst merkwürdige Art, ohne alle Pausen zu sprechen, so daß es unmöglich war, ein Wort dazwischen zu werfen. Auch jetzt nahm sie sich nur die allernothwendigste Zeit, um Athem zu schöpfen, und dann fing sie von neuem an:

„Sie hatten ein förmliches Komplott geschmiedet, der Papa und Eure weise Frau Oberhofmeisterin, der ich das zeitlebens gedenken werde. Wie ein Postpacket sollte ich eingepackt und an die Adresse des Großonkels geschickt werden. All mein Weinen und Trotzen half nichts, die Koffer waren schon fertig. Da fiel der Brief des Großonkels mit der Anzeige seiner Vermählung wie eine Bombe in unser Haus. Papa sah aus, als habe ihn der Schlag getroffen, Mama bekam Weinkrämpfe und ich tanzte in meinem Zimmer umher und warf die sämmtlichen eingepackten Sachen wieder aus dem Koffer, denn von der Reise war natürlich keine Rede mehr. Am anderen Morgen herrschte bei uns eine Stimmung, als hätten zehn Gewitter eingeschlagen; der Großonkel wurde in Acht und Bann gethan; es gab eine lange geheime Konferenz zwischen meinen Eltern und als Albert am Nachmittage kam, wurde er ohne weiteres angenommen.“

„Und Du warst grenzenlos glücklich – ich kann es mir denken!“ fiel Erna ein.

„Nein, zunächst war ich empört,“ erklärte Wally, indem sie das Näschen rümpfte. „Albert benahm sich so unendlich prosaisch bei der Werbung. Anstatt von unserer ewigen unendlichen Liebe und unseren schon halb gebrochenen Herzen zu sprechen, rechnete er meinen Eltern ganz genau vor, was seine Praxis ihm einbringe, welches Vermögen er schon erworben habe und noch zu erwerben hoffe. Ich war außer mir über dies abscheuliche Rechenexempel – natürlich stand ich wieder am Schlüsselloch und hörte alles mit an – aber Papa und Mama wurden immer sanftmüthiger und freundlicher dabei. Schließlich wurde ich gerufen und dann gab es allgemeine Umarmung und Rührung und Thränen. Ich weinte immer mit, obgleich ich eigentlich lieber getanzt hätte, und nahm es Albert sehr übel, daß er keine einzige Thräne vergoß! Der Großonkel erhielt ein Telegramm – das wird ihn ärgern in seinen Flitterwochen – und morgen werden die Verlobungskarten gedruckt und in drei Monaten heirathen wir!“

Die kleine Baroneß fiel im Uebermaß ihrer Wonne der Freundin von neuem um den Hals. Aber jetzt hielt der Wagen vor der Waltenbergschen Villa und damit war der große Moment gekommen, den Wally mit vollem Triumphe genoß. Sie traten ein und während der Herr des Hauses Fräulein von Thurgau empfing, eilte Gersdorf, von seinem Rechte Gebrauch machend, seiner Braut entgegen, was ihm einen niederschmetternden Blick von seiten der Frau von Lasberg zuzog.

„Ich glaubte, Sie seien bereits auf dem Lande, Baroneß,“ sagte sie im schärfsten Tone.

„O nein, gnädige Frau,“ versetzte Wally mit harmlos unschuldiger Miene. „Ich hatte allerdings die Absicht, dem Großonkel einen Besuch zu machen; da er sich aber verheiratet hat –“

„Wer?“ fragte die alte Dame, die sich verhört zu haben glaubte.

„Mein Großonkel, Baron Ernsthausen auf Frankenstein – und ich habe mich gleichfalls verlobt. Sie gestatten, gnädige Frau, daß ich Ihnen meinen Bräutigam vorstelle.“

Das Lächeln, mit dem Waltenberg die Nachricht aufnahm, verriet, daß er bereits unterrichtet war; Frau von Lasberg dagegen saß völlig sprachlos da, und erst als die Glückwünsche von allen Seiten kamen, faßte sie sich soweit, auch ihrerseits eine Gratulation auszusprechen, die freilich sehr kühl und förmlich klang und von der jungen Braut mit einer allerliebsten Bosheit aufgenommen wurde. Aber lange hielt das nicht an bei Wally, die heute ihrem ärgsten Feinde verziehen hätte und im Uebermuth ihres Glückes, in ihrer sprudelnden Heiterkeit alles mit sich fortriß.

Das Zusammensein gestaltete sich auf diese Weise sehr zwanglos und anregend, trotzdem es „nichts Ordentliches zu essen und zu trinken gab“, wie Gronau sich ausdrückte. Seine Natur verlangte entschieden etwas Gediegeneres als Früchte, die in dieser Jahreszeit und in ihrer Auserlesenheit allerdings mit Geld aufgewogen werden mußten, und etwas Trinkbareres als den schweren, duftenden Wein, von dem man nur nippen konnte. Die Damen schienen aber anderer Meinung zu sein und man brach endlich in der heitersten Stimmung auf, um die Sammlungen zu besichtigen, für welche das ganze obere Stockwerk des Hauses ausschließlich eingerichtet war.

Waltenberg führte seine Gäste die Treppe hinauf, und als sich die hohe Flügelthür öffnete, die jene Räume abschloß, da war es in der That, als sei die ganze Gesellschaft aus der grauen winterlichen Oede dieses nordischen Märztages auf einem Zaubermantel in den sonnen- und farbenglühenden Orient getragen worden.

Die fremdartigen Schätze aller Länder und Zonen waren hier in einer Fülle und Pracht aufgehäuft, wie es nur ein langes Reiseleben und eine unbeschränkte Verfügung über die reichsten Mittel möglich machen konnten; aber die Aufstellung dieser in mancher Hinsicht unschätzbaren Sammlung hätte einen Mann der Wissenschaft zur Verzweiflung gebracht, denn sie war ohne jede Regel, einzig mit Rücksicht auf ihre malerische Wirkung geordnet. Allerdings wurde diese Wirkung im vollsten Maße erreicht und die geschickt vertheilten Gruppen exotischer Pflanzen, die sich überall erhoben, gestalteten das Ganze zu einem Bilde, vor dem der nüchterne Begriff der „Sammlung“ völlig verschwand.

Teppiche von echt orientalischer Zeichnung und Farbe bedeckten die Wände und schmückten Fenster und Thüren; dazwischen hingen seltsam gestaltete Waffen, die kriegerische Wehr von Völkern, die fern von aller Kultur lebten, bunter Federschmuck und mächtige Palmenfächer. Neben schimmernden Seidenstoffen und zarten, golddurchwirkten Schleiergeweben zeigten sich fremdartige Geräte und Gefäße vom tönernen Wasserkruge an bis zu dem kostbarsten Trinkbecher aus edlem Metalle, seltene Muscheln und riesige Meerkorallen. Hier lag das Fell eines Löwen am Boden, dort schien eine buntgefleckte Schlange aus der Moosdecke einer Pflanzengruppe emporzuzüngeln; eine ganze Vogelwelt in den leuchtenden Farben des Südens und mit dem täuschenden Anschein des Lebens hing und schwebte zwischen den Palmen und ein mächtiger Tiger blickte mit seinen Glasaugen so drohend auf den Eintretenden, als sei er jeden Augenblick bereit, zum Sprunge anzusetzen. Said und Djelma in ihren malerischen Trachten vollendeten das phantastische Bild, und die goldfarbenen Scheiben der Fenster, durch welche das Tageslicht eindrang, erweckten die Täuschung, als fluthe wirkliches heißes Sonnenlicht durch die Räume und tauche sie in einen glühenden goldigen Schein, der diese ganze Zauberwelt der Wirklichkeit vollends zu entrücken schien.

[522] Waltenberg war ein ebenso kundiger wie liebenswürdiger Führer. Er geleitete seine Gäste von einem Gemach in das andere, von einem Gegenstande zum andern und hatte die Genugthuung, zu sehen, daß seine Schätze volle Bewunderung fanden. Es ergab sich ganz zwanglos, daß er bei all den Erklärungen auch von dem Orte und der Gelegenheit sprach, wo er dies und jenes erworben hatte, und dabei entrollte er, vielleicht unabsichtlich, vor den Augen der Zuhörer ein Leben, das in seinem bunten Wechsel von Gefahren und Genüssen in der That einem berauschenden Märchentraum glich. Daß er sich dabei vorzugsweise an Erna wandte, war nur natürlich, sie allein hatte wirkliches Verständniß und Interesse für den eigenartig phantastischen Charakter dieser Umgebung, das hörte er an ihren Bemerkungen. Elmhorst wollte offenbar keine Bewunderung zeigen, sondern beobachtete eine höflich kühle Zurückhaltung, während Alice und Frau von Lasberg nur die Theilnahme zeigten, die man dem Seltsamen und Ungewöhnlichen entgegenbringt.

Gersdorf, der die Sammlungen seines Freundes bereits kannte, machte den Führer bei seiner Braut, und das war keine leichte Aufgabe; denn Wally wollte durchaus alles sehen und bewundern und sah im Grunde doch nur ihren Albert, der ihr nicht von der Seite gehen durfte. Sie flatterte umher wie einer von den leichtbeschwingten Kolibris dort, als diese noch ihr leuchtendes Gefieder unter der heimischen Sonne entfalteten, und jubelte beim Anblick irgend eines neuen und merkwürdigen Gegenstandes auf wie ein ausgelassenes Kind, zum großen Mißfallen der Frau von Lasberg, die sich wieder einmal gedrungen fühlte einzuschreiten, obgleich sie aus Erfahrung wußte, wie wenig das zu nützen pflegte. Sie benutzte einen Augenblick, wo Gersdorf mit Alice sprach, und blockirte die junge Dame förmlich in einer Fensternische.

„Meine liebe Baroneß, ich möchte Sie darauf aufmerksam machen, daß auch eine Braut Rücksichten zu nehmen hat,“ hofmeisterte sie. „Sie hat ihre Frauenwürde zu wahren und darf es nicht aller Welt zeigen, daß sie vor Glück ganz außer sich ist. Eine Verlobung ist –“

„Etwas Himmlisches!“ unterbrach sie Wally. „Ich möchte nur wissen, wie mein Großonkel sich dabei benommen hat! Ob er auch Lust gehabt hat, den ganzen Tag zu tanzen, wie ich?“

„Man sollte meinen, Sie seien noch ein Kind, Wally,“ sagte die alte Dame entrüstet. „Sehen Sie Alice an, sie ist auch Braut, und gleichfalls erst seit einigen Tagen.“

Wally faltete mit dem Ausdrucke komischen Entsetzens die Hände.

„Ja wohl, aber das ist auch eine Brautschaft – daß Gott erbarm’!“

„Baroneß, ich muß sehr bitten!“

„Ja, ich kann mir nicht helfen, gnädige Frau, Alice ist ja ganz zufrieden und Herr Elmhorst benimmt sich äußerst gebildet. Man hört immer nur: ‚Du wünschest, liebe Alice?‘ oder: ‚Wie Du befiehlst, liebe Alice!‘ Immer höflich, immer artig! Aber wenn mein Bräutigam mich mit dieser langweiligen kühlen Artigkeit behandelte, die immer auf dem Gefrierpunkt steht – ich schickte ihm auf der Stelle den Ring zurück!“

Frau von Lasberg stieß einen Seufzer aus; sie gab es auf, dieser jungen Dame Schicklichkeitsgefühl beizubringen und hob die Blockade auf, worauf Wally wie ein Pfeil davonschoß und sich mit Verleugnung aller Frauenwürde schleunigst an den Arm ihres Verlobten hing.

[533] Elmhorst war in ein Gespräch mit Veit Gronau gekommen, der ihm wie den übrigen als „Sekretär“ vorgestellt worden war und der, seinem Grundsatze getreu, daß die Anwesenheit der Damen eine Ehre, aber kein Vergnügen sei, sich möglichst von ihnen entfernt hielt. Sie sprachen natürlich auch über die Sammlungen, und Wolfgang sagte, auf den Neger und den Malayen deutend, die auf den Wink ihres Herrn bald dies und bald jenes zur näheren Betrachtung herbeiholten:

„Herr Waltenberg scheint selbst in seiner nächsten Umgebung das Fremdartige zu lieben. Er holt sich seine Dienerschaft aus allen Zonen, und auch Sie, Herr Sekretär, scheinen trotz Ihres Namens und Ihrer deutschen Aussprache ein halber Ausländer zu sein.“

„Ganz recht,“ bestätigte Gronau. „Ich bin fünfundzwanzig Jahre da draußen gewesen und glaubte überhaupt nicht, daß ich es wieder sehen würde, das alte Europa. Ich bin in Australien zu Herrn Waltenberg gestoßen; den Schwarzen da, den Said, haben wir von einer Vergnügungstour durch Afrika mitgebracht und den Djelma erst im vorletzten Jahre in Ceylon aufgefischt; deshalb ist er auch noch so dumm. Jetzt fehlt uns nur noch ein bezopfter Chinese und ein Kannibale von den Südseeinseln, dann ist die Menagerie vollständig.“

„Ueber den Geschmack läßt sich nicht streiten,“ sagte Elmhorst achselzuckend. „Ich fürchte nur, Herr Waltenberg entfremdet sich in all seien Gewohnheiten so vollständig seinem Geburtslande, daß es ihm schließlich unmöglich wird, hier zu leben.“

„Das fällt uns auch gar nicht ein,“ versicherte Veit mit derber Aufrichtigkeit. „Das fehlte noch, daß wir uns wieder einspinnen in das alte biedere Philisterleben, der Herr und ich! Wir gehen so bald als möglich wieder auf und davon.“

Wolfgangs Brust hob sich bei den letzten Worten unwillkürlich unter einem tiefen erleichternden Athemzuge.

„Sie scheinen sich nicht viel aus Ihrem Vaterlande zu machen?“ warf er hin.

„Gar nichts mache ich mir daraus! Man muß über die nationalen Vorurtheile erhaben sein, sagt Herr Waltenberg, und da hat er recht. Er hat mir eine ganze Predigt darüber gehalten, als ich auf der Rückreise mit dem amerikanischen Prahlhans zusammengerieth, der sich unterstand, auf Deutschland zu schimpfen.“

„Und da kamen Sie in Streit mit ihm?“

„Eigentlich nicht, ich schlug ihm nur die Nase entzwei,“ sagte Veit kaltblütig. „Zum Streite kam es gar nicht, denn er lag gleich am Boden. Natürlich stand er wieder auf und lief wüthend zu dem Kapitän, um Genugthuung zu fordern, worauf der Herr Kapitän unangenehm wurde. Aber da bekam er deutsche Grobheit zu hören. Schließlich mischte sich Herr Waltenberg ein und zahlte dem Manne mit der blutigen Nase ein Schmerzensgeld und ich war fortan eine ungeheure Respektsperson auf dem ganzen Schiffe. Es hat keiner wieder ein Wort gegen Deutschland gesagt – ich hätte es auch keinem rathen wollen!“ „Nun, ich hatte Mühe genug, die Sache auszugleichen“ sagte

Waltenberg, der soeben heran trat und die letzten Worte hörte. „Wenn der Mann sich nicht mit Geld beschwichtigen ließ, so hätte er übel ablaufen können, dieser Friedensbruch auf dem Schiffe. Sie waren ja wie ein gereizter Kampfhahn, Gronau, und die Veranlassung war gar nicht der Rede werth.“

„Ich dächte doch!“ brummte Gronau „Was hätte ich denn thun sollen dieser Unverschämtheit gegenüber?“

„Die Achseln zucken und schweigen. Wer wird sich um die Meinungen Fremder kümmern! Der Mann vertrat nur seinen Standpunkt, wie Sie den Ihrigen, und das war im Grunde sein Recht.“

„Sie scheinen allerdings hoch über jedem ‚nationalen Vorurtheil‘ zu stehen, Herr Waltenberg,“ sagte Wolfgang mit herber Ironie.

„Wenigstens setze ich eine Ehre darein, so vorurtheilsfrei wie nur möglich zu sein,“ lautete die sehr bestimmte Antwort.

„Es giebt aber Verhältnisne, wo man das nicht sein kann und darf. Sie haben ohne Zweifel vollkommen recht, aber ich halte es in diesem Falle mit dem Unrecht des Herrn Gronau – ich hätte ebenso gehandelt.“

„Wirklich, Herr Elmhorst? Das überrascht mich, ich hätte es Ihnen am wenigsten zugetraut.“

„Warum mir nicht?“ Es lag ein scharfer Ton auf dem Worte.

„Weil ich nicht glaube, daß Sie fähig sind, sich irgendwie fortreißen zu lassen. Ihre ganze Persönlichkeit verräth eine so sichere Ruhe, eine so vollständige Beherrschung aller Verhältnisse, daß ich überzeugt bin, Sie wissen stets genau, was Sie thun. Bei uns Idealisten ist das leider nie der Fall – wir können von Ihnen lernen.“

Die Worte klangen artig, sogar verbindlich; aber der Stachel darin wurde doch gefühlt und verstanden und Wolfgang Elmhorst war kein Mann, der sich ungestraft reizen ließ. Er maß seinen Gegner von oben bis unten.

„Ah so – Sie glauben Idealist zu sein, Herr Waltenberg?“

„Gewiß – oder rechnen Sie sich vielleicht zu den Idealisten?“

„Nein“ sagte Wolfgang kalt. „Aber zu den Männern, die keine Beleidigung dulden, und das werde ich nöthigenfalls beweisen.“

Er hatte sich hoch aufgerichtet und stand so herausfordernd da, daß Waltenberg die Notwendigkeit begriff, einzulenken. Aber sein ganzes Wesen sträubte sich dagegen, dem „Streber“ zu weichen, der ihm mit so unnahbarem Stolze gegenüberstand. Das Gespräch hätte vielleicht eine sehr bedenkliche Wendung genommen; aber zum Glück kam Doktor Gersdorf dazwischen. Er hatte keine Ahnung von dem, was hier verhandelt wurde, und wandte sich ganz unbefangen zu Wolfgang:

„Ich höre soeben, daß Sie schon morgen abreisen, Herr Elmhorst. Darf ich Sie bitten, meinem Vetter Reinsfeld einen Gruß von mir zu bringen?“

„Mit Vergnügen, Herr Doktor; ich darf ihm doch Ihre Verlobung mittheilen?“

„Gewiß, ich schreibe ihm noch ausführlich darüber und vielleicht besuche ich ihn auf der Hochzeitsreise mit meiner jungen Frau.“

Waltenberg war zurückgetreten. Es war ihm noch rechtzeitig zum Bewußtsein gekommen, daß er als Hausherr keinen Streit mit seinem Gaste provociren dürfe, und aus diesem Grunde war ihm die Unterbrechung sehr willkommen. Veit Gronau aber horchte dabei auf.

„Um Vergebung, meine Herren,“ mischte er sich ein. „Sie nannten da einen Namen, den ich aus meiner Jugendzeit her kenne. Ist vielleicht von dem Ingenieur Benno Reinsfeld die Rede, der aus Elsheim stammte?“

„Nein, aber von seinem Sohne,“ sagte Gersdorf etwas überrascht, „einem jungen Arzte, der mit Herrn Elmhorst befreundet ist.“

„Und der Vater?“

„Ist längst todt, schon seit mehr als zwanzig Jahren.“ In dem braunen Gesichte Gronaus zuckte es eigenthümlich und er fuhr rasch mit der Hand über die Augen.

„Ja freilich, ich hätte es mir denken können! Wenn man nach fünfundzwanzig Jahren einmal wieder nachfragt, dann hat der Tod aufgeräumt unter den alten Freunden und Genossen. Also Benno Reinsfeld ist gestorben! Er war der beste von uns allen und auch der talentvollste; aber Reichthümer hat er wohl nicht erworben mit all seiner Erfindungsgabe?“

„Hatte er wirklich ein derartiges Talent?“ fragte Gersdorf. „Ich habe nie davon gehört und jedenfalls ist es nicht zur Anerkennung gelangt, denn er starb als einfacher Ingenieur. Sein Sohn hat sich auch ganz auf eigene Hand durch die Welt schlagen müssen, ist aber ein tüchtiger Arzt geworden; fragen Sie nur Herrn Elmhorst.“

„Ein ausgezeichneter Arzt sogar,“ bestätigte Wolfgang, „nur zu bescheiden. Er versteht es nicht, sich und seine Leistungen geltend zu machen.“

„Das hat er von seinem Vater,“ sagte Gronau. „Der ließ sich auch überall bei Seite schieben und ausbeuten von jedem, der ihn zu benutzen verstand. Gott habe ihn selig! Er war der beste, treuste Kamerad, den ich je gehabt habe!“

Inzwischen stand Waltenberg mit Erna von Thurgau am anderen Ende des Saales. Er hatte ihr soeben eine seltene, phantastisch gestaltete Meerkoralle gezeigt und stellte diese wieder an ihren Platz, während er fragte:

„Es hat Sie also interessirt? Ich würde sehr glücklich sein, wenn meine ‚Schätze‘, wie Sie es nennen, Ihnen eine mehr als flüchtige Theilnahme abgewinnen könnten; vielleicht rechtfertigen sie mich dann einigermaßen vor diesen strengen Augen, in denen ich noch immer einen Vorwurf lese. Gestehen Sie es nur, gnädiges Fräulein, Sie können es dem Weltfahrer nicht verzeihen, daß er sich seiner Heimath so vollständig entfremdet hat?“

„Aber wenigstens kann ich ihn jetzt entschuldigen,“ erwiderte Erna lächelnd. „Diese Märchenwelt, die uns hier umgiebt, hat in der That etwas Bestrickendes; es ist schwer, ja fast unmöglich, sich ihrem Zauber zu entziehen.“

„Und es sind doch nur stumme, todte Zeugen eines Lebens, das in nie versiegender Fülle schafft,“ fiel Ernst ein. „Wenn Sie das alles beseelt erblicken, an der Stätte, der es entsprossen ist, zu der es gehört, Sie würden begreifen, daß ich nicht ausdauern kann unter diesem kalten nordischen Himmel, daß es mich gewaltsam zurückzieht zu den Ländern der Sonne und des Lichtes. Auch Sie würden unwiderstehlich dort festgehalten werden!“

„Vielleicht! Und vielleicht auch würde mich in Ihren Sonnenländern ein tiefes Heimweh erfassen nach meinen kühlen heimatlichen Bergen. Doch wir wollen nicht darüber streiten; das könnte nur eine Probe entscheiden und die werde ich schwerlich jemals machen.“

„Wenn Sie es wollen – warum nicht?“

„Weil uns Frauen eine so schrankenlose Freiheit nicht vergönnt ist. Wir können nicht so allein und fessellos durch die Welt schweifen, wie es Ihnen möglich ist.“

„Allein!“ wiederholte Ernst mit gedämpfter Stimme. „Sie könnten sich ja auch einem Schutze, einem Führer anvertrauen, der Ihnen diese Welt öffnete, dem es ein Glück wäre, Ihnen dies Reich der Gluthen und Farben zu erschließen; vielleicht betreten Sie es einst an der Seite eines – Gemahls!“

Das letzte Wort wurde leise, nur ihr allein hörbar ausgesprochen. Erna hob betroffen, wie fragend das Auge empor; sie begegnete einem Blick, der mit heißem, sengendem Strahl den ihrigen traf, mit dem vollsten Ausdrucke der Leidenschaft. Sie erbleichte und trat unwillkürlich einen Schritt zurück.

„Das ist sehr unwahrscheinlich!“ sagte sie mit einem Versuche auszuweichen. „Für ein solches Leben muß man geschaffen sein und ich –“

„Sie sind dafür geschaffen!“ fiel er beinahe stürmisch ein. „Sie allein unter Hunderten von Frauen, ich weiß es!“

„Sind Sie ein so vollkommener Menschenkenner, Herr Waltenberg?“ fragte Erna kühl. „Wir sehen uns ja heute erst zum zweiten Male; da ist ein solches Urteil über einen fremden Charakter doch wohl etwas gewagt.“

Die Zurechtweisung war deutlich genug, Waltenberg biß sich auf die Lippen.

„Sie haben recht, mein gnädiges Fräulein,“ erwiderte er verletzt, „vollkommen recht! In dieser Welt der Formen und Rücksichten irrt man leicht in der Beurtheilung eines Charakters. Hier giebt es ja überhaupt kein leidenschaftliches Empfinden und ein heißes Wort, das sich halb unbewußt auf die Lippen drängt, wird zur Verwegenheit. Hier muß ja alles seine Zeit und Regel haben – ich bitte um Verzeihung, daß ich das vergaß.“

Er verneigte sich und trat zu den anderen Damen. Erna athmete auf, als er sich von ihr wandte; sie hatte seine unverkennbaren


Huldigungen hingenommen, ohne Gewicht darauf zu legen, ohne eine Ahnung von den Plänen ihres Onkels zu haben. Aber grade deshalb hätte sie dem Manne nicht zürnen dürfen, dem jede Berechnung so fern lag! Es war wohl kühn, ihr schon bei dem zweiten Zusammensein solche Andeutungen zu machen; beleidigend war es nicht und sie liebte ja grade das Kühne, Ungewöhnliche, das nicht nach Form und Regel fragte. Warum erschrak sie denn so vor diesem halbverhüllten Geständniß, warum überfiel sie eine heiße Angst bei dem Gedanken, sie könne wirklich vor eine solche Entscheidung gestellt werden? – Sie fand keine Antwort auf die Frage.

Frau von Lasberg mahnte jetzt zum Aufbruch. Man hatte sich in der That schon ungewöhnlich lange fesseln lassen und eilte nun, sich zu verabschieden. Es wurden Danksagungen und Grüße ausgetauscht und Ernst Waltenberg gab sich alle Mühe, bis zum letzten Augenblick der liebenswürdige Hausherr zu bleiben, der er bisher gewesen war. Aber es wollte ihm nicht gelingen, der Verstimmung Herr zu werden, die der Ausgang jenes Gespräches mit Erna zurückgelassen hatte. Es lag etwas Gezwungenes in der Art, wie er seine Gäste entließ, und doch war es ihm eine Erleichterung, daß sie ihn verließen. Finster, mit zusammengepreßten Lippen sah er dem fortrollenden Wagen nach und kehrte dann zurück in die eben verlassenen Räume.

Er war tief gereizt und erbittert über die empfangene Zurückweisung. Sie berührte den leidenschaftlichen Mann wie ein Hauch aus dem eisigen Norden, den er so sehr haßte; er flüchtete zurück in seinen geliebten Orient, der ihn hier umgab mit seiner farbenreichen Pracht und seinem goldigen Lichte. Aber es schien, als sei auch hier etwas von jenem kalten Hauche zurückgeblieben. Das alles erschien ihm auf einmal so farblos und öde; es war ja doch nur ein todtes Abbild der Wirklichkeit!

„Master Hronau, was hat der Herr?“ fragte Said, als er nach ewiger Zeit mit Djelma wieder in das Balkonzimmer trat, um den Tisch abzuräumen. „Er will sein ganz allein – er hat sehr schlimme Laune.“

„Ja – sehr schlimm!“ bestätigte Djelma, der es vorläufig erst bis zu einigen deutschen Worten gebracht hatte.

Veit Gronau hatte diese Verstimmung seines Herrn gleichfalls bemerkt, ohne sie sich erklären zu können, und war daher etwas in Verlegenheit, was er antworten solle. Er blieb aber nie eine Antwort schuldig, und diesmal traf er unbewußt den Nagel auf den Kopf, als er kurz und bündig erwiderte:

„Das kommt davon, daß er sich Damen eingeladen hat, und wenn Damen dabei sind, giebt es immer Konfusion.“

„O – immer?“ fragte Said, dem die Sache nicht recht einzuleuchten schien.

„Immer!“ bestätigte Gronau, mit vollem Nachdruck. „Ob sie weiß oder schwarz oder braun sind, darauf kommt es nicht an. Konfusion stiften sie doch an. Deshalb muß man unter sich bleiben und ihnen aus dem Wege gehen – merkt Euch das, Ihr Schlingel!“




Es war Sommer geworden, für das Gebirge freilich noch Frühsommer, denn man befand sich erst in der Mitte des Juni, aber die Wälder und Matten standen schon im frischen Grün und nur die Hochgipfel trugen noch das Schneegewand, das sie niemals ablegten. Dort oben gab es ja weder Frühling, noch Sommer und Herbst, dort herrschte der Winter in ewiger, eisiger Pracht.

Das mächtige Alpenthal, das vor drei Jahren noch so unberührt dalag in seiner ernsten, düsteren Einsamkeit, trug jetzt überall die Spuren des Menschengeistes, der damals mit einem Heer von dienstbaren Kräften seinen Einzug hielt. In den Felswänden gähnten dunkle Oeffnungen, aus der Tiefe wand sich in Schlangenlinien ein schmaler Weg empor, der eiserne Weg, dem Wälder und Felsen hatten weichen müssen, und hoch oben über der Schlucht spannte sich das Meisterwerk dieses ganzen Riesenbaues, die Wolkensteiner Brücke, die, schon zum größten Theile vollendet, dort oben in der schwindelnden Höhe zu schweben schien.

Es war keine leichte Arbeit gewesen, sich hier Bahn zu schaffen, und gerade das Wolkensteiner Gebiet hatte dem kühnen Werke die höchsten Schwierigkeiten bereitet, die hier förmlich aus dem Boden zu wachsen schienen. Berechnungen, die man mit der größten Sorgfalt angestellt hatte, erwiesen sich als trügerisch, Hilfsmittel, auf die man sicher baute, versagten ihre Wirkung, ungeahnte Katastrophen traten ein, und mehr als einmal schien die Vollendung der Bahn in Frage gestellt zu sein.

Aber an der Spitze der Wolkensteiner Sektion stand ein Mann, der all diesen Schwierigkeiten gewachsen war, den kein Hinderniß schreckte, keine Katastrophe entmuthigte. Er ging trotz alledem vorwärts mit seiner Schar, immer vorwärts und unterwarf sich, Schritt vor Schritt vordringend, die trotzige, bisher noch unbezwungene Alpennatur.

Die Gesellschaft wußte es nur zu gut, welche Kraft sie in ihrem Oberingenieur befaß, und pries jetzt die Wahl des Präsidenten, die sie anfangs so bekämpft hotte. Man legte nach und nach eine fast unbegrenzte Vollmacht in die Hände des noch so jungen Mannes und er wußte sie festzuhalten und zu gebrauchen. Der Chefingenieur gab längst nur noch den Namen her für das ganze Werk; jedes Eingreifen, jede Entscheidung kam von dem energischen und genialen Führer seines Stabes, und seit dieser sich nun vollends mit der Tochter Nordheims verlobt hatte, seit ein Vermögen von Millionen hinter ihm stand, verstummte jede Opposition, es beugte sich alles vor ihm.

Von dem Wolkensteiner Hofe war jede Spur verschwunden, er war der Erde gleich gemacht worden noch in demselben Jahre, wo sein Herr die Augen geschlossen hatte. Man brauchte ja nun keine Rücksicht mehr zu nehmen auf den wunderlichen Alten, dem das Herz darüber gebrochen war. An der Stelle, wo einst der alte Erbsitz der Thurgaus stand, erhob sich jetzt ein stattliches Haus, das künftige Stationsgebäude, das gerade am Ausgange der großen Brücke lag. Bis zur Eröffnung der Bahnlinie, die für das nächste Frühjahr in Aussicht genommen war, hatte man das technische Bureau darin untergebracht und die oberen Räume bewohnte einstweilen Oberingenieur Elmhorst. Hier war gewissermaßen das Hauptquartier der Wolkensteiner Sektion und damit der Mittelpunkt des ganzen Bahnbaues.

Wolfgang hatte sich auch hier so eingerichtet, wie es ihm zum Bedürfniß geworden war, seit er das immerhin reichliche Einkommen seiner Stellung bezog. Die hohen, hellen Räume hatten ein sehr behagliches Aussehen, besonders das Arbeitszimmer mit seinen dunkelgrünen Vorhängen und Teppichen, den eichengeschnitzten Möbeln und den reichgefüllten Bücherschränken. Das Eckfenster, an welchem der Schreibtisch stand, bot den vollen Blick auf die große Brücke – das kühne Werk stand seinem Schöpfer immer vor Augen.

Elmhorst saß am Schreibtische und sprach mit Benno Reinsfeld, der soeben gekommen war. Der junge Arzt zeigte sich ganz unverändert in seinem Aeußeren wie in seinem Wesen, nur noch etwas formloser und ungelenker war er geworden. Der jahrelange Aufenthalt in dem kleinen, abgelegenen Gebirgsorte, die anstrengende Landpraxis, die ihm wenig Zeit übrig ließ, und der ausschließliche Umgang mit Männern, bei denen es auf die Formen nicht so genau ankam, äußerten ihre Wirkung.

Augenblicklich freilich war der Herr Doktor in voller Gala; er trug einen schwarzen Anzug, sein Staatsgewand, das nur bei ganz außerordentlichen Gelegenheiten zu paradiren pflegte, aber leider hinter der herrschenden Mode um zehn Jahre zurückblieb. Vortheilhaft sah er gerade nicht darin aus, es beengte ihn augenscheinlich sehr; die graue Joppe und der Filzhut waren ihm weit bequemer. Es ließ sich nicht leugnen, Reinsfeld war etwas verbauert in seiner Erscheinung, und er mochte das wohl selbst fühlen, denn er nahm mit zerknirschter Miene die Vorwürfe seines Freundes hin, der ihn kopfschüttelnd betrachtete.

„In diesem Aufzuge soll ich Dich den Damen vorstellen?“ sagte er ärgerlich. „Warum hast Du nicht wenigstens den Frack angezogen?“

„Ich besitze ja gar keinen Frack mehr,“ entschuldigte sich Benno. „Er ist hier wirklich nicht nothwendig und da wäre es eine unnütze Ausgabe gewesen; aber ich habe mir meinen alten Hut neu aufbügeln lassen und habe mir auch in Heilborn ein Paar Handschuhe gekauft.“

Er zog ein Paar Riesenhandschuhe von schreiend gelber Farbe aus der Tasche und breitete sie mit großem Selbstgefühl vor dem Oberingenieur aus, der ganz entsetzt darauf niederblickte.

„Aber Mensch, Du wirst doch nicht etwa diese Ungethüme tragen wollen!“ rief er. „Sie sind Dir ja viel zu groß.“

„Aber sie sind ganz neu und so schön gelb,“ versicherte Benno gekränkt, denn er hatte auf Anerkennung für diesen unerhörten Toilettenaufwand gerechnet, zu dem er sich erst nach langem Zögern entschlossen hatte.

„Du wirst eine schöne Figur bei Nordheims spielen,“ sagte Elmhorst achselzuckend. „Mit Dir ist wahrhaftig nichts anzufangen.“

„Wolf – muß ich denn durchaus den Besuch machen?“ fragte der Doktor mit einer jammervoll bittenden Miene.

„Ja, Du mußt, Benno! Ich wünsche, daß Du Alice während ihres Hierseins behandelst, denn ihre Kränklichkeit macht mir ernstliche Sorge. Sie hat ja in Heilborn und in der Stadt alle möglichen Aerzte gehabt, aber jeder stellte eine andere Diagnose und geholfen hat ihr keiner. Du weißt, wieviel ich von Deinem ärztlichen Scharfblick halte, und wirst mir diesen Freundschaftsdienst nicht versagen.“

„Gewiß nicht, wenn Du es verlangst, aber Du kennst ja den Grund, der es mir peinlich macht, zu dem Präsidenten in Beziehung zu treten.“

„Doch nicht etwa wegen des ehemaligen Zerwürfnisses mit Deinem Vater? Wer denkt heute nach zwanzig Jahren noch daran! Ich habe allerdings auf Deinen Wunsch bisher vermieden, Deinen Namen zu nennen, aber jetzt, wo ich Deine Hilfe für meine Braut in Anspruch nehme, muß ich Dich doch nothgedrungen vorstellen. Uebrigens wirst Du mit meinem Schwiegervater gar nicht zusammentreffen, denn er wollte heute morgen wieder abreisen. Gestehe es nur, Benno, der wahre Grund liegt ganz wo anders, Du scheust Dich, mit Damen zu verkehren, weil Du nur Deine Bauernpraxis gewohnt bist.“

Er schien mit der Voraussetzung das Richtige getroffen zu haben, denn Reinsfeld vertheidigte sich nicht dagegen, sondern stieß nur einen tiefen Seufzer aus.

„Du wirst noch ganz und gar versumpfen in diesem Leben,“ fuhr Wolfgang ungeduldig fort. „Da sitzest Du nun seit fünf Jahren in dem elenden kleinen Bergneste, reibst Dich auf in einer Praxis, die die unerhörtesten Anforderungen an Dich stellt und Dir dabei die kärglichsten Einnahmen bringt, und wirst vielleicht Dein Lebenlang hier sitzen bleiben, nur weil Du nicht den Muth hast, zuzugreifen, wenn sich irgend etwas anderes bietet. Wie hältst Du es nur aus in solchen Umgebungen?“

„Ja, bei mir schaut es allerdings etwas anders aus als in Deinen Salons,“ sagte Benno gutmüthig, während er sich in dem schönen behaglichen Arbeitszimmer umsah. „Man muß sich eben nach der Decke strecken, und die meinige ist etwas kurz gerathen; Du freilich hattest von jeher die Neigungen eines Millionärs, hast Dir ja auch schon vor Jahren vorgenommen, einer zu werden, und das kecke Zugreifen verstehst Du, das muß man Dir lassen.“

Elmhorst runzelte die Stirn und in gereiztem Tone antwortete er:

„Muß ich das auch von Dir hören? Immer und ewig diese Hindeutungen aus den Reichthum Nordheims! Es scheint wahrhaftig, als ob meine ganze Bedeutung einzig und allein in meiner Verlobung bestände. Bin ich denn gar nichts mehr?“

Reinsfeld sah ihn ganz erstaunt an.

„Was fällt Dir denn ein, Wolf? Du weißt es doch, daß ich Dir Dein Glück von ganzem Herzen gönne, aber Du bist merkwürdig empfindlich, sobald die Rede darauf kommt, und hättest doch allen Grund, stolz zu sein. Wenn irgend jemand sein Ziel schnell und glänzend erreicht hat, dann bist Du es.“

[549] Auf dem Schreibtisch Wolfgangs stand in einem reichgeschnitzten Rahmen Alicens Bild. Es war ähnlich, aber wenig vortheilhaft, denn die zarten weichen Linien der Züge verschwammen allzu sehr in der Photographie und die Augen waren völlig ausdruckslos. Die schlanke junge Dame in der überreichen Toilette machte hier völlig den Eindruck einer jener nervösen, blasirten Erscheinungen, wie man sie oft in der großen Welt findet. Auch Doktor Reinsfeld schien dieser Meinung zu sein; er sah auf das Bild, dann auf seinen Freund und bemerkte trocken. „Glücklich bist Du aber nicht geworden dadurch, daß Du Dein Ziel erreicht!“

Wolfgang wandte sich rasch und heftig um.

„Warum nicht? Was meinst Du damit?“

„Nun, fahre nur nicht gleich wieder auf! Ich kann mir nicht helfen, aber Du bist verändert seit den letzten Monaten. Ich erhalte aus der Stadt die Nachricht Deiner Verlobung und denke, Du wirst zurückkommen, strahlend vor Triumph über die Verwirklichung all Deiner Zukunftspläne, statt dessen bist Du fortwährend ernst, verstimmt, reizbar im höchsten Grade, Du, der allezeit Ruhige und Besonnene – was hast Du eigentlich, Wolf?“

„Nichts! Laß mich in Ruhe!“ lautete die abweisende Antwort, aber Benno trat zu ihm und legte die Hand auf seine Schulter.

„Wenn Deine Verlobung eine Herzensgeschichte wäre, so würde ich glauben, daß da etwas nicht in Ordnung ist, aber –“

„Ich habe ja kein Herz, Du hast es mir oft genug gesagt,“ warf Wolfgang bitter ein.

„Nein, Du hast nur Ehrgeiz – weiter nichts!“ sagte Reinsfeld ernst.

Elmhorst machte eine ungeduldige Bewegung.

„Predige nicht schon wieder, Benno! Du weißt, in dem Punkte verstehen wir uns nicht. Du bist und bleibst –“

„Der überspannte Idealist, der lieber mit seiner Herzallerliebsten trockenes Brot ißt, als mit einer vornehmen Frau Gemahlin in der Equipage fährt! Ja, ich bin nun einmal so unpraktisch angelegt, und vorläufig reicht es noch nicht einmal zum Brot für Zwei aus, deshalb ist es ein Glück, daß ich überhaupt keine Herzallerliebste habe.“

„Wir müssen gehen,“ sagte Wolfgang abbrechend. „Alice erwartet mich um zwölf Uhr, und nun thu’ mir den Gefallen und nimm Dich wenigstens etwas zusammen. Ich glaube, Du kannst nicht einmal mehr eine regelrechte Verbeugung machen.“

„Ist auch sonst nicht nöthig bei meinen Patienten,“ versetzte Benno trotzig. „Die sind zufrieden, wenn ihnen geholfen wird, ohne Verbeugung, und wenn Du keine Ehre mit mir einlegst bei Deinem vornehmen Fräulein Braut, so ist es Deine Schuld; warum schleppst Du mich hin wie ein Opferlamm. – Fräulein von Thurgau ist doch wenigstens mit gekommen?“

„Jawohl!“

„Und sie ist vermutlich auch eine große Dame geworden?“

„In Deinem Sinne allerdings.“

Die Antworten klangen sehr einsilbig und lauteten nicht sehr tröstlich für den

armen Doktor, der diesem Besuche mit einer wahren Herzensangst entgegensah. Er wagte gleichwohl nicht, sich zu sträuben, denn er war es nun einmal gewohnt, sich von seinem Freunde beherrschen zu lassen. So nahm er denn auch jetzt den neu aufgebügelten Hut, der trotzdem sein ehrwürdiges Alter nicht verleugnete, vom Tische und machte Anstalt, die berühmten „Gelben“ anzuziehen, während er ergebungsvoll sagte:

„Wenn es denn durchaus nicht anders geht – in Gottes Namen!“ –

Oberhalb der Bahnlinie, etwa eine halbe Stunde von dem künftigen Stationsgebäude entfernt, lag die neue Villa des Präsidenten, zu der ein eigens angelegter, bequemer Weg führte. Das Haus, in dem hier üblichen Gebirgsstil, mit vorspringendem Dach und zierlichen Holzgalerien, entsprach wenigstens äußerlich seiner Umgebung, war aber trotz seines einfachen Gewandes vollkommen darauf eingerichtet, einen so anspruchsvollen Haushalt wie den Nordheimschen aufzunehmen. Die Lage war prachtvoll und bot die Aussicht über den schönsten Theil des Gebirges; die Matten ringsum hatte man mit Anlagen versehen und den nahen Wald in einen kleinen Naturpark verwandelt. Das hatte freilich unendliche Mühe und unglaubliche Kosten verursacht und sollte doch im Grunde nur für einen Aufenthalt von wenig Wochen dienen, aber Nordheim pflegte nicht nach den Kosten zu fragen, wenn er irgend etwas plante, und gab dem Baumeister unbeschränkte Vollmacht. Elmhorst hatte denn auch in der That ein kleines Meisterwerk geschaffen in diesem Bergschlößchen, das zum Eigenthum seiner Braut bestimmt war.

Im Inneren hatte man freilich auch nicht mehr den Schein der Einfachheit festgehalten. Das Licht fiel durch bunte, kostbar gemalte Scheiben auf Flur und Treppen, und teppichbelegte Stufen führten zu einer Reihe von Zimmern, die, wenn auch nicht so prachtvoll wie die Salons in der Stadt, ihnen an Luxus und Behaglichkeit doch wenig nachgaben. Es waren reizende kleine Nestchen, vorwiegend in lichten Farben gehalten, und jedes einzelne bot eine entzückende Fernsicht.

Der Präsident war erst vor einigen Tagen mit seiner Familie auf der neuen Besitzung eingetroffen und Alice, der die Höhenluft verordnet war, sollte die beiden Sommermonate hier zubringen. Nordheim selbst hatte wie gewöhnlich keine Zeit zur Erholung, er nahm hier nur sein Absteigequartier, zur Besichtigung der Bahnarbeiten, wie er es früher in Heilborn genommen hatte, und jetzt riefen ihn schon wieder Geschäfte nach der Stadt zurück. Er hatte allerdings schon am Morgen abreisen wollen, war aber durch eingetroffene Briefe, die sofort erledigt werden mußten, noch einige Stunden zurückgehalten worden. Sein Wagen stand bereits angespannt und er selbst befand sich bei seiner Nichte, die er kurz vor der Abfahrt noch sprechen wollte.

Ernas Zimmer lag im oberen Stockwerke, die Glasthür, welche auf die Galerie führte, war geöffnet und draußen lag Greif, behaglich im Sonnenschein ausgestreckt.

Der Hund war fast das einzige Andenken, welches das junge Mädchen damals aus der Heimath mitgenommen hatte, dies eine aber vertheidigte sie auch mit der ganzen Leidenschaftlichkeit ihrer Natur gegen den Onkel und Frau von Lasberg, die das „lästige Geschöpf“ nicht dulden wollten. Es sollte zurückbleiben, aber da gab es eine unendlich stürmische Scene. Erna weigerte sich entschieden, das Haus zu verlassen, wenn man ihr nicht gestatte, Greif mitzunehmen, und Nordheim hatte endlich nachgegeben, unter der Bedingung, daß der Hund niemals in die Wohnräume der Familie komme.

Das war denn auch nicht geschehen, Greif war überhaupt manierlicher geworden, er hatte Lebensart gelernt und es fiel ihm jetzt nicht mehr ein, im Salon eine Jagdscene aufzuführen; aber das damals noch sehr junge Thier hatte sich erst jetzt zu seiner vollen Kraft und Schönheit entwickelt. Es hatte etwas Löwenartiges, als es so ausgestreckt lag, mit den mächtigen Pranken dem langen dunkelgelben Fell und den grossen schwarzen Augen, die jeder Bewegung seiner jungen Herrin folgten.

Es mußte eine ganz besondere Veranlassung sein, die den Präsidenten zu Erna führte. Er hatte ja sonst überhaupt niemals Zeit für seine Familie und auch nicht das Bedürfniß, mit ihr gemüthlich zu verkehren; sie sah ihn gewöhnlich nur bei Tische, wenn er nicht tage- und wochenlang abwesend war. Selbst sein Verhältniß zu der eigenen Tochter war ein sehr kühles und seiner Nichte stand er vollends fremd und kalt gegenüber. Er lebte und webte nur in seiner geschäftlichen Thätigkeit, alles andere, sogar die Familienbeziehungen, waren ihm vollständig Nebensache.

Er war im vollen Reiseanzuge eingetreten, ohne Platz zu nehmen, und sagte flüchtig, wie im Vorbeigehen:

„Ich wollte Dir nur mittheilen, daß ich vor einer Stunde einen Brief von Waltenberg erhalten habe. Er ist gestern in Heilborn eingetroffen und denkt einige Wochen dort zu bleiben, wahrscheinlich macht er Euch morgen einen Besuch.“

Die Worte klangen gleichgültig, aber es lag eine gewisse Schärfe in dem Blick, der dabei auf Erna ruhte. Sie nahm die Nachricht ebenso gleichgültig auf und erwiderte ruhig:

„So? Dann werde ich Alice und Frau von Lasberg benachrichtigen.“

„Frau von Lasberg weiß es bereits und wird es nicht an der nöthigen Rücksicht fehlen lassen; ich wünsche aber, daß sie ihm auch von – anderer Seite zu theil wird. Hörst Du, Erna?“

„Ich wüßte nicht, Onkel, daß ich gegen Deinen Gast rücksichtslos gewesen wäre.“

„Meinen Gast? Als ob Du nicht so gut wie ich wüßtest, was ihn an unser Haus fesselt und was ihn jetzt nach Heilborn führt. Er will endlich einmal Gewißheit haben, und ich kann es ihm nicht verdenken, wenn er des Spiels müde ist, das nun schon monatelang mit ihm getrieben wird.“

„Ich habe nie mit Herrn Waltenberg gespielt,“ sagte Erna kühl. „Ich fand es nur für nötig, ihm gewisse Schranken zu ziehen, denn er scheint der Meinung zu sein, daß er nur die Hand auszustrecken braucht, wenn irgend etwas seinen Wunsch reizt.“

„Nun, wir wollen nicht darüber streiten, denn Du scheinst mit Deiner kühlen Zurückhaltung grade das Rechte getroffen zu haben. Männer wie Waltenberg, die einen förmlichen Kultus mit ihrer Freiheit treiben und jedes Familienband als eine Fessel empfinden, wollen eigenartig behandelt sein. Ein Entgegenkommen hätte ihn vielleicht stutzig gemacht, das scheinbar Versagte reizt ihn.“

Die Augen des Mädchens flammten unwillig auf.

„Die Berechnung stellst Du an, Onkel – nicht ich!“

„Gleichviel, wenn sie nur richtig ist,“ sagte Nordheim, ohne auf den Vorwurf zu achten, der in den Worten lag. „Ich habe mich bisher nicht eingemischt, weil ich sah, daß der Weg trotzalledem zum Ziele führte, jetzt aber wünsche ich, daß Du nicht länger einer Erklärung ausweichst. Ich zweifle nicht, daß Waltenberg schon in der nächsten Zeit die entscheidende Frage an Dich stellen wird, und Deine Antwort –“

„Könnte anders ausfallen, als er es wünscht!“ ergänzte Erna mit voller Bestimmtheit.

Der Präsident stutzte und sah seine Nichte forschend an.

„Was soll das heißen? Du wirst doch nicht etwa den tollen Einfall haben, ihn abzuweisen?“

Sie schwieg, aber in ihrem Antlitz zeigte sich wieder jener herbe Trotz, der schon dem sechzehnjährigen Mädchen eigen war. Nordheim mochte diesen Ausdruck kennen und wissen, was er verhieß, denn er runzelte finster die Stirn.

„Erna, ich erwarte mit aller Bestimmtheit, daß meinem ernsten und wohlüberlegten Plane keine unnöthigen Hindernisse bereitet werden. Es handelt sich um Deine Vermählung mit einem Manne –“

„Den ich nicht liebe!“ unterbrach sie ihn heftig.

Nordheim lächelte, halb spöttisch, halb mitleidig.

„Dachte ich es doch, daß wieder irgend eine Ueberspanntheit dahinter stecken würde! Liebe! Die sogenannten Liebesheirathen enden stets mit Enttäuschung. Eine Ehe muß auf vernünftigerer Grundlage aufgebaut werden und Alice giebt Dir das Beispiel dazu. Glaubst Du vielleicht, daß sie sich von romantischen Gefühlen bestimmen ließ bei ihrer Verlobung, oder daß Wolfgang es that?“

„O nein – er am wenigsten!“ sagte Erna mit unverschleierter Verachtung.

„Was in Deinen Augen natürlich ein Verbrechen ist! Ich vertraue ihm trotzdem die Zukunft meiner Tochter an und bin überzeugt, daß er ein guter Ehemann sein wird. Einen Romantiker hätte ich mir überhaupt nicht zum Schwiegersohn gewählt. Waltenberg kann sich freilich diesen Luxus gestatten, er hat die Mittel dazu. Er ist im Grunde ebenso excentrisch wie Du, Ihr seid Euch im höchsten Grade ähnlich und deshalb begreife ich nicht, was Du eigentlich an ihm auszusetzen hast.“

„Seinen Egoismus! Er lebt nur für sich und für das, was ihm Lebensgenuß heißt. Er kennt weder Vaterland noch Beruf, weder Pflichten noch Ehrgeiz, will das alles nicht kennen, weil es ihn in diesem Genusse stört. Ein solcher Mann wird nie ein ernstes Streben, nie eine Zukunft haben und er kann auch eine Frau nicht lieben, denn er liebt nur sich allein.“

„Er bietet Dir aber seine Hand und das ist in diesem Falle die Hauptsache. Wenn Du von Deinem künftigen Gatten nur Ehrgeiz und Energie verlangst, dann allerdings hättest Du Wolfgang heirathen müssen. Der hat eine Zukunft, dafür verbürge ich mich.“

Erna zuckte zusammen und ihre Stimme klang beinahe schneidend, als sie rief:

„Verschone mich mit solchen Scherzen, Onkel – ich bitte Dich!“

„Ich bin nicht zum Scherzen aufgelegt,“ sagte Nordheim scharf. „Aber beiläufig, Erna, Dein Verhältniß zu Wolfgang ist ein sehr unerquickliches und die Art, wie Ihr beide Euch gegenübersteht, ist wenig angenehm für die Umgebung. Ich bitte ernstlich, den schroffen Ton zu ändern, der nachgrade bei Euch zur Regel geworden ist. – Um aber wieder auf die Hauptsache zurückzukommen, so scheinst Du zu glauben, daß Du unter allen möglichen Bewerbern zu wählen hast, bis irgend einer Deinem Ideale entspricht. Es thut mir leid, Dich aus Deinem Irrthum reißen zu müssen, aber Du hast überhaupt keine Wahl. Ein armes Mädchen wird allerdings umschwärmt und gefeiert, wenn sie schön ist – geheiratet wird sie für gewöhnlich nicht, denn die Männer verstehen zu rechnen. Dieser Antrag ist der erste, den Du erhältst, und wird voraussichtlich der einzige bleiben; überdies ist es eine glänzende Partie, auf die Du gar nicht rechnen konntest – Du hast allen Grund, zuzugreifen.“

Die Worte wurden nicht in dem Tone vernünftiger wohlwollender Ermahnung gesprochen, es lag etwas unglaublich Herzloses und Verletzendes in der Art, mit der Präsident Nordheim seiner Nichte auseinandersetzte, daß sie trotz ihrer Schönheit gar keinen Anspruch darauf habe, geliebt und gewählt zu werden, weil sie arm sei. Erna war bleich geworden und ihre Lippen bebten, aber ihr Gesicht sprach eher alles andere aus als Fügsamkeit.

„Und wenn ich trotz alledem nicht zugreife?“ fragte sie langsam.

„So hast Du Dir die Folgen selbst zuzuschreiben. Deine Stellung dürfte keine beneidenswerthe sein, wenn Du unvermählt bleibst. Alice heirathet im nächsten Jahre, wie Du weißt.“

„Und in demselben Jahre werde ich mündig – und frei!“

„Frei!“ spottete Nordheim. „Wie großartig das klingt! Du bist wohl in Fesseln und Banden in meinem Hause, wo Du als Tochter aufgenommen wurdest? Oder pochst Du vielleicht auf Dein väterliches Erbtheil? Das ist nicht mehr als ein Bettelpfennig und Du bist an die Ansprüche einer vornehmen Dame gewöhnt.“

„Ich habe mit meinem Vater in den einfachsten Verhältnissen gelebt,“ sagte Erna bitter, „und wir sind glücklich gewesen – in Deinem Hause war ich es nie!“

Der Präsident zuckte verächtlich die Achseln.

„Ja, Du bist die echte Tochter Deines Vaters! Der zog es auch vor, auf einem Bauernhofe zu hausen, statt mit seinem alten Namen in der Welt Carriere zu machen. Nun, Waltenberg bietet Dir ja die ersehnte Freiheit. Als seine Gattin hast Du Reichthum und Lebensstellung, er wird Dir jeden Wunsch befriedigen, jede Laune erfüllen, wenn Du es verstehst, ihn zu beherrschen. Ich fordere zum letzten Male, daß Du die Sache vernünftig ansiehst. Thust Du es nicht, so sind wir beide zu Ende mit einander. Ich habe keine Duldung für Ueberspanntheiten, die sich in der Thurgauschen Familie fortzuerben scheinen.“

Erna gab keine Antwort und er schien sie auch nicht zu erwarten, denn er wandte sich zum Gehen, blieb aber an der Thür noch einmal stehen und sagte mit eisigem Nachdruck:

„Ich hoffe mit aller Bestimmtheit, Dich bei meiner Rückkehr als Braut zu finden – leb’ wohl!“

Er ging und einige Minuten später hörte man seinen Wagen fortrollen.

Erna warf sich in einen Sessel, das Gespräch hatte sie doch tiefer erregt, als sie dem kalten Manne zeigen wollte, der ihre Vermählung einzig und allein als ein vorteilhaftes Geschäft behandelte.

Als Braut! Sie schreckte zurück vor dem Worte, das sonst einen Zauberklang hat für jedes Mädchen, und doch wurde sie geliebt von jenem Manne, dem einzigen, der nicht danach fragte, ob sie reich oder arm sei, der sie hinausführen wollte aus diesem Hause, wo das Geld allem regierte, weit fort, in eine Welt von Freiheit und Schönheit! Vielleicht lernte sie es dennoch, ihn zu lieben, vielleicht war er trotzalledem der Liebe werth! War es denn nicht möglich, sich zu überwinden?

Sie verbarg in qualvollem inneren Kampfe das Gesicht in beiden Händen. Da fühlte sie eine leise, schmeichelnde Berührung. Greif war unbemerkt hereingekommen und stand jetzt dicht vor ihr. Er legte den mächtigen Kopf in ihren Schoß und sah sie fragend an mit seinen großen schönen Augen, als fühle er das Leid seiner jungen Herrin mit. Sie blickte auf, das Thier war ihr ja das Einzige, was sie gerettet hatte aus jener glücklichen, sonnigen Jugendzeit in den Bergen an der Seite des Vaters, dessen vergötterter Liebling sie war. Jetzt ruhte er längst schon im Grabe, die alte theure Heimath war verschwunden von der Erde und sein einziges Kind lebte in dem fremden Hause, eine Fremde, trotz aller Verwandtschaftsbande.

Erna schluchzte plötzlich laut auf, sie schlang beide Arme um den Hals des Hundes und sich zu ihm niederbeugend flüsterte sie:

„O Greif, wären wir doch wieder in dem alten Wolkensteiner Hofe, wären sie nie gekommen, diese Fremden! Sie haben Deinem Herrn den Tod gebracht und mir – noch Schwereres!“




Der Wagen des Präsidenten rollte schon auf der Bergstraße dahin, die bis zur Eröffnung der Bahn die einzige Verbindung war, als Elmhorst und Reinsfeld die Wohnung des ersteren verließen und zu der Villa emporstiegen. Der künftige Schwiegersohn bedurfte natürlich keiner Anmeldung, die Diener bückten sich tief vor ihm und er führte den Freund sofort zu seiner Braut. Wenn der Doktor aber schon dem Besuche selbst mit Befangenheit entgegensah, so wurde er vollends bedrückt durch diese Umgebung, an die er so gar nicht gewöhnt war.

Er stand auf weichen Teppichen, die jeden Schritt unhörbar machten, inmitten eines Zimmers, das ihm wie ein Zaubergemach erschien. Die weißen Spitzenvorhänge an den Fenstern waren herabgelassen und schufen eine halbe Dämmerung in dem kleinen Raume, der dadurch nur um so schöner und behaglicher schien mit seinen hellgrauen Tapeten und dem matten Blau der seidenen Polster und Portieren. Nur wenige Gemälde schmückten die Wände und eine Statuette von weißem Marmor erhob sich aus einer Blumengruppe, deren Düfte leise die Luft durchhauchten. Es war hier alles so licht, so zart und duftig wie in einem Elfenreiche.

Aber Benno war leider nicht gewohnt, mit Elfen zu verkehren. Er stolperte über den Teppich, ließ seinen Hut fallen, bückte sich danach und stieß, als er sich wieder aufrichtete, ein Tischchen um, das Wolfgang noch glücklich auffing und vor dem Fall bewahrte. Stumm und wehrlos ließ er die unvermeidliche Vorstellung über sich ergehen, machte eine höchst ungeschickte Verbeugung und als nun noch das kalte, strenge Gesicht der Frau von Lasberg vor ihm auftauchte, die mit sichtbarem Befremden diese „Persönlichkeit“ musterte, da war es ganz aus mit seiner Fassung.

Elmhorst runzelte die Stirn; so schlimm hatte er sich die Sache doch nicht gedacht. Aber sie war nun einmal angefangen und mußte durchgeführt werden. Er kürzte daher die Vorstellung möglichst ab, zur großen Erleichterung des armen Benno, der in seinem altmodischen Staatsanzuge wirklich eine höchst unglückliche Figur spielte. Er hielt den „Aufgebügelten“ krampfhaft fest in den Händen, welche nunmehr die verhängnißvollen „Gelben“ schmückten; sie waren ihm natürlich um zwei Nummern zu weit und schlotterten förmlich um seine Finger. Der Herr Oberingenieur legte in der That keine Ehre ein mit seinem Freunde, als er ihn zu seiner Braut führte.

[554] „Du hast mir versprochen, liebe Alice, Dich der Behandlung des Doktor Reinsfeld anzuvertrauen, hier bringe ich ihn Dir! Du weißt es ja, wie besorgt ich um Deine Gesundheit bin.“

Der Ton der Worte war in der That besorgt und äußerst rücksichtsvoll, aber es lag keine Zärtlichkeit darin. Reinsfeld, den die Vornehmheit der Baronin schon gänzlich eingeschüchtert hatte, wagte der jungen Millionärin gegenüber nicht einmal eine Verbeugung, denn seiner Meinung nach mußte diese noch weit vornehmer und hochmüthiger sein. Er stand da, mit der Miene eines Opferlammes, als eine leise, aber unendlich sanfte Stimme an sein Ohr schlug.

„Sie sind mir willkommen, Herr Doktor, Wolfgang hat mir schon viel von Ihnen erzählt.“

Der Herr Doktor sah ganz überrascht auf und blickte in ein Paar große braune Augen, die allerdings etwas verwundert, aber ohne jeden Spott auf ihm ruhten. Er hatte noch die in Atlas und Spitzen gehüllte Erscheinung im Kopfe, die er aus dem Bilde kannte und die ihm dort so unnahbar erschien, und jetzt sah er eine zarte Gestalt, im weißen duftigen Morgenkleide, das lichtbraune Haar nur lose aufgenommen, ein blasses, aber liebliches Antlitz, dessen Ausdruck wohl müde, aber nichts weniger als blasirt und hochmütig war. Er war förmlich bestürzt darüber und stotterte etwas von großer Ehre und vielem Vergnügen, blieb aber natürlich schon im zweiten Satze rettungslos stecken.

[565] Wolfgang kam seinem Freunde, der in wortloser Verlegenheit vor Alice stand, zu Hilfe und brachte das Gespräch auf den Zweck des Besuches. Er wollte Reinsfeld, der, wie er wußte, am Krankenbette sehr entschieden sein konnte, Gelegenheit geben, sich als Arzt zu zeigen, aber Benno verleugnete heut seine ganze Natur. Er stellte die Fragen so schüchtern und ängstlich, als erbitte er mit jeder Antwort eine unverdiente Gnade, stotterte, wurde roth wie ein junges Mädchen, und was das Schlimmste war, er fühlte selbst, wie unpassend er sich benahm. Das raubte ihm den letzten Rest der Fassung, in völliger Zerknirschung saß er da und richtete einen wehmüthig bittenden Blick auf die junge Dame, als wolle er ihre Verzeihung erstehen, daß er sie überhaupt mit seiner Gegenwart belästige.

War es dieser hilfesuchende Blick oder der trotz aller Verlegenheit doch kindlich treuherzige Ausdruck der blauen Augen, genug, Alice richtete sich plötzlich auf und sagte freundlich und ermuthigend: „Sie werden sich bei Ihrem ersten Besuche schwerlich schon ein Urtheil bilden können, Herr Doktor, aber Sie dürfen überzeugt sein, daß ich dem Freunde meines Verlobten unbedingt vertraue.“

Sie reichte ihm die Hand, die Benno zögernd ergriff. Die schmale weiße Hand lag zart und leicht wie ein Blumenblatt in der seinigen, er blickte so scheu und ehrfurchtsvoll darauf nieder, als könne jede Berührung sie verletzen , und urplötzlich brach er stürmisch aus.

„Ich danke Ihnen, gnädiges Fräulein! O, ich danke Ihnen!“

Frau von Lasberg machte ein Gesicht, als zweifle sie an der Zurechnungsfähigkeit dieses Doktors, der sich stolpernd einführte, im Gespräch nicht zum Reden zu bringen war und sich nun urplötzlich so stürmisch bedankte, obgleich gar kein Grund dazu vorlag. Und diesen Menschen nannte Elmhorst seinen Freund und Alice schien ganz einverstanden damit zu sein! Die alte Tante schüttelte entrüstet das Haupt und bemerkte mit kühler Zurechtweisung:

„Du bist sonst sehr zurückhaltend mit Deinem Vertrauen, liebe Alice.“

„Um so mehr freut es mich, daß sie diesmal eine Ausnahme macht,“ fiel Wolfgang mit einem gewissen Nachdruck ein. „Du wirst es nicht bereuen, Alice. Ich gebe Dir mein Wort darauf, Benno kann sich mit seinen Kenntnissen und Erfahrungen getrost an die Seite manches hochberühmten Kollegen stellen. Ich bin stets im Kriege mit ihm, weil er sie nicht auf einem anderen Felde geltend macht. Schon seit Jahren opfert er sich auf in einer untergeordneten Praxis, und wenn ihm wirklich etwas Besseres geboten wird, dann greift er nicht einmal zu, wie im vorigen Jahre, wo er eine äußerst vortheilhafte Stellung einfach im Stiche ließ.“

„Aber Wolf, Du weißt ja –“ versuchte Reinsfeld einzuwerfen.

„Ja, ich weiß, daß Dein gutes Herz Dir da wieder einen Streich gespielt hat, den Du vielleicht Dein Lebenlang büßen mußt. Weil ein paar Bauernkinder krank lagen, die Du in Behandlung hattest,

versäumtest Du die rechtzeitige Meldung, und nachher war es zu spät.“

„Ah, deshalb?“ sagte Alice halblaut und ihr Blick heftete sich wieder auf den jungen Arzt, der so niedergedrückt aussah, als werfe man ihm das schwerste Unrecht vor.

„Der Herr Doktor hat seine Praxis also auch unter den Gebirgsleuten?“ fragte Frau von Lasberg. „Fahren Sie denn wirklich nach den einzelnen abgelegenen Höfen?“

„Nein, gnädige Frau, ich gehe dorthin,“ erklärte Reinsfeld harmlos. „Ich habe mir allerdings in den letzten Jahren ein kleines Bergpferd anschaffen müssen, um bei weiteren Entfernungen reiten zu können, für gewöhnlich aber gehe ich zu Fuß.“

Die Dame räusperte sich und sandte einen sehr bedeutungsvollen Blick zu dem Oberingenieur hinüber, der die Behandlung seiner Braut einem Bauernarzte anvertraute; dieser hatte jetzt völlig bei ihr verspielt. Wolfgang verstand den Blick und lächelte etwas spöttisch, als er sagte:

„Jawohl, gnädige Frau, er geht zu Fuß und wenn er dann aus Sturm und Schnee nach Hause kommt, setzt er sich noch hin und arbeitet an einem wissenschaftlichen Werke, das ihn vielleicht einmal berühmt machen wird. Aber das darf beileibe niemand wissen, selbst ich habe es nur durch Zufall entdeckt.“

„Wolf, ich bitte Dich!“ protestirte Benno in so grenzenloser Verwirrung, daß Elmhorst in der That die Nothwendigkeit einsah, ihn zu erlösen. Er ließ einfließen, sein Freund habe noch einen ärztlichen Besuch zu machen, und ermöglichte es ihm, auf diese Weise sich zu verabschieden. Das war aber eine neue, schwere Aufgabe für den armen Doktor; er kam indessen damit zu Stande – wie, das wußte er freilich nicht, er wußte nur, daß jene weiße, zarte Hand ihm nochmals zum Abschiede gereicht wurde und daß die großen braunen Augen halb mitleidig den seinigen begegneten. Dann ergriff ihn Elmhorst am Arme, lotste ihn glücklich an den Blumen und Statuetten vorbei und dann schloß sich die Thür zwischen ihm und dem Elfenreiche.

Erst draußen im Vorzimmer kam er wieder zur klaren Besinnung und zaghaft aufblickend fragte er:

„Wolf – es ist wohl recht schlecht gegangen?“

„Ja, das weiß der Himmel!“ brach Elmhorst ärgerlich aus.

„Ich habe es Dir ja vorher gesagt – ich habe keine Manieren,“ sagte Benno wehmüthig.

„Aber Du bist doch ein Mann von beinahe dreißig Jahren, ein Arzt, der bei seinen Patienten sehr energisch auftreten kann, und heut standest Du da wie ein Schulknabe, der sein Pensum nicht gelernt hat.“

Er hofmeisterte seinen Freund in gewohnter Weise und dieser ließ sich ganz geduldig ausschelten. Erst als ihm nachdrücklichst eingeprägt wurde, sich das nächste Mal vernünftiger zu benehmen und diese lächerliche Unbeholfenheit abzulegen, fragte er halb erschrocken, halb freudig:

„Darf ich denn wiederkommen?“

Elmhorst machte eine ungeduldige Bewegung.

„Benno, ich weiß wahrhaftig nicht, was ich von Dir denken soll. Ich habe Dich doch gebeten, die ärztliche Behandlung meiner Braut zu übernehmen, und natürlich bleibt es dabei.“

„Aber die alte Dame war sehr ungnädig, ich sah es,“ versetzte Reinsfeld niedergeschlagen, „und ich fürchte, auch Fräulein Nordheim denkt –“ er brach ab und sah zu Boden.

„Ich pflege die Baronin Lasberg nicht um Erlaubniß zu fragen, wenn ich irgend etwas hinsichtlich meiner Braut bestimme,“ erklärte Wolfgang in sehr entschiedenem Tone. „Und den Einfluß auf Alice habe ich mir von Anfang an gesichert. Es ist mein Wunsch, also wird sie Dich als ihren Arzt empfangen.“

Der Doktor sah ihn mit einem eigenthümlichen Blicke an, dann sagte er halblaut:

„Wolf, Du verdienst Dein Glück eigentlich gar nicht!“

„Weshalb nicht? Etwa weil ich gleich von vornherein das Steuer ergreife? Das verstehst Du nicht, Benno! Wer wie ich vermögenslos in eine Familie wie die Nordheimsche tritt, hat nur die Wahl, sie entweder zu beherrschen oder eine höchst untergeordnete Rolle zu spielen. Ich ziehe die Herrschaft vor.“

„Du bist ein Unmensch, wenn Du diesem zarten Wesen gegenüber von Herrschaft redest!“ brach Benno zornig aus.

„Nun, Alice ist natürlich nicht damit gemeint,“ versetzte Wolfgang gelassen, „sie ist eine äußerst sanfte Natur und gewohnt, sich einem fremden Willen zu beugen; ich sorge nur dafür, daß dieser Wille ausschließlich der meinige ist. – Du brauchst mich nicht so grimmig anzusehen, ich werde meiner Frau kein Tyrann werden. Ich weiß, daß sie der größten Schonung und Rücksicht bedarf, und die wird sie stets bei mir finden.“

„Ja, weil sie Dir Millionen zubringt!“ murmelte Benno bitter, indem er sich zum Gehen wandte, Elmhorst hielt ihn zurück.

„Nun? Und Dein Urtheil über Alice?“

„Das kann ich für den Augenblick noch nicht feststellen. Es scheint ein hochgradiger nervöser Zustand zu sein, aber ich muß ihn länger beobachten.“

„So lange Du willst, auf Wiedersehen also!“

„Adieu!“ sagte Benno kurz.

Sie trennten sich, und während Wolfgang zu seiner Braut zurückkehrte, verließ der Doktor die Villa. Er schien es eilig damit zu haben, denn er stieg mit langen Schritten bergabwärts, und erst als er eine ganze Strecke entfernt war, blieb er stehen und blickte zurück.

Dort, hinter jenen Fenstern, wo die weißen Spitzenvorhänge niederwallten, lag das Elfenreich und dort lachte und spottete man jetzt sicher über den lächerlichen tölpelhaften Gesellen, der mit jeder Bewegung, jedem Worte verrieth, wie wenig er in die Nordheimschen Salons paßte. Sein Auge fiel unwillkürlich auf die Handschuhe, die ihm noch vor einer Stunde so äußerst vornehm erschienen, und wie von einer plötzlichen Wuth ergriffen, riß er die unschuldigen gelben Dinger von den Händen und schleuderte sie in das Tannendickicht. Der eine fiel zu Boden, der andere aber blieb an den Zweigen hängen, wo er wie eine ungeheure Sonnenblume nickte und schaukelte. Das brachte den Eigentümer nur noch mehr auf und er hatte nicht übel Lust, auch seinen Hut nachzusenden, als ihm noch rechtzeitig einfiel, daß er doch nicht seine ganze Garderobe auf diese Weise ablegen könne.

„Du kannst ja nicht dafür, Alter!“ sagte er wehmüthig, auf die ehrwürdige Kopfbedeckung niederblickend. „Ich habe keine Manieren, das ist das Unglück – ob sie wohl auch lachen wird?“

Es blieb unentschieden, wer mit diesem „sie“ gemeint war, aber Doktor Reinsfeld war in dieser Stunde der unglücklichste Mensch im ganzen Gebirge. Das Bewußtsein, keine Manieren zu haben, drückte ihn zu Boden.




Sankt Johannistag! Der alte Sagen- und Heilstag des Volkes, dem die geheimnißvolle Mittsommernacht vorangeht, wo die versunkenen Schätze aus der Tiefe emporsteigen und verheißungsvoll winken, wo all die schlummernden Zauberkräfte aufwachen und die ganze Märchen- und Geisterwelt der Berge sich aufthut zu unsichtbarem, mächtigem Wirken. Das Volk hat das uralte Sonnwendfest noch immer nicht vergessen und noch immer webt die Sage ihre Schleier um die heilige Mittsommerzeit , wo die Sonne am höchsten steht, wo die Erde in ihrer vollsten Schönheit prangt und heißes, volles Leben durch die ganze Natur fluthet.

Für das Wolkensteiner Gebiet war dieser Tag eins der größten Feste des Jahres. Die Bevölkerung des einsamen, noch wenig bekannten Alpenthales, das die Bahn erst im nächsten Jahre der Welt erschließen sollte, hing unverbrüchlich an ihren Sitten und Gebräuchen und ebenso fest an ihrem Aberglauben. Hier herrschte noch unumschränkt die Alpenfee, und nicht bloß als verheerende Naturgewalt, mit Schneestürmen und Lawinen – für die meisten thronte sie noch leibhaftig droben auf dem umschleierten Gipfel des Wolkenstein, und die Bergfeuer, die am Vorabende des Johannistages überall emporflammten, hatten einen geheimnißvollen Zusammenhang mit der gefürchteten Macht des Gebirges. Weder die altheidnische Bedeutung der Sonnwendfeuer noch die christliche Legende hafteten mehr im Bewußtsein des Volkes, es knüpfte mit seinem Aberglauben direkt an seine Bergsagen an, die ihm noch immer lebendig waren.

Der klare, milde Junitag ging zu Ende, die Sonne war bereits gesunken, nur um die höchsten Gipfel wob sich noch ein leichter röthlicher Schimmer, all die anderen Höhen standen schon im blauen Nebelduft und in den Thälern lagerten dämmernde Schatten. Hoch über den Wäldern, die den Fuß des Wolkenstein umsäumten, da wo die weit vorspringenden Abhänge des mächtigen Berges begannen, lag eine freie grüne Alpenwiese, auf der sich eine kleine Sennhütte befand. Es war für gewöhnlich sehr einsam da oben, Fremde kamen nur selten herauf, da der Wolkenstein für unersteiglich galt, heute aber herrschte hier ein ungewohntes Leben und Treiben. Auf der weiten Matte war ein mächtiger Holzstoß errichtet, dem die alten Tannen und Fichten ihren Tribut hatten zollen müssen. Riesige Holzscheite, trockene Aeste, ausgerodete Baumwurzeln thürmten sich übereinander. Das Sonnwendfeuer auf dem Wolkenstein war stets eins der mächtigsten und leuchtete weit in das Land hinaus, es flammte ja auch an dem alten Sagenthron des Gebirges, zu den Füßen der Alpenfee.

Um den Holzstoß war ein Kreis von Gebirgsleuten versammelt, meist Hirten und Holzknechte, und dazwischen Mädchen von den benachbarten Almen, alles kraftvolle, braune Gestalten, die in Sturm und Sonnenschein hier oben auf den Höhen hausten und erst im Herbste wieder zu Thal stiegen. Es ging derb und lustig zu zwischen ihnen, es war ein Lachen und Juchzen ohne Ende; die Leute, die hart arbeiteten Tag für Tag und deren einförmiges Leben ihnen nur selten eine Abwechslung bot, machten sich die alte Volkssitte zum frohen Feste.

Sie waren aber heute nicht ganz unter sich allein; es hatte sich eine kleine Gruppe von Zuschauern eingefunden und seitwärts auf einer hügelartigen Erhebung des Bodens Platz genommen Das war den Aelplern ungewohnt und wäre ihnen unter andern Umständen auch wohl unwillkommen gewesen, denn sie fühlten sich bei solchen Gelegenheiten als unumschränkte Herren auf ihrem Grund und Boden. Aber die junge Dame, die dort auf dem moosigen Steine saß, war ihnen nicht fremd, so wenig wie der große, löwenartige Hund, der ihr zu Füßen lag. Die beiden hatten ja jahrelang mitten unter ihnen gelebt in dem alten Wolkensteiner Hofe, von dem längst kein Stein mehr stand. Freilich, das wilde übermüthige Kind von damals war ein gnädiges Fräulein geworden und lebte in der vornehmen Nordheimschen Villa, die den einfachen Gebirgsleuten wie ein Zauberschloß erschien, aber das Fräulein war doch zu ihnen heraufgestiegen wie sonst und plauderte mit ihnen im Dialekt, wie in früheren Zeiten, es fiel keinem ein, sie als eine Fremde zu betrachten.

Ueberdies war der Sepp mitgekommen, der zehn Jahre lang in den Diensten des Baron Thurgau gewesen war und der kleinen Landwirthschaft des Gütchens vorgestanden hatte, und die beiden Fremden, die das Fräulein begleiteten, sahen mit ihren tiefbraunen, sonnenverbrannten Gesichtern auch nicht aus wie Stadtleute. Der eine, der eine Art Untergebener zu sein schien, hatte sich von Sepp sofort in den Kreis der Gebirgsleute einführen lassen und war schon nach zehn Minuten heimisch unter ihnen. Er verstand den Dialekt vollkommen und blieb auf derbe Fragen und Scherze keine Antwort schuldig. Der andere, augenscheinlich ein vornehmer Herr, mit schwarzen Haaren und schwarzen, buschigen Brauen, hielt sich ausschließlich an der Seite der jungen Dame und beugte sich jetzt eben zu ihr nieder mit der etwas besorgten Frage:

„Sind Sie müde, gnädiges Fräulein? Wir haben nicht ein einziges Mal ausgeruht auf dem ganzen Wege.“

Erna schüttelte lächelnd den Kopf.

„O nein, so habe ich das Steigen denn doch nicht verlernt, daß mich schon der Weg zur Alm müde macht. Ich bin in früheren Jahren wohl höher hinaufgekommen, zum großen Mißvergnügen Greifs, der regelmäßig hier zurückbleiben mußte, wenn ich die Felsen erkletterte, er kennt den Ort noch ganz genau.“

„Ja, ich habe es bewundert, wie leicht und sicher Sie aufwärts stiegen,“ sagte Waltenberg. „Ich glaube, Sie würden spielend die Mühen und Beschwerde der größten Reise überwinden, die man anderen Damen nicht zumuthen darf. Jedenfalls bin ich sehr stolz darauf, Ihren Kavalier machen zu dürfen bei diesem Ausflug zum Sonnwendfeuer.“

„Sonst wäre er mir auch schwerlich erlaubt worden! Frau von Lasberg entsetzte sich schon bei dem Gedanken an diese in die Nacht hineindauernde Bergpartie, und Alice darf sich solche Anstrengungen überhaupt nicht zumuthen. Sepp hatte sich zwar längst erboten, mich zu begleiten, aber er galt nicht für hinreichend vertrauenswerth, obgleich er zehn Jahre lang in unserem Hause gelebt hat.“

Die Worte hatten einen Anflug von Bitterkeit, der dem Zuhörer nicht entging.

„Man hat es Ihnen nicht erlauben wollen?“ fragte er befremdet. „Lassen Sie sich in solchen Dingen wirklich noch bevormunden, gnädiges Fräulein?“

Erna schwieg, sie wußte am besten, welche Scene es gegeben hatte, als sie ihren Wunsch aussprach. Frau von Lasberg war außer sich gewesen über diese excentrische und unschickliche Idee, sich zur späten Abendstunde mitten unter die Bauern zu begeben und ihrem rohen Vergnügen zuzuschauen. Zufällig war Ernst Waltenberg mit seinem Sekretär um Nachmittage von Heilborn eingetroffen. Er hatte sich zum Begleiter und Beschützer der jungen Dame erboten, und ihm, der im Nordheimschen Hause bereits als der künftige Gemahl Ernas galt, war der Vertrauensposten auch ohne weiteres zugestanden worden, den man dem alten Sepp versagte. Er war eben im Begriff, noch eine weitere Frage zu thun, als ein Fremder herantrat und halb schüchtern, halb zutraulich sagte:

„Grüß Gott, gnädiges Fräulein! Willkommen in der Heimath!“

„Doktor Reinsfeld!“ rief Erna froh überrascht und bot ihm die Hand mit derselben unbefangenen Vertraulichkeit wie damals, als sie, ein halbes Kind noch, ihm entgegenlief, wenn er sich im väterlichen Hause zeigte. Er schien im ersten Augenblick fast bestürzt darüber, dann aber flog ein heller Freudenschein über sein Gesicht, und er ergriff und drückte die dargebotene Hand mit der gleichen Herzlichkeit. Aber jetzt drängte sich noch etwas anderes an ihn heran; Greif hatte den ehemaligen Freund nicht vergessen, er erkannte ihn auf der Stelle wieder und begrüßte ihn mit ungestümer Freude.

„Ich habe Sie gestern nicht einmal gesehen, als Sie in unserem Hause waren,“ sagte Erna. „Ich erfuhr es erst, als Sie bereits wieder fort waren.“

„Und ich wagte nicht, nach Ihnen zu fragen,“ gestand Benno. „Ich wußte ja nicht, ob es Ihnen recht war, wenn ich die alte Bekanntschaft geltend machte.“

„Haben Sie wirklich daran gezweifelt?“

Der Ton klang vorwurfsvoll, aber Reinsfeld schien sehr glücklich zu sein über diesen Vorwurf und blickte mit leuchtenden Augen auf die junge Dame. Er sah es freilich, daß sie so viel schöner, so viel ernster geworden war, aber fremd war sie ihm nicht geworden und ihr gegenüber empfand er auch nichts von der Scheu und Verlegenheit, die ihn gestern so blöde und stumm gemacht hatte.

„Ich habe so sehr gefürchtet, Sie als große Dame wiederzusehen,“ sagte er treuherzig. „Sie sind es nicht geworden – Gott sei Dank!“

Die etwas ungeschickte Aeußerung kam aus vollem Herzen, das hörte man, und Erna lachte laut auf dabei, es war wieder das alte frohe Kinderlachen, welches jahrelang verstummt gewesen war.

Waltenberg hatte anfangs mit sichtlichem Befremden die vertrauliche Begrüßung der beiden gesehen, und es war ein finsterer, argwöhnischer Blick, mit dem er Reinsfeld musterte, aber die Musterung mußte wohl befriedigend ausfallen. Dieser Herr Doktor, in Joppe und Filzhut, mit seinem treuherzig ungeschickten Wesen, war kein gefährlicher Mann und gerade in der Unbefangenheit seines Verkehrs mit Erna lag die beste Gewähr dafür, daß es sich hier in der That um nichts anderes handelte, als um eine harmlose Jugendfreundschaft. Ernst Waltenberg war Menschenkenner genug, das sofort einzusehen, und deshalb nahm er die Vorstellung Reinsfelds sehr liebenswürdig entgegen.

„Wir sind soeben erst gekommen,“ sagte dieser nach der üblichen Begrüßung, „und wir gewahrten Sie anfangs gar nicht in dem lustigen Treiben hier auf der Alm. Aber wo ist denn Wolfgang geblieben? Ich habe Ihren nunmehrigen Verwandten mitgebracht, gnädiges Fräulein. Wolf, wo steckst Du denn?“

Der Ruf war überflüssig, denn Elmhorst stand etwa fünfzig Schritte entfernt, den Blick unverwandt auf die Gruppe gerichtet. Er hatte sich offenbar nicht nähern wollen; jetzt erst trat er langsam heran, und Benno konnte nicht umhin, sich zu wundern, daß die Begegnung der „Verwandten“ so ungemein fremd ausfiel. Wolfgang verneigte sich sehr förmlich und Erna nahm eine so kühle Haltung an, als sei ihr dies zusammentreffen nichts weniger als erwünscht.

„Ich glaubte, Sie würden heute abend in Oberstein sein, Herr Elmhorst,“ sagte sie. „Sie sprachen doch gestern davon?“

„Allerdings, und ich war auch dort bei Benno, aber er überredete mich, mit ihm zur Alm herauf zu steigen.“

„Damit er einmal ein wirkliches Sonnwendfeuer sieht!“ fiel Benno ein. „In Oberstein wird es ja auch angezündet, aber dort finden sich das ganze Dorf, mit Kind und Kegel, die sämmtlichen Arbeiter der Bahn, die Ingenieure und eine Menge von Gästen aus Heilborn zusammen. Da wird der alte schöne Volksbrauch zu einer lärmenden Schaustellung für die Fremden. Hier oben haben wir noch echtes unverfälschtes Gebirgsleben – Da ist ja auch der Sepp! Wie geht es, Alter? Ja, wir sind auch dabei, Ihr seht es freilich nicht gern an diesem Tage, das weiß ich und habe deshalb auch in Oberstein kein Wort von unserer Bergpartie verlauten lassen. Aber uns müßt Ihr schon in Kauf nehmen, das heißt, den fremden Herrn da und den Herrn Oberingenieur, denn das gnädige Fräulein und ich, wir gehören doch eigentlich dazu.“

„Ja, Sie gehören dazu!“ bekräftigte Sepp feierlich, „Sie dürfen beileibe nicht fehlen.“

„Ich möchte doch dagegen protestiren, so vollständig als Fremdling behandelt zu werden,“ sagte Wolfgang. „Ich lebe seit drei Jahren in den Bergen.“

„Aber im fortwährenden Kampfe mit ihnen,“ warf Waltenberg halb spöttisch ein. „Ich glaube kaum, daß man Ihnen darauf hin Heimathsrechte zugesteht.“

„Nein, höchstens das Recht des Eroberers,“ sagte Erna kalt. „Herr Elmhorst rühmte sich ja schon damals bei seiner Ankunft, er werde Besitz nehmen von dem Reiche der Alpenfee und es in Fesseln schlagen.“

„Sie sehen doch, gnädiges Fräulein, daß das keine Prahlerei war,“ gab Wolfgang in dem gleichen Tone zurück. „Wir haben sie bezwungen, die stolze Herrscherin des Gebirges. Sie hat es uns freilich schwer genug gemacht und sich so verschanzt in ihren Felsen und Wäldern, daß wir ihr jeden Fuß breit des Bodens erst entreißen mußten, aber besiegt wurde sie doch! Im Spätherbst werden die letzten Bauten vollendet und schon im nächsten Frühjahr brausen unsere Bahnzüge durch das ganze Wolkensteiner Gebiet.“

„Schade um das herrliche Alpenthal!“ sagte Waltenberg. „Es verliert seine ganze Schönheit, wenn erst der Dampf Besitz davon genommen hat und der gellende Pfiff der Lokomotiven die erhabene Ruhe des Hochgebirges stört.“

Wolfgang zuckte die Achseln.

„Ich bedaure, aber mit solchen poetischen Erwägungen kann man sich wirklich nicht abgeben, wenn man der Welt neue Verkehrswege erschließt.“

„Der Welt, die Ihnen gehört! Sie haben sich ja hier in Europa längst mit Dampf und Eisen zum Herrn derselben gemacht. Man wird schließlich nach irgend einer fernen Insel im Ocean flüchten müssen, um ein stilles Thal zu finden, wo man ungestört träumen kann.“

„Wenn Ihnen dies Träumen als alleiniger Zweck Ihres Daseins erscheint – allerdings, Herr Waltenberg. Bei uns gilt die That dafür.“

Ernst biß sich auf die Lippen, er sah, daß Erna zuhörte, und vor ihr in solcher Weise zurechtgewiesen zu werden, war mehr, als er ertrug , er nahm wieder den vornehm nachlässigen Ton an, mit dem er schon bei der ersten Begegnung versucht hatte, den „Streber“ zu demüthigen.

„Der alte Streit, den wir schon damals im Wintergarten des Herrn Präsidenten führten! Ich habe nie an Ihrem Thatendrange gezweifelt, Herr Elmhorst, und Sie haben ja auch ein glänzendes Resultat damit erreicht.“

Wolfgang richtete sich hoch auf, er wußte, wohin die Bemerkung zielte und welches Resultat gemeint war, aber er lächelte nur verächtlich. Hier war er nicht der „künftige Gemahl von Alice Nordheim“, wie bei der Residenzgesellschaft, hier stand er fest auf eigenem Boden, und mit dem ganzen stolzen Selbstgefühl eines Mannes, der sich seiner Kraft und seines Erfolges bewußt ist, erwiderte er:

„Sie meinen meine Thätigkeit als Ingenieur? Die Wolkensteiner Brücke ist allerdings mein erstes Werk, aber ich denke, sie soll nicht das letzte sein.“

Waltenberg verstummte. Er hatte bei seiner Ankunft ja auch den kühnen Riesenbau gesehen, der sich von Fels zu Fels über die gähnende Schlucht spannte, und fühlte, daß er es aufgeben müsse, den Mann, der das geschaffen hatte, als einen Glücksritter zu behandeln. Und wenn er zehnmal seine Hand nach der Tochter des Millionärs ausstreckte – in diesem Elmhorst lag doch mehr als bloßes Streberthum, er hatte es bewiesen; selbst sein Gegner mußte das anerkennen, wenn auch widerwillig genug.

„Ich habe hieran der That gelernt, den kühnen Ingenieur zu bewundern,“ versetzte er nach einer augenblicklichen Pause. „Es ist ein großartiges Werk.“

„Es ist mir sehr schmeichelhaft, wenn Sie das zugestehen, der Sie die Bauten der halben Welt kennen.“

Die Worte klangen verbindlich, aber die Blicke der beiden Männer kreuzten sich wie zwei scharfe Klingen. Sie empfanden es in diesem Momente deutlich, daß mehr als Abneigung, daß entschiedener Haß zwischen ihnen lag.

Erna hatte sich bisher mit keiner Silbe an dem Gespräche betheiligt, aber sie mochte es doch wohl fühlen, wer hier Sieger blieb, denn ihre Stimme verrieth eine kaum verhehlte Gereiztheit, als sie sich endlich einmischte.

„Geben Sie es auf, mit Herrn Elmhorst zu streiten. Er ist ebenso eisern wie seine Werke und die Poesie hat für ihn überhaupt keine Berechtigung auf der Welt. Wir beide gehören eben einer ganz andern Welt an und über die Kluft wird er keine Brücke schlagen.“

„Wir beide –– ja wohl!“ wiederholte Ernst, indem er sich rasch zu ihr wandte. Vergessen war der Streit, und der Haß ging unter in dem Strahle, der aus seinem Auge brach, es hatte einen fast triumphirenden Klang, dies „Wir beide!“

Wolfgang trat plötzlich zurück mit einer so jähen, heftigen Bewegung, daß Benno ihn höchst verwundert ansah. Der Doktor sprach gerade mit Veit Gronau, der herbeigekommen war, als er von Sepp den Namen Reinsfeld hörte, und sich nun selbst vorstellte.

„Erinnern können Sie sich meiner unmöglich,“ sagte er soeben. „Sie waren noch ein kleiner Bube, als ich in die weite Welt ging. So müssen Sie es mir denn auf mein ehrliches Gesicht hin glauben, daß ich ein Jugendfreund Ihres Vaters gewesen bin. Er ist längst todt, ich weiß es, aber ich denke, der Sohn wird mir den Händedruck nicht verweigern, den ich meinem alten Benno nicht mehr geben kann.“

„Gewiß nicht,“ versicherte der Doktor, indem er die dargebotene Hand kräftig drückte. „Nun lassen Sie mich aber auch hören, wie es kommt, daß Sie in Europa wieder auftauchen.

[581] Der letzte Abglanz der Abendröthe war längst verschwunden und feuchter Abendthau legte sich auf Wälder und Matten, leise stieg die Dämmerung aus den Thälern empor zu den noch lichten Höhen und dort drüben begannen die Schneegipfel im weißen Lichte zu schimmern. Der Mond, der noch nicht sichtbar war, sandte seinen geisterhaften Schein voraus.

Da flammte auch der Holzstoß auf am Wolkenstein, anfangs nur dampfend, knisternd, glühend, bis das Feuer die mächtigen Scheite selbst ergriff, und nun loderte es empor in wilder, gluthrother Pracht, begrüßt von dem Jubel des ganzen Kreises , der es umgab – das alte Sonnwendfeuer der Berge!

Es war ein eigenartig schönes Bild, das mit der zunehmenden Dunkelheit nur noch malerischer wurde: die riesige Flammengarbe, die funkensprühend zum Himmel aufschlug, und ringsum die braunen Gestalten der Aelpler, in dem rothen Feuerschein, in stürmisch jubelnder Bewegung. Das verfolgte und neckte sich, schwang sich um das Feuer, schleuderte glühende Holzscheite empor und jauchzte dabei hell auf in übermüthiger Lust, die das Prasseln und Lodern der Flammen nur noch wilder anzufachen schien, und über dem allen wallte und wogte in dichten Wolken der Rauch, der den ganzen Feuerkreis bald verschleierte, bald wieder enthüllte.

Erna und Waltenberg hatten ihren Platz nicht verlassen, sie mochten bei der gar zu übermüthigen Lust dort drüben wohl eine gewisse Abgeschlossenheit für nöthig halten. Nicht weit von ihnen stand Wolfgang, mit übereinandergeschlagenen Armen, anscheinend ganz versunken in den phantastischen Anblick. Er hatte, viele leicht zufällig, seinen Standpunkt so gewählt, daß er größtentheils im Schatten blieb. Um so heller

beleuchtet war die Gruppe auf dem kleinen Hügel, die schlanke, lichte Gestalt des jungen Mädchens, die größere, dunkle des Mannes an ihrer Seite und das zottige Fell des Hundes, der, den mächtigen Kopf zwischen den Pfoten, regungslos ihnen zu Füßen lag.

Benno, der mit Gronau in der Nähe des Feuers stand, blickte bisweilen hinüber, aber noch ein Paar andere Augen ruhten starr und düster auf demselben Punkte, und wenn sie sich auch zuweilen gewaltsam losrissen und zu den anderen Gruppen schweiften, die in dem Feuerschein bald auftauchten, bald verschwanden, sie kehrten, wie von einer geheimnißvollen, unwiderstehlichen Gewalt gelenkt, immer wieder zurück zu den beiden, die da aussahen, als gehörten sie bereits zusammen.

Erna hatte vorhin, erhitzt vom Steigen, den Hut abgenommen; er lag neben ihr auf dem moosigen Steine, der ihr zum Sitz diente, während sich Waltenberg im leisen, angelegentlichen Gespräche zu ihr herabbeugte. Er sprach vielleicht nur gleichgültige Worte, aber sein Blick hing an ihren Zügen mit einem leidenschaftlichen Ausdrucke, den er sich gar nicht mühte, zu verbergen. Seine Augen hatten es gelernt, die Sprache der Leidenschaft zu reden, die sein ganzes Wesen durchglühte. Der Mann, dessen Freiheitsdurst sich so lange gesträubt hatte gegen die Bande der Liebe, er lag jetzt gefesselt und willenlos in ihrem Bann.

Sie sprachen nur halblaut und doch verstand Wolfgang jede Silbe; mitten durch das Lachen, Schreien und Jauchzen, mitten durch das Prasseln und Knattern der Flammen drang Wort für Wort zu seinem Ohre, denn all seine Nerven spannten sich an zu fieberhaftem Lauschen, als hänge für ihn Leben oder Tod ab von dem, was dort oben gesprochen wurde.

„Unersteiglich nennen Sie den Wolkenstein?“ fragte Waltenberg. „Das heißt wohl nur, es hat ihn bisher noch niemand bestiegen. Er wird doch zu bezwingen sein dieser unnahbare Gipfel.“

„Bisher hat ihn aber noch keiner bezwungen,“ entgegnete Erna. „Durch das Felsenmeer wagte sich so mancher hinauf, bis an den Fuß der Hochwand, aber da hat noch ein jeder Halt machen müssen, selbst mein Vater, dem nicht leicht etwas zu hoch oder zu steil war. Er stieg den Gemsen nach bis auf den höchsten Grat, aber er erklärte mehr als einmal: ,Die Hochwand ist nicht zu nehmen!‘“

Ernst blickte zu dem Gipfel des Wolkenstein empor, der hier nur theilweise sichtbar war, und lächelte.

„Wissen Sie, mein gnädiges Fräulein, daß Sie mir gerade durch diese Schilderung Last machen zu dem Wagniß?“

Sie sah betroffen zu ihm auf.

„Herr Waltenberg, Sie werden doch nicht –?“

„Die Hochwand nehmen – gewiß! Wenigstens werde ich es versuchen.“

„Unmöglich! Das ist ein Scherz!“

„Glauben Sie? Ich denke, Ihnen nächstens zu beweisen, daß es mir Ernst damit ist.“

„Aber warum denn? Zu welchem Zwecke?“

„Warum besteht man Abenteuer? Weil die Gefahr reizt, weil es ein Sieg, ein Triumph ist, das scheinbar Unmögliche zu erzwingen.“

„Und wenn dieser Triumph Ihr Leben fordert? Sie würden nicht das erste Opfer der Hochwand sein, fragen Sie Sepp, er kann Ihnen Trauriges erzählen.“

„Pah, mir sind die Gefahren nicht fremd, ich habe schon höhere Gipfel erstiegen als diesen gefürchteten Wolkenstein.“

Sein Ton verrieth den trotzigen Uebermuth eines Mannes, der gewohnt ist, mit der Gefahr zu spielen, der sie um ihrer selbst willen aufsucht. Nordheim hatte Recht, ihn reizte nur das Versagte und das Leben versagte ihm so wenig genug. Einen Alpengipfel bezwingen, den vor ihm noch keines Menschen Fuß betreten hatte, oder ein schönes, stolzes Weib erringen, das ihm kalt und spröde gegenüberstand – gleichviel! Es mußte erreicht und errungen werden, für ihn gab es keine Unmöglichkeit.

Der Wind, der sich setzt stärker erhob, jagte die Flammen seitwärts, sie sprühten und flackerten und ein ganzer Regen von Funken ergoß sich über Wolfgang, der das kaum beachtete. Er starrte unbeweglich in die prasselnde Gluth, deren Schein es nicht erkennen ließ, wie bleich er war. Der ganze Holzstoß war jetzt an einziges Feuermeer, immer wilder züngelte es empor, immer höher schlug die Lohe auf, alles verzehrend und vernichtend, was ihr heißer Athem berührte. Die kühle, thaufeuchte Matte, die dunklen Wälder, die schroffen Abhänge des Wolkenstein, das alles schien unheimlich verwandelt in dem rothen zuckenden Lichte, in den Rauchwolken, die darüber hinjagten.

Und ein Widerschein dieses lodernden Brandes lag auf dem Gesichte des Mannes, der stumm, mit festzusammengebissenen Zähnen die Folterqual erduldete, der er doch nicht entfliehen wollte. Er fühlte ihn ja, den verzehrenden Athem der Flammengluth, und blieb doch wie festgebannt an seinem Platze, er konnte sich nicht losreißen von jenen halblauten, bisweilen nur geflüsterten Worten, die vielleicht schon eine entscheidende Frage und Antwort brachten.

„Hüten Sie sich! Es ist der alte Sagenhort unserer Berge, und der ist gefeit! Seine Herrscherin duldet kein menschliches Wesen auf ihrem Throne.“

„Bis auf den Einen, der sie bezwingt! So enden ja immer die deutschen Sagen. Der Muthige, der doch hinaufdringt, schließt die Zaubergestalt in seine Arme.“

„Und stirbt in dem eisigen Kusse der Alpenfee – ja, so lautet die Sage!“ sagte Erna leise.

Waltenberg lachte spöttisch auf.

„Nun ja, es ist ein Märchen, das Kinder und allenfalls auch Naturmenschen erschrecken kann. Daher stammt also die Unnahbarkeit des Wolkensteins – nicht die Gefahr, der Aberglaube macht ihn unzugänglich! Ich denke, ihn mir trotzdem zu holen, diesen verhängnißvollen Kuß.“

„Das werden Sie nicht thun,“ fiel Erna halb bittend, halb befehlend ein. „Geben Sie den tollkühnen Gedanken auf!“

„Nein, mein Fräulein, selbst auf Ihren Befehl nicht.“

„Nun denn – auf meine Bitte!“

Es trat eine sekundenlange Pause ein, langsam wandte sich Wolfgang um. Er sah in der grellen Beleuchtung jeden Zug in dem Antlitz des Mädchens, das wirklich angstvoll bittend emporgerichtet war, und in dem braunen Gesichte des Mannes, der sich jetzt zu ihr niederbeugte, so tief, daß er fast ihre Locken berührte. Der spöttische, übermüthige Trotz war verschwunden aus seinen Zügen wie aus seiner Stimme, sie klang leise, aber in heißer, leidenschaftlicher Innigkeit, als er erwiderte: „Sie bitten mich?“

„Ja – von ganzem Herzen! Stehen Sie ab von der Thorheit, ich ängstige mich.“

Ernst lächelte, und in einem weichen, verschleierten Tone, wie er vielleicht noch nie von den Lippen des hochmütigen Mannes gekommen war, erwiderte er:

„Sie sollen sehen, daß ich gehorsam sein kann. So süß es auch wäre, zu wissen, daß ein Wesen um mich bangt, wenn ich die Gefahr bestehe – ich gebe es auf!“

Wolfgangs Hand umfaßte krampfhaft die kleine Zwergtanne, die sich neben ihm aus dem Boden erhob; die harten, spitzen Nadeln gruben sich tief in seine Haut, er fühlte es nicht. Drüben lohte es noch einmal auf wie eine Feuersäule, dann sanken einzelne der glühenden Brände, die anderen mit sich reißend. Krachend und prasselnd stürzte der ganze Holzstoß in sich zusammen, aus der zuckenden, sprühenden Gluth leckten tausend Flammenzungen, aber der rothe Schein beleuchtete jetzt nur noch die nächste Umgebung, die Matte und der kleine Hügel verschwanden im dämmernden Schatten. –

„Es war ein prächtiger Anblick, nicht wahr?“ fragte Benno heiter, indem er zu dem so einsam dastehenden Freunde trat und die Hand auf die seinige legte; plötzlich aber hielt er inne und fragte besorgt: „Wolf, was hast Du? Ich glaube, Dich schüttelt ein Fieberschauer, Deine Hand ist todtenkalt.“

„Mir ist nichts,“ sagte Wolfgang dumpf. „Vielleicht habe ich mich erkältet auf der thaufeuchten Matte.“

„Erkältet an diesem warmen Sommerabende, und Du mit Deiner eisernen Gesundheit? Aber Du bist wirklich nicht wohl, ich sehe es, zeig’ einmal Deinen Puls.“

Elmhorst, statt der Aufforderung nachzukommen, zog ungeduldig die Hand zurück.

„Ich bitte Dich, mache doch nicht so viel Aufhebens von einem leichten Unwohlsein. Das vergeht ebenso schnell als es kommt. Ich habe es schon vorhin bei unserem Aufstieg gefühlt.“

Benno schüttelte den Kopf, er hatte nicht das Geringste von einem Unwohlsein bemerkt.

„Dann wäre es wohl das Beste, wir träten den Rückweg an,“ meinte er. „Das Feuer erlischt und wir haben noch eine starke Stunde bergabwärts.“

„Sie haben recht, wir brechen gleichfalls auf,“ sagte Waltenberg, der jetzt auch herantrat. „Sepp schlägt vor, uns über die Geierklippe hinabzuführen, aber dieser nähere Weg scheint nicht ganz gefahrlos zu sein.“

„Bei Mondlicht ist er das allerdings nicht.“

„Dann geben wir es auf. Ich habe mich bei Frau von Lasberg für eine sichere und rechtzeitige Rückkehr verbürgt und muß ihr Wort halten. Gronau mag allein mit dem Führer über die Klippe hinabsteigen, da er große Lust dazu zu haben scheint. Wir treffen ja doch später auf dem Hauptwege zusammen.“

Es ergab sich ganz von selbst, daß die kleine Gesellschaft den Rückweg gemeinsam antrat, nur Gronau und Sepp schlugen eine andere Richtung ein mit der Verabredung, an einem bestimmten Punkte wieder zu den Uebrigen zu stoßen. Die Matte mit dem immer mehr niedersinkenden Feuerschein verschwand, und bald verschlang auch der schweigende Bergwald das Lachen und Jauchzen dort oben. Das Gespräch der Niedersteigenden stockte gleichfalls; sie mußten auf den Weg achten, der zwar weder steil noch gefährlich war, aber die dichten Tannen fingen das Mondlicht auf und ließen nur hier und da einen Strahl hindurch, so daß man immerhin vorsichtig sein mußte. Waltenberg blieb dicht an Ernas Seite, die anderen beiden folgten. So ging es bergabwärts, etwa eine halbe Stunde lang, da war der Saum des Waldes erreicht und sie traten hinaus auf die weite Bergeshalde.

„Dort flammt und leuchtet es noch überall,“ sagte Waltenberg, auf die anderen Höhen deutend, wo die Bergfeuer noch größtenteils sichtbar waren. „Die Wolkensteiner haben sehr früh angezündet, Ihre Majestät die Alpenfee hatte den Vortritt und sie scheint sich auch wirklich zu Ehren der Sonnwendnacht entschleiern zu wollen.“

Er hatte recht. Der Wolkenstein, dessen Gipfel sich hier in seiner vollen Mächtigkeit zeigte, war während des ganzen Abends verschleiert gewesen, erst jetzt begann das Gewölk zu weichen, das sein Haupt verhüllte.

„Mich wundert nur, daß Herr Gronau und Sepp noch nicht hier sind,“ bemerkte Erna, die sich etwas befremdet umsah. „Sie müßten eigentlich schon vor uns eingetroffen sein, ihr Weg ist der nähere.“

„Vielleicht hat sie irgend ein Zauberspuk aufgehalten,“ sagte Benno lachend. „Die Johannisnacht ist ja bereits angebrochen und da ist das ganze Geisterweben los in den Bergen. Ich wette darauf, die beiden haben mit irgend einem Gespenst zu thun, oder sie graben noch ist aller Eile einen von den versunkenen Schätzen aus, die ja heute allesammt aus der Tiefe heraufsteigen. Ah, da sind sie!“

Es war allerdings Sepp, der da drüben auf der anderen Seite erschien, aber er war allein und die Hast und Eile, mit der er näher kam, verhieß nichts Gutes.

"Was giebt es?“ fragte Waltestberg ihm entgegentretend. „Es ist doch nichts vorgefallen? Wo ist Herr Gronau?“

Sepp wies nach der Richtung, ist welcher die Geierklippe lag.

„Dort oben! Wir haben einen Unfall gehabt, der Herr ist ausgeglitten auf dem Felsen und der Fuß –“

„Ist doch nicht etwa gebrochen?“

„Nein, so arg wird’s nicht sein, denn wir kamen noch hinunter auf den festen Boden, aber weiter ging es nicht. Der Herr ist droben im Walde und kann den Fuß nicht regen, und da wollte ich den Herrn Doktor doch bitten, einmal nachzuschauen.“

„Natürlich müssen wir nachschauen!“ rief Reinsfeld, der sofort bereit war. „Wo haben Sie ihn denn zurückgelassen? Ist es weit von hier?“

„Nein, nur eine kleine Viertelstund’ aufwärts.“

„Ich gehe gleichfalls mit,“ sagte Waltenberg rasch. „Ich muß doch nach Gronau sehen, bitte bleiben Sie, gnädiges Fräulein, Sie hören ja, es ist nicht weit und wir kommen sofort zurück.“

„Wäre es nicht am besten, wir stiegen allesammt hinauf?“ fragte Elmhorst. „Vielleicht ist auch meine Hilfe notwendig.“

„Nun ein verrenkter oder schlimmstenfalles gebrochener Fuß ist doch keine Lebensgefahr,“ meinte Benno. „Da reichen wir drei aus zur Hilfe, selbst wenn wir Herrn Gronau tragen müßten, und Fräulein von Thurgau kann doch nicht allein hier bleiben.“

„Gewiß nicht, Herr Elmhorst wenigstens muß bei ihr zurückbleiben,“ entschied Ernst. „Wir beeilen uns so viel als möglich, verlassen Sie sich darauf, gnädiges Fräulein!“

Die Anordnung war eigentlich selbstverständlich, man konnte die junge Dame, so furchtlos sie auch sein mochte, unmöglich hier in der Nacht allein zurücklassen und Wolfgang, der ihrer Familie jetzt so nahe stand, war jedenfalls der passendste Schutz für sie. Dennoch schienen die beiden nicht einverstanden damit. Auch Erna erhob jetzt Einwendungen und meinte, es sei besser, mitzugehen. Aber Waltenberg wollte nichts davon hören. Er eilte mit dem Doktor und Sepp über die Grashalde und dann verschwanden sie alle drei im Walde drüben.

Die Zurückgebliebenen mußten sich wohl oder übel zum Warten bequemen. Erwünscht war es ihnen offenbar nicht, sie wechselten einige Worte über den Unfall, über die möglichen Folgen desselben und dann trat ein längeres Schweigen ein.

Ueber dem Gebirge lag die Mittsommernacht, mit ihrem tiefen, geheimnißvollen Schweigen, aber ohne das tiefe Dunkel der Nacht. Der Vollmond, der schon hoch am Himmel stand, tauchte alles in seinen träumerischen Schimmer. Er ließ die Bergfeuer ringsum nur matt erglänzen. Sie flammten nicht wie sonst in glühend rother Pracht, aber es sah aus, als seien große leuchtende Sterne vom Himmel niedergesunken, die nun dort auf den Höhen weiter leuchteten, in ihrer klaren ruhigen Schönheit. Bei Tage blickte man von der Halde weit hinaus in die Ferne, jetzt hüllte ein zarter, schimmernder Nebelduft die ganze Bergwelt ein wie ein Schleier, der die einzelnen Züge noch deutlich erkennen läßt. Die starren Linien der Hochgipfel schienen zu verschwimmen, die dichten Massen der Wälder verdämmerten in bläulichen Schatten; tief unten, wo die Wolkensteiner Schlucht aufgähnte, herrschte noch das Dunkel, aber die Brücke wurde bereits von dem Mondlichte getroffen. Wie ein schmaler blinkender Steg schwang sie sich von Fels zu Fels, selbst in dieser Höhe noch erkennbar für ein scharfes Auge.

Nur der Wolkenstein, mit seiner unmittelbaren Nähe, hob sich scharf und klar ab von dem lichten Nachthimmel. Die Wälder zu seinen Füßen, die Zacken und Klüfte des Felsenmeeres und die riesigen Schroffen der Hochwand, das alles war überfluthet von dem weißen Lichte. Um das Haupt selbst wob sich noch leichtes, schleierartiges Gewölk, das langsam zu zerfließen schien vor den Mondesstrahlen, bisweilen schimmerten die eisumstarrten Zinnen des Gipfels leuchtend hindurch und verschwanden dann wieder in dem duftigen Nebelgewande. Erna hatte sich auf dem Stumpf einer gefällten Tanne am Rande des Waldes niedergelassen. Der Anblick fesselte sie, ebenso wie ihren Gefährten, der jetzt das Schweigen brach, das schon einige Minuten gewährt hatte.

„Da hinauf gelangt Herr Waltenberg schwerlich,“ sagte er. „Ich glaube, es war nicht nötig, ihn so ernstlich abzumahnen, er wäre jedenfalls umgekehrt am Fuße der Hochwand.“

„Sie haben gehört, was wir sprachen?“ fragte die junge Dante, ohne den Blick von dem Gipfel abzuwenden.

„Gewiß, ich stand ja in der Nähe.“ „Nun, dann hörten Sie wohl auch, daß das Wagniß schließlich aufgegeben wurde.“

„Auf Ihre Bitte!“

„Es lag mir allerdings daran, für mich hat jede zwecklose Tollkühnheit etwas Beängstigendes.“

„Jede? Mir scheint, Herr Waltenberg gab Ihren Worten eine andere Deutung und er ist auch wohl berechtigt dazu?“

Erna wandte sich um und streifte ihn mit einem kühl abweisenden Blick.

„Herr Elmhorst, Sie rechnen sich bereits zu unserer Familie, ich sehe es; aber das Recht zu solchen Fragen gestehe ich Ihnen dennoch nicht zu.“

Die Zurechtweisung war deutlich genug. Wolfgang biß sich auf die Lippen.

„Verzeihung, gnädiges Fräulein, wenn ich taktlos erschien, aber nach den Andeutungen meines Schwiegervaters glaubte ich wirklich, die Sache sei kein Geheimniß mehr.“

„Mein Onkel hat mit Ihnen darüber gesprochen? Jetzt, vor seiner Abreise?“

„Allerdings, aber er that das auch bereits vor drei Monaten, als ich in der Stadt war.“

In dem Gesicht des jungen Mädchens stieg eine dunkle Röthe auf. Also schon damals hatte der Präsident seinem Schwiegersohne mitgetheilt, wie er seine Nichte zu „versorgen“ gedenke, wahrscheinlich noch vor der persönlichen Bekanntschaft mit Waltenberg! Ihr ganzer Stolz empörte sich dagegen, und mit unverhehlter Gereiztheit erwiderte sie:

„Ich weiß, daß mein Onkel mit allem zu rechnen pflegt, warum nicht auch mit meiner Hand; aber in diesem Falle habe ich doch wohl das letzte Wort zu sprechen – das scheint er und scheinen Sie vergessen zu haben.“

„Ich?“ fuhr Wolfgang auf. „Glauben Sie vielleicht, daß ich Anteil hatte an dem Plane?“

Sie sah ihn an; es war ein seltsamer Blick, den er nicht enträthseln konnte, und in ihrer Stimme klang etwas wie leiser Hohn, als sie antwortetet:

„Nein, an diesem Plane nicht, das weiß ich!“

„Sie würden mir auch entschieden unrecht thun mit einem solchen Verdachte. Ich habe überhaupt keine Sympathie für Herrn Waltenberg und bin überzeugt, daß er trotz all seiner bestechenden Eigenschaften doch nicht im Stande ist, ein anderes Wesen zu beglücken.“

„Das ist Ihre Ansicht,“ sagte Erna kalt. „Eine Frau fragt in solchem Falle nur nach einem – ob sie geliebt wird ohne äußere Rücksichten und Bedenken.“

„Sollte das allein entscheidend sein? Ich meine, sie müßte noch eine zweite Frage stellen – ob sie selbst liebt!“

Die Worte kamen langsam, fast zögernd von seinen Lippen, und doch hafteten seine Augen wie in athemloser Erwartung auf dem Antlitz, das er im hellen Mondschein so deutlich vor sich sah, aber es erfolgte keine Antwort. Ernas Blick vermied den seinigen und schweifte hinaus in die dämmernde Ferne. Die Bergfeuer dort glänzten matter und matter, eins nach dem andern erlosch, nur das größte flammte noch drüben auf der Höhe mit seinem sternartigen Leuchten.

Droben am Wolkenstein wogten und wallten noch immer die weißen Schleier und die Mondesstrahlen schufen seltsame Gebilde daraus, die das Auge täuschten mit allerlei phantastischen Gestalten und zerflossen, sobald es versuchte, sie festzuhalten. Aus diesem Nebelweben aber tauchte jetzt langsam und leuchtend der Gipfel selbst empor, der zackige, unnahbare Thron der Alpenfee, in seinem ewigen Eis- und Schneegewand.

Wolfgang hatte seinen Platz verlassen und trat jetzt an die Seite des jungen Mädchens, während er halblaut fortfuhr:

„Ich habe auch zu dieser Frage kein Recht, ich weiß es; aber Sie selbst werden sie sich doch wohl gestellt haben und die Antwort –“

Ein dumpfes, zorniges Knurren unterbrach ihn. Greif hatte seine einstige Abneigung gegen den Oberingenieur nicht vergessen, er duldete es nicht, daß dieser seiner Herrin nahe kam, und drängte sich, wie zur Abwehr, zwischen beide. Erna legte beschwichtigend ihre Hand auf den Kopf des Hundes, der sofort verstummte; dann fragte sie plötzlich ohne jeden Uebergang:

„Warum hassen Sie Ernst Waltenberg?“

„Ich?“ Elmhorst war augenscheinlich betroffen über diese Gegenfrage, die ihm gänzlich unerwartet kam.

„Ja – oder wollen Sie es ableugnen?“

„Nein,“ sagte Wolfgang mit trotziger Entschiedenheit. „Ich gestehe es zu, ich hasse ihn!“

„Sie müssen aber doch einen Grund dazu haben.“

„Den habe ich! Aber Sie gestatten wohl, daß ich Ihrem Beispiel folge und auf das Warum? die Antwort verweigere.“

„So will ich sie Ihnen geben – weil Sie in Ernst Waltenberg meinen künftigen Gatten sehen!“

Elmhorst zuckte zusammen und blickte sie mit einem Ausdruck der Bestürzung, ja des Schreckens an. „Sie – wissen?“

„Glauben Sie denn, eine Frau fühlt es nicht, wenn sie geliebt wird, und wenn man auch alles dran setzt, es ihr zu verbergen?“ fragte Erna mit tiefer Bitterkeit.

Es folgte eine lange, schwere Pause; Wolfgangs Auge sank zu Boden; endlich sagte er dumpf und leise:

„Ja, Erna, ich habe Sie geliebt – schon seit Jahren!“

„Und Sie wählten – Alice!“

Es lag eine herbe Verurtheilung in den Worten, er schwieg und senkte das stolze Haupt.

„Weil sie reich ist, weil an ihrer Hand das Gold hängt, das ich nicht besitze. Alice wird trotzdem nicht unglücklich werden, sie kennt und fordert ja kein Glück im höheren Sinne, ich aber wäre grenzenlos elend an der Seite eines Mannes, den ich verachten müßte.“

„Erna!“ fuhr er wild und drohend auf.

„Herr Elmhorst?“ fragte sie schneidend.

Die Mahnung fruchtete, er zwang sich gewaltsam zur Selbstbeherrschung.

„Fräulein von Thurgau, Sie glauben, mich hassen zu müssen seit der Todesstunde Ihres Vaters, und Sie haben überreich Vergeltung geübt für eine nur vermeinte Schuld. Nun denn, Ihren Haß will ich tragen, wenn es sein muß, Ihre Verachtung nicht. Ich dulde ihn nicht länger, diesen kalt verächtlichen Blick, den ich immer und immer in Ihren Augen sehe. Sie verstehen es, damit zu treffen, aber ich bitte Sie jetzt – treiben Sie mich nicht aufs äußerste!“

Er sah wirklich aus, als sei er aufs äußerste gebracht, der kalte, berechnende Mann, der sich so eisern zu beherrschen wußte. Sein ganzes Wesen bebte in fieberhafter Erregung, das verhängnißvolle Wort hatte ihn furchtbar getroffen.

Greif hatte sich kampfbereit aufgerichtet und verfolgte mit glühenden Augen jede Bewegung des vermeintlichen Feindes, von dem er glaubte, er drohe seiner jungen Herrin. Diese ergriff den Hund am Halsbande und hielt ihn fest.

„Wollen Sie mich etwa zu Achtung zwingen?“ fragte sie.

„Ja, beim Himmel, das will ich!“ brach er aus. „Ich habe mir ja vorhin schon die Anerkennung erzwingen müssen bei jenem hochmüthigen Egoisten, der das Geld nur verachtet, weil er es in Fülle besitzt, der sein träumerisches, thatenloses Genießen für Idealismus ausgiebt. Sie hörten es ja, wie er verstummte, als ich mich auf meine Arbeit berief. Er weiß freilich nicht, was es heißt, arm zu sein und der nackten, harten Wirklichkeit ins Auge sehen zu müssen. Ich habe das reichlich durchgekostet in einer entbehrungsreichen Jugend, für mich hat das Leben keine Poesie und keine Ideale gehabt. Ich fühlte die Kraft in mir, das Höchste in meinem Berufe zu leisten, und wurde in niederer unbedeutender Arbeit festgehalten. Ich mußte mich beugen vor Menschen, die geistig tief unter mir standen, mußte bitten, wo ich jetzt befehle. Der Plan zu der Wolkensteiner Brücke, die sie jetzt anstaunen, wie ein halbes Wunderwerk, ist zehnmal hochmüthig verworfen, übersehen, bei Seite gelegt worden, weil ich keine Protektion hatte, weil man den Armen und Unbekannten ja immer am Boden hält. Aber ich wollte empor, trotz alledem, nicht um des Geldes willen, nicht um auszuruhen im trägen Genuß, sondern um frei schaffen zu können, ungehemmt von all den Zurücksetzungen und Erbärmlichkeiten, über die der Reichthum wie mit Flügeln hinwegträgt. Dort steht mein Werk!“ Er wies auf den schmalen Steg über der dunklen Schlucht, der im Mondlichte wie Silber blinkte. „Ob Sie es hassen oder nicht, weil Ihr Vaterhaus ihm weichen mußte, es wird seinem Schöpfer wenigstens Achtung erzwingen, auch bei Ihnen!“

Das war wieder die stolze, kühne Sprache, mit der Wolfgang Elmhorst selbst seine Gegner verstummen machte, mit der er überall siegte, hier aber siegte er nicht. Erna hatte sich erhoben und stand ihm hochaufgerichtet gegenüber, aber der Blick, den er nicht ertragen konnte, war noch immer in ihrem Auge.

„Nein!“ sagte sie fest und kalt. „Grade dies Werk verurtheilt Sie! Wer das schaffen konnte, der mußte auch den Muth haben, der eigenen Kraft zu vertrauen und allein vorwärts zu schreiten, denn er trug seine Zukunft in sich. Mein Onkel hatte Ihr Talent erkannt, lange ehe Sie um seine Tochter warben, er hatte Ihnen den Weg geöffnet und Sie wären zum Ziele gelangt auch ohne ihn. Aber freilich, das hätte Zeit und Mühe gekostet und Sie wollten im Sturm siegen.“

Wolfgang streifte mit einem langen, schweren Blick das erregte Antlitz des Mädchens.

„Ja, ich wollte es!“ sagte er düster. „Aber ich habe auch einen hohen Preis dafür gezahlt, vielleicht – war er zu hoch!“

„Der Preis ist jetzt Ihre Freiheit – einst wird es vielleicht Ihre Ehre sein!“

„Erna!“ Er ballte krampfhaft die Hand. „Hüten Sie sich! Ich ertrage keine Beleidigungen.“

„Ich beleidige nicht, ich spreche nur aus, was Sie sich selbst noch nicht eingestehen. Glauben Sie, daß man sich umsonst einem Manne verbündet, wie mein Onkel es ist? Sie haben noch Ehrgeiz, er hat längst abgeschlossen damit, ihm gilt nur noch der Erwerb. Er hat freilich schon Millionen erworben und das Gold strömt ihm immer noch zu, aber das ist ihm alles nicht genug. All das Große seiner Unternehmungen ist ihm nichts, er zuckt nur die Achseln darüber; Geld sollen sie ihm bringen, und das wird er auch von Ihnen verlangen, wenn er Sie erst ganz in Händen hat. Sie werden nicht mehr schaffen, sondern nur noch erwerben dürfen!“

Wolfgang sah finster zu Boden, er wußte, daß sie die Wahrheit sprach, er kannte den Präsidenten längst von dieser Seite, aber sein Stolz sträubte sich gegen die Rolle, die man ihm dabei zuertheilte.

„Halten Sie mich für so energielos, daß ich meine Selbständigkeit nicht zu wahren weiß?“ fragte er. „Ich habe auch einen Willen und werde ihn nötigenfalls geltend machen, selbst an dieser Stelle.“

„Dann wird man Ihnen ein Entweder – oder stellen und Sie werden sich fügen. Sie haben ihn ja nicht gehen wollen, den einsamen, stolzen Weg, den so viele große Männer gegangen sind, die nichts hatten als ihr Talent und den Glauben an sich selbst. Ich,“ hier brach es wie leidenschaftliche Begeisterung aus den Augen des Mädchens, „ich habe mir immer gedacht, schon das Ringen und Streben müsse ein Glück sein, ein größeres vielleicht als einst das erreichte Ziel. So emporzusteigen aus der Tiefe, mit jedem Schritt, den man vorwärts thut, mit jedem Hinderniß, das man überwindet, die eigene Kraft wachsen zu sehen und endlich droben zu stehen auf der freien Höhe, im Gefühl des selbsterrungenen Sieges. Ich habe das ja so oft gefühlt, wenn ich einen Alpengipfel erstieg, und ich hätte mich nicht emportragen lassen von fremder Hand, um keinen Preis!“

Sie stand vor ihm, fortgerissen von der Erregung des Augenblicks, wieder ganz das freie wilde Kind der Berge, das er einst gefunden hatte an den Abhängen des Wolkenstein, mit den wehenden Locken, stürmisch in der Liebe wie im Haß. Er hatte vereint mit ihr dem Sturme Trotz geboten, er hörte noch ihr übermüthig jubelndes Lachen, mitten in dem Wettergraus, und es war ihm, als sei er damals glücklich gewesen, grenzenlos glücklich, und seitdem niemals wieder!

„Und hätten Sie den Mann lieben können, der so emporsteigt?“ sagte er endlich, aber es lag eine verhaltene Qual in seiner Stimme. „Wären Sie ihm zur Seite geblieben in Mühe und Gefahr, im Sturze vielleicht? Antworten Sie, Erna – ich muß es wissen!“

Erna bebte leise zusammen, aber der Strahl in ihrem Auge erlosch, es ging wie ein Eishauch über ihr Antlitz und eisig klang auch ihre Erwiderung: „Wozu die Frage? Sie kommt zu spät! Ich weiß nur eins: den Mann, der seine Liebe verleugnete und zertrat, um des Geldes willen, das ihm mit der Hand einer Anderen winkte, der es vorzog, sich seine Zukunft zu erkaufen, weil er nicht den Muth hatte, sie zu erkämpfen, den hätte ich nie geliebt – niemals!“

Sie athmete tief auf, als werfe sie mit dem Worte eine Last von sich, und wandte ihm den Rücken. Greif begann plötzlich unruhig zu werden und richtete spürend den Kopf nach dem Walde, er witterte bereits die Zurückkehrenden, deren Tritte den anderen beiden noch unhörbar waren, aber seine Herrin verstand ihn.

„Sie kommen?“ fragte sie halblaut. „Wir wollen Ihnen entgegen gehen, Greif!“

Langsam schritt sie über die Grashalde, auf der schwer und schimmernd der Nachtthau lag. Wolfgang machte keinen Versuch, sie zurückzuhalten, er verharrte regungslos auf seinem Platze. Das letzte der Bergfeuer sank soeben zusammen, einige Minuten schimmerte es noch auf der Höhe wie ein matter verlöschender Stern, dann verschwand es.

Der Wolkenstein war dagegen völlig klar geworden, das Gewölk, das ihn zuletzt nur noch wie ein schimmernder Nebelduft umgab, schien zu zerfließen und zu zerrinnen in den Mondesstrahlen; klar und leuchtend stand der eisgekrönte Gipfel da. Sie hatte sich entschleiert, die stolze Herrscherin des Gebirges, und thronte nun dort oben in ihrer geisterhaften Schönheit und über ihrem Reiche lag die schweigende geheimnißvolle Mittsommernacht, mit ihrem Geisterweben, wo die versunkenen Schätze heraufsteigen aus der Tiefe und aus Erlösung harren – die uralte, heilige Sonnwendnacht!

[597] Es war am Sonntag nach dem Johannistage, wo nach altem Brauche in Oberstein der Johannistanz stattfand. Der kleine hochgelegene Gebirgsort, der Wohnsitz des Doktor Reinsfeld, hatte durch den Bau der Eisenbahn allerdings etwas von seiner Einsamkeit und Abgeschiedenheit verloren. Die Arbeiter der Strecke verkehrten bisweilen dort und einige der jungen Ingenieure hatten in dem einzigen Gasthause ihre Wohnung genommen; das war aber bis jetzt alles; das ziemlich armselige Aussehen des Oertchens hatte sich vorläufig noch nicht geändert.

Die Wohnung des Herrn Doktors machte auch keine Ausnahme davon, es war ein kleines Häuschen, das sich nur wenig von den übrigen unterschied, nothdürftig eingerichtet und kaum mit den einfachsten Bequemlichkeiten versehen. Die Witwe des verstorbenen Meßners führte dem jungen Arzte das Hauswesen, so gut oder so schlecht sie es eben verstand, und viel verstand sie wirklich nicht. Es gehörte in der That eine so bescheidene und fast bedürfnißlose Natur wie die Bennos dazu, um in solchen Umgebungen auszuhalten. Seine Vorgänger waren auch stets nur kurze Zeit in dieser Stellung geblieben, er saß nun schon im fünften Jahre hier, unermüdlich und unverdrossen in seiner anstrengenden Thätigkeit, und hatte auch vorläufig noch keine Aussicht, fortzukommen.

In seinem Arbeitszimmer sah es freilich anders aus als in den schönen, behaglichen Räumen, die Oberingenieur Elmhorst bewohnte. Die weiß getünchten Wände zeigten als einzigen Schmuck ein paar kleine Familienbilder, die verstorbenen Eltern Reinsfelds. Ein alter, schon sehr gebrechlicher Schreibtisch, mit einem Armstuhl, dessen ehemals schwarzes Leder längst grau geworden war, ein sehr hartes Sofa, mit derbem Leinenüberzug und Tisch und Stühle von gleich ehrwürdigem Alter, das war die ganze noch von dem Vorgänger übernommene Einrichtung dieses „Salons“, in welchem der Doktor wohnte, arbeitete, Rath ertheilte und auch Besuche empfing wie in diesem Augenblick, wo sein Vetter Albert Gersdorf sich bei ihm befand.

Der Rechtsanwalt war bereits gestern von Heilborn gekommen und hatte schon einen Gast vorgefunden, den er gleichfalls kannte, Veit Gronau, der sich hier von den Folgen seines

Unfalle auf der Geierklippe erholte. Die schmerzhafte Verrenkung des Fußes, die er sich dort zugezogen, war zwar nicht gefährlich, hinderte ihn aber sehr am Gehen. Man hatte ihn damals mit Mühe bis nach Oberstein gebracht und Reinsfeld erbot sich sofort, den Patienten in Pflege zu nehmen, bis er wieder hergestellt sei, was auch dankend angenommen wurde.

Die beiden Vettern hatten sich seit Jahren nicht gesehen und auch nur selten geschrieben, um so freudiger war Benno überrascht gewesen, als Gersdorf gestern ganz unerwartet bei ihm eintraf. Er hatte ihn soeben überredet, den Besuch noch etwas länger auszudehnen, und sagte nun vergnügt:

„Also abgemacht, Du bleibst bis übermorgen! Das ist brav und Deine junge Frau hat hoffentlich nichts dagegen, wenn Du sie so lange in Heilborn bei ihren Eltern läßt.“

„O, sie befindet sich dort vortrefflich,“ erklärte Gersdorf, aber trotz der Versicherung gab sich eine gewisse Verstimmung in der Antwort kund und er sah auch ungewöhnlich ernst aus. Der Doktor blickte ihn forschend an.

„Höre, Albert, es ist mir schon gestern bei Deiner Ankunft vorgekommen, als ob da etwas nicht ganz in der Ordnung wäre. Ich glaubte, Du würdest mit Deiner Frau kommen! Ihr habt Euch doch nicht etwa gezankt?“

„Nein Benno, so arg ist es nicht, ich bin nur in die Nothwendigkeit versetzt worden, meinen Schwiegereltern klar zu machen, daß sich der bürgerliche Schwiegersohn seine Stellung zu wahren weiß.“

„Aha, weht der Wind daher? Was hat es denn gegeben?“

„Vorläufig nur eine kleine Auseinandersetzung. Ich erzählte Dir ja bereits, daß wir versprochen hatten, am Schluß unserer Hochzeitsreise die Eltern in Heilborn zu besuchen, wo meine Schwiegermutter die Kur braucht. Wir fanden sie dort in einem sehr exklusiven Kreise, der allerdings die Gnade hatte, mich aufzunehmen, es mir aber sehr deutlich fühlbar machte, daß ich dies nur der Ehre verdankte, eine Baroneß Ernsthausen zur Frau zu haben. Ich verweigerte also diesen liebenswürdigen Umgang und sagte ab bei einer großen Partie, die für gestern geplant war. Natürlich gab es darüber hochgradige Empörung, die Frau Schwiegermutter erklärte mich für einen Tyrannen, behauptete, ihre Tochter gehöre nach wie vor zu diesem Kreise, und brachte es wirklich dahin, daß auch Wally obstinat wurde. Ich stellte es ihr darauf frei, allein mitzufahren – und sie fuhr in der That mit.“

„Ohne Dich?“

„Ohne mich! Eine Stunde später war ich auf dem Wege zu Dir – ich wollte Dich ja jedenfalls aufsuchen in den nächsten Tagen – und ließ nur eine kurze Benachrichtigung zurück.“

„Es war doch ein Wagniß von Dir, in diese adelstolze Familie zu heirathen“ sagte Benno kopfschüttelnd. „Du siehst, die Kämpfe sind mit der Heirath keineswegs zu Ende.“

„Nein, aber darauf war ich von vornherein gefaßt, das muß eben durchgekämpft werden.“

„Wenn Du Deiner Frau sicher bist?“

Gersdorf lächelte nur bei der etwas bedenklich ausgesprochenen Frage.

„Gewiß, das bin ich! Wally ist so noch ein Kind mit ihren achtzehn Jahren, ein verwöhntes Kind, das im Elternhause so gut wie gar nicht erzogen wurde, aber ihres Herzens bin ich unter allen Umständen sicher. Glaubst Du, daß es mir leicht geworden ist, mein holdes kleines Trotzköpfchen allein zu lassen? Aber es muß durchaus begreifen lernen, daß die Frau einzig und allein zu dem Manne gehört. Lasse ich diesmal meiner Schwiegermutter freies Spiel, so mischt sie sich fortwährend in unsere Ehe und das dulde ich nun einmal nicht.“

Man sah es dem neugebackenen Ehemanne trotz alledem an, daß ihm der Entschluß nicht leicht geworden war; seine Augen schweiften recht sehnsüchtig durch das Fenster, nach der Richtung, wo Heilborn lag, während Benno die Charakterfestigkeit seines Vetters mit höchster Bewunderung anstaunte. Er hätte sich selbst einer tyrannischen Schwiegermutter gefügt, nur um ein geliebtes Wesen nicht zu verletzen.

Sie wurden unterbrochen, denn soeben trat Veit Gronau ein. Er hinkte zwar noch sehr bedeutend, schien sich aber sonst ganz wohl zu befinden und legte ein ziemlich umfangreiches Packet auf den Tisch.

„Eine Empfehlung von Herrn Waltenberg,“ sagte er. „Er wird am Nachmittage mit den Nordheimschen Damen herüberkommen, sie wollen sich das Tanzvergnügen ansehen. Einstweilen hat er den Said geschickt und nun läuft ganz Oberstein zusammen und dem Schwarzen nach, den sie für den leibhaften Gottseibeiuns halten!“

„Was haben Sie denn da?“ fragte Gersdorf auf das Packet deutend.

„Echt türkischen Tabak!“ versetzte Gronau wichtig. „Der Herr Doktor ist nämlich als Mensch vortrefflich, aber als Raucher barbarisch. Seine Sorte ist, mit Erlaubniß zu sagen, ein ganz schändliches Kraut, deshalb habe ich mich um Hilfe an Herrn Waltenberg gewandt und er hat mir auch sofort aus unseren eigenen Vorräthen das Nöthige geschickt. Jetzt werde ich die Pfeifen stopfen – man raucht nämlich noch Pfeifen in diesem biederen Oberstein – und ich verstehe mich darauf.“

„Das glaube ich!“ sagte Benno lachend „Sie und Herr Waltenberg verdampfen in einem Jahre vermutlich so viel, wie mein ganzes Einkommen beträgt. Ich darf nicht so wählerisch sein.“

Veit, der hier schon völlig zu Haus war, hinkte inzwischen an ein kleines Schränkchen und holte verschiedene Pfeifen heraus, die er mit großer Sachkenntniß zu stopfen begann, und bald dampften die drei Herren lustig drauf los. Es war in der That ein vorzügliches Kraut, das alle drei in die rosigste Stimmung versetzte.

Da wurde die Thür geöffnet und auf der Schwelle zeigte sich etwas höchst Unerwartetes: eine junge Dame, im eleganten Reiseanzug, mit einem schleierumwundenen Hütchen und einer zierlichen Reisetasche in der Hand. Sie war im Begriff, rasch einzutreten, blieb aber stehen wie erstarrt von dem Anblick, der sich ihr bot. Gronaus unendlich lange Gestalt lag der Länge nach auf dem Sofa ausgestreckt, der Doktor saß in Hemdärmeln seelenvergnügt in seinem Armstuhl, Gersdorf nicht weit davon und über ihnen schwebten die blauen Tabakswolken und umhüllten die ganze Gruppe mit einem dichten, aber leider durchsichtigen Schleier.

„Herr Doktor,“ meldete die alte Wirthschafterin, deren Gesicht jetzt hinter der Fremden sichtbar wurde. „Da ist eine junge Gnädige angekommen und sie will –“

„Meinen Mann will ich!“ fiel die junge Gnädige in sehr energischem Tone ein, indem sie vollends eintrat und damit einen förmlichen Aufruhr entfesselte. Gronau fuhr vom Sofa auf und stieß dabei einen lauten Schmerzensschrei aus, denn sein Fuß vertrug noch nicht derartige heftige Bewegungen, Benno sprang entsetzt empor und suchte seine Joppe, die er nirgends fand, und aus den Dampfwolken tauchte Gersdorf hervor und rief in freudigster Ueberraschung: „Wally – Du bist es?“

„Ja – ich bin es!“ erklärte Frau Doktor Gersdorf in einem so vernichtenden Tone, als habe sie ihren Gatten auf irgend einem Verbrechen ertappt, und dabei trat sie in die Mitte des Zimmers und nahm eine höchst imposante Stellung an. Leider störte sie der Tabaksrauch darin, sie begann entsetzlich zu husten und kämpfte mit einem förmlichen Erstickungsanfall.

Der arme Benno war ganz vernichtet. Er hatte heimlich aufgeathmet, als er hörte, daß auf den Besuch der neuen vornehmen Verwandten, vor der er einen angemessenen Respekt hegte, nicht zu rechnen sei; er hätte ihr zu Ehren jedenfalls wieder den berühmten schwarzen Staatsanzug angelegt und nun traf sie ihn in solcher Toilette! In seiner grenzenlosen Verwirrung ergriff er sein Taschentuch und versuchte damit, den Rauch zu verjagen, aber er jagte ihn leider nach der falschen Richtung, der Dame grade in das Gesicht! Dabei fegte er die Thonpfeife vom Tische, die nun in Scherben zerbrach, und schließlich warf er noch seinen Armstuhl um, der bei diesem Unglück ein Bein verlor. Gersdorf ergriff endlich seinen Vetter beim Arm.

„Sei ruhig, Benno, Du richtest sonst noch ein Unglück an,“ sagte er beschwichtigend. „Vor allen Dingen laß Dich meiner Frau vorstellen. Mein Vetter, Benno Reinsfeld, liebe Wally!“ Wally blickte mit höchst ungnädiger Miene auf diesen Mann in Hemdärmeln, der ihr als Verwandter vorgestellt wurde, sie schien das empörend zu finden.

„Ich bedaure sehr, die Herren gestört zu haben,“ sagte sie, mit einem niederschmetternden Blick auf ihren Gatten. „Mein Mann theilte mir mit, daß er Sie besuchen werde, Herr Doktor – auf unbestimmte Zeit.“

„Gnädige Frau,“ stotterte Benno ganz fassungslos. „Es ist mir eine hohe Ehre – ganz gewiß „Das freut mich,“ schnitt ihm die gnädige Frau ohne weiteres das Wort ab. „Draußen steht mein Gepäck, Herr Doktor, bitte, lassen Sie es hereinbringen. Ich bleibe auch hier – auf unbestimmte Zeit!“

Das fehlte noch, um die Verzweiflung des Doktors voll zu machen. Er dachte an das kleine, dürftig eingerichtete Giebelstübchen, das er seinem Vetter hatte anbieten müssen, und nun wollte eine Baroneß Ernsthausen darin wohnen! Da fiel sein rathlos umherschweifender Blick endlich auf die so angstvoll gesuchte Joppe, die grade vor ihm lag, er stürzte plötzlich darauf los, packte sie und verschwand mit seiner Beute im Nebenzimmer. Gronau, der eine ebenso respektvolle wie entschiedene Abneigung gegen „die Damen“ hegte, hinkte ihm schleunigst nach und ließ dabei die Thür so unvorsichtig in das Schloß fallen, daß das ganze Hans erbebte.

„Bin ich denn hier unter die Wilden geraten?“ rief die junge Frau entrüstet über diesen Empfang. „Der Eine schreit, der Andere läuft davon und der Dritte –!“ sie schauderte förmlich bei dem Gedanken, daß dieser Dritte ihr Gatte war.

Gersdorf aber kümmerte sich nicht um den bitterbösen Ausdruck des rosigen Gesichtchens. Jetzt, wo sie allein waren, eilte er mit strahlender Miene und ausgebreiteten Armen auf seine kleine Frau zu.

„Wally, also bist Du wirklich gekommen!“

Wally entzog sich der Umarmung, sie trat zurück und erklärte feierlich:

„Albert – Du bist ein Ungeheuer!“

„Aber Wally –!“

„Ein Ungeheuer!“ wiederholte sie mit Nachdruck. „Mama sagt es auch und sie meint, ich müsse Dich mit Verachtung strafen. Deshalb bin ich auch nur hergekommen.“

„So, deshalb?“ sagte Albert, während er ihr die Reisetasche abnahm; sie duldete das zwar, aber sie behielt ihre vernichtende Haltung bei.

„Du hast mich verlassen, mich, Dein eheliches, Dir angetrautes Weib, schändlich verlassen – und das noch dazu auf der Hochzeitsreise!“

„Bitte, mein Kind, Du verließest mich,“ protestirte Gersdorf. „Du bist mit der Gesellschaft gefahren –“

„Auf einige Stunden! Und als ich zurückkam, warst Du fort, warst in die Wildniß gegangen, denn etwas anderes ist ja dies Oberstein nicht, und nun sitzest Du hier in dem abscheulichen Tabaksqualm und rauchst und lachst und jubilierst – leugne es nicht, Albert, Du hast gelacht, ich habe draußen deutlich Deine Stimme gehört!“

„Allerdings habe ich gelacht, aber das ist doch kein Verbrechen.“

„Wenn Deine Frau fern ist!“ rief Wally zornig, „wenn Deine tiefgekränkte Gattin in derselben Stunde ihr Schicksal beweint, das sie an diesen herzlosen Mann kettete – o, Du siehst das nicht einmal ein!“

Sie schluchzte laut auf und warf sich verzweiflungsvoll auf das Sofa, fuhr aber erschrocken wieder in die Höhe – auf eine so harte Ruhestätte für ihren Schmerz war sie nicht gefaßt gewesen.

„Wally,“ sagte ihr Gatte ernst, indem er zu ihr trat, „Du wußtest, warum ich jenen Kreis meiden wollte, und ich glaubte, meine Frau würde darin unbedingt an meiner Seite stehen – es hat mir sehr wehe gethan, daß ich mich darin täuschte!“

Der Vorwurf verfehlte seine Wirkung nicht. Wally schlug die Augen nieder und erwiderte kleinlaut:

„Ich mache mir ja gar nichts aus all den albernen Menschen, aber Mama meinte, ich dürfe mich nicht unterdrücken lassen.“

„Und Du folgtest natürlich Deiner Mutter, nicht meiner Bitte, Du zogst eine fremde Gesellschaft der meinigen vor!“

„Das hast Du ja auch gethan,“ schluchzte Wally; „Du bist fortgefahren, ohne danach zu fragen, ob Dein armes Weib sich verzehrt in Schmerz und Sehnsucht!“

Albert legte leise den Arm um sie und beugte sich zu ihr nieder, seine Stimme klang jetzt in vollster Innigkeit:

„Hast Du Dich wirklich gesehnt, meine kleine Wally? – Ich auch!“

Die junge Frau blickte mit großen Augen zu ihm empor; die Thränen versiegten und sie schmiegte sich fest an ihn.

„Wann wolltest Du wiederkommen?“ fragte sie.

„Uebermorgen – wenn ich es nämlich so lange ausgehalten hätte.“

„Und ich bin schon heute gekommen – ist Dir das genug?“

„Ja, mein süßer, kleiner Trotzkopf, es ist mir genug!“ rief Albert in überströmender Zärtlichkeit, während er sie in die Arme schloß. „Nun wollen wir meinetwegen noch heute nach Heilborn zurückkehren.“

„Nein, das wollen wir nicht,“ erklärte Wally mit großer Entschiedenheit. „Ich habe mich gezankt mit der Mama, die mich nicht fortlassen wollte, und mit dem Papa auch. Ich habe das ganze Gepäck mitgebracht, und nun bleiben wir hier.“

„Um so besser,“ sagte Gersdorf sichtlich erleichtert. „Ich bin ja doch nur Dir zu Liebe nach Heilborn gegangen; hier sind wir mitten in den Bergen. Ich fürchte nur, wir werden uns ein anderes Quartier suchen müssen, das Doktorhaus wird Dich mit all Deinen Koffern schwerlich beherbergen können.“

Die kleine Frau sah sich naserümpfend in dem Zimmer um, wo die Tabakswolken noch immer lieblich wallten und die Pfeifenscherben mit dem nunmehr dreibeinigen Stuhle einträchtig am Boden lagen.

„Ja, es scheint hier überhaupt eine entsetzliche Junggesellenwirthschaft zu sein! Du bist schon ganz verwildert bei diesem vielgerühmten Vetter, der wie ein Unsinniger davonstürzt, wenn eine Dame über seine Schwelle tritt. Hat er denn gar keine Lebensart?“

„Der arme Benno war in so grenzenloser Verlegenheit,“ entschuldigte Albert. „Er hatte vollständig den Kopf verloren. Sei liebenswürdig gegen ihn, Wally, ich bitte Dich – und nun will ich vor allen Dingen nach Deinem Gepäck sehen.“

Er ging, und Frau Doktor Gersdorf setzte sich diesmal mit etwas größerer Vorsicht aus das Sofa, dessen Härte sie vorhin so erschreckt hatte; da wurde leise und schüchtern eine andere Thür geöffnet und der Herr des Hauses erschien. Er hatte die Zwischenzeit benutzt, um sich in aller Eile etwas salonfähiger zu machen, und näherte sich nun verlegen und demüthig der jungen Dame, die vorläufig noch nicht geneigt schien, die Bitte ihres Gatten zu erfüllen und liebenswürdig zu sein, da sie im Gegenteil mit strenger Richtermiene auf den Eintretenden blickte.

„Gnädige Frau,“ begann dieser stockend. „Ich bitte um Entschuldigung, daß Sie bei Ihrer unerwarteten Ankunft – ich war sehr unglücklich darüber, gewiß sehr unglücklich – “

„Ueber meine Ankunft?“ unterbrach ihn die junge Frau entrüstet.

„Um Gotteswillen, nein!“ rief Benno, der sich schon wieder in seiner Rede verwickelte. „Ich meinte nur – ich wollte bemerken – daß ich Junggeselle bin.“

„Ja, leider!“ sagte Wally, noch immer sehr ungnädig. „Ein Junggesell ist etwas Trauriges! Warum heirathen Sie nicht?“

„Ich?“ rief Benno ganz entsetzt über die Frage.

„Natürlich, Sie müssen heirathen, so bald als möglich!“

Die Worte klangen so diktatorisch, daß der Doktor gar nicht zu widersprechen wagte, sondern nur eine Verbeugung machte; das entwaffnete Frau Wally einigermaßen, sie setzte etwas milder hinzu:

„Albert hat auch geheirathet und befindet sich sehr wohl dabei. Oder zweifeln Sie vielleicht daran?“

„O nein, gewiß nicht!“ versicherte der ganz eingeschüchterte Benno, „aber ich – “

„Nun, Sie, Herr Doktor?“ examinirte die neue Verwandte.

„Ich habe keine Gewandtheit im Verkehr mit Damen, keine Manieren,“ sagte er wehmüthig. „Gar keine, gnädige Frau, und das gehört doch dazu.“

Diese Selbsterkenntniß fand Gnade bei Wally; ein Mann, der seine Mängel so tief empfand, schien ihr der Theilnahme werth, sie ließ ihre strenge Miene fahren und entgegnete wohlwollend:

„Das läßt sich lernen! Setzen Sie sich zu mir, Herr Doktor, wir wollen die Sache besprechen.“

„Das Heirathen?“ fragte Benno entsetzt; er schien zu fürchten, daß die Sache augenblicklich ins Werk gesetzt werden könnte, und wich drei Schritte zurück.

„Nein, vorläufig nur die Manieren. Es fehlt Ihnen nicht an gutem Willen, wie ich sehe, aber Sie brauchen jemand, der sich Ihrer annimmt und Sie erzieht – und das werde ich thun.“

„O gnädige Frau, wie gut Sie sind!“ sagte der Doktor mit so rührender Dankbarkeit, daß die achtzehnjährige Erzieherin dadurch völlig gewonnen wurde.

„Ich bin Ihre Verwandte und heiße Wally,“ versetzte sie. „Wir nennen uns fortan beim Vornamen; also, Benno, setzen Sie sich zu mir!“

Er kam der Aufforderung nach, anfangs noch etwas schüchtern, aber die kleine Frau verstand es, ihn zutraulich zu machen. Sie fragte unaufhörlich, und er beichtete denn auch treuherzig alles, seine Unbeholfenheit bei dem Besuche in der Nordheimschen Villa, seine Trostlosigkeit darüber, seine verzweifelten, aber vergeblichen Versuche, irgendwo und irgendwie Manieren zu lernen, und gerade bei dieser Beichte verschwand die Unbeholfenheit vollständig, und der wahre, ehrliche, herzensgute Benno kam dabei zum Vorschein. Als der Rechtsanwalt nach etwa zehn Minuten zurückkehrte, fand er seine Frau und seinen Vetter in vollster Eintracht und unbedingter gegenseitiger Hochachtung bei einander.

„Ich habe das Gepäck einstweilen hereinbringen lassen“ sagte er, „und zugleich nach dem Gasthause geschickt, um zu fragen, ob dort noch Platz ist.“

„Das ist nicht nöthig,“ fiel Wally ein. „Wir bleiben hier, Benno wird schon Platz schaffen, nicht wahr, Benno?“

„Natürlich wird Platz geschafft!“ rief der Doktor eifrig. „Ich ziehe aus, ich ziehe mit Gronau in das kleine Giebelzimmer und überlasse Ihnen die unteren Räume, Wally. Ich werde gleich auf der Stelle das Nöthige besorgen.“

Er sprang mit einem förmlichen Enthusiasmus auf und lief hinaus. Gersdorf sah ihm höchst verwundert nach.

„Benno – Wally? Nun, Ihr seid ja schon recht hübsch weit gekommen in den paar Minuten!“

„Albert, Dein Vetter ist ein höchst vortrefflicher Mensch,“ erklärt Wally. „Man muß sich des jungen Mannes annehmen, das ist Verwandtenpflicht.“

Der Rechtsanwalt lachte laut auf.

„Des jungen Mannes? Er ist gerade zwölf Jahre älter als Du.“

„Ich bin eine verheirathete Frau!“ lautete die sehr würdevolle Antwort, „und er ist leider nur ein Junggeselle, aber dafür kann er nicht und ich werde ihn auch möglichst bald verheirathen.“

„Um Gotteswillen!“ rief Gersdorf. „Du hast den unglücklichen Benno kaum gesehen und hast schon Heirathspläne für ihn? Ich bitte Dich –“

Weiter kam er nicht, denn seine Frau trat mit empörter Miene dicht vor ihn hin.

„Unglücklich nennst Du ihn, weil er heirathen soll! Du hältst also die Heirath für ein Unglück und die Deinige wohl auch? – Albert, was hast Du gemeint mit dem Worte?“

Die Frage klang sehr zornig und die kleinen Füße stampften dazu den Takt auf den Boden, aber Albert lachte nur und nahm sein Weibchen in die Arme.

„Daß es nur eine kleine Frau giebt, die ihren Mann so glücklich machen kann, wie ich es bin!“ sagte er zärtlich. „Bist Du zufrieden mit dem Geständniß?“

Und Frau Doktor Gersdorf war zufrieden!




Die Nachmittagssonne schien hell und lustig herab auf das bunte Traben, das sich vor dem Wirthshause in Oberstein entfaltete. So unbedeutend das Oertchen war, es bildete doch den Mittelpunkt für all die einzelnen in der Umgegend zerstreuten Höfe und Wohnstätten, und deren Bewohner waren sämmtlich zu dem Feste gekommen, das wie üblich mit dem Kirchgange begann und dann dem Vergnügen sein Recht ließ. Der Johannistanz, der nach altem Brauche im Freien stattfand, hatte längst begonnen, auf dem vor dem Wirthshause improvisirten Tanzplatze drehten sich die jungen Bursche und Mädchen, die Alten saßen beim Trunk, die ländlichen Musikanten fiedelten unermüdlich und die Kinder jagten sich und lärmten mitten in dem fröhlichen Durcheinander. Es war ein heiteres, bewegtes Bild, dessen Reiz durch die malerischen Sonntagstrachten der Aelpler noch erhöht wurde.

Die Anwesenheit der „Stadtleute“, die gleichfalls erschienen waren, störte die Festfreude nicht im geringsten, denn die jungen Ingenieure, die in Oberstein wohnten, tanzten wacker mit, und die beiden dunkelfarbigen Diener, welche der fremde Herr aus Heilborn mitgebracht hatte, bildeten ein höchst sehenswerthes Schauspiel für die Gebirgsleute. Veit Gronau, der schon mit aller Welt bekannt geworden war, zog wie ein Menagerieführer mit den beiden umher, sie überall präsentirend und bereitwilligst Auskunft gebend auf all die neugierigen Fragen über den Afrikaner und den Indier. Said und Djelma waren offenbar sehr stolz aus die allgemeine Vewunderung und machten verschiedene Versuche der Annäherung an die Eingeborenen, die Gronau wohlwollend unterstützte, denn er fühlte sich verpflichtet, seine Schützlinge mit europäischen Sitten bekannt zu machen.

In dem kleinen Kraut- und Blumengärtchen zur Seite des Wirthshauses, wohin man für heute Tisch und Stühle geschafft hatte, befand sich Waltenberg mit den Nordheimschen Damen, denen sich Doktor Gersdorf und seine Frau angeschlossen hatten. Die Stimmung der kleinen Gesellschaft war durch das unerwartete Zusammentreffen eine sehr heitere geworden, nur Frau von Lasberg machte eine Ausnahme davon.

Sie liebte es überhaupt nicht, den Volksbelustigungen beizuwohnen, auch nicht als bloße Zuschauerin, und hatte überdies eine leichte Migräne, so daß sie entschlossen war, von der Partie zurückzubleiben. Da schickte Elmhorst die Nachricht, er könne diesmal seine Braut nicht begleiten, auf der unteren Strecke der Bahn habe ein Wasserdurchbruch stattgefunden und er müsse sofort hinunterfahren. Die alte etikettenstrenge Dame hielt es darauf hin nicht für zulässig, daß Waltenberg allein die jungen Damen begleitete, er war ja noch nicht erklärter Bräutigam wie Wolfgang. Sie opferte sich also und fuhr mit, büßte das aber mit einer Zunahme ihrer Kopfschmerzen, und nun führte der Zufall sie auch noch mit Wally zusammen, die bei der Baronin endgültig in Ungnade gefallen war, seit sie die bürgerliche Heirath durchgesetzt hatte. Die kleine Frau wußte das sehr genau und bemühte sich nach Kräften, ihre Gegnerin zu ärgern. Sie äußerte den dringenden Wunsch, mitzutanzen, erklärte die vornehme Abgeschlossenheit in dem Gärtchen für langweilig und machte schließlich den Vorschlag, sich mitten unter die Gebirgsleute zu begeben, kurz, sie jagte die gestrenge Frau Oberhofmeisterin von einer Empörung in die andere.

„Und wenn Benno kommt, tanze ich mit ihm auf die Gefahr hin, meinen Herrn Gemahl eifersüchtig zu machen!“ sagte sie mit einem muthwilligen Blick auf ihren Gatten, der mit Erna und Waltenberg an dem Holzgitter stand und sich das Treiben draußen ansah. „Der arme Doktor kann sich gar keine Erholung gönnen, gerade als wir fort wollten, wurde er wieder an ein Krankenbett gerufen, glücklicherweise hier in Oberstein, und er versprach, in einer halben Stunde nachzukommen. Alice, Du läßt Dich jetzt auch von Benno behandeln, wie ich höre?“

Die junge Dame neigte nur bejahend das Haupt und Frau von Lasberg bemerkte sehr von oben herab:

„Alice fügt sich darin dem Wunsche ihres Bräutigams. Ich fürchte aber, Herr Elmhorst überschätzt seinen Freund sehr, wenn er ihm einen größeren Scharfblick zutraut, als unseren ersten ärztlichen Autoritäten. Jedenfalls ist es ein Wagniß, die Behandlung der Braut einem jungen Arzte anzuvertrauen, der seinem eigenen Geständnisse nach fast ausschließlich eine Bauernpraxis hat.“

„Ich finde, daß Herr Elmhorst in diesem Punkte vollkommen recht hat,“ erklärte Wally würdevoll. „Unser Vetter kann sich getrost jeder ärztlichen Autorität an die Seite stellen, ich versichere es Ihnen, gnädige Frau.“

Die Baronin lächelte etwas spöttisch.

„Ach, ich bitte um Verzeihung! Ich vergaß es wirklich, daß Doktor Reinsfeld jetzt zu Ihren Verwandten gehört, liebe Baroneß.“

„Bitte: Frau Doktor Gersdorf,“ berichtigte diese. „Ich bin sehr stolz auf meinen Doktortitel und meine Frauenwürde und möchte sie um keinen Preis missen.“

„Das sieht man!“ bemerkte die alte Dame mit einem entrüsteten Blick auf die kleine Frau, die ihren bürgerlichen Namen mit einer so herausfordernden Glückseligkeit zur Schau trug und jetzt unbekümmert weiter plauderte.

[613] Wie hat Dir Benno gefallen, Alice?“ wandte Wally sich sich an ihre Freundin, „er war ganz trostlos darüber, daß er sich so ungeschickt benommen hat bei dem ersten Besuche. Hast Du ihm das wirklich übelgenommen, wie er glaubt?“

„Vertrauenerweckend war das Benehmen Ihres Vetters allerdings nicht, Frau Doktor Gersdorf,“ bemerkte die Baronin, die den Namen diesmal merklich betonte; zu ihrer größten Bewunderung aber stieß sie bei der sonst so passiven Alice auf einen Widerspruch, die junge Dame hob den Kopf und sagte mit ganz ungewöhnlicher Entschiedenheit:

„Mir hat Doktor Reinsfeld einen sehr angenehmen Eindruck gemacht, und ich theile das Vertrauen unbedingt, das Wolfgang in ihn setzt.“

Wally sandte der alten Dame einen triumphirenden Blick zu und war eben im Begriff, das Lob ihres „Verwandten“ noch weiter zu verkünden, als dieser selbst erschien.

Benno war heute in seiner schmucken Sonntagstracht, die von der eigentliche Volkstracht nur wenig abwich und auch von den Herren hier im Gebirge vielfach getragen wurde. Die graue Joppe mit den grünen Aufschlägen und der dunkelgrüne Hut mit dem Gemsbarte standen ihm vortrefflich, seine kräftige Erscheinung kam darin zur vollen Geltung, und hier, wo ihn keine fremde Umgebung beengte, benahm er sich auch den Damen gegenüber mit ziemlicher Unbefangenheit. Er begrüßte seine Verwandten und Erna herzlich, Waltenberg freundlich, und selbst seine Verbeugung vor Frau von Lasberg fiel ganz erträglich aus. Als er aber nun vor Alice stand, da war es aus mit der bisher so tapfer behaupteten Fassung, er wurde wieder dunkelroth, schlug die Augen nieder und brachte kein Wort über die Lippen. Er vernahm auch anfangs gar nicht, was die junge Dame zu ihm sprach, sondern hörte nur die weiche, sanfte Stimme, die ihm auch heute wieder so gütig entgegenklang wie damals im „Elfenreiche“. Erst als Alice auf ihre Begleiterin deutete, kam er wieder etwas zur Besinnung.

„Die arme Frau Baronin leidet an heftigen Kopfschmerzen und hat uns doch das Opfer gebracht, mitzufahren, aber das Uebel ist dadurch schlimmer geworden. Wissen Sie kein Mittel dagegen?“

Frau von Lasberg, die eben ihr Flacon zur Nase führte, hielt plötzlich inne; die Frage kam ihr sehr unerwünscht, denn sie war durchaus nicht gesonnen, ihre kostbare Gesundheit diesem Bauerndoktor anzuvertrauen.

Reinsfeld sprach bescheiden die Ansicht aus, die Steigerung des Uebels sei wohl in dem grellen Sonnenschein und der lärmenden Umgebung zu suchen, und schlug der gnädigen Frau vor, sich auf eine Stunde in ein stilles, kühles Zimmer zurückzuziehen, das hoffentlich im Wirtshause zu haben sei. Er eilte bereitwillig fort, um die Wirthin zu rufen, die auch sogleich erschien. Ein leeres Zimmer war vorhanden, es lag nach der andern Seite hinaus, und die alte Dame, die sich in der That sehr angegriffen fühlte, geruhte, sich dieser Verordnung zu fügen, deren Zweckmäßigkeit sie einsah.

„Gott sei Dank, jetzt sind wir unter uns, jetzt gehen wir auch auf den Tanzplatz!“ sagte Wally, die sofort die Führung übernahm.

„Unter die Bauern?“ fragte Alice erschrocken.

„Mitten unter die Bauern!“ rief die kleine Frau übermüthig. „So sieh doch nicht so entsetzt aus! Du solltest Gott danken, daß Deine Frau Oberhofmeisterin Migräne hat, sonst hätte sie Dich sicher festgehalten. Benno, reichen Sie Fräulein Nordheim den Arm!“

Benno sah nicht minder entsetzt aus bei dieser Zumuthung, aber Wally hatte sich bereits ihres Gatten bemächtigt und Waltenberg Erna den Arm geboten; Alice stand allein, es blieb also dem Doktor nichts übrig, als dem Befehl nachzukommen.

„Gnädiges Fräulein – darf ich denn?“ fragte er scheu und ängstlich. Alice zögerte noch einen Augenblick, aber ob nun das lustige Gewühl da draußen sie wirklich reizte, oder die schüchterne Bitte den Ausschlag gab, sie lächelte und nahm den dargebotenen Arm an, um mit ihm den anderen, die schon außerhalb des Gärtchens waren, zu folgen.

Inzwischen machte Veit Gronau Volks- und Sprachstudien mit seinen beiden Schutzbefohlenen. Er erklärte soeben dem wißbegierigen Said das Wort „Alpenfee“, das dieser irgendwo aufgefangen hatte, in seiner drastischen Weise:

„Das ist eine Berggottheit, die aber kein Mensch zu Gesichte bekommt, weil sie immer droben in den Wolken sitzt; aber bisweilen kommt sie den Leuten doch auf die Köpfe und ruinirt ihnen Haus und Hof. Die sämmtlichen Wolkensteiner beten sie an, obgleich sie Christen sind, aber man kann ein guter Christ und doch ein Heide sein. Djelma, was sperrst Du wieder den Mund auf? Das geht wohl über Dein Begriffsvermögen? Sag’ einmal ‚Alpenfee‘!“

Djelma, der mit offenem Munde nach dem Wolkenstein hinaufguckte, begriff diese wundersame Erklärung allerdings nicht, mühte sich aber, das bezeichnete Wort nachzusprechen, was ihm nach einigen mißrathenen Versuchen auch gelang.

„Nun, es geht einigermaßen,“ sagte sein Mentor befriedigt. „Wenn Du wieder ein neues Wort hörst, dann sprichst Du es nach und übst Dich darin, sonst lernst Du niemals Deutsch. – Da kommt Herr Waltenberg mit den Damen und dem Doktor! Sie wollen wahrscheinlich auf den Tanzplatz; ich glaube, sie sind froh, daß sie die alte Schachtel auf eine Stunde losgeworden sind.“

Djelma horchte auf bei dem neuen Worte, und der eben empfangenen Weisung gemäß begann er es leise und eifrig zu üben. Gronau achtete anfangs nicht darauf; als der Malaye aber die alte Schachtel kräftiger betonte, wurde ihm klar, was er angerichtet hatte, und er fuhr den armen Jungen an:

„Hältst Du das etwa für einen Ehrentitel? O Du Schaf! Gnade Dir Gott, wenn Du das Wort jemals vor den Damen aussprichst, die gnädige Frau Baronin Lasberg heißt es!“

Djelma sah tiefgekränkt aus, er war so aufmerksam gewesen und fand das neue Wort so schön und nun verbot man ihm, es auszusprechen. Said aber sagte wichtig:

„Master Hronau, der Herr immer ist neben dem Fräulein. Er gar nicht mehr fortgeht von ihrer Seite.“

„Ja, Gott sei’s geklagt!“ brummte Veit. „Verliebt ist er bis über beide Ohren! Muß uns das in diesem verwünschten Deutschland passiren, nachdem wir alle Weltteile durchzogen haben! Ich fürchte, wenn wir wieder hinausziehen –“

„Dann wir sie nehmen mit!“ ergänzte Said, dem die Sache höchst einfach und annehmbar erschien.

„Kannst Du denn Deine afrikanischen Begriffe nicht loswerden?“ schalt Gronau. „Hier nimmt man die Damen nicht so ohne weiteres mit, dazu muß man sie erst heirathen.“

„Dann wir sie heirathen!“ erklärte Djelma, der in diesem Punkte mit seinem Kollegen durchaus einverstanden war.

„Wir!“ rief Gronau, entrüstet über diese Begriffsverwirrung. „Ihr solltet Gott danken, daß Ihr mit dem Heirathen nichts zu thun habt, denn das ist ein Schicksal, vor dem der Himmel jeden Christenmenschen bewahren möge!“

„O, Master Gersdorf auch ist verheiratet,“ sagte Said, indem er auf den Rechtsanwalt deutete, an dessen Arme die rosige, allerliebste kleine Frau hing, „und das ist serr schön.“

„Ja – serr schön!“ stimmte Djelma bei, zum höchsten Mißvergnügen des Master Gronau, der sie beide „Schlingel“ nannte und sich entschieden dies Heirathsgespräch verbat; er wußte freilich längst, wie es um Ernst Waltenberg stand.

Dieser befand sich mit Gersdorf und den beiden Damen schon mitten unter der fröhlichen Menge; Erna kannte die meisten der Leute noch von früher her, und Wally wollte auch theilhaben an diesen Bekanntschaften, sie ließ sich Alt und Jung vorstellen, plauderte mit jedem und machte die drolligsten Versuche, gleichfalls im Dialekt zu sprechen, den sie gar nicht verstand.

Benno und Alice folgten langsamer, aber der Doktor war ein stummer Kavalier, er sprach kein Wort, sondern blickte nur mit scheuer Ehrfurcht auf die junge Dame, die an seinem Arme ging, und doch erschien sie ihm heute gar nicht mehr so vornehm und unnahbar wie bei der ersten Begegnung. Sie sah in dem leichten hellen Sommerkleide und dem blumengeschmückten Strohhütchen so einfach und anmuthig aus; das war der Rahmen, der für ihre Erscheinung paßte, wenn das Gesicht nur nicht so blaß gewesen wäre. Sie war offenbar etwas ängstlich inmitten der Volksmenge, und als jetzt vom Tanzplatze helles, übermütiges Jauchzen herüberklang, blieb sie stehen und blickte zaghaft zu ihrem Begleiter auf.

„Fürchten Sie sich, gnädiges Fräulein?“ fragte dieser. „Dann wollen wir umkehren!“

Alice schüttelte den Kopf und versetzte halblaut:

„Es ist mir nur ungewohnt, die Leute sind gewiß nicht schlimm.“

„Nein, das sind sie nicht!“ fiel Benno ein. „Bei unseren Wolkensteinern ist die Rohheit nicht zu Hause, das kann ich bezeugen, denn ich habe lange genug unter ihnen gelebt.“

„Ja, seit fünf Jahren, wie Wolfgang sagt! Wie haben Sie das nur ausgehalten?“

Die Frage klang so mitleidig, daß Benno lächelte.

„O, die Sache ist nicht so schlimm, wie Sie glauben. Es ist wohl ein einsames und mitunter auch schweres Leben, aber es bringt doch auch manche Freude.“

„Freude?“ wiederholte Alice zweifelnd, während sie die Augen zu ihm emporhob, diese großen braunen Augen, die den Doktor auch jetzt wieder so in Verwirrung brachten, daß er zu antworten vergaß.

Da auf einmal kam eine Bewegung in die Menge, sie erblickte jetzt erst Reinsfeld, der vorhin durch das Gasthaus gekommen war, und sofort war er von einem dichten Kreise umgeben.

„Der Herr Doktor! Unser Doktor! Da ist er!“ rief und klang es von allen Seiten, zwanzig, dreißig Hüte flogen zugleich von den Köpfen und ebenso viel braune Hände streckten sich dem jungen Arzte entgegen. Alt und Jung drängte sich an ihn heran, jeder wollte ein Wort, einen Gruß von ihm erlangen, jeder ihm ein „Grüß’ Gott“ sagen, die Leute brachen in einen förmlichen Jubel aus, als ihr „Doktor“ sich in ihrer Mitte zeigte.

Reinsfeld blickte besorgt auf seine Begleiterin; er fürchtete, dies Herandrängen werde sie ängstigen, aber Alice schien im Gegentheil Vergnügen an der stürmischen Begrüßung zu finden, sie schmiegte sich etwas fester an seinen Arm, sah aber ungemein heiter aus.

Der Doktor hatte den Leuten kaum erklärt, daß die junge Dame dem Tanze zuzusehen wünsche, als man sich ebenso stürmisch bemühte, ihnen Platz zu machen. Der ganze Zug ging mit zum Tanzplatze, die Reihen der Zuschauenden wurden rücksichtslos durchbrochen, ein Stuhl wurde herbeigeschafft und einige Minuten später saß Alice mitten in all dem Lärm und Jubel des Johannistanzes und die Burschen hatten sich rechts und links wie eine Ehrenwache aufgepflanzt und sorgten dafür, daß die Paare nicht gar zu nahe vorüberflogen und das gnädige Fräulein streiften. Es lag eine gewisse derbe Ritterlichkeit in der Art, mit der sie sich bemühten, der Begleiterin ihres Doktors einen Ehrenplatz zu schaffen.

„Die Leute scheinen Sie sehr zu lieben,“ sagte Alice. „Ich habe nicht geglaubt, daß die Bauern ihren Arzt so zu schätzen verständen.“

„Für gewöhnlich thun sie das auch nicht,“ erwiderte Reinsfeld. „Sie sehen in dem Arzte meist nur einen Mann, der ihnen Geld kostet, und sträuben sich gegen seine Hilfe. Zwischen mir und den Wolkensteinern herrscht aber ein Ausnahmeverhältniß. Wir haben schon schwere Zeiten zusammen durchgemacht und sie rechnen es mir hoch an, daß ich sie da nicht im Stiche gelassen habe und ohne Unterschied zu jedem gehe, der mich braucht, wenn mir viele auch nur ein ‚Vergelt’s Gott‘ sagen können. Es ist viel Armuth unter dem Volke, und man kann da wahrhaftig nicht immer an sich denken, ich wenigstens habe es nie gekonnt.“

„Ja, das weiß ich,“ fiel Alice mit ungewöhnlicher Lebhaftigkeit ein. „Sie haben auch damals nicht an sich gedacht, als es sich um eine bessere Stellung für Sie handelte, Wolfgang erwähnte es ja bei Ihrem Besuche.“

In dem Gesichte Bennos stieg eine flüchtige Röthe auf bei dieser Hindeutung.

„Erinnern Sie sich wirklich noch jener Aeußerung? Ja, Wolf hat mich damals arg ausgescholten, und er hatte auch recht. Es war eine äußerst vorteilhafte Stellung an dem Krankenhause einer größeren Stadt und durch einen günstigen Zufall waren mir Fürsprache und Vorzug vor den anderen Bewerbern gesichert worden, aber ich mußte mich persönlich vorstellen bei der Wahl und sofort eintreten, das wurde zur Bedingung gemacht.“

„Und Sie hatten gerade zu der Zeit Kranke hier am Orte?“

„Nicht hier im Orte allein, überall in meinem ganzen Bezirk. Der Würgengel der Diphtheritis war ausgebrochen und suchte sich seine Opfer unter den Kindern, welche die Ansteckung wohl aus der Schule mitbrachten. Fast in jedem Hause lag eins oder mehrere und die meisten waren schlimm dran, denn die Krankheit trat sehr bösartig auf – und gerade als sie ihren Höhepunkt erreicht hatte, kam das Anerbieten! Der nächste Arzt wohnt eine halbe Tagereise entfernt und unsere vornehmen Herren Kollegen aus Heilborn kommen nicht in Sturm und Schnee herauf zu den einsamen Höfen, sie sind den Leuten auch zu theuer. Ich zögerte von Tag zu Tag mit der Abreise und Wolfgang drängte immer wieder von neuem, aber ich konnte doch nicht fort – Nazi, komm’ einmal her!“

Er winkte einem etwa sechsjährigen Buben, der sich mit vorgedrängt hatte und nun vergnügt dem Tanze zuschaute. Es war ein draller kleiner Bursche, mit flachsblonden Haaren und einem frischen, pausbäckigen Gesicht; er kam schleunigst herbei, sehr stolz darauf, daß der Herr Doktor ihn rief, und sah zutraulich zu der jungen Dame empor, der er vorgestellt wurde.

„Sehen Sie sich den Buben einmal an, gnädiges Fräulein,“ fuhr Reinsfeld fort. „Nicht wahr, man merkt es ihm nicht an, daß er vor acht Monaten auf den Tod lag? Es ist der Enkel des alten Sepp, der früher im Wolkensteiner Hofe war, und er hat noch ein Schwesterchen, das damals auch beinahe am Sterben war – die beiden haben den Ausschlag gegeben! Grade vor meiner nun endlich doch beschlossenen Abreise kam der Sepp in einer Sturmnacht, um mich zu holen, der Alte weinte bitterlich und die junge Bäuerin, die Mutter, jammerte und schrie: ‚Gehen Sie nicht fort, Herr Doktor, der Bub’ stirbt mir und das Mädel auch, wenn Sie davongehen!‘ Nun, ich wußte am besten, wie noth den Kindern ärztliche Hilfe that, ihnen und all den anderen, die ich in Behandlung hatte. Der arme kleine Bursch kämpfte so jammervoll mit der schlimmen Krankheit, sah so angstvoll bittend zu mir auf, als sei ich der liebe Herrgott selbst – da blieb ich! Ich brachte es nicht übers Herz, davonzugehen und das kleine Volk allein zu lassen in seinem Elend , um mir eine behagliche Stellung zu sichern. Ich habe es freilich gemeldet, daß und warum ich nicht kommen könne, aber darauf konnten die Herren natürlich nicht warten; es waren ja genug andere Bewerber da, die Stelle wurde vergeben.“

„Und Sie?“ fragte Alice leise.

„Ich? Nun, gnädiges Fräulein, ich habe es nicht bereut, denn die meisten meiner kleinen Patienten habe ich damals glücklich durchgebracht und seitdem gehen die Wolkensteiner für mich durchs Feuer!“

Alice antwortete nicht, sie sah nur mit großen Augen zu dem Manne empor, der das alles so schlicht und einfach erzählte, weit entfernt davon, sich ein Verdienst daraus zu machen, daß er vielleicht seine ganze Zukunft geopfert hatte; dann aber zog sie den kleinen Nazi an sich und drückte einen Kuß auf das frische Gesicht des Bübchens. Es lag etwas unendlich Liebenswürdiges in der Bewegung und Bennos Augen leuchteten auf dabei, er verstand die wortlose Anerkennung, die darin lag.

„Nun, Benno, nehmen Sie auch hier die Huldigungen des versammelten Volkes entgegen?“ rief Wally, die soeben mit ihrem Manne herantrat, und Gersdorf fügte lachend hinzu:

„Das war ja ein förmlicher Triumphzug, der Dich und Fräulein Nordheim nach dem Tanzplatze geleitete; laß uns doch auch etwas von Deiner Popularität zukommen.“

Jetzt kamen auch Waltenberg und Erna, und die ganze Gesellschaft ließ sich gemüthlich in jener Ecke des Tanzplatzes nieder. Die arme Frau von Lasberg ahnte nicht, was ihre unzeitige Migräne angerichtet hatte. Alice, die so ängstlich vor jedem Lärm, jeder unpassenden Umgebung behütete Alice, saß jetzt dicht bei der ohrenzerreißenden Musik des ländlichen Orchesters, mitten in dem Juchzen und Schreien der Tanzenden, deren nägelbeschlagene Sohlen kräftigst den Takt stampften, mitten in den aufwirbelnden Staubwolken und befand sich merkwürdigerweise ganz vortrefflich dabei. Ihre bleichen Wangen hatten sich leise geröthet, die sonst so müden Augen strahlten förmlich vor Vergnügen und Benno Reinsfeld stand neben ihrem Stuhle, stolz und glückselig, wie noch nie in seinem Leben, und benahm sich wirklich und wahrhaftig wie ein Kavalier – es geschahen Zeichen und Wunder am heutigen Tage!

Die Popularität des Doktors hatte indessen auch ihre bedenkliche Seite, das sollte sich bald zeigen. Der kleine Nazi war von seiner Mutter mit geheimnißvoller Miene vom Tanzplatze geholt worden, da man ihm eine wichtige Mission anzuvertrauen beabsichtigte. Der alte Sepp hatte damals aus der Nordheimschen Villa eine Neuigkeit mitgebracht, die der Dienerschaft bereits für ausgemacht galt, die Nachricht, daß Fräulein von Thurgau und der fremde Herr aus Heilborn ein Paar werden sollten oder es eigentlich schon seien, und daß man nur auf die Rückkehr des Präsidenten warte, um die Verlobung zu feiern.

Die junge Bäuerin, Sepps Tochter, die bis zu ihrer Heirath gleichfalls im Wolkensteiner Hofe gewesen war und die alte Anhänglichkeit bewahrt hatte, war außer sich vor Freude gewesen, als sie das gnädige Fräulein heute wiedersah und ihre beiden Sprößlinge vorstellen durfte. Jetzt sollte der Nazi der Braut den Johannisspruch aufsagen und im Verein mit seiner Schwester die Sträußchen überreichen, welche die damit Beschenkten verpflichteten, mit einander zu tanzen. Das Fräulein kannte ja die alte Sitte und war gewiß erfreut, wenn man sie und ihren „Schatz“ damit begrüßte. Aus dem großen Strauß frischer Alpenblumen, der im Gastzimmer stand, wurden die schönsten ausgewählt und in aller Eile noch eine Generalprobe veranstaltet, bei welcher Nazi trefflich bestand, und nun sollte die Sache ihren Lauf nehmen.

Auf dem Tanzplatze war gerade eine Pause eingetreten, auch die Musik schwieg, als Nazi wieder aus der Bildfläche erschien. Er hielt in der einen Hand ein Sträußchen von Alpenrosen, an der anderen sein jüngeres Schwesterchen, das ein ähnliches Sträußchen trug, und schritt ernsthaft und feierlich auf die fremden Herrschaften zu, wie man es ihm eingeschärft hatte. Die Instruktion mußte aber wohl nicht hinreichend klar gewesen sein, denn die beiden Kleinen marschirten geradeswegs auf den Doktor und Alice los, boten ihnen die Blumen und Nazi begann seinen Spruch aufzusagen.

„Jesses, Nazi, das sind ja nicht die Rechten!“ rief halblaut und erschrocken die Bäuerin, die ihnen gefolgt war, aber Nazi ließ sich dadurch nicht stören. Für ihn gab es überhaupt nur einen „Rechten“, das war der Herr Doktor, und die junge Dame an dessen Seite mußte nothgedrungen auch die Rechte sein. Er betete daher tapfer seinen Spruch herunter und schloß treuherzig:

„Weist meine Blümel’n
Nimmer zurück,
Johannissegen
Schafft Euch das Glück!“

Alice nahm verwundert, aber freundlich das Sträußchen, welches das kleine Mädchen ihr reichte, Benno jedoch, der die Bedeutung kannte, geriet in grenzenlose Verlegenheit.

„Aber Bub’ – Mädel, was fällt Euch denn ein!“ rief er und versuchte, die Kinder abzuwehren, aber Nazi ließ sich so leicht nicht abweisen, sondern drückte energisch sein Sträußchen dem Herrn Doktor in die Hand.

„So nehmen Sie doch die Blumen!“ sagte Alice unbefangen. „Aber was bedeutet denn das Ganze?“

„Es ist der alte Johannis- und Segensspruch,“ erklärte Erna lächelnd, „und die Blumen bedeuten, daß Du nun unweigerlich mit dem Herrn Doktor tanzen mußt, Alice; ich fürchte, es geht nicht anders.“

„O, das ist köstlich!“ jubelte Wally, indem sie vor Entzücken in die Hände klatschte. „Natürlich muß Benno tanzen, unter allen Umständen!“

Der arme Reinsfeld wehrte sich in voller Verzweiflung, aber Waltenberg und Gersdorf nahmen lachend gegen ihn Partei und selbst Erna, die das verlegene Gesicht der Bäuerin sah und wohl ahnen mochte, wie die Sache eigentlich zusammenhing, trat für den Scherz ein.

„Du brauchst ja nur ein einziges Mal den Tanzplatz zu umkreisen, Alice,“ sagte sie. „Bringe der alten Sitte das Opfer, die Leute würden tiefgekränkt sein, wenn Du ihrem Doktor, von dem sie so viel halten, den Tanz verweigern wolltest, auf den er ihrer Meinung nach ein Recht hat. Mit dem Tanze würdest Du auch den Johannissegen zurückweisen, den sie Dir so freundlich bringen.“

Alice schien ihrerseits die Sache gar nicht so unerhört zu finden, sie lächelte nur, als sie sah, mit welcher Herzensangst der junge Arzt sich gegen den angesonnenen Tanz sträubte, und sich zu ihm wendend sagte sie halblaut:

„Wir werden uns wohl fügen müssen, Herr Doktor – meinen Sie nicht?“

Dem guten Benno, der höchstens einmal bei einem ländlichen Feste einen Tanz mitgemacht hatte, schwindelte es förmlich bei diesen Worten.

„Gnädiges Fräulein – Sie wollten –?“ fragte er.

Statt aller Antwort erhob sich Alice und legte ihren Arm in den seinigen; die Umstehenden, die das für selbstverständlich erachteten, machten schleunigst Platz, die Musik begann zu spielen und in der nächsten Minute schwebte das Paar dahin. –

Inzwischen hatte sich Frau von Lasberg einigermaßen erholt, die Stille und Kühle des abgelegenen Zimmerchens hatten ihr in der That wohlgethan; sie kam nun in voller Majestät angerauscht, fand aber zu ihrem großen Mißvergnügen den Ausgang verlegt. Auf der hohen steinernen Treppe, die zum Wirthshause führte, standen die Leute dichtgedrängt, unter ihnen auch Gronau mit Said und Djelma, selbst Wirth und Wirthin waren dabei. Alle reckten die Hälse und blickten gespannt über die Köpfe der Untenstehenden hinweg nach dem Tanzplatze, den man von hier aus übersehen konnte. Dort schien etwas ganz Besonderes vorzugehen.

Die Baronin war natürlich erhaben über eine derartige Neugierde und nebenbei entrüstet, daß niemand sie bemerkte; sie wandte sich daher an Said, der ihr am nächsten stand, und sagte befehlend:

„Said, schaffen Sie mir Platz! Die Herrschaften sind doch noch im Garten?“

„Nein – auf dem Tanzplatz,“ antwortete Said vergnügt.

Frau von Lasberg war empört, sie ahnte in dieser Unschicklichkeit wieder einen Streich dieses enfant terrible, dieser Wally.

„Und Fräulein Nordheim ist allein geblieben?“ fragte sie.

„Missis Nordheim tanzt mit Herrn Doktor!“ erklärte Said und grinste vor Freude, daß die weißen Zähne in dem schwarzen Gesichte glänzten.

Die Baronin zuckte die Achseln über das ungereimte Zeug, das dieser Mensch in seinem gebrochenen Deutsch zum Besten gab, aber unwillkürlich folgte sie doch der Richtung seiner Hand und da sah sie etwas, was sie völlig versteinerte: die kräftige Gestalt des Doktors und in seinen Armen eine junge Dame, im lichten Sommerkleide, mit einem blumengeschmückten Strohhütchen, ihren Zögling Alice Nordheim! Und die beiden tanzten miteinander! Fräulein Alice Nordheim tanzte mit dem Bauernarzt!

Das war mehr, als die ohnehin schon angegriffenen Nerven der Frau von Lasberg ertrugen, sie bekam einen Schwindelanfall. Said fing die Ohnmächtige zwar pflichtschuldigst auf, wußte aber augenscheinlich nicht, was er mit ihr anfangen sollte, und rief ängstlich:

„Master Hronau, Master Hronau, ich habe eine Dame!“

„Nun, dann behalte sie nur!“ sagte Veit, der einige Stufen tiefer stand, ohne sich umzuwenden; aber der Nothschrei Saids hatte auch den Wirth und die Wirthin aufmerksam gemacht, sie eilten herbei, um Hilfe zu leisten, all die Umstehenden kamen in Bewegung, und Djelma sprang eilig die Stufen herab und wollte nach dem Tanzplatze, als er von Gronau aufgehalten wurde.

„Halt! Wohin willst Du?“

„Holen den Doktor!“ rief der Malaye diensteifrig, aber Veit ergriff ihn am Arme und hielt ihn fest.

„Du bleibst hier!“ sagte er nachdrücklich. „Soll denn der arme Doktor gar kein Vergnügen haben? Erst laß ihn tanzen und dann kann er die alte – Djelma, Du bewegst schon wieder die Lippen, ich drehe Dir den Hals um, wenn Du das verwünschte Wort aussprichst – die gnädige Frau Baronin wieder zu sich bringen.“

Drüben war der Zwischenfall unbemerkt geblieben und das Paar tanzte weiter. Bennos Arm umfaßte die zarte Gestalt und sein Auge hing an dem lieblichen Gesichte, das jetzt nicht mehr bleich und matt, sondern rosig angehaucht von der raschen Bewegung, mit leuchtenden Augen zu ihm aufblickte, und in diesem Blick gingen ihm Oberstein und die ganze Welt unter. Oberstein aber war höchlich befriedigt von diesem Verlauf der Sache und gab seinen Beifall in der unzweideutigsten Weise kund: die Musikanten fiedelten mit doppelter Energie, die Burschen und Mädchen jauchzten, Nazi und sein Schwesterchen hüpften hochvergnügt nach dem Takte mit und dazu sangen die sämmtlichen Wolkensteiner im Chor.

„Weist meine Blümel’n
Nimmer zurück,
Johannissegen
Schafft Euch das Glück!“

[629] Beinahe vier Wochen waren vergangen und der Juli neigte sich schon seinem Ende zu, als Präsident Nordheim nach seiner Bergvilla zurückkehrte. Die Zwischenzeit hatte ihm und der Bahngesellschaft eine Veränderung gebracht, die allerdings kaum mehr ein Verlust genannt werden konnte. Der Chefingenieur, den seine Kränklichkeit schon längst genöthigt hatte, die Oberleitung, wenn nicht dem Namen, so doch der That nach, in Elmhorsts Hände zu legen, war gestorben und über seinen Nachfolger gab es keine Meinungsverschiedenheit; der Schwiegersohn des Präsidenten, der Erbauer der Wolkensteiner Brücke, wurde einstimmig erwählt. Er trat damit an die Spitze des großen Werkes, das seiner Vollendung so nahe war.

Es war einige Stunden nach der Ankunft Nordheims, und dieser hatte sich mit Wolfgang in sein Arbeitszimmer zurückgezogen, um das Ereigniß, das sie schon brieflich verhandelt hatten, eingehend zu besprechen. Sie waren beide gleich befriedigt davon.

„Deine Wahl war ja eigentlich nur eine Form,“ sagte der Präsident. „Sie wurde ohne jede Debatte genehmigt, denn ein anderer als Du kam überhaupt nicht in Frage; aber ich gratulire dem Herrn Chefingenieur.“

Elmhorst lächelte flüchtig, aber es lag darin nichts von jenem stolzen, freudigen Selbstbewußtsein, mit dem der junge Oberingenieur einst seine Stellung angetreten hatte, und damals hatte er doch nur die erste Stufe einer Laufbahn erreicht, die sich nun so schnell und glänzend vollendete. Es war eine Veränderung mit ihm vorgegangen, er sah bleich und düster aus, und in den Augen, die sonst so kalt und scharf blickten, deren Tiefe so eisig war, barg sich jetzt ein Feuer, das bisweilen jäh und unstät aufflackerte und dann ebenso schnell wieder erlosch. Auch im Gespräch wollte die kühle Ruhe und Ueberlegenheit nicht immer Stand halten, trotz aller Selbstbeherrschung; es war, als ob ein innerer Kampf den Mann verzehre, der einst so sicher und fest seinem Ziele zuschritt, ohne nach rechts oder nach links zu blicken – ein ruheloser, qualvoller Kampf.

„Ich danke, Papa,“ erwiderte er. „Man hat mir immerhin einen Beweis großen und unumschränkten Vertrauens gegeben, den ich zu schätzen weiß, und ich gestehe auch, es ist mir eine Genugthuung, daß die Vollendung des Werkes, dem ich meine beste Kraft geopfert habe, nunmehr an meinen Namen geknüpft bleibt.“

„Legst Du so großen Werth darauf?“ fragte Nordheim gleichgültig. „Freilich, in Deinen Jahren ist man noch ehrgeizig, Du wirst Dir das bald abgewöhnen, wenn erst höhere Interessen in den Vordergrund treten.“

„Höhere, als die Ehre und der Stolz, ein großes Werk zu schaffen?“

„Nun denn, realere Interessen, die schließlich doch bei allen Dingen den Ausschlag geben, und darüber wollte ich eben mit Dir reden. Du weißt, daß ich längst die Absicht hegte, mich nach Vollendung der Bahn von der ganzen Sache zurückzuziehen.“

„Gewiß, Du hast mir schon vor Monaten davon gesprochen und der Entschluß hat mich schon damals befremdet. Warum willst Du zurücktreten von einem Unternehmen, das Du ins Leben gerufen hast, dessen eigentlicher Schöpfer Du bist?“

„Weil es mir nicht mehr einträglich genug erscheint,“ sagte der Präsident kühl. „Die Baukosten stellen sich sehr hoch, viel höher, als ich glaubte. Wer konnte denn auch mit all den Widerwärtigkeiten und Katastrophen rechnen, die wir durchmachen mußten, und dazu hatte Dein Vorgänger die Manie, so unglaublich solid zu bauen. Er brachte mich oft zur Verzweiflung mit dieser Solidität, die Unsummen gekostet hat.“

„Verzeih, Papa, aber diese ‚Manie‘ habe ich auch!“ erklärte Wolfgang mit einigem Nachdruck.

„Natürlich! Du bist bisher nur Ingenieur der Bahn gewesen und es konnte Dir sehr gleichgültig sein, ob sie einige Millionen mehr kostet oder nicht. Wenn Du bei künftigen Unternehmungen als mein Schwiegersohn pekuniär betheiligt bist, wirst Du anders darüber denken.“

„In solchen Punkten – nein!“

„Nun, dann mußt Du es lernen! In diesem Falle können wir uns übrigens nachdrücklichst auf die Vortrefflichkeit der ausgeführten Bauten stützen, wenn es zur Abschätzung kommt, und das wird voraussichtlich noch in diesem Jahre geschehen. Die Aktionäre müssen die Bahn übernehmen, das steht längst bei mir fest und ich habe bereits die einleitenden Schritte dazu gethan. Ich bin mit Millionen betheiligt, wo die anderen höchstens Zehntausende gezeichnet haben, und kann mich tatsächlich als Eigenthümer des Unternehmens betrachten. Ich werde also meine Bedingungen stellen und aus diesem Grunde ist es mir sehr lieb, daß Du jetzt als Chefingenieur an der Spitze stehst. Wir brauchen dann nicht Fremde ins Vertrauen zu ziehen, sondern gehen Hand in Hand.“

„Ich stehe Dir ganz zur Verfügung, Papa, das weißt Du, aber wie die Dinge liegen, wird die Abschätzung ziemlich hoch ausfallen.“

„Das hoffe ich!“ sagte Nordheim langsam und bedeutungsvoll. „Uebrigens ist die Berechnung schon zum größten Theil fertiggestellt, so etwas muß ja lange vorbereitet werden und fordert auch einen gewiegten Geschäftsmann. Dich konnte ich dafür nicht in Anspruch nehmen, Du hast genug mit der technischen Leitung zu thun, Du sollst schließlich die Abschätzungen nur revidiren und bestätigen und ich rechne in dieser Beziehung unbedingt auf Dich, Wolfgang. Das unumschränkte Vertrauen, das Du infolge Deiner bisherigen Leistungen genießest, wird uns die Sache sehr erleichtern.“

Wolfgang sah etwas befremdet aus; es war ja selbstverständlich, daß er seine Pflicht that und dem Schwiegervater möglichst zur Seite stand, aber hinter dessen Worten schien sich noch irgend etwas anderes zu bergen, sie klangen ganz eigentümlich. Zu einer weiteren Erklärung kam es indessen nicht, denn der Präsident brach ab und erhob sich.

„Schon vier Uhr! Wir werden bald zu Tische gehen; komm, Wolfgang, wir wollen die Damen nicht warten lassen.“

„Du hast Waltenberg mitgebracht? “ fragte Elmhorst, indem er gleichfalls aufstand.

„Ja, er empfing mich in Heilborn und begleitete mich hierher. Seine Geduld scheint in den vier Wochen auf eine harte Probe gestellt worden zu sein. Ich begreife den Mann nicht! Er ist doch stolz und eigenwillig genug, hochmüthig sogar in gewisser Hinsicht und läßt sich von den Launen eines Mädchens am Narrenseil führen. Jetzt werde ich aber ein ernstes Wort mit meinem Fräulein Nichte reden und ihr ein Entweder – oder stellen, die Sache muß endlich einmal zur Entscheidung kommen!“

Wolfgang schwieg, aber das unstäte Feuer in seinen Augen flammte wieder auf, heiß und verzehrend wie der Kampf in seinem Inneren. Er mußte es ja Tag für Tag mit ansehen, wie ein anderer offen und rückhaltlos um den Preis warb, der ihm schließlich doch wohl zufallen würde – das war mehr als Folterqual und sie wurde nicht leichter durch das Bewußtsein, daß sie verdient sei.

Sie hatten inzwischen das Nebenzimmer durchschritten und traten in den Salon, wo ein Diener soeben beschäftigt war, die Vorhänge aufzuziehen, die der Sonne wegen herabgelassen waren. Nordheim fragte, ob die Damen im Garten seien.

„Nur Baroneß Thurgau und Herr Waltenberg,“ lautete die Antwort. „Das gnädige Fräulein empfängt in ihrem Zimmer den Herrn Doktor.“

„Ah, der neue Arzt, den Du aufgespürt hast,“ sagte der Präsident, sich an seinen Schwiegersohn wendend. „Es ist ja wohl ein Jugendfreund von Dir? Jedenfalls versteht er seine Sache, denn Alice hat sich merkwürdig erholt in der kurzen Zeit. Ich war ganz überrascht von ihrem Aussehen und ihrer ungewohnten Lebhaftigkeit; die Kur des Herrn Doktors scheint förmlich Wunder gethan zu haben. Wie heißt denn eigentlich dieser Aeskulap von Oberstein? Du vergaßest in Deinen Briefen regelmäßig, den Namen zu nennen.“

Wolfgang hatte das allerdings vermieden, wenn auch nicht aus Vergeßlichkeit, jetzt aber konnte er der „Grille“ seines Freundes, wie er es nannte, nicht länger Rechnung tragen und antwortete ruhig:

„Doktor Benno Reinsfeld.“

Nordheim wendete sich mit einer jähen Bewegung um.

„Wie sagtest Du?“

„Benno Reinsfeld,“ wiederholte Elmhorst, betroffen durch den heftigen Ton der Frage.

Er hatte geglaubt, der Präsident werde sich kaum noch des Namens erinnern und jedenfalls nicht das geringste Interesse mehr an den alten Beziehungen nehmen, denen der jetzige Millionär so fern stand. Jene Erinnerung mußte aber doch wohl tief und nachhaltig sein, das sah man; Nordheims Gesicht zeigte eine fahle Blässe, es prägte sich Bestürzung, ja Schrecken darin aus und dieselbe Empfindung verrieth sich auch in seiner Stimme, als er rief:

„Und dieser Mann ist in Oberstein? ist setzt sogar in meinem Hause?“

Wolfgang wollte antworten, aber in dem Augenblick wurde die Seitenthür geöffnet und Benno selbst trat ein. Er stutzte zwar, als er den Präsidenten erblickte, blieb aber ruhig stehen und verneigte sich. Er hatte ja soeben von Alice gehört, daß ihr Vater angekommen sei, und mußte auf diese Begegnung gefaßt sein.

Nordheim errieth auf der Stelle, wen er vor sich habe, vielleicht entsann er sich auch noch der Persönlichkeit des jungen Arztes, den er vor drei Jahren flüchtig im Wolkensteiner Hofe gesehen hatte, ohne daß ihm der Name genannt wurde, und er war Weltmann genug, sich augenblicklich zu fassen. Scheinbar ganz ruhig und unbewegt nahm er die Vorstellung entgegen, aber auf diesen unbewegten Zügen lag noch immer jene eigentümliche Blässe.

„Mein Schwiegersohn hat mir bereits brieflich mitgeteilt, daß er Ihren Rath für seine Braut in Anspruch genommen hat,“ sagte er mit kühler Artigkeit. „Ich kann Ihnen nur dankbar sein, Herr Doktor, denn Ihre Bemühungen scheinen ein sehr günstiges Resultat zu haben, meine Tochter hat sich außerordentlich erholt. Sie stellen eine andere Diagnose als Ihre Herren Kollegen, wie ich höre?“

„Ich glaube bei dem Fräulein nur ein hochgradiges Nervenleiden annehmen zu dürfen,“ versetzte Benno bescheiden, „und habe danach meine Behandlung eingerichtet.“

„So? Die anderen Herren nahmen ziemlich allgemein ein Herzleiden an.“

„Ich weiß es, kann mich aber dieser Meinung nicht anschließen und der Erfolg meiner Kur scheint mir so auch Recht zu geben. Ich lasse die junge Dame, der jede stärkere Bewegung untersagt war, täglich Spaziergänge machen und diese täglich weiter ausdehnen, habe ihr auch ein mäßiges Bergsteigen angerathen und sie ersucht, möglichst den ganzen Tag im Freien zuzubringen, da die Höhenluft außerordentlich günstig auf ihr Befinden wirkt; bis jetzt habe ich alle Ursache, damit zufrieden zu sein.“

„Gewiß, das sind wir alle,“ stimmte der Präsident bei, dessen Blick sich bei dieser im ruhigsten Tone geführten Unterhaltung förmlich einbohrte in die Züge des jungen Arztes. „Wie gesagt, ich bin Ihnen sehr dankbar – Sie leben in Oberstein, wie Wolfgang mir schrieb? Sind Sie schon lange dort?“

„Seit fünf Jahren, Herr Präsident.“

„Und Sie denken auch dort zu bleiben?“

„Wenigstens vorläufig, bis sich irgend eine andere Stellung findet.“

„Nun, das wird doch keine Schwierigkeiten haben,“ warf Nordheim hin und sprach weiter.

Er war sehr höflich, aber auch sehr vornehm und augenscheinlich bemüht, eine unübersteigliche Schranke aufzurichten, die jede mögliche Vertraulichkeit ausschloß. Kein Wort, kein Blick verrieth, daß er wußte, der Sohn seines einstigen Jugendfreundes stehe vor ihm; trotz seines anscheinend verbindlichen Wesens war er doch so fremd und eisig wie nur möglich.

Benno fühlte das sehr gut, war aber keineswegs überrascht dadurch, denn er hatte nichts anderes erwartet. Er wußte ja, daß die Erinnerung, die sein Name wachrief, für den Präsidenten keine angenehme war, und nahm in seiner Bescheidenheit gar nicht an, daß seine ärztlichen Erfolge bei der Tochter den Vater umstimmen könnten. Er dachte natürlich nicht daran, Beziehungen geltend zu machen, die von jener Seite so vollständig ignorirt wurden, aber die Begegnung war ihm peinlich, und er ergriff die erste Gelegenheit, sich zu verabschieden.

Nordheim blickte ihm einige Sekunden lang schweigend, aber mit finster zusammengezogenen Brauen nach, dann wandte er sich zu Wolfgang und fragte kurz und scharf:

„Wie kommst Du zu dieser Bekanntschaft?“

„Ich habe es Dir ja bereits gesagt, Reinsfeld ist mein Jugendfreund, den ich zufällig hier in Oberstein wiederfand.“

„Und Du verkehrst Jahre lang mit ihm, ohne mir auch nur seinen Namen zu nennen?“

„Das geschah auf Bennos ausdrücklichen Wunsch, denn Dein Name ist ihm so wenig fremd wie Dir der seinige. Du willst allerdings nicht daran erinnert sein, daß sein Vater Dein Studiengenosse war – das sah ich heute.“

„Was weißt Du davon?“ fuhr der Präsident heftig auf. „Hat der Doktor Dir davon gesprochen?“

„Allerdings, und er teilte mir auch mit, daß die einstige Jugendfreundschaft mit einem vollständigen Bruche geendigt hat.“

Nordheim stützte wie zufällig die Hand auf die Lehne des Sessels, der vor ihm stand; sein Gesicht war wieder bleich geworden und seine Stimme klang fast heiser, als er fragte.

„So – und was weiß er darüber?“

„Nicht das Geringste! Er war ja damals noch ein Knabe und hat nie den Grund jenes Bruches erfahren, aber er war viel zu stolz, sich Dir, der so hoch gestiegen ist, in irgend einer Weise zu nähern, deshalb nahm er mir das Versprechen ab, ihn nicht zu nennen, so lange das zu vermeiden war.“

Nordheims Brust hob sich unwillkürlich unter einem tiefen Athemzuge, aber er antwortete nicht, sondern trat an das Fenster.

„Mir scheint, Doktor Reinsfeld hatte trotz alledem Anspruch auf einen wärmeren Empfang,“ hob Wolfgang wieder an, den die eisige Art, mit der man seinen Freund behandelte, verletzt hatte. „Ich kann natürlich nicht beurtheilen was damals geschehen ist –“

„Ich wünsche auch nicht, daß Du Dich damit abgiebst!“ fiel ihm der Präsident schroff ins Wort. „Es waren rein persönliche Verhältnisse, über die mir allein ein Urtheil zusteht, aber Du wußtest, daß mir dieser Reinsfeld nicht sympathisch sein konnte, und da begreife ich nicht, wie Du dazu kamst, ihn in mein Haus einzuführen und ihm die Behandlung meiner Tochter zu übergeben. Das ist eine Eigenmächtigkeit, die ich durchaus nicht billige.“

Er war offenbar aufs äußerste gereizt durch jene Begegnung und ließ nun diese Gereiztheit an seinem Schwiegersohne aus, aber dieser schien durchaus nicht gesonnen, einen Ton zu dulden, den er heute zum ersten Mal hörte.

„Ich bedaure es, Papa, wenn Dir die Sache unangenehm ist,“ sagte er kalt, „aber von Eigenmächtigkeit kann hier wohl nicht die Rede sein. Ich habe doch zweifellos das Recht, für meine Braut einen Arzt zu wählen, der mein volles Vertrauen besitzt und dieses Vertrauen, wie Du selbst zugeben mußt, so glänzend rechtfertigt. Ich konnte unmöglich voraussetzen, daß eine alte Feindschaft, die vor mehr als zwanzig Jahren entstand und an der Benno ebenso unschuldig wie unbetheiligt ist, Dich so ungerecht machen würde. Dein ehemaliger Freund ist ja längst todt und damit sollte auch alles andere begraben und vergessen sein.“

„Darüber habe ich doch wohl allein zu entscheiden!“ unterbrach ihn Nordheim mit steigender Heftigkeit. „Genug, ich will nicht, daß dieser Mensch in meinem Hause verkehrt. Ich werde ihm ein Honorar schicken – selbstverständlich ein sehr hohes Honorar – und mir seine ferneren Besuche unter irgend einem Vorwande verbitten. Dich aber ersuche ich gleichfalls, diesen Umgang aufzugeben – ich wünsche ihn nun einmal nicht.“

Die Worte klangen wie ein Befehl, aber der junge Chefingenieur war nicht der Mann, der sich befehlen ließ, er trat einen Schritt zurück und seine Augen sprühten auf.

„Ich glaube Dir bereits gesagt zu haben, Papa, daß Doktor Reinsfeld mein Freund ist,“ versetzte er mit aller Schärfe, „und da kann selbstverständlich von Aufgeben keine Rede sein. Es ist eine Beleidigung für ihn, wenn man ihn nach der aufopfernden Weise, in der er sich um Alices Gesundheit bemüht hat, mit einem ‚Honorar‘ verabschiedet, noch ehe die Kur beendet ist, und ich muß Dich überhaupt bitten, in einem andern Tone von ihm zu sprechen. Benno ist ein Mann, der die höchste Achtung verdient, er verbirgt unter seinem anspruchslosen und etwas unbeholfenen Wesen Kenntnisse und Charaktereigenschaften, die man nur bewundern kann.“

„Wirklich?“ Der Präsident lachte laut und spöttisch auf. „Ich lerne Dich ja heute von einer ganz neuen Seite kennen, Wolfgang, als schwärmerischen und aufopfernden Freund – ich hätte Dir das kaum zugetraut.“

„Wenigstens pflege ich für meine Freunde einzustehen und sie nicht im Stiche zu lassen,“ war die sehr bestimmte Antwort.

„Ich wiederhole Dir aber, daß ich diesen Mann in meinem Hause nicht sehen will,“ sagte Nordheim herrisch, „und darüber habe ich hoffentlich zu bestimmen.“

„Gewiß, aber in meinem künftigen Hause wird Benno stets ein willkommener Gast sein und ich werde mich rückhaltlos gegen ihn aussprechen, wenn ich wirklich genöthigt sein sollte, Deinen Wunsch hinsichtlich seines Fortbleibens zur Sprache zu bringen und Dich – zu entschuldigen.“

Die Worte ließen an Energie nichts zu wünschen übrig; es war das erste Mal, daß eine Meinungsverschiedenheit zwischen den beiden entstand; bisher waren ihre Ansichten und Interessen durchaus gleichartig gewesen, aber Wolfgang zeigte schon bei diesem ersten Konflikt, daß er kein fügsamer Schwiegersohn war und seinen Standpunkt mit aller Entschiedenheit zu wahren wußte. Er gab sicher nicht nach, das sah auch der Präsident, aber dieser mochte wohl irgend einen Grund haben, den Streit nicht auf die Spitze zu treiben, denn er lenkte ein:

„Der Gegenstand ist es gar nicht werth, daß wir uns so darüber ereifern,“ sagte er achselzuckend. „Was geht mich im Grunde dieser Doktor Reinsfeld an! Ich will eine unangenehme Erinnerung loswerden mit seinem Anblick – weiter nichts. Trotz Deiner begeisterten Lobpreisung erlaube ich mir, seine Persönlichkeit ebenso unbedeutend zu finden, als der Vorfall es war, der mich gegen seinen Vater einnahm. Also lassen wir meinetwegen die Sache auf sich beruhen!“

Er hätte seinen Schwiegersohn nicht mehr in Erstaunen setzen können, als durch diese ungewohnte Nachgiebigkeit. Die Gleichgültigkeit, die er jetzt zeigte, stand im vollsten Widerspruch mit seiner fieberhaften Gereiztheit von vorhin. Wolfgang schwieg zwar und schien zufriedengestellt, aber jene alte Feindschaft gewann doch jetzt eine ganz andere Bedeutung für ihn. Er war fest überzeugt, daß es sich damals nicht um etwas Unbedeutendes gehandelt hatte; ein Mann wie Nordheim hielt nicht zwanzig Jahre lang die Erinnerung an irgend eine Bagatelle fest.

Jetzt trat Alice ein, zur offenbaren Erleichterung des Präsidenten, der mit keiner Silbe den ärztlichen Besuch berührte, sondern sofort von anderen Dingen zu sprechen begann, und auch Wolfgang gab sich Mühe, seine Verstimmung zu verbergen. Die junge Dame bemerkte in der That nichts davon, sie war im Begriff, in den Garten zu gehen, um Erna aufzusuchen, und der Vater sowohl als der Bräutigam schlossen sich ihr an.

Der Garten der Bergvilla entsprach der hohen Lage, die gewöhnlichen Ziersträuche und Blumen konnten nicht gedeihen an diesem Orte, der sich nur eines so kurzen Sommers erfreute und den größten Theil des Jahres im Schnee begraben lag. Die Anlagen, die man auf der ehemaligen Matte rings um das Haus geschaffen hatte, waren neu und sonnig, aber der kleine Tannenwald, der sich an den Garten anschloß und bis zur Bergwand ausdehnte, bot in der Sonnengluth einen kühlen, schattigen Aufenthalt.

Man hatte eine Art Naturpark daraus gemacht, dem die riesigen, moosbedeckten Felsblöcke, welche, von einem einstigen Bergsturz herrührend, überall zerstreut lagen, an höchst romantisches Ansehen gaben.

Auf der Bank, die am Fuße eines dieser Felsen errichtet war, saß Baroneß Thurgau und vor ihr stand Ernst Waltenberg, aber nicht in ruhigem Gespräche; er war aufgesprungen und hatte sich ihr in den Weg gestellt, als wolle er eine Flucht verhindern.

[649] Waltenberg stand in großer Erregung vor Erna. „Nein, mein Fräulein, diesmal dulde ich nicht wieder Ihr Entweichen!“ rief er. „Sie haben mich nur zu oft damit gestraft, wenn ich endlich das ansprechen wollte, was ich schon mondenlang auf den Lippen trage. Bleiben Sie – ich will und muß endlich Gewißheit haben!“

Erna mochte wohl fühlen, daß sie diesmal Stand halten müsse, denn sie machte keinen Versuch mehr, auszuweichen, aber der Ausdruck ihres Gesichtes verrieth, daß sie diese Erklärung fürchtete, und kein Wort, kein Blick ermuthigte den Mann, der jetzt in steigender Bewegung fortfuhr:

„Ich hätte sie mir längst holen müssen, diese Gewißheit, aber ich bin feig gewesen, zum ersten Male in meinem Leben. Sie ahnen nicht, Erna, was Sie mir angethan haben mit dieser stummen Abwehr, mit diesem ewigen Ausweichen! Wenn ich

eine Antwort erzwingen wollte, dann las ich in Ihren Augen immer und immer wieder ein Nein und das – hätte ich nicht ertragen können.“

„Herr Waltenberg, hören Sie mich an!“ sagte das junge Mädchen leise.

Herr Waltenberg!“ wiederholte er bitter. „Haben Sie keinen andern Namen für mich, bin ich Ihnen so fremd geblieben, daß Sie mich nicht wenigstens ein einziges Mal Ernst nennen können? Es ist Ihnen ja längst kein Geheimniß mehr, daß ich Sie liebe, mit aller Gluth der Leidenschaft, daß ich um Sie werbe, wie um das höchste aller Güter. Es gab eine Zeit, wo mir die schrankenlose Freiheit dies Höchste war, wo ich zurückschreckte vor dem Gedanken an irgend ein Band, das mich fesseln könnte; jetzt ist das alles versunken und vergessen. Was ist mir die weite Welt, was die Freiheit ohne Sie! Ich will ja nichts mehr auf Erden, als nur Sie allein!“

Er hatte stürmisch ihre Hand ergriffen, die ihm nicht entzogen wurde, aber diese Hand lag kalt und regungslos in der seinigen und jetzt hob Erna langsam das Auge zu ihm empor, es war ein tiefernster und tieftrauriger Blick.

„Ich weiß es, daß Sie mich lieben, Ernst,“ entgegnete sie gepreßt, „und ich zweifle nicht an der Tiefe und Wahrheit Ihrer Empfindungen, aber ich kann Ihnen keine Gegenliebe bieten.“

Er ließ jäh und heftig ihre Hand sacken und trat zurück.

„Warum nicht?“ fragte er herb.

„Eine seltsame Frage! Läßt sich die Liebe erzwingen?“

„O ja! Die glühende, schrankenlose Leidenschaft eines Mannes erzwingt sich immer Gegenliebe – wenn ihm kein anderer im Wege steht.“

Erna bebte leise zusammen und eine dunkle Röthe stieg langsam in ihrem Antlitz auf, aber sie schwieg. Waltenberg, der mit athemloser Spannung in ihren Zügen forschte, entging das nicht, sein dunkles Antlitz wurde plötzlich fahl, und seine Stimme gewann einen beinahe drohenden Klang.

„Erna, warum sind Sie mir ausgewichen bis zu dieser Stunde? Warum weigern sie mir die Gegenliebe? Geben Sie mir Wahrheit, um jeden Preis – lieben Sie einen anderen?“

Es trat eine kurze Pause ein, Erna schien die Antwort verweigern zu wollen, es war auch eine harte Zumutung für das stolze Mädchen, vor fremden Ohren das auszusprechen, was sie sich selbst nicht eingestand, aber ein Blick in das furchtbar erregte Gesicht Ernsts brachte sie zum Entschluß.

„Ich will Sie in dieser Stunde nicht täuschen,“ sagte sie fest. „Ich habe geliebt – es war ein Traum, dem ein herbes, bitteres Erwachen folgte.“

„So war der Mann Ihrer nicht würdig?“

„Er war keiner reinen und großen Liebe fähig, das mußte ich erfahren und da riß auch ich diese Liebe aus meinem Herzen. Fragen Sie nicht weiter, ich bitte Sie, es ist zu Ende und – begraben!“

„Ah, er ist also todt?“

Es lag ein fast wilder Triumph in der Frage und noch wilder war der Blick, der dabei aufsprühte, er drohte selbst dem vermeinten Todten noch mit glühendem Hasse. Erna sah das und plötzlich überfluthete sie eine heiße Angst. Sie suchte instinktmäßig die Gefahr abzuwehren, die so nahe war, und ehe sie sich der Lüge noch bewußt geworden war, hatte sie schon bejahend das Haupt gesenkt und damit den Irrthum besiegelt.

Ernst athmete tief auf und langsam kehrte die Farbe in seine Wangen zurück.

„Nun denn, mit einem Todten will ich den Kampf aufnehmen! Die Erinnerung an einen Schatten fürchte ich nicht, sie soll und muß weichen in meinen Armen – Erna, werden Sie mein!“

Sie wich bestürzt, erschrocken zurück bei der glühenden Bitte.

„Sie bestehen noch darauf? Und ich habe Ihnen doch gesagt, daß ich Ihnen keine Liebe zu geben vermag; ich glaubte, Ihr Stolz würde an solches Geständniß nicht ertragen.“

„Mein Stolz – wohin ist der gekommen!“ brach er stürmisch aus. „Glauben Sie denn, ich hätte es vermocht, monatelang geduldig um Sie zu werben, ohne daß mir auch nur ein Wort der Ermuthigung zu theil wurde, wenn ich noch der frühere Ernst wäre, der da glaubte, vom Schicksal nur fordern zu dürfen? – Jetzt habe ich bitten gelernt! Mit Ihnen nahte mir das Verhängniß, das jeden einmal erreicht, es bannt mich an Sie mit unwiderstehlicher Gewalt. Erna, ich will mein Wanderleben aufgeben, wenn Du es forderst, und wenn Du in jenen Sonnenländern, die ich Dir so gern zeigen möchte, Heimweh fühlst, so will ich mit Dir zurückkehren in den kalten düsteren Norden, will die Enge und die Fesseln dieses Lebens auf mich nehmen, um Deinetwillen. Du weißt nicht, was Du schon aus mir gemacht hast, was Du noch aus mir machen kannst, aber sei nicht so kalt, so empfindungslos wie Deine Alpenfee da droben auf dem Eisthron. Ich muß Dich erringen und Dich besitzen und sollte ich sterben in dem Kusse, wie Eure Sagen drohen!“

Das war die vollste Sprache der Leidenschaft, die im Sturme alles mit sich fortriß; sie klingt ja immer berauschend für das Ohr einer Frau und hier legte sie sich überdies wie heilender Balsam auf eine Wunde, die noch immer blutete. Es war eine so herbe Demüthigung gewesen, verleugnet und aufgegeben zu werden, nicht um einer anderen willen – Erna wußte nur zu gut, daß diese andere dem Manne nichts war, der nur seinen Ehrgeiz, seine Zukunft im Auge hatte – aber er hatte sie doch diesem Ehrgeiz geopfert. Hier wurde sie geliebt, vergöttert, hier fluthete ihr eine Leidenschaft entgegen, die keine Berechnung und keine Schranken kannte. Hier wollte man nichts als nur sie allein. Ihr Stolz triumphirte und jetzt stürmten auch das Mitleid, das Bewußtsein, ein Glück gewähren zu können, auf sie ein. Alles, alles drängte sie zu dem erflehten Ja und doch hielt ein unsichtbares Etwas sie zurück, doch tauchte gerade in diesem Augenblick der Entscheidung ein anderes Antlitz vor ihr auf, das so todtenbleich erschien in dem weißen Mondlichte, und eine bebende Stimme fragte: Hätten Sie den Mann lieben können, der so emporsteigt?

„Erna, ich harre auf Antwort!“ mahnte Waltenberg in fieberhafter Ungeduld. „Spanne mich nicht länger auf die Folter! Willst Du mich denn auf den Knieen vor Dir sehen?“

Er stürzte wirklich vor ihr nieder und preßte seine Lippen auf ihre Hand, ihr Blick irrte wie hilfesuchend umher. Da auf einmal zuckte sie zusammen und flüsterte hastig und leise:

„Um Gotteswillen, Ernst, stehen Sie auf! Wir sind nicht allein!“

Er sprang rasch empor und folgte der Richtung ihrer Augen, in einiger Entfernung stand der Präsident mit seiner Tochter und seinem Schwiegersohn, die soeben zwischen den Bäumen hervorgetreten waren.

Sie hatten alle die Scene mit angesehen; aber Nordheim bemerkte recht gut, daß die Entscheidung noch nicht gefallen war und daß seine starrsinnige Nichte ihm noch im letzten Augenblick seinen Plan durchkreuzen konnte. Er beeilte sich deshalb, eine unwiderrufliche Thatsache zu schaffen und kam mit raschen Schritten näher.

„Wir bitten tausendmal um Entschuldigung!“ rief er lachend. „Es war durchaus nicht unsere Absicht, zu stören, aber da es nun einmal geschehen ist, so gratulire ich Dir von Herzen, mein Kind, und Ihnen auch, lieber Waltenberg! Ueberraschend kommt uns die Sache allerdings nicht, wir wußten ja längst, wie es mit Euch beiden stand, und ich merkte schon vorhin bei meiner Ankunft, daß eine Verlobung in der Luft lag. Nun, Alice, Wolfgang, wollt Ihr dem Brautpaare nicht auch gratuliren?“

Damit umarmte er seine Nichte väterlich, schüttelte Waltenberg die Hand und überstürzte die beiden so mit seiner Anerkennung und seinen Glückwünschen, daß ein Zurückwachen Ernas gar nicht möglich war. Sie ließ alles halb willenlos über sich ergehen, ließ es geschehen, daß auch Alice sie umarmte, daß Ernst sie als Braut in die Arme schloß, sie kam erst wieder zur Besinnung, als Wolfgang sich ihr nahte.

„Ich spreche Ihnen gleichfalls meinen Glückwunsch aus, gnädiges Fräulein!“ sagte er. Seine Stimme war ruhig, wenn auch völlig tonlos, und auch das starre, unbewegliche Antlitz verrieth nichts von dem Sturme, der in seinem Innern tobte. Aber sein Auge begegnete dem ihrigen nur einen Moment lang und dieser Blick sagte ihr, daß sie gerächt sei an dem Manne, der seine Liebe dem Ehrgeiz und dem Golde geopfert hatte. Jetzt, wo er sie in den Armen eines anderen sah, fühlte er doch, wie erbärmlich die Rechnung gewesen war, fühlte, daß er das Glück seines Lebens verkauft hatte.



„Wie ich Dir sage, Wolf, ich weiß nicht, was ich von der Sache denken soll. Ich habe mich weder um die Stellung bemüht, noch überhaupt davon gewußt, und jetzt wird sie mir angeboten, mir, der ich hier an der andern Grenze des Reiches in dem abgelegenen Oberstein sitze – da lies selbst!“

Mit diesen Worten reichte Benno Reinsfeld seinem Freunde ein Schreiben hin, das gestern eingetroffen war. Sie befanden sich in der Wohnung des Doktors, und Elmhorst schien gleichfalls überrascht zu sein, denn er las den Brief aufmerksam durch.

„In der That sehr günstige Bedingungen!“ sagte er. „Neuenfeld ist eines unserer größten Eisenwerke, ich kenne es wenigstens dem Namen nach; die Bevölkerung bildet eine ganze Kolonie für sich und Du kannst dort bei den zahlreichen Beamten auf die angenehmsten Beziehungen rechnen; überdies ist die Provinzialhauptstadt in unmittelbarer Nähe und das Gehalt beträgt fünf- bis sechsmal soviel wie Dein bisheriges Einkommen. Du mußt annehmen, das versteht sich von selbst, Du hast ja schon einmal einen Glücksfall von der Hand gewiesen.“

„Aber damals bemühte ich mich eingehend um den Posten,“ wandte Benno ein. „Ich sandte eine meiner wissenschaftlichen Arbeiten, die mir denn auch den Vorzug sicherte; trotzdem ließ man mich fallen, als ich den Termin nicht einhalten konnte. In Neuenfeld habe ich ober gar keine Beziehungen, kenne überhaupt keinen Menschen, und bei solchen Bedingungen würden sich die Bewerber dutzendweise melden. Woher weiß das Direktorium denn überhaupt, daß in Oberstein ein Doktor Reinsfeld existirt?“

Wolfgang blickte nachdenkend vor sich hin und überflog noch einmal den Brief, den er in der Hand hielt.

„Ich glaube, ich kann Dir das Räthsel lösen,“ entgegnete er endlich. „Mein Schwiegervater hat die Hand dabei im Spiele.“

„Der Präsident? Unmöglich!“

„Im Gegenteil, sehr wahrscheinlich! Er ist mit bedeutenden Summen an den Werken betheiligt und hat den jetzigen Direktor in das Amt gebracht, sein Einfluß reicht ja überall hin.“

„Nun, dann wird er diesen Einfluß sicher nicht für mich geltend machen. Du warst ja Zeuge davon, wie eisig er mich empfing bei dem ersten und einzigen Male, wo ich die Ehre hatte, ihn zu sprechen.“

„Ich glaube auch nicht, daß es Wohlwollen ist, was ihn veranlaßt, in solcher Weise einzugreifen sondern – Benno, weißt Du wirklich gar nichts Näheres über jenen Bruch zwischen Deinem Vater und Nordheim? Erinnerst Du Dich nicht irgend einer Aeußerung, einer Andeutung wenigstens?“

Benno schien nachzusinnen, schüttelte dann aber verneinend den Kopf.

„Nein, Wolf; als Kind achtet man ja nicht auf solche Dinge. Ich weiß nur, daß, wenn ich später einmal nach dem Onkel Nordheim fragte, mein Vater mir mit ganz ungewohnter Härte verbot, von ihm zu sprechen. Bald darauf starben meine Eltern, und in den harten Zeiten, die nun für mich begannen, hatte ich anderes zu thun, als alten Kindheitserinnerungen nachzuhängen – aber warum fragst Du?“

„Weil ich jetzt überzeugt bin, daß damals etwas sehr Ernstes vorgefallen ist, dessen Stachel sich nach zwanzig Jahren noch nicht abgestumpft hat. Ich habe deswegen die erste Differenz mit meinem Schwiegervater gehabt, der seinen Groll auch auf Dich, den ganz Unbetheiligten, überträgt.“

„Möglich; aber um so weniger wird er sich Mühe geben, mir eine vorteilhafte Stellung zu verschaffen.“

„Wenn es kein anderes Mittel giebt, Dich aus seiner Nähe zu entfernen, wird er das allerdings thun und ich fürchte, die Sache verhält sich in der That so. Er wollte ja nicht einmal Deine ärztlichen Besuche bei Alice dulden. Ich habe Dir nicht davon gesprochen, weil es Dich mit Recht verletzt hätte, und er gab auch scheinbar nach; in diesem Anerbieten aber von ganz fremder Seite, das Dich in einer voraussichtlich dauernden Stellung an einen Ort fesseln will, der von hier ebenso weit entfernt ist wie von der Hauptstadt, glaube ich entschieden seine Hand zu erkennen.“

„Das wäre ja eine förmliche Intrigue,“ warf Reinsfeld ungläubig ein. „Traust Du das dem Präsidenten wirklich zu?“

„Ja,“ sagte Elmhorst kalt. „Aber wie die Sache auch zusammenhängen mag, eine so vortheilhafte Stellung wird Dir nicht leicht zum zweiten Male angetragen, also besinne Dich nicht lange und sage zu.“

„Wenn sie mir aus solchen Beweggründen geboten wird?“

„Das ist vorläufig nur eine Vermuthung, und selbst wenn sie wahr sein sollte, so weiß man in Neuenfeld jedenfalls nichts von dem Zusammenhang, sondern giebt nur der Fürsprache eines einflußreichen Mannes nach. Vielleicht sieht er auch ein, wie ungerecht es ist, den alten Groll auf Dich auszudehnen, und will Dir, dessen Nähe ihm nun einmal peinlich ist, eine Art von Genugthuung damit geben.“

Wolfgang wußte sehr gut, daß die letzte Annahme ausgeschlossen war; das Gespräch mit dem Präsidenten hatte ihm gezeigt, daß von einem Akte der Gerechtigkeit oder Großmuth hier nicht die Rede sein konnte, aber er wollte seinem Freunde, dessen peinliches Zartgefühl er kannte, die Annahme jener Stellung ohne jedes Bedenken ermöglichen. Für Reinsfeld war es unter allen Umständen ein Glück, aus den beschränkten und armseligen Verhältnissen seiner jetzigen Praxis fortzukommen, gleichviel wer ihm dazu verhalf.

„Wir sprechen noch heute Abend darüber, wenn Du zu mir kommst,“ fuhr Elmhorst fort, indem er seinen Hut vom Tische nahm. „Jetzt muß ich fort, mein Wagen wartet draußen, ich fahre nach der unteren Bahnstrecke.“

„Wolf,“ sagte Benno mit einem besorgten, forschenden Blicke in das Gesicht seines Freundes. „Hast Du die Nacht geschlafen?“

„Nein, ich hatte zu arbeiten Das kommt bisweilen vor.“

„Bisweilen! Aber bei Dir ist es jetzt zur Regel geworden; ich glaube, Du schläfst gar nicht mehr?“

„Wenigstens nicht viel, aber das läßt sich nicht ändern. Die sämmtlichen Bauten müssen bis zum Eintritt des Winters vollendet sein. Da häuft sich natürlich die Arbeit, und ich habe als Chefingenieur für alles einzustehen.“

„Du überarbeitest Dich aber dabei in einer geradezu gefährlichen Weise. Ein anderer könnte das überhaupt nicht leisten, was Du leistest, und Du kannst es auf die Dauer auch nicht. Wie oft habe ich Dir schon vorgestellt –“

„Das alte Lied!“ unterbrach ihn Wolfgang ungeduldig. „Laß mich in Ruhe, Benno, es geht nicht anders.“

Der Doktor wußte leider aus Erfahrung, wie wenig seine Ermahnungen in diesem Punkte zu nützen pflegten, aber er schüttelte sorgenvoll den Kopf, als er seinen Gast hinausbegleitete. Er war ja auch unermüdlich thätig in seinem Berufe, aber er wußte freilich nichts von jener Fieberstimmung, die in der Arbeit nur Betäubung und Vergessenheit sucht, gleichviel um welchen Preis.

In dem Hausflur trafen sie mit Veit Gronau zusammen, der mit Waltenberg von Heilborn herübergekommen war und nun die Gelegenheit benutzte, um in Oberstein einen Besuch abzustatten. Die Herren begrüßten sich flüchtig, dann bestieg Elmhorst seinen Wagen und fuhr davon, während die andern beiden in das Haus zurückkehrten.

„Der Herr Chefingenieur war ja sehr eilig,“ sagte Gronau, während er sich in dem lederüberzogenen Armstuhl niederließ, dem das vierte Bein glücklich wieder angeleimt war. „Er nahm sich kaum Zeit, zu grüßen, und wie ein glücklicher Bräutigam sieht er auch nicht gerade aus. Immer blaß und finster wie der steinerne Gast! Und er hätte doch wahrhaftig alle Ursache, mit seinem Schicksal zufrieden zu sein!“

„Ja, Wolf macht mir ernstliche Sorge,“ erklärte Benno. „Er ist gar nicht mehr wiederzuerkennen, und ich fürchte, die so ersehnte erste Stellung wird ihm noch verhängnißvoll werden. Diese fieberhafte Thätigkeit, in die er sich nun schon seit Wochen gestürzt hat, kann selbst seine eiserne Natur nicht aushalten, das geht vom Morgen bis zum Abend, und auch noch die Nacht hindurch. Er ist überall auf der ganzen Bahnstrecke und gönnt sich nie und nirgends Ruhe, ich warne und bitte vergebens.“

„Ja, er ist überall, nur nicht bei seiner Braut!“ bemerkte Gronau trocken „Das Fräulein scheint freilich sehr anspruchslos zu sein; eine andere ließe es sich schwerlich gefallen, daß der Herr Bräutigam immer nur Lokomotiven und Tunnels und Brücken im Kopfe hat und, wenn er wirklich einmal kommt, schon aus der Schwelle erklärt, daß er gleich wieder fort müsse; aber sie

[654] nimmt das ganz gelassen hin. Es ist überhaupt eine merkwürdige Wirtschaft da drüben in der Nordheimschen Villa. Zwei Brautpaare im Hause! Da sollte man meinen, es müsse alles Lust und Freude sein, aber wie mir scheint, geht es ziemlich ungemüthlich zu unter den Herrschaften, Herrn Waltenberg mit eingeschlossen. Said und Djelma beklagen sich fortwährend bei mir über seine Laune. Ich habe ihnen zu Gemüthe geführt, daß das einzig und allein von den Heiratsgedanken kommt, und daß das Heirathen überhaupt nur Unheil anrichtet, aber die beiden Schlingel wollen das durchaus nicht einsehen, sondern finden die Geschichte ,serr schön!‘“

„Sie sind ein ausgemachter Ehefeind, das wissen wir längst,“ sagte Reinsfeld mit einem flüchtigen Lächeln. „Wenn Wolfgang jetzt vielfach verstimmt ist – und er mag wohl Ursache dazu haben in seiner schweren und verantwortlichen Stellung – bei seiner Braut läßt Stimmung und Aussehen gar nichts zu wünschen übrig.“

„Ja, sie ist noch die munterste von allen,“ stimmte Gronau bei. „An der haben Sie überhaupt ein Meisterstück vollbracht, Doktor, mit Ihrer Kur. Was war das für an jammervolles Pflänzchen, und jetzt blüht sie auf wie eine Rosenknospe. Baroneß Thurgau ist um so stiller, und nun erst die Herren Verlobten! Der eine steht immer auf dem Siedepunkte und ist eifersüchtig wie ein Türke, der andere benimmt sich wie ein regelrechter Eiszapfen seiner Braut gegenüber, und dabei sehen sie sich gegenseitig mit Blicken an, als möchten sie sich am liebsten beim Kragen nehmen – das wird eine schöne Verwandtschaft werden!“

Benno unterdrückte einen Seufzer; ihm war die stumme, erbitterte Feindschaft zwischen Wolfgang und Waltenberg, die sich nur mühsam unter den Formen der notwendigsten Höflichkeit verbarg, gleichfalls nicht entgangen, aber er schwieg.

„Herr Waltenberg kann mir recht leid thun,“ hab Veit wieder an. „Der kann nicht leben, wenn er nicht Tag für Tag seine Braut sieht, und Tag für Tag kommt er von Heilborn herübergefahren. Sie dagegen scheint sich die berühmte Berggottheit der Wolkensteiner zum Vorbilde genommen zu haben, sie sitzt wie die Alpenfee hoch auf dem Throne und läßt sich anbeten, bleibt aber ganz ungerührt dabei. Doktor, Sie sind der einzig Vernünftige unter der ganzen Gesellschaft. Sie denken nicht an das Heiraten - bleiben Sie um Gotteswillen dabei!“

„Daran denke ich allerdings nicht,“ sagte Reinsfeld ruhig, „aber an etwas anderes, das Sie kaum weniger überraschen wird, an das Fortgehen. Mir ist ganz unerwartet eine ärztliche Stellung unter sehr günstigen Bedingungen angeboten worden.“

„Bravo! Dann greifen Sie zu!“

„Das werde ich allerdings wohl müssen.“

Gronau lachte laut auf.

„Mit welchem Gesichte Sie das sagen! Ich glaube wahrhaftig, es geht Ihnen zu Herzen, daß Sie diese biederen Obersteiner verlassen müssen, die Sie fünf Jahre lang ausgenützt und sich dann mit einem ‚Vergelt’s Gott‘ bedankt haben. Mein alter Benno, wie er leibt und lebt! Der wäre auch nicht als ein armer Mann gestorben, wenn er es verstanden hätte, mit der Welt und den Menschen anders umzugehen. Da hat er jahrelang gesessen und sich mit einer Idee gequält, die sein Glück hätte machen müssen, aber er verstand es nun einmal nicht, sich durchzubeißen und mit schüchternen Bitten und Anfragen kommt man nicht durch bei den großmächtigen Herren Kapitalisten und Unternehmern. Schließlich sind ihm andere zuvorgekommen mit der Erfindung, die gewissermaßen in der Luft lag, als man anfing, die Gebirgsbahnen zu bauen, aber er war doch der Erste, der das System der Berglokomotiven aufstellte – all die späteren Erfindungen bauten sich auf dieser Grundlage auf.“

„Mein Vater?“ sagte Benno befremdet. „Da sind Sie im Irrthum, es ist das Nordheimsche System, das noch den heutigen Maschinen zu Grunde liegt.“

„Bitte, es ist das Reinsfeldsche,“ behauptete Gronau mit der größten Bestimmtheit.

„Sie irren sich, ich wiederhole es Ihnen! Wolf hat mir selbst erzählt, daß sein Schwiegervater mit dem Entwurf jener Berglokomotive den Grund zu seinem späteren Reichthume legte. Der Plan wurde damals angekauft und bei den ersten Gebirgsbahnen auch verwendet. Später wurde er natürlich durch allerlei Verbesserungen überholt, aber der Erfinder ging keineswegs leer aus, man zahlte ihm einen verhältnißmäßig sehr hohen Preis für das Patent.“

„Wem? Dem Nordheim?“ fuhr Veit heftig auf.

„Dem jetzigen Präsidenten – allerdings.“

„Und das hat Ihnen der Chefingenieur gesagt?“

„Gewiß, wir sprachen erst kürzlich davon. Uebrigens ist die Sache ja weltbekannt, jeder Ingenieur kann sie Ihnen bestätigen.“

[676] Gronau sprang plötzlich auf und trat dicht vor den jungen Arzt hin. „Doktor,“ sagte er langsam und nachdrücklich. „Was Sie da über das Nordheimsche Patent und die Erfindung des Präsidenten sagten, ist entweder ein heilloser Irrthum, oder – ein heilloser Schurkenstreich!“

„Schurkenstreich?“ wiederholte Benno erschrocken. „Was meinen Sie damit?“

„Ich meine, oder vielmehr ich weiß, daß diese Erfindung von Ihrem Vater stammt, und Nordheim weiß das so gut wie ich; wenn er sie also für die seinige ausgegeben hat –“

„Um Gotteswillen, Sie wollen doch nicht etwa sagen –“

„Daß der hochangesehene Herr Präsident ein Schurke ist – nun, das wird sich ja zeigen! Es ist immerhin möglich, daß ein anderer, ein Fremder gleichzeitig auf dieselbe Idee gerieth, damals gab sich ja jeder Ingenieur mit dem Problem ab; Nordheim aber hat den fertigen Plan seines Freundes in Händen gehabt, hat ihn eingehend studirt, hat ihn gelobt und bewundert, da ist jede Möglichkeit eines Zufalls ausgeschlossen. Wir müssen der Sache auf die Spur kommen. Besinnen Sie sich Benno, wissen Sie wirklich nichts über den Grund jenes Bruches, von dem Sie mir erzählt haben?“

„Nein, durchaus nichts! Das habe ich soeben Wolfgang erklärt, der die gleiche Frage an mich stellte.“

„Der Chefingenieur?“ fiel Gronau hastig ein. „Wie kam er dazu?“

„Er glaubte, in dem Anerbieten jener Stellung, von der ich Ihnen vorhin sprach, die Hand des Präsidenten zu erkennen und meinte – aber nein, nein! Lassen Sie uns nicht weiter gehen in solchen schmachvollen Voraussetzungen, das ist so eine Unmöglichkeit.“

„Ihnen scheint manches unmöglich, Doktor; Sie haben sich als Mann noch ein Kinderherz bewahrt,“ sagte Veit ernst. „Wer sich aber so lange unter den Menschen umhergetrieben hat wie ich, der glaubt schließlich nicht mehr an solche Unmöglichkeiten. Sie wissen mit voller Sicherheit, daß Nordheim ein Patent auf die Berglokomotive genommen hat?“

„Gewiß, das ist eine Thatsache, die ich verbürgen kann.“

„Dann ist er ein Dieb!“ brach Gronau mit rücksichtsloser Heftigkeit aus. „Ein dreifach schändlicher Dieb, weil er den Raub an seinem Freunde beging!“

„Hören Sie auf, ich bitte Sie!“ wehrte Benno angstvoll ab; aber jener fuhr mit unerbittlicher Konsequenz fort:

„Ich frage Sie, warum brach Ihr Vater, der in Leben und Tod an seinen Freunden festhielt, gerade mit dem, der ihm am nächsten stand? Warum blieb Nordheim, wenn er wirklich ein so genialer Kopf war, bei der einen Erfindung stehen und warf den Ingenieur gänzlich bei Seite in seinem späteren Leben? Wissen Sie eine Antwort darauf?“

Reinsfeld schwieg; er hätte unter anderen Umständen einen derartigen Verdacht weit von sich gewiesen, aber die Bestimmtheit, mit der die furchtbare Anklage ausgesprochen wurde, das Gespräch mit Wolfgang, das Räthselhafte seines Bruches, der bei seinem sanften, liebevollen Vater eine so grenzenlose Bitterkeit zurückließ, daß er nicht einmal mehr den Namen des einst so geliebten Freundes hören wollte – das alles stürmte betäubend auf ihn ein, er war kaum noch eines klaren Gedankens fähig.

„Wir müssen uns Gewißheit verschaffen,“ sagte Gronau entschlossen. „Wo sind die Papiere, die alten Zeichnungen und Entwürfe Ihres Vaters? Sie haben ja das alles sorgfältig aufgehoben, wie Sie mir sagten. Es muß sich irgend etwas finden, und findet sich nichts, so trete ich selbst vor den Herrn Präsidenten hin und frage ihn, wie die Sache eigentlich zusammenhängt; ich bin doch neugierig, was für ein Gesicht er dazu machen wird! Wo sind die Papiere, Benno? Heraus damit, wir haben keine Zeit zu verlieren!“

Benno deutete auf einen kleinen Schrank, der sich in einer Ecke des Zimmers befand.

„Dort finden Sie alles, was ich von Andenken an meinen Vater besitze,“ sagte er gepreßt. „Hier ist der Schlüssel, sehen Sie das Ganze durch, ich –“

„Nun, Sie werden mir doch hoffentlich dabei helfen! Die Sache geht doch zuerst und vor allen Dingen Sie an. Was zögern Sie denn noch?“

Der Doktor zögerte in der That, aber Veit hatte bereits das Schränkchen geöffnet und wenige Minuten später lag der nicht sehr umfangreiche schriftliche Nachlaß des verstorbenen Ingenieurs auf dem Tische ausgebreitet. Sein alter Jugendfreund ging sehr gründlich zu Werke bei der Durchsicht: jede Zeichnung wurde eingehend geprüft, jeder Brief gelesen, jedes Blatt umgewandt, aber umsonst! Es fand sich nichts, was auf jene Angelegenheit Bezug haben konnte; kein Entwurf, keine Notiz, keine briefliche Aeußerung, nichts, was den ausgesprochen Verdacht hätte bestätige können. Benno, der nur mit innerem Widerstreben an die Durchsicht gegangen war, athmete unwillkürlich auf bei diesem Resultate, während Gronau die Papiere mit einer unwilligen Bewegung von sich schob.

„Narren die wir sind!“ sagte er. „Das war vorauszusehen! Nordheim hätte den schändlichen Streich überhaupt nicht gewagt, wenn noch irgend etwas existirte, was ihn verrathen konnte. Er wird seinem Freunde unter irgend einem Vorwande den Plan abgeschwatzt und sich dann gegen jede Entdeckung gesichert haben. Mein alter Benno war nicht der Mann danach, einen solchen Fuchs zu entlarven, wenn er nicht vollgültige Beweise in Händen

hatte, und ich, der Einzige, auf dessen Zeugniß er sich allenfalls berufen konnte, war damals schon in die weite Welt gegangen. Aber jetzt bin ich wieder da und jetzt werde ich nicht ruhen und rasten, bis die Sache ans Licht gebracht ist.“

„Und wozu das?“ fragte Benno leise. „Weshalb wollen Sie die alte, längst begrabene Sache wieder aufwühlen? Meinem armen Vater geschieht doch keine Genugthuung mehr damit, und die Bestätigung, wenn sie sich findet, wäre ein furchtbarer Schlag für – die Familie des Präsidenten.“

Gronau sah ihn einige Sekunden lang sprachlos an, als könne er die Worte nicht begreifen; dann aber brach er zornig aus:

„Nun wahrhaftig, das geht denn doch zu weit! Ein anderer würde außer sich geraten bei einer solchen Entdeckung, würde Himmel und Erde in Bewegung setzen, um die Wahrheit herauszubringen und rücksichtslos den Schuldigen zu treffen, und Sie möchten mich am liebsten zurückhalten, weil der Chefingenieur Ihr Freund ist, weil Sie den Skandal für die Familie Ihres ärgsten Feindes fürchten. Sie sind der echte Sohn Ihres Vaters, der hätte es ebenso gemacht!“

Er hatte unrecht mit dieser Voraussetzung. Benno hatte nicht an Wolfgang gedacht, es war ein anderes Antlitz, das vor ihm auftauchte und ihn mit großen braunen Augen so angstvoll fragend anblickte; aber er hätte um keinen Preis der Welt verrathen, was ihm die Bestätigung jenes Verdachtes so entsetzlich machte und weshalb er die ganze Angelegenheit am liebsten begraben gesehen hätte.

Veit Gronau erhob sich und sagte in einem halb grollenden, halb mitleidigen Tone:

„Von Ihnen ist nichts zu hoffen, Benno, das sehe ich schon! Solche unpraktische Gefühlsmenschen taugen überhaupt nicht für dergleichen. Zum Glück bin ich noch da! Ich habe jetzt einmal die Spur gefunden und nun lasse ich sie nicht wieder, koste es, was es wolle. Ich will meinem alten Freunde wenigstens im Grabe noch die Genugthuung geben, die das Leben ihm versagt hat!“


Präsident Nordheim saß in seinem Arbeitszimmer in der Residenz und ihm gegenüber Doktor Gersdorf. Sie hatten eine geschäftliche Konferenz gehabt, denn die Uebernahme der Bahn seitens der Aktionäre sollte jetzt zur Thatsache werden. Der Entschluß Nordheims, sich nach Vollendung des Unternehmens davon zurückzuziehen, wurde zwar bedauert, befremdete aber niemand, denn der rastlos thätige Mann hatte jedenfalls schon wieder neue Pläne und Entwürfe, denen er seine Kapitalien zuwenden wollte. Ihm blieb der Ruhm, an großes, kühnes Werk ins Leben gerufen und der Welt einen neuen Verkehrsweg erschlossen zu haben.

Der Chefingenieur hatte erklärt, daß er die sämmtlichen Bauten noch vor dem Eintritt des Winters fertigstellen werde, und sobald dies geschehen, sollte die Uebernahme erfolgen. Es war dann Sache der neuen Verwaltung, die letzten Vorberatungen für den Betrieb der Bahn zu treffen, deren Eröffnung man für das nächste Frühjahr in Aussicht genommen hatte. Das alles war schon seit Monaten verhandelt und festgestellt worden und Gersdorf besonders hatte in seiner Eigenschaft als juristischer Vertreter der Bahngesellschaft vielfache Besprechungen mit dem Präsidenten gehabt.

„Der Herr Chefingenieur leistet in der That beinahe das Unmögliche,“ sagte er. „Aber ich begreife dennoch nicht, wie er bis Ende Oktober fertig sein will. Wir stehen schon im Anfange des Monats und vier Wochen sind doch eine gar zu kurze Frist für das, was noch zu thun übrig bleibt.“

„Wenn mein Schwiegersohn den Termin einmal festgesetzt hat, so wird er auch Wort halten,“ entgegnete Nordheim mit ruhiger Zuversicht. „Er pflegt in solchem Falle weder sich, noch seine Untergebenen zu schonen und hier drängt uns überdies die Nothwendigkeit. Mit dem November pflegen die Schneestürme einzutreten, die gerade in der Wolkensteiner Gegend am gefährlichsten sind, da gilt es, vorher fertig zu werden.“

„Nun, bis jetzt hat der Herbst uns nur eine Art Spätsommer gebracht,“ bemerkte der Rechtsanwalt, indem er einige der Papiere, die auf dem Tische lagen, zusammenfaltete und zu sich steckte. „Ich kann es Ihren Damen nicht verdenken, daß sie noch immer in den Bergen weilen und gar nicht an die Rückkehr zu denken scheinen.“

„Sie werden voraussichtlich noch einige Wochen dort bleiben,“ sagte der Präsident. „Bei meiner Tochter hat die Höhenluft ein förmliches Wunder gethan; sie ist beinahe vollständig genesen und Doktor Reinsfeld räth, den Aufenthalt solange auszudehnen, als es die Witterung nur irgend zuläßt. Ich bin Ihrem Herrn Vetter viel Dank schuldig und bedaure aufrichtig, daß er Oberstein verläßt. Wie ich höre, hat er eine andere ärztliche Stellung in Aussicht, in – wie heißt der Ort doch?“

„Neuenfeld,“ ergänzte der Rechtsanwalt.

„Richtig, Neuenfeld! Der Name war mir entfallen. Ich kann es dem jungen strebsamen Arzte nicht verdenken, wenn er sich einen größeren Wirkungskreis sucht, aber wie gesagt, wir bedauern es alle, daß er soweit fortgeht, und auch mein Schwiegersohn wird ihn sehr vermissen.“

Die Worte klangen so wohlwollend, als empfinde der Präsident wirklich nur Dankbarkeit für den Arzt seiner Tochter und aufrichtiges Bedauern, ihn scheiden zu sehen, und Gersdorf, der keinen Grund hatte, etwas anderes anzunehmen, war auch überzeugt davon.

„Benno schreibt mir, daß er erst in vierzehn Tagen nach seinem neuen Bestimmungsorte abgehen werde,“ erwiderte er. „Er hatte sich eine mehrwöchige Frist ausbedungen, bis zur Ankunft seines Nachfolgers. Wir haben auf diese Weise Gelegenheit, uns noch einmal zu sehen, da ich im Laufe der nächsten Woche nach Heilborn muß. Der Prozeß der Gemeinden Ober- und Unterstein, wegen angeblicher Schädigung ihrer Waldungen durch die Bahnbauten, wird dort verhandelt und ich habe die Gesellschaft dabei zu vertreten.“

„Dann treffen wir uns voraussichtlich,“ sagte Nordheim. „Ich will versuchen, mich noch auf kurze Zeit frei zu machen, und dann mit meiner Familie zurückkehren. Die Last der Geschäfte war in der letzten Zeit geradezu erdrückend, ich fühle die Nothwendigkeit, mir auch einige Erholung zu gönnen. Also auf Wiedersehen in meiner Villa, Sie vergessen doch nicht, uns dort aufzusuchen?“

„Gewiß nicht,“ versicherte Gersdorf, indem er aufstand und sich verabschiedete. Der Präsident drückte auf die Klingel und befahl, Licht zu bringen, denn es dämmerte bereits. Er setzte sich an seinen Schreibtisch und vertiefte sich in die dort liegenden Papiere, die wohl Wichtiges enthalten mochten, denn sie wurden sehr eingehend und sorgsam geprüft, aber das Gesicht Nordheims zeigte dabei den Ausdruck vollster Befriedigung und als er mit der Durchsicht zu Ende war, flog ein Lächeln über seine Züge.

„Alles in Ordnung!“ murmelte er. „Es wird ein brillantes Geschäft werden! Die Zahlen sind zwar etwas kühn gruppirt, aber sie werden ihre Schuldigkeit thun, und sobald Wolfgang sie bestätigt und die ganze Berechnung mit seinem Namen deckt, nimmt man sie anstandslos hin. – Und dieser Reinsfeld wäre nun auch glücklich bei Seite geschoben! Ich dachte es mir, daß er die Lockspeise einer solchen Stellung nicht zurückweisen würde. Neuenfeld ist weit genug entfernt, und da wird er wohl in aller Behaglichkeit sitzen bleiben bis an sein Lebensende. – Was giebt es? Ich will heut Abend nicht mehr gestört sein.“

Die letzten Worte waren an einen Diener gerichtet, der soeben eingetreten war und jetzt meldete:

„Der Herr Chefingenieur ist angekommen.“

„Mein Schwiegersohn?“ fuhr Nordheim überrascht auf.

„Soeben, Herr Präsident.“

Nordheim erhob sich rasch und wollte dem Gemeldeten entgegen gehen, aber dieser stand bereits auf der Schwelle, noch im vollen Reiseanzuge.

„Ich überrasche Dich wohl, Papa, mit meiner unerwarteten Ankunft?“ fragte er.

„Allerdings, Du hast mir ja nicht einmal an Telegramm gesandt,“ erwiderte der Präsident, indem er dem Diener einen Wink gab, sich zu entfernen; aber als dieser das Zimmer verlassen hatte, fragte er rasch und sichtlich beunruhigt:

„Was ist geschehen? Ist etwas vorgefallen auf der Bahn?“

„Nein, ich habe alles in vollster Ordnung zurückgelassen.“

„Und Alice ist hoffentlich wohl?“ Die Frage klang um vieles ruhiger und gelassener als die erste.

„Ganz wohl, Du brauchst Dich durchaus nicht zu beunruhigen.“

„Nun, Gott sei Dank! Ich glaubte schon, es sei irgend etwas Schlimmes passirt, weil Du so ganz plötzlich erscheinst. Was führt Dich denn so unerwartet her?“

„Eine geschäftliche Angelegenheit, die ich brieflich unmöglich erledigen konnte,“ sagte Wolfgang, indem er seinen Hut ablegte. „Ich zog es daher vor, die Reise zu Dir zu machen, obgleich meine Anwesenheit auf der Bahnstrecke sehr nothwendig ist.“

„Nun gut, dann besprechen wir die Sache mündlich,“ versetzte der Präsident, der immer bereit war, von Geschäften zu reden „Wir sind heut Abend ganz ungestört; aber zunächst ruhe Dich aus. Ich werde sofort Befehl geben, Deine Zimmer –“

„Ich danke, Papa,“ unterbrach ihn Elmhorst. „Ich möchte die Angelegenheit sofort zur Sprache bringen, sie ist dringend, wenigstens für mich. Wir sind doch hier ganz allein?“

„Gewiß, ich pflege mein Arbeitszimmer vor Lauschern zu sichern, indessen kannst Du der Sicherheit wegen die Thür des Nebenzimmers abschließen.“

Wolfgang kam der Weisung nach und kehrte dann zurück, und erst jetzt, wo er in den Lichtkreis der Lampe trat, sah man es, wie bleich und erregt er war. Diese Blässe stammte aber schwerlich von der Ermüdung der weiten Fahrt, die er ohne Unterbrechung gemacht hatte; auf seiner Stirn lagerte eine Wolke und die dunklen Augen hatten einen finsteren, beinahe drohenden Ausdruck.

„Du scheinst etwas sehr Wichtiges zu bringen,“ bemerkte der Präsident, indem er sich niederließ, „sonst wärst Du auch schwerlich selbst gekommen. Nun also – aber willst Du Dich nicht setzen?“

Der junge Chefingenieur beachtete die Einladung nicht, sondern blieb stehen. Er stützte nur die Hand auf die Lehne des Stuhles und seine Stimme klang scheinbar ruhig, als er begann:

„Du hast mir die Abschätzungen und Berechnungen übersandt, die bei Uebernahme der Bahn seitens der Aktionäre als Grundlage dienen sollen.“

„Gewiß, ich sagte Dir ja bereits, daß ich Dich mit den Details dieser Berechnungen verschonen würde. Du bist schon allzu sehr in Anspruch genommen von der technischen Leitung. Ich habe Dir nur die Durchsicht und Bestätigung vorbehalten, denn Du hast als Chefingenieur das erste und letzte Wort in der Sache zu sprechen.“

„Das weiß ich! Ich bin mir der Verantwortlichkeit vollkommen bewußt und eben deshalb möchte ich eine Frage an Dich richten. Wer hat diese Berechnungen aufgestellt?“

Nordheim streifte seinen Schwiegersohn mit einem halb verwunderten Blick; die Frage schien ihn zu überraschen.

„Wer? Nun, meine Sekretäre und die Beamten, die wir als Sachverständige zuziehen mußten.“

„Das brauchst Du mir wirklich nicht erst zu sagen, Papa! Sie haben selbstverständlich nach den Notizen und Angaben gearbeitet, die man ihnen lieferte. Ich wünsche aber zu wissen, von wem diese Angaben stammen, wer überhaupt die Summen aufgestellt hat, die der Werthschätzung zu Grunde liegen. Du kannst es nicht gethan haben, das ist unmöglich.“

„So? Und warum nicht, wenn ich fragen darf?“

„Weil die sämmtlichen Berechnungen gefälscht sind!“ sagte Wolfgang kalt, aber mit vollem Nachdruck.

„Gefälscht? Was soll das heißen?“ fuhr der Präsident auf.

„Sollte Dir das wirklich entgangen sein?“ fragte Elmhorst, den Blick fest und unverwandt auf seinen Schwiegervater gerichtet. „Ich entdeckte es schon bei der ersten Durchsicht. Die sämmtlichen Bauten sind mit Summen beziffert, die ihre Herstellungskosten fast um das Doppelte übersteigen; bei den Grunderwerbungen sind Posten in Anrechnung gebracht, die überhaupt nie gezahlt wurden. Die Schwierigkeiten und Katastrophen, mit denen wir zu kämpfen hatten, sind in einer geradezu unglaublichen Weise ausgebeutet worden, man hat Hunderttausende in Rechnung gestellt, wo kaum die Hälfte wirklich aufgewandt wurde – kurz, die ganze Berechnung ist um einige Millionen zu hoch gegriffen.“

Nordheim hörte schweigend, aber mit gerunzelter Stirn dieser erregten Auseinandersetzung zu, er schien mehr betroffen als beleidigt dadurch zu sein, und endlich sagte er kühl:

„Wolfgang – ich verstehe Dich wirklich nicht.“

„Nun, ich habe Deinen Brief auch nicht verstanden, in dem Du mich auffordertest, diese Berechnung zu bestätigen und mit meiner Unterschrift zu vertreten. Ich glaubte und glaube noch immer, daß es sich hier um einen Irrthum handelt, und wollte mir persönlich Gewißheit darüber holen. Ich hoffe, Du wirst sie mir rückhaltlos geben.“

Der Präsident zuckte die Achseln, aber er behielt den kühlen, gelassenen Ton bei, als er antwortete:

„Du magst ein ausgezeichneter Ingenieur sein, Wolfgang, zum Geschäftsmanne hast Du wenig Talent, das sieht man! Ich hoffte, wir würden uns in der Sache verstehen, ohne viel Worte darüber zu machen, das scheint aber nicht der Fall zu sein; wir werden uns also wohl darüber verständigen müssen. Glaubst Du etwa, daß ich mich mit Schaden von dem Unternehmen zurückziehen will?“

„Mit Schaden? Du erhältst in jedem Falle Deine aufgewendeten Kapitalien sammt den Zinsen zurück.“

„Ein Geschäft, das keinen Nutzen bringt, ist als Verlust zu betrachten,“ sagte Nordheim. „Ich glaubte nicht, daß Du ein solcher Neuling im Geschäftsleben seiest, daß ich Dir diesen Grundsatz erst klar machen muß, und hier ist die Möglichkeit eines Gewinnes, eines sehr bedeutenden Gewinnes gegeben. Die Bahn ist so gut wie mein! Ich habe sie ins Leben gerufen, habe das Hauptkapital hergegeben, das ganze Risiko getragen, da wirst Du mir doch wohl nicht das Recht bestreiten, mein Eigenthum zu dem Preise abzutreten, den ich festzusetzen für gut finde.“

„Wenn dieser Preis nur mit solchen Mitteln zu erreichen ist, bestreite ich es entschieden. Uebernimmt die Gesellschaft die Bahn unter diesen Bedingungen, so ist sie von vornherein vor den Bankerott gestellt. Selbst der ausgedehnteste Betrieb ist nicht im Stande, den Schaden, den sie erleidet, auch nur annähend zu ersetzen; das ganze Unternehmen geht entweder zu Grunde oder wird schließlich die Beute eines einzelnen, der besser zu rechnen versteht.“

„Und was geht das uns an?“ fragte Nordheim eisig.

„Was es uns angeht?“ fuhr Elmhorst empört auf. „Wenn das Werk, das Du geschaffen hast, dem ich meine ganze Kraft gewidmet habe, das unsere beiden Namen vereinigt an der Spitze trägt, elend zu Grunde geht oder eine Beute schwindelhafter Experimente wird? Nun, mich wenigstens geht es an, das denke ich Dir zu beweisen!“

Der Präsident erhob sich mit einer ungeduldigen Bewegung.

„Wolfgang, ich bitte Dich, verschone mich mit solchen Deklamationen! Sie sind hier wirklich nicht am Platze, wo wir von Geschäften reden.“

Der junge Chefingenieur trat zurück, die Erregung verschwand aus seinen Zügen und machte einem kalten, verächtlichen Ausdruck Platz; seine Stimme klang jetzt ebenso eisig wie die des Präsidenten, als er erwiderte:

„Ich gebe mich am wenigsten mit Deklamationen ab, das solltest Du wissen, Papa. Ich frage daher noch einmal, kurz und nüchtern: wer hat die Zahlen aufgestellt, die der Werthberechnung zu Grunde liegen?“

„Ich selbst!“ war die völlig unbewegte Antwort.

„Und Du erwartest, daß ich sie bestätige und mit meinem Namen decke?“

„Von meinem künftigen Schwiegersohne erwarte ich das allerdings,“ erklärte Nordheim mit vollster Schärfe.

„Dann bedaure ich, daß Du Dich in mir getäuscht hast – ich unterschreibe diese Berechnungen nicht!“

„Wolfgang!“ Es lag eine unverkennbare Drohung in dem Worte.

„Ich unterschreibe sie nicht, sage ich Dir! Zu einer Fälschung, zu einem Betruge gebe ich meinen Namen nicht her.“

„Was sind das für Ausdrücke!“ rief der Präsident zornig. „Und das wagst Du mir ins Gesicht zu sagen?“

„Nun, wie nennst Du es denn, wenn ich eine Aufstellung sanktionire, von der ich mit vollster Bestimmtheit weiß, daß sie gefälscht ist?“ fragte Wolfgang bitter. „Ich bin der Chefingenieur, mein Wort ist entscheidend für die Gesellschaft, für die Aktionäre, die von solchen Dingen nicht das Mindeste verstehen. Ich allein habe die Verantwortung zu tragen.“

„Die keiner jemals von Dir fordern wird,“ fiel Nordheim ein. „Ich glaubte wahrhaftig nicht, daß Du so pedantisch seist! Du verstehst eben nichts von Geschäften, sonst würdest Du Dir sagen, daß ich in meiner Stellung die Sache überhaupt nicht wagen könnte, wenn sie Gefahr brächte. Die Zahlen sind in einer Weise gruppirt, daß ein – Irrthum darin nicht nachzuweisen ist, und ich habe für alle Fälle meine Erklärungen in Bereitschaft. Man wird weder Dir noch mir das Geringste anhaben können.“

Um Elmhorsts Lippen zuckte ein unendlich herbes Lächeln bei dieser Versicherung.

„Daran habe ich allerdings zuletzt gedacht! Wir verstehen uns in der That nicht: Du scheust nur die Entdeckung, ich den Betrug. Kurz und gut, ich will meine Hand nicht in einem falschen Spiel haben, und wenn ich die Bestätigung verweigere, so ist es überhaupt unmöglich.“

Der Präsident trat dicht vor ihn hin, jetzt wurde auch er erregt, seine Stimme verrieth die äußerste Gereiztheit:

„Du bist ja sehr energisch in Deinen Ausdrücken! Glaubst Du etwa, mir Gesetze diktiren zu können? Nimm Dich in Acht, Wolfgang, noch bist Du nicht mein Schwiegersohn, noch ist das Band nicht geknüpft, das uns dauernd vereinigen soll, ich kann es im letzten Augenblicke noch zerreißen, und ich denke, Du bist ein zu guter Rechner, um nicht zu wissen, was Dir mit der Hand meiner Tochter verloren geht.“

„Das heißt – Du stellst mir eine Bedingung dafür?“

„Ja, Deine Unterschrift! Entweder – oder!“

Wolfgang sah bei der kategorischen Erklärung seines Schwiegervaters finster zu Boden; er überlegte die Folgen des Entweder – oder; ja freilich, er war ein guter Rechner gewesen, er wußte ganz genau, daß ihm mit seiner Braut Millionen verloren gingen, der Reichthum, die glänzende Zukunft, für die er alles eingesetzt, um derentwillen er sein Glück verkauft hatte. Jetzt kam der Moment, wo er noch etwas anderes verkaufen sollte, und plötzlich stand jene Stunde am Wolkenstein wieder vor ihm, in der mondbeglänzten Mittsommernacht, wo ihm dieser Moment mit ahnungsvoller Warnung verkündet wurde. Jetzt ist der Preis die Freiheit, einst wird es die Ehre sein!

Nordheim deutete dies Schweigen in seiner Weise; er legte dem jungen Chefingenieur die Hand auf die Schultern und sagte in bedeutend gemildertem Tone:

„Sei vernünftig, Wolfgang! Wir verlieren beide bei einer Trennung und ich wünsche sie am wenigsten, aber ich kann und muß von meinem Schwiegersohn verlangen, daß er Hand in Hand mit mir gehe und mein Interesse zu dem seinigen mache. Du giebst Deine Unterschrift und ich übernehme die Verantwortlichkeit für alles andere. Dann wollen wir beide diese Stunde vergessen und den Gewinn theilen, der auch Dich zum reichen unabhängigen Manne macht.“

„Um den Preis meiner Ehre!“ brach Wolfgang in leidenschaftlicher Empörung aus. „Nein, beim Himmel, so weit soll es denn doch nicht kommen! Ich hätte es freilich längst wissen können, wohin Deine Grundsätze, Deine Geschäftspraxis führen, denn Du hast Dir wenig Zwang auferlegt, seit Alice meine Braut ist; aber ich wollte nichts sehen und wissen, weil ich Thor genug war, mir einzubilden, daß ich trotz alledem meinen eigenen Weg gehen, meinem eigenen Willen folgen könne. Jetzt sehe ich, daß es keinen Halt mehr giebt auf der abschüssigen Bahn, daß, wer sich Dir verbündet, seine Ehre nicht rein bewahren kann. Ich bin ehrgeizig und rücksichtslos gewesen – ja, ich habe gerechnet bei unserer geplanten Verbindung, wie Du es thatest, und habe ihr schon mehr Opfer gebracht, als ich vor meinem Gewissen verantworten kann, aber zum Betrüger will ich denn doch nicht herabsinken. Wenn Du mir zumuthest, ein Schurke zu werden, um Deines Reichthums willen; wenn die Zukunft, die ich mir erträumte, nur um diesen Preis zu haben ist, so mag sie hinfahren – ich will sie nicht!“

Er hatte sich hoch aufgerichtet und schleuderte mit flammenden Augen dem Präsidenten die Absage entgegen. Es lag etwas Mächtiges, Ueberwältigendes in diesem stürmischen Ausbruch des Mannes, der sich endlich frei machte von all den kleinlichen Banden des Eigennutzes und der Berechnung, die ihn so lange festgehalten hatten, dessen bessere Natur sich endlich Bahn brach und siegreich die Versuchung niedertrat, die sich noch einmal so lockend vor ihm erhob. Er wußte ja, daß bei jenem „Geschäfte“ auch für ihn eine Million abfiel; dann war er nicht mehr abhängig von dem Wohlwollen seines Schwiegervaters, dann stand er frei und fessellos da, mit der goldenen Macht in seinen Händen, die ihm all seine Zukunftsträume verwirklichen konnte. Es war nur ein Moment gewesen, wo er zauderte, dann stieß er die Versuchung von sich und rettete seine Ehre!

Der Präsident stand mit tief verfinstertem Gesichte da. Er sah jetzt auch, daß er sich getäuscht hatte, als er in .dem kühnen, ehrgeizigen Streber an gefügiges Werkzeug, eine ebenso gewissenlose Natur wie die seinige zu finden hoffte, aber an vollständiger Bruch war durchaus nicht nach seinem Sinn. Er verlor am meisten bei der Trennung; in erster Linie ging der Gewinn verloren, den ihm nur Elmhorst mit seiner Unterschrift vermitteln konnte, und überdies sagte er sich, daß es gefährlich sei, einen Mann, der so tief in seine Pläne eingeweiht war, als Feind zu entlassen. Das durfte nicht geschehen, der Bruch mußte vermieden werden, wenigstens fürs Erste, bis jener Gefahr vorgebeugt war.

„Wir wollen heute in dieser Angelegenheit nicht das letzte Wort sprechen,“ sagte er langsam. „Sie ist allzu wichtig und unsere beiderseitige Stimmung ist nicht danach, sie ruhig zu behandeln. Ich komme in acht Tagen nach meiner Bergvilla und so lange hast Du Zeit, Dir die Sache zu überlegen, für jetzt nehme ich Deine übereilte Entscheidung nicht an.“

„So wirst Du sie in acht Tagen annehmen müssen“ erklärte Wolfgang. „Meine Antwort wird auch dann nicht anders lauten. Laß die Bahn berechnen, nach ihrem Werthe – nach ihrem höchsten Werthe – und ich werde die Bestätigung nicht verweigern; dieser Berechnung versage ich meine Unterschrift, das ist mein letztes Wort. – Leb’ wohl!“

„Du willst doch nicht jetzt schon wieder fort?“ fragte Nordheim, peinlich überrascht.

„Gewiß, der nächste Kurierzug geht in zwei Stunden und das Geschäft, das mich herführte, ist erledigt. Meine Anwesenheit auf der Bahnstrecke ist unbedingt nothwendig.“

Er verneigte sich; es war nicht mehr der vertrauliche Gruß des Verwandten, des künftigen Sohnes, sondern eine kalte, fremde Verabschiedung, die einem Fremden galt, und der Präsident fühlte, was darin lag.

Als Elmhorst in die große Eingangshalle trat, fand er dort zwei Diener, die seiner harrten. Man hatte, ohne erst den Befehl Nordheims abzuwarten, seine Zimmer in Bereitschaft gesetzt und erkundigte sich nun, ob der Herr Chefingenieur noch sonstige Befehle habe; aber dieser wies die beiden Diensteifrigen mit einer kurzen Handbewegung zurück.

„Ich danke, ich muß sofort wieder abreisen und kann daher die Zimmer nicht benutzen.“

Die Lakaien machten höchst erstaunte Gesichter, das hieß ja, im Sturme kommen und gehen! Sie verbeugten sich indessen unterwürfig und fragten nur, wann der Herr Chefingenieur nach der Bahn zu fahren beabsichtige und ob der Wagen sogleich angespannt werden solle.

„Nein, ich gehe zu Fuße!“ sagte Wolfgang ruhig. Sein Blick flog noch einmal durch die prachtvolle, hell erleuchtete Treppenhalle, über die teppichbelegten Stufen, die zu jenen strahlenden Festräumen im oberen Stock führten, dann verließ er das Haus, in dem er sechs Monate lang als Sohn, als künftiger Herr gegolten hatte und dem er jetzt für immer den Rücken kehrte.

Draußen empfing ihn ein dunkler, naßkalter Oktoberabend, der Himmel war sternenlos, die Luft trübe und neblig und der scharfe Wind mahnte an das Nahen des Spätherbstes. Elmhorst zog unwillkürlich den Reisemantel fester um die Schultern, als er mit raschen Schritten vorwärts ging.

Es war zu Ende! Das wußte er mit vollster Gewißheit und er durchschaute auch vollkommen die Absicht Nordheims, der einen plötzlichen Bruch vermeiden wollte, weil er einen Racheakt des einstigen Schwiegersohnes fürchtete, der ihn preisgeben konnte, wenn er wollte. Ein verächtliches Lächeln kräuselte Wolfgangs stolze Lippen – unnötige Furcht! So niedrig war er nicht! Seine Gedanken flogen zu seiner Braut zurück, wo sie so selten geweilt hatten. Alice würde sicher nicht leiden, wenn die Verlobung gelöst wurde. Sie hatte ohne Widerspruch seine Werbung angenommen, um den Wunsch ihres Vaters zu erfüllen, und würde sich ebenso willenlos dem Machtworte des Vaters beugen, wenn er das eben erst geknüpfte Band zerriß. Von Liebe war so ohnehin nie zwischen ihnen die Rede gewesen, sie verloren gleich wenig an einander.

Wolfgang athmete tief auf. Jetzt war er wieder frei, die Wahl war ihm zurückgegeben; er konnte ihn noch immer gehen, den einsamen stolzen Weg, nur die eigene Kraft und den eigenen Muth zur Seite, aber die Stimme, welche ihn damals wach gerufen aus dem Rausche der Selbstsucht und des Ehrgeizes, würde ihm nie wieder erklingen, das schöne stolze Antlitz ihm niemals zulächeln! Der Preis gehörte jetzt einem anderen, und was er auch in Zukunft noch erringen und erreichen mochte – sein Glück war doch verscherzt, war verloren für immer!


Der Herbst hatte diesmal in der That den Charakter des Spätsommers. Die Tage waren mit wenig Ausnahmen hell und sonnig, die Luft mild und warm und das Gebirge zeigte sich in jener klaren, duftigen Schönheit, die ihm gewöhnlich erst die spätere Jahreszeit zu geben vermag.

Die Bewohner der Nordheimschen Villa hatten den Bergaufenthalt, der anfangs nur für die beiden Sommermonate berechnet war, bis in den Oktober ausgedehnt. In erster Linie war die Rücksicht auf Alices Befinden dabei maßgebend gewesen, und dann hatte man auch dem Wunsche Ernas nachgegeben, die so lange als möglich in ihren geliebten Bergen weilen wollte. Seit sie Waltenbergs Braut war und eine glänzende Partie machte, hatte sich ihre Stellung im Hause bedeutend geändert; Frau von Lasberg erlaubte sich kein Hofmeistern mehr und der Präsident kam den Wünschen seiner Nichte artig entgegen. Waltenberg selbst, der das Stadtleben mit seinen Formen und Fesseln durchaus nicht liebte, war mit der Verlängerung des Aufenthaltes sehr einverstanden, nur die Baronin seufzte über diese endlose „Verbannung“ und tröstete sich mit der Aussicht auf eine um so glänzendere Wintersaison. Jetzt, wo Erna gleichfalls Braut war und Elmhorst jedenfalls für die Wintermonate nach der Residenz kam, wenn seine Thätigkeit als Chefingenieur zu Ende war, mußte das Nordheimsche Haus seinen gesellschaftlichen Ruf rechtfertigen. Es stand zweifellos eine Reihe von Festlichkeiten zu Ehren der beiden Brautpaare in Aussicht, und Frau von Lasberg schwelgte bereits in dem Gedanken an die Hauptrolle, die sie als Vertreterin dieses Hauses dabei spielen würde.

Die beiden jungen Damen saßen in der Veranda an der Seite des Hauses, und das heitere Geplauder, das von dorther klang, kam wirklich aus dem Munde von Alice Nordheim. Es hatte freilich nichts mehr von der gleichgültigen Art, mit der sie sonst zu sprechen pflegte. Die Veränderung, die mit ihr vorgegangen war, grenzte in der That an das Wunderbare; verschwunden waren die krankhafte Blässe, die matten Bewegungen, der müde, theilnahmlose Blick, die Wangen hatten Farbe, die Augen Leben gewonnen. War es die Alpenluft, die hier auf den Höhen so rein und würzig wehte, oder die Behandlung des jungen Arztes, der das Uebel von einer ganz anderen Seite angriff, das junge Mädchen war in den wenigen Monaten aufgeblüht wie eine Blume, die lange im kalten düsteren Schatten gekränkelt und gesiecht hat und die nun plötzlich, wenn man sie in den hellen, warmen Sonnenschein bringt, sich entfaltet in zarter, duftiger Schönheit.

„Mich wundert, daß Dein Bräutigam noch nicht da ist,“ sagte sie soeben. „Er pflegt doch sonst immer um diese Stunde zu kommen.“

„Ernst hat mir geschrieben, daß er heute etwas später eintreffen werde, da er uns eine Ueberraschung aus Heilborn mitbringe,“ entgegnete Erna, die ihr gegenüber saß und zeichnete; aber sie hob den Blick nicht von der Mappe und ihre Stimme verrieth auch nicht das mindeste Interesse an der verheißenen Ueberraschung.

„Merkwürdig, daß er Dir so oft schreibt, obgleich er Dich täglich sieht!“ meinte Alice, die allerdings an solche Aufmerksamkeiten seitens ihres Verlobten nicht gewöhnt war. „Und dabei überschüttet er Dich förmlich mit Blumen; mir scheint nur, Du bist sehr wenig dankbar dafür.“

„Ich fürchte, daran trägt Ernst selbst die Schuld,“ war die ruhige Antwort. „Er verwöhnt mich allzu sehr und ich lasse mich nur zu leicht verwöhnen.“

„Ja, ich finde auch, daß etwas Uebertriebenes in seinen Huldigungen liegt,“ warf Alice ein. „Mir kommt seine Liebe immer vor wie ein Feuer, vor dem man sich in Acht nehmen muß, das mehr brennt als leuchtet.“

„Er ist nun einmal eine außergewöhnliche Natur,“ sagte Erna. „Man darf ihn nicht mit dem Maßstabe anderer messen, und das habe ich auch nie gethan. Glaube mir, Alice, man kann viel, kann alles ertragen, wenn man voll und glühend geliebt wird.“

Sie legte den Zeichenstift nieder und blickte wie träumend in die Ferne hinaus. Es hatte doch einen eigenthümlichen Klang, das Wort „ertragen“, und es wurde auch durch kein Lächeln gemildert. Ueberhaupt trat der Zug von Ernst und Kälte in dem Gesichte der jungen Braut schärfer hervor und in ihren Augen lag etwas, was sich nicht nennen und beschreiben ließ, aber von Glück sprach es nicht!

In dem kurzen Schweigen, das nun eintrat, hörte man das Rollen eines Wagens, der vorn am Hause vorfuhr. Erna bebte leise zusammen; sie wußte ja, wer kam, wenn man auch von hier aus den Weg nicht übersehen konnte. Langsam schloß sie die Mappe und erhob sich; aber noch ehe sie die Veranda verließ, flog eine junge Dame herein, die sie mit einer stürmischen Umarmung förmlich überfiel und sich dann ebenso stürmisch zu Alice wandte.

„Wally, Du bist es!“ riefen beide wie aus einem Munde.

Es war wirklich Frau Doktor Gersdorf, die vor ihnen stand, rosig, lachend und übermüthig wie gewöhnlich, und hinter ihr wurde Ernst Waltenberg sichtbar, dem man die Freude über die gelungene Ueberraschung ansah.

„Ja, ich bin’s leibhaftig!“ sagte die kleine Frau. „Albert hat in Heilborn einen unendlich langweiligen Prozeß zu führen, und da bin ich natürlich mitgegangen. Man muß dem armen Manne seine Dienstreisen doch einigermaßen erträglich machen. Ich gehe überhaupt immer mit, wenn es irgendwie möglich ist. Ich glaube, wenn es ihm einfiele, den Montblanc oder den Himalaya zu erklettern, so würde ich mich aufopfern und mitklettern. Gott sei Dank, daß er nicht daran denkt, denn da oben giebt es keine Prozesse zu führen, und er ist ein entsetzlicher Aktenmensch. Nun, und wie geht es Euch denn hier? Ihr seid ja ganz verschollen für die Residenz! Eigentlich braucht man gar nicht zu fragen, denn Alice blüht wie eine Rose und Erna macht jedenfalls schon Pläne für die Hochzeitsreise. Wohin geht es denn zunächst? Nach den Südseeinseln oder nach dem Nordpol? Ich meinestheils würde mich für die Südsee entscheiden, die Temperatur ist dort angenehmer.“

Und nach dieser aus Fragen und Erzählen gemischten Begrüßungsrede, die ohne jede Pause vorgetragen wurde, warf sich die junge Frau in einen Sessel und erklärte, sie sei so müde, daß sie überhaupt kein Wort sprechen könne.

Ernst war nach der ersten allgemeinen Begrüßung zu seiner Braut getreten und überreichte ihr einen Strauß köstlicher, fremdartiger Blumen, die aus irgend einem Treibhause stammten, farbenprächtige Blüthen, welche einen berauschenden Duft ausströmten.

„Habe ich Wort gehalten?“ fragte er, auf Wally deutend. „Ich hatte schon gestern mit Albert die Ueberraschung geplant und wußte, in dieser Begleitung würde ich willkommen sein.“

„Das bist Du ja doch immer!“ entgegnete Erna, indem sie mit freundlichem Danke den Strauß in Empfang nahm.

„Immer?“ wiederholte er, während ein herber Ausdruck um seine Lippen zuckte. „Wirklich? Bisweilen zweifle ich daran.“

„Aber Ernst, ich bitte Dich!“

Sein Auge begegnete mit leidenschaftlichem Forsche ihrem vorwurfsvollen Blick, und wie zufällig schritt er mit ihr die Stufen hinab, die in den Garten führten.

„Freust Du Dich denn etwa, wenn ich komme?“ fuhr er mit gesenkter Stimme fort. „Mir scheint es oft, als fürchtetest Du meine Nähe, als bebtest Du zurück vor meiner Umarmung, und mehr als einmal glaubte ich ein verstohlenes Aufathmen zu sehen, wenn ich mich von Dir wandte.“

„Ja, Du überwachst jeden Blick, jeden Athemzug und schaffst Dir und mir Pein aus allem, was ich sage oder thue,“ sagte Erna gepreßt. „Du ängstigst mich mit dieser maßlosen Leidenschaft; was soll daraus werden, wenn wir erst vermählt sind?“

„Dann werde ich ruhiger werden,“ entgegnete er mit einem tiefen Atemzuge. „Du sollst nur erst mein sein, ganz mein, kein anderer soll das Recht haben, sich zwischen uns zu drängen, vielleicht lehre ich Dich dann, mich zu lieben; bisher habe ich das vergebens versucht. Du kannst doch lieben, ich weiß es – ihn hast Du anders geliebt!“

Sie entzog ihm mit einer heftigen Bewegung ihre Hand, die er ergriffen hatte.

„Ernst, Du hast mir versprochen –“

„Davon zu schweigen! Ja, ich versprach es, aber ich glaubte nicht, daß es so schwer sei, den Kampf mit einer Erinnerung, mit einem bloßen Schatten aufzunehmen. Ah, ich wollte, er hätte Fleisch und Blut, dann könnte ich mit ihm kämpfen auf Leben und Tod!“

Seine Augen flammten wieder auf in jenem tödlichen Hasse, wie damals, als er erfuhr, daß die Liebe seiner Braut einst einem andern gehört hatte. Erna war bleich geworden, aber sie legte beschwichtigend ihre Hand auf seinen Arm.

„Ernst!“ sagte sie weich und bittend. „Wozu diese ewige Selbstquälerei! Du leidest grenzenlos darunter, ich sehe es und habe unendlich oft schon mein Geständniß bereut. Besitze ich denn gar keine Macht, Dich ruhiger und glücklicher zu machen?“

Es bedurfte nur dieses Tons um ihn zu entwaffnen; er preßte in stürmisch aufwallender Reue ihre Hand an seine Lippen.

„Du hast die Macht zu allem, wenn Du mit diesem Blick und Ton zu mir redest! Vergieb, wenn ich Dich quäle, es soll nicht wieder geschehen, gewiß nicht!“

Es war ein Versprechen, das hundertmal gegeben und hundertmal gebrochen wurde; Erna lächelte zwar dazu, aber die Blässe lag noch immer auf ihrem Gesichte, als sie sich dem Hause wieder zuwandten.

„Dort scheint eine Othelloscene zu spielen!“ sagte Wally, die trotz ihrer angeblichen Müdigkeit unaufhörlich erzählte und dabei noch Zeit fand, das Brautpaar zu beobachten. „Ernst Waltenberg hat eine gefährliche Aehnlichkeit mit jenem schwarzen Ungethüm. Ich glaube, er könnte auch um nichts und wieder nichts einen Mord begehen, wenn seine Eifersucht gereizt wird; hoffentlich bringt ihm Erna Vernunft bei in der Ehe, denn bis jetzt liebt er sie höchst unvernünftig. Ich erzählte ihm während der Fahrt alle möglichen interessanten Dinge aus der Residenz, aber er hörte nicht einmal zu, er hielt immer nur die Augen auf Eure Villa gerichtet, und als wir vorfuhren, stürzte er förmlich aus dem Wagen, um zu seiner Braut zu gelangen. – Ah, jetzt küßt er ihr die Hand und bittet demüthigst um Verzeihung! Albert hat das nie gethan, selbst während unserer Brautzeit nicht; im Gegentheil, ich mußte abbitten! Er ist leider gar nicht romantisch angelegt, so wenig wie Dein Bräutigam, Alice. Kommt der Herr Chefingenieur denn heute nicht?“

„Ich glaube kaum,“ versetzte Alice, die jetzt endlich auch einmal zu Worte kam. „Wolfgang hat so viel zu thun; er kam auch gestern nur auf einige Minuten, seine jetzige Stellung nimmt ihn ungemein in Anspruch.“

Das klang sehr gleichgültig, viel zu gleichgültig für eine Braut, die es doch fühlen mußte, daß sie vernachlässigt wurde. Alice ahnte allerdings nichts von dem, was vor acht Tagen in der Residenz zwischen ihrem Vater und ihrem Bräutigam vorgefallen war. Wolfgang hatte es jedem, selbst seinem Freunde Reinsfeld verschwiegen; er wollte es dem Präsidenten, dessen Ankunft ja unmittelbar bevorstand, überlassen, wann und wie die äußere Lösung herbeizuführen sei. Einstweilen zeigte er sich so wenig als möglich bei Alice; der Vorwand von Ueberhäufung mit Arbeit und Geschäfte, der schon früher sein seltenes Erscheinen hatte decken müssen, thut auch in diesem Falle seine Schuldigkeit.

Jetzt erschien auch Frau von Lasberg in der Veranda und begrüßte Wally mit sehr viel Haltung und sehr wenig Herzlichkeit. Die junge Frau wollte bis zum nächsten Tage bleiben, wo ihr Gatte sie abhole sollte, und beide beabsichtigte dann einen Besuch in Oberstein bei Benno zu machen. Uebrigens kam Frau Doktor Gersdorf wie ein Wirbelwind in das stille, vornehme Haus hineingefahren; von dem Augenblicke an, wo sie den Fuß über die Schwelle setzte, hörte jede Etikette auf. Ueberall ertönte ihr helles, frisches Lachen, sie plauderte mit Alice, neckte Erna, stritt sich mit Waltenberg über orientalische Sitten, von denen sie keine Ahnung hatte, und ärgerte vor allen Dingen die alte Baronin nach Kräften, und dabei strahlte sie förmlich vor Glück und Uebermuth.

So war es Mittag geworden und die goldene Herbstsonne lockte unwiderstehlich in das Freie. Waltenberg schlug einen Spaziergang nach einer der nahegelegenen Höhen vor und fand allgemeine Zustimmung; auch Alice, die noch vor wenigen Monaten von allen derartige Partien völlig ausgeschlossen war, betheiligte sich heut tapfer daran, während Frau von Lasberg selbstverständlich zu Haus blieb. So stieg die kleine Gesellschaft aufwärts, durch den sonnigen, duftigen Wald, bis sie an de Fuß eines Felskegels gelangte, der sich steil und schroff erhob.

„Hier mußt Du aber zurückbleiben, Alice,“ sagte Erna mahnend. „Der letzte Theil des Weges ist steil und mühselig und Du hast Deine Kräfte noch zu schonen. – Wirst Du es leisten können, Wally?“

„Ich leiste alles!“ erklärte die junge Frau, fast beleidigt durch diese Frage. „Du glaubst wohl, Du und Dein Bräutigam, Ihr wäret allein tüchtige Bergsteiger? Ich nehme es mit Euch beiden auf.“

Waltenberg lächelte etwas spöttisch bei dieser gewagte Bemerkung und warf einen vielsagenden Blick aus die feinen Residenzstiefelchen der Dame, mit den hohen Absätzen.

„Nun, für diesmal hat es keine Gefahr, der Felsen ist durch Stufen und Stützen überall zugänglich gemacht,“ erklärte er. „Uebrigens kann auch dem geübtesten, tüchtigsten Bergsteiger ein Unfall begegnen, das mußte mein Sekretär auf der Geierklippe erfahren. Er kam noch glücklich genug mit einem verrenkten Fuße davon, es hätte schlimmer ablaufen können.“

„Ah, der unendlich lange Herr Gronau!“ rief Wally. „Wo ist er denn eigentlich geblieben? Ich habe ihn auch in Heilborn nicht zu Gesichte bekommen.“

„Er hat sich einen mehrwöchigen Urlaub erbeten, ich erwarte ihn aber in diesen Tagen zurück,“ entgegnete Ernst, der im Grunde etwas befremdet war über das lange Ausbleiben Veits. Er wußte, daß dieser keine Angehörigen mehr in Deutschland besaß, und konnte sich diese plötzliche Reise nicht erklären; Gronau hatte ihm ja nicht einmal mitgetheilt, wohin er eigentlich ging.

Alice fügte sich gehorsam der Anordnung, und während Waltenberg mit den beiden anderen Damen die Höhe vollends erstieg, blieb sie auf der kleinen Bergwiese am Fuße des Felsens zurück. Es war ein schönes, stilles Plätzchen mitten in der tiefen Waldeinsamkeit, die noch kein Hauch des Herbstes berührt zu haben schien. Die dunklen Tannen und das weiche Moos hatten ihr frisches Grün bewahrt und in den Strahlen der Mittagssonne zerrann der letzte Nebelduft, der noch hier und da zwischen den Bäumen schwebte. Es war licht und warm, wie an einem Frühlingstage.

Alice mochte etwa zehn Minute lang allein gesessen haben, als sie in einiger Entfernung eine wohlbekannte Gestalt erblickte, den Doktor Reinsfeld, der zwischen den Bäumen sichtbar wurde. Er kam von einem Krankenbesuche, den er auf einem der Berghöfe abgestattet hatte, und war so eilig und so tief in Gedanken versunken, daß er in die Lichtung hinaustrat, ohne die junge Dame zu bemerken, bis sie ihn anrief:

„Herr Doktor, wollen Sie wirklich so vorbeistürmen, ohne Ihre Patientin auch nur anzusehen?“

Benno war aufgefahren bei dem Klange ihrer Stimme und blieb jetzt überrascht stehen.

„Sie hier, gnädiges Fräulein, und so ganz allein?“

„O, ich bin nicht so schutzlos, als Sie glauben!“ sagte Alice beinahe muthwillig. „Dort oben ist Herr Waltenberg mit Erna und Wally. Ich bin nur zurückgeblieben –“

„Weil Sie ermüdet sind?“ fiel er besorgt ein.

Sie schüttelte lächelnd den Kopf.

„O nein, ich wollte nur meine Kräfte schonen für den Rückweg. Sie haben mir diese Schonung ja zur Pflicht gemacht. Sehen Sie, wie gehorsam ich bin!“

Sie rückte seitwärts und schien zu erwarten, daß der Doktor an ihrer Seite Platz nehmen werde; er zögerte einige Sekunden lang, dann aber folgte er der wortlosen Einladung und ließ sich gleichfalls auf dem moosigen Sitze nieder. Sie waren sich ja nicht mehr fremd und hatten sich in den letzten Monaten fast täglich gesehen und gesprochen.

Alice fuhr unbefangen und heiter fort zu plaudern; es lag eine harmlose, unschuldige Freude in dieser Heiterkeit, die Freude der neu erwachenden Lebenskraft, die sich endlich dem jahrelangen, schweren Druck der Krankheit entwindet und halb schüchtern noch, halb vertrauend dem neuen Dasein entgegenblickt. Man konnte nicht einfacher und kindlicher plaudern als diese junge Millionärin, die so gar nicht geschaffen war für die glänzende Stellung, welche der Reichthum ihres Vaters ihr zuwies. Hier, wo sie auf dem Moosboden des Waldes saß, ohne all den Schmuck und die Pracht, die sie stets nur wie eine Last trug, umspielt von den goldigen Sonnenstrahlen, die auf das weiche lichtbraune Haar und das zarte, von einer leisen Röthe angehauchte Antlitz fielen, war ihre Erscheinung von einer unaussprechlichen Anmuth und Liebenswürdigkeit.

Der junge Arzt zeigte sich dagegen ungewöhnlich ernst und schweigsam; er zwang sich wohl zu einem Lächeln, zu heiteren Antworten, aber man sah es, daß sie ihm nicht von Herzen kamen. Auch Alice bemerkte das endlich, sie wurde ebenfalls stiller, und als zuletzt ein längeres Schweigen eintrat, ohne daß Reinsfeld den Versuch machte, es zu brechen, fragte sie:

„Herr Doktor – was ist Ihnen?“

„Mir?“ fuhr Benno auf. „O nichts, durchaus nichts!“

„Ich fürchte eher das Gegenteil, Sie waren so eilig vorhin und sahen so ernst und traurig aus und ich bemerke das nicht zum ersten Male. Schon seit Wochen ist es mir vorgekommen, als bedrücke und quäle Sie etwas, so sehr Sie sich auch Mühe geben, es zu verbergen – darf ich nicht wissen, was es ist?“

Die weiche Stimme Alices verstand so süß zu bitten und die braunen Augen blickten so fragend und teilnehmend den jungen Arzt an, und doch war Nordheims Tochter die letzte, die den wahren Grund zu Reinsfelds Stimmung erfahren durfte. Sie hatte freilich recht gesehen; Benno litt schon seit Wochen unter dem Druck jenes Verdachtes, den Gronau in seine bis dahin so arglose Seele gepflanzt hatte. Zwar hatte sich nichts gefunden, was ihn irgendwie bestätigte, aber Reinsfeld ahnte, daß Veits plötzliche Abreise und sein langes Ausbleiben damit zusammenhingen, daß dieser die Spur weiter verfolgte. Er faßte sich indessen rasch und erwiderte:

„Es wird mir schwer, Oberstein zu verlassen. So anstrengend meine Praxis auch bisweilen war, und so sehr ich mich nach einem größeren Wirkungskreise sehne, ich fühle es doch jetzt, wie sehr ich verwachsen bin mit den Menschen, deren Freud und Leid ich jahrelang getheilt habe, mit den Bergen, die mir eine zweite Heimath geworden sind. Ich lasse hier so manches zurück, was mir das Scheiden schwer macht.“

Sein Auge suchte den Boden bei den letzten Worten, sonst hätte er die Veränderung gewahren müssen, die plötzlich mit Alice vorging. Sie erbleichte und die eben noch so strahlende Heiterkeit ihrer Züge erlosch, während das Sträußchen von Waldblumen, das sie vorhin gepflückt hatte, ihrer Hand entfiel und auf das Moos niedersank.

„Ist Ihre Abreise so nahe?“ fragte sie leise.

„Gewiß, ich warte nur auf die Ankunft meines Nachfolgers, der voraussichtlich in acht Tagen eintrifft.“

„Und dann gehen Sie – für immer?“

„Ja – für immer!“

Die Frage wie die Antwort hatten einen gleich schweren Klang, dann trat ein Schweigen ein. Alice bückte sich und hob das Sträußchen wieder auf, das sie mechanisch zu ordnen begann. Sie wußte freilich von der Berufung nach Neuenfeld und von der Annahme seitens des Doktors, aber sie hatte geglaubt, er werde wenigstens bis zu ihrer Abreise hierbleiben, und über diese Abreise waren ihre Gedanken nie hinausgegangen. Sie war hier in den Bergen so glücklich gewesen, hatte sich mit ganzer Seele der frohen, sonnigen Gegenwart hingegeben und kaum jemals daran gedacht, daß sie ein Ende nehmen könnte; jetzt wurde sie daran gemahnt, wie nahe dies Ende war.

„Ich kann diesmal ohne Besorgniß gehen,“ hob Benno wieder an. „Der Gesundheitszustand in meinem Bezirk läßt kaum etwas zu wünschen übrig und Sie, gnädiges Fräulein bedürfen meiner ja nicht mehr. Bei der nöthigen Schonung, die Sie sich noch eine Zeit lang auferlegen müssen, glaube ich mich für Ihre dauernde Genesung verbürgen zu können. Ich bin sehr glücklich darüber, daß ich meinem Freunde Wort halten und ihm die Braut gesund und lebensfroh wiedergeben kann.“

„Wenn ihm überhaupt etwas daran liegt!“ sagte Alice leise.

Reinsfeld sah sie betroffen an bei der seltsamen Bemerkung.

„Gnädiges Fräulein –?“

„Glauben Sie denn, daß Wolfgang mich lieb hat? – Ich glaube es nicht!“

Es lag keine Bitterkeit in den Worten, sie klangen nur traurig und ebenso traurig fragend war der Blick, der sich jetzt zu dem jungen Arzte emporhob.

„Sie glauben nicht an Wolfgangs Liebe?“ rief er bestürzt. „Aber weshalb hätte er denn sonst –“ er brach plötzlich ab und verstummte mitten im Satze. Er wußte ja doch am besten, daß die Liebe bei der Wahl seines Freundes keine Rolle gespielt hatte; er erinnerte sich noch so deutlich jener Stunde, wo der junge Oberingenieur sich mit kalter, kühner Berechnung vornahm, die Tochter des allmächtigen Präsidenten zu gewinnen, des spöttischen Achselzuckens, mit dem er den Gedanken an eine Neigung zurückwies – es war eine Spekulation gewesen, weiter nichts.

„Ich will ja keinen Vorwurf gegen Wolfgang aussprechen, gewiß nicht,“ fuhr Alice fort. „Er ist stets so aufmerksam, so rücksichtsvoll und so besorgt um mich, aber ich fühle es doch, wie wenig ich ihm bin, fühle, daß, selbst wenn er bei mir ist, seine Gedanken weit fort sind. Ich habe das seither kaum empfunden und wenn ich es empfand, that es mir nicht wehe. Ich war immer so müde, hatte so gar keine Freude am Leben und kam mir stets wie eine Gefangene vor, in der Krankenhaft. Erst als der schwere Druck zu weichen begann, der mir Geist und Körper lähmte, habe ich sehen und unterscheiden lernen. Wolfgang liebt seinen Beruf, seine Zukunft, sein großes Werk, die Wolkensteiner Brücke, auf das er so stolz ist – mich wird er niemals lieben!“

Benno fand nicht sogleich eine Antwort, er war ebenso erschreckt wie überrascht von diesem Urtheil des jungen Mädchens, das er in diesem Punkte für so gleichgültig gehalten hatte, und das nun mit so unerbittlicher Klarheit die Wahrheit durchschaute.

„Wolf ist überhaupt keine leidenschaftliche Natur,“ sagte er endlich langsam. „Bei ihm überwiegt der Ehrgeiz nun einmal das Gefühlsleben; schon als Knabe war er so und bei dem Manne tritt das noch starrer und schärfer hervor, es ist Charakteranlage.“

Alice schüttelte verneinend das Haupt: „Doktor Gersdorf ist auch eine ruhige, kühle Natur, und wie liebt er Wally! Ernst Waltenberg kannte früher kein anderes Glück als seine schrankenlose Freiheit, und was hat die Liebe aus ihm gemacht! Frau von Lasberg sagt freilich, das eine sei Tändelei, die mit den Flitterwochen zu Ende gehe, und das andere Strohfeuer, das ebenso schnell erlöschen würde, wie es aufflammte; die wahre dauernde Liebe sei überhaupt ein Traumgespinnst, eine thörichte Romanidee, die eine kluge Frau von vornherein aufgeben müsse, wenn sie eine glückliche Ehe führen wolle. Sie mag ja vielleicht recht haben, aber es ist eine so trostlose, so niederschmetternde Weisheit – glauben Sie auch daran, Herr Doktor?“

„Nein!“ sagte Reinsfeld, so fest und nachdrücklich, daß Alice ihn verwundert anblickte, aber sie lächelte trübe.

„Dann sind wir beide Träumer und Thoren, die jene klugen Leute nicht gelten lassen.“

„Und Gott sei Dank, daß wir es sind!“ brach Benno aus. „Lassen Sie es sich doch nicht rauben, mein Fräulein, das Einzige, was im Leben Glück zu geben vermag, was das Leben überhaupt erst der Mühe werth macht. Mir hat Wolf freilich stets prophezeit, daß ich damit ein armer Tropf bleiben werde, nach dem niemand fragt – meinetwegen! Ich bin doch glücklicher als er, mit all seinem Selbstbewußtsein und seinen Erfolgen. Er hat ja keine Freude daran, er steht überall nur die öde, nüchterne Wirklichkeit, ohne Begeisterung, ohne jeden idealen Schimmer. Ich habe ein hartes Leben durchgemacht, bin nach dem Tode meiner Eltern als verwaister Knabe in der Welt herumgestoßen worden, habe als armer Student oft nicht gewußt, wo ich das Brot für den nächsten Tag hernehmen sollte, und habe auch bis jetzt nur eben das Nothwendige gehabt, aber ich tausche doch nicht mit meinem Freunde und seiner glänzenden Zukunft!“

Er ließ sich von seiner Erregung fortreißen und fühlte gar nicht, welche schwere Anklage gegen Wolfgang in seinen Worten lag; aber auch Wolfgangs Braut schien das nicht zu empfinden, denn sie blickte mit leuchtenden Augen zu dem jungen Arzte empor, der, sonst so schlicht und einfach in seinem ganzen Wesen, jetzt in einer förmlichen Begeisterung aufflammte. Er war sonst scheu und verschlossen, wie alle tiefinnerlichen Naturen, jetzt aber, wo die Schranke einmal gebrochen war, kannte er auch keine Zurückhaltung mehr, sondern fuhr beinahe leidenschaftlich fort:

„Wenn wir beide dereinst die Summe unseres Lebens ziehen, dann ist das Glück doch vielleicht auf meiner Seite, dann gäbe Wolfgang vielleicht all seine stolzen Errungenschaften hin für einen einzigen Trunk aus dem Quell, der mir unversiegbar strömt. Wir armen, verhöhnten und verspotteten Idealisten sind doch die einzig Glücklichen in der Welt, denn wir können lieben aus vollem Herzen, können uns begeistern für alles Große und Gute, können Hoffen und vertrauen, trotz aller bitteren Erfahrungen. Und wenn uns alles zusammenstürzt im Leben, dann bleibt uns doch noch das Eine, das nach oben weist, und das trägt uns zu einer Höhe, wohin die anderen nicht folgen können; es fehlen ihnen ja die Flügel und die sind mehr werth als all ihre vielgepriesene Lebensweisheit!“

Alice lauschte schweigend, athemlos dieser Sprache, die sie nie gehört hatte in ihrem Vaterhause und die sie doch verstand mit dem Instinkt eines jungen warmen Herzens, das nach Glück und Liebe verlangt. Und sie wußte nicht einmal, daß der Mann, der so begeistert für den Idealismus, für den Glauben an die Menschen eintrat, eine der herbsten Erinnerungen in Bezug auf Freundesehre und Freundestreue mit sich herumtrug, und daß diese Erinnerung ihrem eigenen Vater galt.

„Sie haben recht!“ rief sie, ihm wie zum Danke beide Hände hinstreckend. „Das ist das höchste, das einzige Glück im Leben und das wollen wir uns nicht rauben lassen!“

„Das einzige?“ wiederholte Benno, während er, fast ohne zu wissen, was er that, ihre Hände ergriff und festhielt. „Nein, mein Fräulein, Ihnen wird doch noch ein anderes Glück beschieden sein! Wolfgang ist trotz alledem eine groß und edel angelegte Natur, lernen Sie sich nur erst gegenseitig verstehen, dann wird und muß er Sie glücklich machen, oder er wäre es nicht werth, Sie zu besitzen. Ich,“ hier wurde ihm doch die Stimme untreu, sie bebte in verhaltenem Schmerze, „ich werde ja öfter von ihm und seiner Ehe hören, wir bleiben in Briefwechsel, und dann – erlauben Sie mir vielleicht auch, dann und wann einen Gruß an Sie einzuflechten.“

Alice antwortete nicht, aber ihre Augen standen voll heißer Thränen; sie war nicht im Stande, diesen ersten tiefen Schmerz ihres Lebens zu verbergen, und bei den letzten Worten barg sie mit einem lauten Aufschluchzen das Gesicht in beide Hände.

Benno sah das mit einem Gefühl berauschenden Glückes und berauschenden Schmerzes. Ein anderer hätte vielleicht alles vergessen bei diesem Anblick, der so deutlich sprach, und die Geliebte in seine Arme gezogen; für ihn war sie nur die Braut seines Freundes, der er um keinen Preis der Welt mit einem Liebesworte genaht wäre – er trat langsam einige Schritte zurück.

„Es ist doch gut, daß ich nach Neuenfeld gehe!“ sagte er kaum hörbar. „Ich wußte längst, daß es nothwendig war!“

Die beiden hatten keine Ahnung davon, daß sie belauscht wurden. Schon in jenem Augenblick, wo der Doktor die Hände des jungen Mädchens ergriff, theilte sich das Gebüsch am Fuße des Felsens, und Wally, die eine neckende Ueberraschung beabsichtigte, lugte daraus hervor.

Ihr muthwilliges Gesicht nahm aber den Ausdruck höchster Verwunderung an, als sie Alice, die sie allein glaubte, in Gesellschaft des Vetter Benno und in einer sehr vielsagenden Vertraulichkeit mit ihm erblickte.

Zu den vielen lobenswerthen Eigenschaften der Frau Doktor Gersdorf gehörte auch eine sehr hervorragende Neugierde. Sie wollte unter allen Umständen wissen, wie dieses verfängliche Zusammensein sich weiter entwickelte. Sie verharrte daher regungslos auf ihrem Lauscherposten und hörte das ganze folgende Gespräch mit an, bis Ernas und Waltenbergs Schritte sich vernehmen ließen, die erst jetzt den Felspfad herabkamen.

Zum Glück besaß die kleine Frau Geistesgegenwart, und überdies hatte sie während ihrer eigenen Brautzeit Alice so nachdrücklich als Schutzgeist in Anspruch genommen, daß sie sich nun auch ihrerseits zu dieser Rolle verpflichtet fühlte. Sie tauchte daher geräuschlos in das Gebüsch zurück und rief dann laut und lustig den Niedersteigenden zu, daß sie ihnen schon weit voraus sei. Das that denn auch seine Wirkung; als alle drei einige Minuten später die Bergwiese

[722] betraten, hatte sich das junge Paar gefaßt, Alice saß auf ihrem früheren Platze und Reinsfeld stand ernst und schweigsam daneben. Wally war natürlich grenzenlos überrascht, ihren Vetter Benno hier zu finden, dessen sie sich sofort bemächtigte. Er mußte beichten, sobald sie allein waren, das stand bei ihr fest, und Alice mußte es gleichfalls, als Schutzgeist hatte man Anspruch auf unbedingtes Vertrauen.

Die kleine Gesellschaft trat gemeinsam den Rückweg an, und dabei mußte Benno unausgesetzt seiner jungen Verwandten Stand halten, die ihn mit Fragen und Erzählungen überschüttete. Er hörte mechanisch zu und gab ebenso mechanisch die geforderten Antworten, während sein Blick an der schlanken, zarten Gestalt hing, die wortlos an Ernas Seite ging; er wußte es ja nicht erst seit heute, daß sie ihm das Theuerste auf der ganzen Welt war.




Der Präsident war zur festgesetzten Zeit angekommen, er mußte bis zur Eröffnung der Bahn den Weg noch über Heilborn nehmen und hatte den Doktor Gersdorf von dort mitgebracht, der seine Frau abholen wollte. Der Chefingenieur war an dem Tage „zufällig“ nach einer sehr entfernten Strecke der Bahn gefahren und konnte seinen Schwiegervater nicht wie sonst begrüßen. Nordheim wußte sich das zu deuten; allerdings rechnete er jetzt auf keine Nachgiebigkeit Wolfgangs mehr, aber es mußte trotz alledem noch zu einer letzten Auseinandersetzung zwischen ihnen kommen.

Wally hatte unmittelbar nach Tische ihren Gatten in den kleinen Waldpark gezogen, der zu der Villa gehörte, um dort ungestört ihr Herz ausschütten zu können, aber sie machte sehr großartige Vorbereitungen dazu und erging sich in so geheimnißvollen Andeutungen und Winken, daß Gersdorf anfing unruhig zu werden.

„Aber, liebes Kind, so sage mir doch endlich, was eigentlich geschehen ist,“ bat er. „Ich habe gar nichts Ungewöhnliches bemerkt bei meiner Ankunft; was hast Du mir denn anzuvertrauen?“

„Ein Geheimniß, Albert,“ versetzte die junge Frau mit großer Feierlichkeit, „ein schweres, tiefes Geheimniß, dessen Bewahrung ich Dir auf die Seele binde. Es haben sich hier ganz unglaubliche Dinge ereignet – hier und in Oberstein.“

„In Oberstein? Ist etwa Benno dabei betheiligt?“

„Ja!“ Frau Doktor Gersdorf machte eine sehr lange Kunstpause, um ihrer Eröffnung den nöthigen Nachdruck zu geben, dann sagte sie in einem hochtragischen Ton:

„Benno – liebt Alice Nordheim!“

Die Nachricht machte leider nicht den gehofften Effekt, der Rechtsanwalt schüttelte nur den Kopf und sagte mit empörender Gleichgültigkeit:

„Der arme Junge! Gut, daß er nach Neuenfeld geht, da wird er sich den Unsinn hoffentlich bald aus dem Sinne schlagen!“

„Das nennst Du Unsinn?“ rief Wally entrüstet. „Und Du meinst, man könne es sich so ohne weiteres aus dem Sinne schlagen? Du hättest es wahrscheinlich gekonnt, wenn ich nicht Deine Frau geworden wäre, Albert, denn Du bist ein herzloses Ungeheuer!“

„Aber ein vortrefflicher Ehemann!“ behauptete Gersdorf, der an diese tragischen Ausdrücke seiner Frau schon gewöhnt war, mit philosophischer Ruhe. „Uebrigens lag die Sache bei mir doch etwas anders. Ich wußte, daß Du mir erreichbar warst trotz mancher Hindernisse, und überdies war ich Deiner Gegenliebe gewiß.“

„Das ist Benno auch, Alice liebt ihn gleichfalls,“ erklärte Wally und hatte die Genugthuung, zu sehen daß ihr Gatte diese zweite Neuigkeit bedeutend ernster nahm, als die erste. Er hörte nachdenklich und schweigsam zu, während sie in ihrer gewohnten lebhaften Weise den ganzem Bericht hervorsprudelte, von dem zusammentreffen im Walde, von ihrem Lauscherposten im Gebüsche und ihren höchst energischen Bemühungen, Klarheit in die Sache zu bringen, wie sie sich ausdrückte.

„Eine Stunde später hatte ich Benno unter vier Augen,“ fuhr sie fort. „Er wollte anfangs nicht beichten, durchaus nicht, aber man soll es einmal versuchen, mir etwas zu verbergen, wenn ich auf der Spur bin! Ich sagte ihm schließlich auf den Kopf zu: ‚Sie sind verliebt, Benno, rettungslos verliebt!‘ Da endlich gab er sein Leugnen auf und antwortete mit einem tiefen Seufzer: ‚Ja – und hoffnungslos!‘ Er war ganz verzweifelt, der Arme, aber ich sprach ihm Muth ein und erklärte, daß ich mich der Sache annehmen und sie in Ordnung bringen werde.“

„Was ihn natürlich sehr getröstet hat!“ warf Gersdorf sarkastisch ein.

„Nein, im Gegentheil, er wollte nichts davon hören. Dieser Benno ist von einer entsetzlichen Gewissenhaftigkeit! Alice sei die Braut seines Freundes, er dürfe nicht einmal an sie denken, wolle sie nie wiedersehen, sondern womöglich schon morgen nach Neuenfeld abreisen und was dergleichen Ueberspanntheiten mehr waren. Er verbot mir sogar, mit Alice zu sprechen – natürlich ging ich sofort zu ihr, sobald er den Rücken gewandt hatte, und brachte sie gleichfalls zum Geständniß. Kurz und gut, die beiden lieben sich, namenlos, grenzenlos, unaussprechlich – da bleibt also nichts anderes übrig, als daß sie sich heirathen!“

„So?“ sagte der Rechtsanwalt, etwas überrascht von dieser Schlußfolgerung. „Du scheinst ganz zu vergessen, daß Alice die Braut des Chefingenieurs ist.“

Frau Wally rümpfte das Näschen; diese Verlobung hatte niemals Gnade vor ihren Augen gefunden, und jetzt machte sie vollends kurzen Prozeß damit.

„Alice hat diesen Wolfgang Elmhorst nie geliebt,“ versicherte sie mit der größten Bestimmtheit. „Sie hat Ja gesagt, weil ihr Vater es wünschte, weil sie damals überhaupt nicht die Energie besaß, Nein zu sagen, und er – nun er wollte eben eine reiche Partie machen.“

„Und eben deshalb wird er nicht geneigt sein, sie fahren zu lassen, das solltest Du doch einsehen.“

„Ich habe Dir ja gesagt, Albert, daß ich mich der Sache anzunehmen beabsichtige!“ erklärte die junge Frau großartig. „Ich werde mit Elmhorst sprechen, werde an seinen Edelmuth appelliren, ihm vorstellen, daß er zurücktreten muß, wenn er nicht zwei Menschen unglücklich machen will. Er wird gerührt, erweicht sein, wird die Liebenden zusammenführen und –“

„Eine echte Romanscene spielen!“ ergänzte Albert. „Nein, das wird er nicht thun! Du kennst den Chefingenieur schlecht, wenn Du ihm eine solche Gefühlsseligkeit zutraust. Er ist am wenigsten der Mann, von einer Verbindung zurückzutreten, die ihm den einstigen Besitz von Millionen verbürgt, und wenn er die Liebe seiner Frau dabei entbehren muß, so wird er sich zu trösten wissen. Und was glaubst Du denn, was Nordheim zu der romantischen Geschichte sagen würde?“

„Der Präsident?“ fragte Wally kleinlaut. Sie hatte bei ihren kühnen Entwürfen, wo sie sich schon als segnenden Schutzgeist sah, der die Hände der beiden Liebenden mit der nöthigen Rührung vereinigte, gar nicht daran gedacht, daß Alice noch einen Vater besaß, der ein entscheidendes Wort in der Sache zu sprechen hatte.

„Ja, Präsident Nordheim, dessen eigentliches Werk diese Verlobung ist, und der schwerlich geneigt sein dürfte, sie aufzuheben und die Hand seiner Tochter einem jungen Landarzte zu bewilligen, der bei all seiner Bravheit und Tüchtigkeit doch äußerlich gar nichts in die Wagschale zu legen hat. Nein Wally, die Sache ist völlig aussichtslos, und Benno hat durchaus recht, wenn er jede Hoffnung aufgiebt. Selbst wenn Alice ihn wirklich liebt – sie hat ihr Jawort einmal gegeben, freiwillig gegeben, und weder der Bräutigam noch der Vater werden sie davon entbinden. Es hilft nichts, sie müssen sich beide fügen.“

Er hätte noch weit mehr Gründe anführen können, ohne seine Frau zu überzeugen. Sie wußte, was ihr eigenes Trotzköpfen ausgerichtet hatte, als es sich um die Vereinigung mit dem Geliebten handelte, und sah durchaus nicht ein, weshalb Alice das nicht gleichfalls durchsetzen sollte. Sie hörte zwar aufmerksam zu, schnitt dann aber jede weitere Einwendung ihres Mannes mit der diktatorischen Erklärung ab:

„Das verstehst Du nicht, Albert! Sie lieben sich – also müssen sie sich heirathen, und das werden sie auch!“

Und gegen eine solche Logik kam Gersdorf mit seinen Gründen allerdings nicht auf. –

[736] Alice Nordheim befand sich in dem Arbeitszimmer ihres Vaters, das sie sonst nie zu betreten pflegte, und es mußte etwas Ungewöhnliches sein, was sie dorthin führte, denn sie sah bleich und erregt aus und schien, wie sie da am Fenster lehnte, mit einer geheimen Angst zu kämpfen, und doch handelte es sich nur um eine Unterredung zwischen Vater und Kind. Freilich, die Vertraulichkeit und Innigkeit dieses Verhältnisses fehlten hier vollständig. Nordheim, der seine Tochter mit allem Glanze seines Reichthums umgab, hatte doch im Grunde nur sehr wenig Interesse für sie, und Alice hatte das von jeher empfunden, aber bei ihrer gehorsamen geduldigen Fügsamkeit in alles, was der Vater zu beschließen für gut fand, war es nie zu irgend einem Gegensatze zwischen ihnen gekommen.

Jetzt zum ersten Male sollte das anders werden, sie wollte dem Vater mit einem Geständnisse nahen, das, wie sie wußte, seinen vollsten Zorn herausfordern würde. Aber das junge Mädchen war doch nicht so schwach und willenlos, wie es den Anschein hatte; sie fürchtete diesen Zorn, sie zitterte davor und schwankte doch nicht in ihrem Entschlusse.

Da ließ sich im Nebenzimmer der Schritt des Präsidenten hören und gleich darauf seine Stimme:

„Der Sekretär des Herrn Waltenberg? Gewiß, lassen Sie ihn eintreten!“

Alice stand einen Moment lang unentschlossen; der Vater, der von ihrem Hiersein keine Ahnung hatte, kam nicht allein, und sie konnte jetzt, in ihrer angstvollen Erregung, keinem Fremden gegenübertreten. Es handelte sich jedenfalls nur um eine Nachricht oder Bestellung von seiten Waltenbergs, die in wenigen Minuten abgemacht war. Das junge Mädchen schlüpfte also rasch in das anstoßende Schlafzimmer, dessen Thür angelehnt blieb; gleich darauf trat Nordheim ein und hatte sich kaum niedergelassen, als der Gemeldete erschien.

Der Präsident empfing ihn mit vornehmer Gleichgültigkeit. Er wußte, daß Ernst auf seinen Reisen eine Persönlichkeit aufgegriffen hatte, die unter dem Titel eines Sekretärs alle möglichen Vertrauensposten bei ihm bekleidete, interessirte sich aber nicht weiter dafür. Den Namen hatte er entweder nicht gehört oder nicht beachtet, jedenfalls erkannte er den einstigen Jugendfreund nicht wieder. Fünfundzwanzig Jahre sind eine lange Zeit, und ein Leben, wie Gronau es geführt hatte, pflegt den Menschen noch mehr als sonst zu verändern. Der Mann mit dem braunen, tiefdurchfurchten Gesicht und den grauen Haaren hatte keinen Zug mehr von dem frischen, übermüthigen Burschen, der damals in die weite Welt gegangen war, um sein Glück zu versuche.

„Sie sind der Sekretär des Herrn Waltenberg?“ eröffnete Nordheim das Gespräch.

„Ja, Herr Präsident.“

Nordheim stutzte beim Klange der Stimme, die eine unbestimmte Erinnerung in ihm erweckte. Er richtete einen scharfen Blick auf den Fremden, und während er ihm flüchtig winkte, Platz zu nehmen, fuhr er fort:

„Er kommt also heute vermuthlich nicht? Was bringen Sie mir, Herr – wie ist Ihr Name?“

„Veit Gronau!“ versetzte dieser, indem er ruhig den angebotenen Platz einnahm.

Der Präsident sah sehr überrascht aus; er schien in dem wettergebräunten Gesichte die Züge des einstigen Jugendfreundes zu suchen, aber die Erinnerung, die ihm hier so unvermuthet entgegentrat, schien keine angenehme zu sein, und er war offenbar nicht geneigt, jene Freundschaft jetzt noch gelten zu lassen. Die Haltung, welche er annahm, wies dem Sekretär seines künftigen Verwandten entschieden eine untergeordnete Stellung an.

„Dann sind wir uns wohl nicht ganz fremd,“ warf er hin. „Ich habe in meiner Jugendzeit öfter mit einem Veit Gronau verkehrt –“

„Der die Ehre hat, vor Ihnen zu sitzen,“ ergänzte Veit.

„Das freut mich in der That!“ Die Freude wurde in sehr gemessener Weise ausgedrückt. „Und wie ist es Ihnen in der Zwischenzeit ergangen? Hoffentlich gut, Ihre Stellung bei Herrn Waltenberg ist voraussichtlich eine sehr angenehme.“

„Ich habe allen Grund, zufrieden damit zu sein. So weit wie Sie, Herr Präsident, habe ich es freilich nicht gebracht, aber man muß sich zu bescheiden wissen.“

„Ganz recht! Das Schicksal lenkt die Bahnen der Menschen in sehr verschiedene Richtungen.“

„Und bisweilen übernehmen das die Menschen auch selbst; da kommt es denn freilich darauf an, wer sein Lebensschiff am geschicktesten zu steuern versteht.“

Die Bemerkung mißfiel dem Präsidenten, sie klang ihm zu vertraulich, und er wünschte keine Vertraulichkeit mit dem ehemaligen Jugendgenossen, deshalb sagte er abbrechend:

„Doch wir kommen von dem eigentlichen Grund Ihres Besuches ab. Herr Waltenberg schickt Sie also –?“

„Nein!“ versetzte Gronau trocken.

Nordheim sah ihn verwundert an.

„Sie kommen doch von ihm, in seinem Auftrage?“

„Nein, Herr Präsident. Ich kehre soeben erst von einer Reise zurück. Ich habe Herrn Waltenberg noch nicht wiedergesehen und mich nur in meiner Eigenschaft als sein Sekretär melden lassen, um sofort von Ihnen empfangen zu werden. Ich komme in eigener Sache.“

Der Präsident wurde bei dieser Eröffnung noch um einige Grade kühler und vornehmer, denn er erwartete irgend ein Bittgesuch; aber der Mann, der da so ruhig vor ihm saß und ihn mit den hellen, scharfen Augen so forschend anblickte, sah nicht aus wie ein Bittender, es lag eher etwas Herausforderndes in seinem Wesen, das Nordheim sehr unangenehm berührte.

„Nun, so sprechen Sie!“ sagte er mit merklicher Herablassung. „Unsere Beziehungen liegen zwar sehr weit zurück, indessen –“

„Ja, sie liegen um fünfundzwanzig Jahre zurück,“ schnitt ihm Gronau ohne weiteres das Wort ab. „Und doch möchte ich mir gerade aus jener Zeit eine Auskunft erbitten und Sie um Nachricht ersuchen, was aus unserem gemeinschaftlichen – ich bitte um Entschuldigung – aus meinem einstigen Freunde Benno Reinsfeld geworden ist.“

Die Frage kam so plötzlich und unerwartet, daß Nordheim einen Moment lang verstummte; er war aber hinreichend an Selbstbeherrschung gewöhnt, um auch solchen Ueberraschungen Stand zu halten. Allerdings flog ein argwöhnischer Blick zu dem Fragenden hinüber, dann aber zuckte er die Achseln und erwiderte mit kalter Abweisung:

„Sie muthen meinem Gedächtniß wirklich sehr viel zu, Herr Gronau. Ich kann unmöglich noch jede einzelne Jugendbekanntschaft im Kopfe haben, und in diesem Falle erinnere ich mich nicht einmal mehr des Namens.“

„Nicht? Nun, dann muß ich Ihrem Gedächtnisse zu Hilfe kommen, Herr Präsident. Ich spreche von dem Ingenieur Benno Reinsfeld. dem Erfinder der ersten Berglokomotive.“

Die Augen der beiden Männer begegneten sich, und in dem Augenblick wußte der Präsident, daß es sich hier um keinen Zufall handelte, sondern daß ein Feind vor ihm stand, und daß in jenen anscheinend so harmlosen Worten eine Drohung lag. Es kam nur darauf an, zu erfahren, ob dieser Mensch, der so urplötzlich aus jahrelanger Verschollenheit wieder auftauchte, in der That gefährlich war, oder ob das Ganze nur auf einen gewöhnlichen Erpressungsversuch hinauslief, der sich auf irgend eine Erinnerung aus alter Zeit stützte. Nordheim schien das letztere anzunehmen, denn er sagte eisig:

„Da sind Sie falsch berichtet, die erste Berglokomotive habe ich erfunden, wie mein Patent es ausweist.“

Gronau erhob sich plötzlich, sein dunkles Antlitz färbte sich noch tiefer, man sah es, wie ihm das Blut in die braunen Wangen stieg. Er hatte sich einen ausführlichen Feldzugsplan entworfen und genau überlegt, wie er den Gegner angreifen und in die Enge treiben wolle, bis diesem kein Ausweg mehr übrig blieb; dieser eisernen Stirn gegenüber fielen aber all die klugen Vorsätze zusammen und die Empörung des ehrlichen Mannes gewann die Oberhand.

„Und das wagen Sie mir ins Gesicht zu sagen!“ rief er heftig. „Mir, der dabei gewesen ist, als Benno uns seinen Plan vorlegte und erklärte, als Sie ihn lobten und bewunderten! Läßt Ihr Gedächtniß Sie auch da im Stich?“

Der Präsident legte ruhig die Hand an die Klingel.

„Werden Sie sich freiwillig entfernen, Herr Gronau, oder soll ich die Diener rufen? Ich bin nicht gesonnen, in meinem eigenen Hause Beschimpfungen zu dulden.“

„Ich rathe Ihnen, die Klingel in Ruhe zu lassen!“ brach Veit grimmig aus. „Sie haben die Wahl, ob das, was ich Ihnen zu sagen habe, unter vier Augen oder vor aller Welt verhandelt werden soll. Wenn Sie sich weigern – ich finde überall Gehör.“

Die Drohung blieb nicht wirkungslos, Nordheim zog langsam die Hand zurück. Er sah, daß er kein leichtes Spiel haben werde mit diesem energischen entschlossenen Manne, und zog es vor, ihn nicht weiter zu reizen, aber seine Stimme klang noch immer unbewegt:

„Nun wohl, was haben Sie mir zu sagen?“

Veit Gronau trat dicht vor den ehemaligen Jugendgenossen hin und seine Augen sprühten.

„Daß Du ein Schurke bist, Nordheim – weiter nichts.“

Der Präsident zuckte zusammen, aber schon im nächsten Augenblick fuhr er auf:

„Ah, Sie wagen es –!“

„O ja, und ich werde noch mehr wagen, denn mit dem einen Worte ist die Sache leider nicht abgethan. Der arme Benno hat sie freilich nicht durchführen können oder wollen, der beugte sein Haupt unter dem Schlage und litt vielleicht mehr durch das Bewußtsein, daß sein liebster Freund ihn verrathen hatte, als durch den Verrath selbst. Wäre ich damals hier gewesen, Du wärst nicht so leichten Kaufes fortgekommen. Gieb Dir keine Mühe mit dieser empörten Miene! Bei mir verfängt das nicht, ich weiß Bescheid und wir sind ja auch allein, Du brauchst Dich nicht zu geniren. Es kommt nur darauf an, was Du antworten wirst, wenn ich Dir die Anklage öffentlich ins Gesicht schleudere.“

Er hatte in seiner Erregung den fremden Ton fallen lassen und gebrauchte das alte Du. Nordheim machte keinen Versuch mehr, ihn zur Mäßiguttg zu zwingen, aber er mußte sich trotz alledem sicher fühlen, denn er verlor seine überlegene Haltung nicht einen Augenblick.

„Was ich antworten werde?“ sagte er achselzuckead. „Wo sind die Beweise?“

Gronau lachte bitter auf.

„Ja, das dachte ich mir, daß es so lauten würde! Darum kam ich auch nicht sofort zu Dir, als ich in Oberstein bei dem Sohne Reinsfelds die saubere Geschichte erfuhr, sondern ging der Spur nach. Ich bin in den drei Wochen überall gewesen, in der Residenz, in Bennos letztem Wohnorte, in unserer Vaterstadt sogar.“

„Und sind sie gefunden, diese Beweise?“ Die Frage klang in vernichtendem Hohne.

„Nein, wenigstens nichts, was Dich direkt überführt; Du hast Dich hinreichend gesichert und Reinsfeld hatte es ja versäumt, seine Erfindung unter gesetzlichen Schutz zu stellen, weil er noch nicht fertig damit zu sein glaubte. Das war damals, als ich in die weite Welt ging und Du die Stellung in der Residenz annahmst. Der gute arglose Benno änderte und besserte inzwischen an seinem Entwurfe und baute glänzende Luftschlösser darauf, bis er eines Tages erfuhr, daß der Plan längst angenommen und mit Geld aufgewogen war; aber das Patent und das Geld hatte ein anderer in der Tasche, sein bester Freund, der sich damit zum Millionär aufschwang.“

„Und dies Märchen willst Du der Welt erzählen?“ fragte der Präsident verächtlich, indem er, fast unwillkürlich, dem Beispiele Gronaus folgte und zu dem einstigen Du zurückkehrte.

„Glaubst Du denn wirklich, daß die Behauptung eines Abenteurers, wie Du es bist, einen Mann in meiner Stellung stürzen kann? Du gestehst es ja selbst ein, daß die Beweise fehlen.“

„Die direkten, ja, aber was ich erfahren habe, ist immerhin genug, Dir den Boden heiß zu machen, auf dem Du stehst. Reinsfeld hat es ja auch versucht, zu seinem Rechte zu kommen, natürlich wurde er abgewiesen, wenn man auch hier und da seinen Angaben Glauben schenkte; da verlor er den Muth und gab die Sache auf. Aber sie ist damals wenigstens zur Sprache gekommen, Du hast Dich schon einmal gegen die Anklage vertheidigen müssen, und jetzt hast Du nicht den weichen, unerfahrenen Benno, sondern mich zum Gegner; sieh zu, wie Du mit mir fertig wirst! Ich habe es mir zugeschworen, daß ich dem Sohne meines Freundes die einzige Genugthuung schaffen werde, die hier überhaupt noch zu schaffen ist, und ich pflege Wort zu halten, im Guten wie im Schlimmen. Ich habe als ‚Abenteurer‘ ja nichts zu verlieren, und ich werde rücksichtslos und erbarmungslos gegen Dich vorgehen, werde aus allem und jedem, was ich in den letzten Wochen erfahren habe, eine Waffe gegen Dich schmieden und den Verdacht, von dem damals nur die engsten Berufskreise wußten, vor aller Welt zur Sprache bringen. Wir wollen doch sehen, ob die Wahrheit so ganz ungehört verhallt, wenn ein ehrlicher Mann bereit ist, Gut und Blut dran zu setzen!“

Es lag eine eiserne Entschlossenheit in den Worten, und Nordheim mochte wohl wissen, wessen er sich von diesem Gegner zu versehen hatte. Er schien einige Minuten lang mit sich zu kämpfen, dann fragte er kurz und leise:

„Wie viel verlangst Du?“

Um Gronaus Lippen zuckte ein spöttisches Lächeln:

„Ah, Du läßt Dich also auf Unterhandlungen ein?“

„Es kommt darauf an! Ich leugne nicht, daß ein Lärm, wie Du ihn zu erheben drohst, mir unangenehm sein würde, wenn ich auch weit entfernt bin, eine Gefahr darin zu erblicken. Wenn Du vernünftige Bedingungen stellst, wäre ich vielleicht bereit, ein Opfer zu bringen. Also – was forderst Du?“

„Sehr wenig für einen Mann Deines Schlages! Du zahlst dem Sohne Bennos, dem jungen Doktor Reinsfeld, die volle Summe, die Du damals für das Patent erhalten hast. Es ist sein rechtmäßiges Erbtheil und ein Vermögen für seine jetzigen Verhältnisse. Ueberdies gestehst Du ihm die Wahrheit ein, meinetwegen unter vier Augen, und giebst dem Todten die Ehre, die ihm gebührt, wenigstens vor seinem Sohne; dann wird dieser von jeder weiteren Verfolgung der Sache abstehen, dafür verbürge ich mich, und ich werde sie gleichfalls ruhen lassen.“

„Die erste Bedingung nehme ich an,“ sagte Nordheim in einem so kühlen Tone, als verhandle er über irgend eine geschäftliche Angelegenheit. „Die zweite nicht! Ihr werdet Euch mit dem Kapital begnügen, das wahrhaftig nicht unbedeutend ist; Ihr theilt es ja doch mit einander.“

„Meinst Du?“ fragte Gronau mit bitterer Verachtung. „Freilich, wie solltest Du auch an eine ehrliche, uneigennützige Freundschaft glauben! Benno Reinsfeld weiß nicht einmal, daß ich die Sache hier zur Sprache bringe, daß ich überhaupt Bedingungen stelle, und ich werde Mühe und Noth genug haben, ihn zur Annahme dessen zu zwingen, was ihm von Gott und rechtswegen gehört, ihm allein – ich würde es als eine Schande betrachten, auch nur einen Pfennig davon zu nehmen. Doch nun genug der Erörterungen! Willst Du beide Bedingungen eingehen?“

„Nein, nur die erste!“

„Ich lasse nicht mit mir handeln – das Kapital und das Eingeständniß!“

„Damit ich mich ganz in Eure Hände gebe? Niemals!“

„Gut, dann sind wir fertig! Wenn Du den Krieg willst, so sollst Du ihn haben!“

Damit wandte sich Gronau um und ging nach der Thür; der Präsident machte eine Bewegung, als wolle er ihn zurückhalten, aber es kam nicht dazu, und in der nächsten Minute war es auch zu spät, die Thür hatte sich hinter Veit geschlossen.

Als Nordheim allein war, sprang er auf und begann mit heftigen Schritten im Zimmer auf und nieder zu gehen. Jetzt, wo er sich ohne Zeugen wußte, sah man es, daß ihn die Unterredung keineswegs so gleichgültig gelassen hatte, als er sich den Anschein gab. Seine Stirn war tiefgefurcht und in seinen Zügen stritten Zorn und Besorgniß mit einander; erst allmählich fing er an, ruhiger zu werden, und endlich blieb er stehen und sagte halblaut: „Thor der ich bin, mich so aus der Fassung bringen zu lassen! Er hat keinen Beweis, nicht einen einzigen – ich leugne alles!“

Er wandte sich nach seinem Schreibtische, aber plötzlich schien sein Fuß am Boden zu wurzeln und ein halb unterdrückter Ausruf entfuhr seinen Lippen. Die Thür des Schlafzimmers hatte sich geräuschlos geöffnet und dort auf der Schwelle stand Alice, todtenbleich, beide Hände gegen die Brust gepreßt und die großen Augen auf den Vater gerichtet, der vor ihrem Anblick erschrak wie vor einem Gespenste.

„Du hier?“ herrschte er sie an. „Wie kommst Du hierher? Hast Du etwa gehört, was gesprochen wurde?“

„Ja – ich hörte alles!“ sagte das junge Mädchen, kaum vernehmbar.

Jetzt erblaßte Nordheim zum ersten Male – seine Tochter Zeugin dieser Unterredung! Aber schon im nächsten Augenblick hatte er sich wieder gefaßt, es konnte ja nicht schwer sein, diesem unerfahrenen, urtheilslosen Mädchen, das sich stets seiner Autorität gebeugt hatte, jeden Argwohn zu benehmen.

Das war für Deine Ohren nun allerdings nicht bestimmt,“ sagte Nordheim mit voller Schärfe zu seiner Tochter. „Ich begreife nicht, wie Du Dich so lange verborgen halten konntest, da Du doch hörtest, daß von Geschäftsangelegenheiten die Rede war. Jetzt bist Du Zeugin eines Erpressungsversuches geworden, der an Deinem Vater gemacht wurde, und den ich vielleicht nachdrücklicher hätte zurückweisen sollen. Aber solche kühne Betrüger können auch dem besten Manne gefährlich werden. Die Welt ist nur zu sehr geneigt, an Lügen zu glauben, und wer wie ich fortwährend in großen Unternehmungen steckt, bei denen das Vertrauen des Publikums die Hauptsache ist, darf sich selbst einer bloßen Verdächtigung nicht aussetzen. Eher kauft man sich mit irgend einer Summe los von diesen Menschen, die von solchen Erpressungen leben – doch davon verstehst Du nichts! Geh auf Dein Zimmer und ich bitte mir aus, daß Du das meinige nicht wieder heimlich betrittst.“

Die Worte hatten nicht die gewünschte Wirkung; Alice stand noch immer unbeweglich, sie antwortete nicht, regte sich nicht, und dies starre Schweigen schien den Präsidenten noch mehr zu reizen.

„Hast Du nicht gehört?“ wiederholte er. „Ich wünsche allein zu sein und im übrigen erwarte ich, daß von dem, was Du hier erlauscht hast, kein Wort über Deine Lippen kommt – jetzt geh!“

Anstatt zu gehorchen, trat Alice langsam näher und sagte leise, aber in einem seltsamen nervendurchzitternden Tone:

„Papa – ich habe mit Dir zu sprechen.“

„Worüber? Doch nicht etwa über jenen Erpressungsversuch?“ fragte Nordheim schroff „Ich habe Dir ja erklärt, wie die Sache zusammenhängt, und Du wirst doch hoffentlich nicht einem Betrüger Glauben schenken.“

„Der Mann war kein Betrüger!“ entgegnete das junge Mädchen, in demselben bebenden, gepreßten Tone wie vorhin.

„Nicht?“ fuhr der Präsident auf. „Und was bin ich denn in Deinen Augen?“

Keine Antwort, nur jener starre, angstvolle Blick, der unverwandt auf dem Gesichte des Vaters haftete. Es lag keine Frage mehr darin, sondern eine Verurtheilung und Nordheim vermochte ihn nicht zu ertragen. Er war seinem Ankläger mit eiserner Stirn entgegengetreten, vor den Augen seines Kindes schlug er die seinigen nieder.

Alice schien nach Athem zu ringen; anfangs versagte ihr die Stimme, aber sie gewann mehr und mehr an Festigkeit, während sie weiter sprach.

„Ich kam hierher, um Dir ein Geständniß zu machen, Papa, Dir etwas zu sagen, was Dich vielleicht erzürnt hätte – davon ist jetzt keine Rede mehr! Ich habe nur noch eine Frage an Dich. Wirst Du dem – dem Doktor Reinsfeld die Genugthuung geben, die von Dir verlangt wurde?“

„Ich werde mich hüten! Es bleibt bei meinem letzten Worte.“

„Nun, dann gebe ich sie ihm – an Deiner Stelle!“

„Alice, bist Du von Sinnen?“ fuhr der Präsident tödlich erschrocken auf, aber sie fuhr unbeirrt fort.

„Er braucht das Eingeständniß freilich nicht mehr, denn er kennt die Wahrheit, muß sie längst gekannt haben. Jetzt weiß ich, warum er auf einmal so verändert war, warum er mich immer so traurig mitleidig ansah und nie verrathen wollte, was ihn drückte. Er weiß alles! Und doch hat er mir nur Güte und Mitleid gezeigt, hat alles aufgeboten, mir die Gesundheit zurückzugeben, mir, der Tochter des Mannes , der –“ sie brach ab, sie konnte den Satz nicht vollenden.

Nordheim machte keinen Versuch mehr, den Empörten zu spielen, denn er sah, daß Alice sich nicht täuschen ließ, und er sah auch ein, daß er es aufgeben müsse, sie mit Härte einzuschüchtern. Sie hatte einen geradezu unsinnigen Entschluß gefaßt, der ihm verderblich werden konnte; er mußte sich ihr Schweigen sichern, um jeden Preis.

„Ich bin auch überzeugt, daß Doktor Reinsfeld der Sache fern steht,“ sagte er ruhiger; „daß er vernünftig genug ist, das Lächerliche solcher Drohungen einzusehen. Was aber Deinen tollen Einfall betrifft, mit ihm darüber zu sprechen, so will ich annehmen, daß es Dir damit nicht Ernst war. Was geht diese Angelegenheit denn Dich an?“

Das junge Mädchen richtete sich empor, mit einem unendlich herben Ausdruck, den die kindlichen Züge bis dahin nie gekannt hatten.

„Dich sollte es freilich mehr angehen, Papa! Du wußtest ja, daß der Doktor in unserer Nähe wohnte, daß er sich Tag für Tag abmühte in armseligen undankbaren Verhältnissen, und hast es nicht einmal versucht, gut zu machen, was seinem Vater geschehen ist! Das Leben und die Menschen sind so hart mit ihm umgegangen, als verwaistes Kind ist er in die Welt hinausgestoßen worden, in seiner Studienzeit hat er gedarbt, gehungert vielleicht – und Du hast Millionen verdient mit jenem Gelde, hast Dir Paläste gebaut und in der Fülle des Reichthums gelebt. Thue wenigstens, was Gronau von Dir verlangt, Papa, Du mußt es thun – oder ich versuche es selbst!“

„Alice!“ rief Nordheim, schwankend zwischen Zorn und grenzenlosem Erstaunen darüber, daß seine Tochter, dies weiche, willenlose Geschöpf, das nie auch nur einen Widerspruch gewagt hatte, ihn jetzt förmlich zur Rede stellte. „Hast Du denn keine Ahnung von der Tragweite der Sache? Willst Du Deinen Vater in die Hand seines ärgsten Feindes geben, der –“

„Benno Reinsfeld ist Dein Feind nicht!“ unterbrach ihn Alice. „Wenn er es wäre, dann würde er das Geheimniß längst benutzt haben, um etwas ganz anderes von Dir zu erzwingen, als was Gronau verlangte – denn er liebt mich!“

„Reinsfeld – Dich?“

„Ja – ich weiß es, wenn er es mir auch nie gestanden hat. Ich bin ja die Braut eines anderen, und er, der alles von Dir erreichen konnte, wenn er forderte und drohte, er geht von hier, ohne ein Wort der Drohung, ohne auch nur Rechenschaft von Dir zu fordern, weil er mir das Furchtbare ersparen wollte, das ich nun doch erfahren habe. Du ahnst nicht, wie weit der Edelmuth dieses Mannes geht – ich kenne ihn jetzt ganz!“

Der Präsident stand wortlos da; auf diese Lösung war er nicht gefaßt gewesen, denn es bedurfte ja keines besonderen Scharfblickes, um zu erkennen, daß Bennos Liebe erwidert wurde. Das leidenschaftliche Aufflammen des jungen Mädchens sprach deutlich genug und wenn Reinsfeld wußte, was geschehen war, und das ließ sich nicht mehr bezweifeln, so gab es in der That nur eine Erklärung für seine Zurückhaltung und sein Schweigen in einer Sache, die ihn doch zuerst anging. Es war ihm schon zuzutrauen, daß er den Vortheil, den jene Kenntniß ihm gab, unbenutzt ließ, nur um die Geliebte vor einer tödlichen Kränkung zu bewahren. Dann war aber überhaupt nichts von ihm zu fürchten, dann war der Vater des Mädchens, das er liebte, sicher vor seiner Rache und vielleicht ließ sich durch ihn auch Gronau zurückhalten.

"Das sind ja überraschende Neuigkeiten!“ sagte Nordheim, nach einer kurzen Pause, langsam und das Auge unverwandt auf seine Tochter gerichtet. „Und das erfahre ich jetzt erst? Du sprachest vorhin von einem Geständniß – was hattest Du mir zu sagen?“

Alice senkte den Blick und in ihr eben noch so bleiches Antlitz trat eine glühende Röthe.

„Daß ich Wolfgang nicht liebe, so wenig wie er mich,“ antwortete sie leise. „Ich habe das selbst nicht gewußt, erst vor wenig Tagen ist es mir klar geworden.“

Sie erwartete mit voller Bestimmtheit einen Zornausbruch ihres Vaters, aber nichts dergleichen erfolgte, im Gegentheil, seine Stimme klang in einem ganz veränderten, ungewöhnlich milden Tone:

„Warum hast Du kein Vertrauen zu mir, Alice? Ich werde meine einzige Tochter ja doch nicht zu einer Verbindung zwingen, von der ihr Herz sich abwendet; aber das will überlegt und erwogen sein. Für jetzt fordere ich nur, daß Du keine übereilten Entschlüsse fassest und es mir überläßt, irgend einen Ausweg zu finden. Vertraue Deinem Vater, mein Kind, Du sollst mit ihm zufrieden sein!“

Er beugte sich nieder, um väterlich ihre Stirn zu küssen, aber sie zuckte zusammen und wich mit dem unzweideutigsten Ausdrucke des Entsetzens zurück vor der Liebkosung.

„Was soll das?“ fragte Nordheim, mit gerunzelter Stirn. „Du fürchtest Dich vor mir? Glaubst Du mir etwa nicht?“

Sie hob das Auge zu ihm empor, es war wieder derselbe schwere, anklagende Blick wie vorhin und die sonst so weiche Stimme klang in herber, unerbittlicher Entschiedenheit, als sie antwortete:

„Nein, Papa, ich glaube nicht an Deine Liebe und Deine Güte. Ich glaube Dir überhaupt nicht – nie mehr!“

Nordheim preßte die Lippen zusammen und wandte sich ab, stumm winkte er ihr, sich zu entfernen, und stumm und scheu gehorchte Alice, sie verließ ohne ein Wort weiter das Zimmer.

Sie hatte vollkommen recht gesehen, der Präsident dachte auch nicht entfernt an die Möglichkeit einer Verbindung seiner Tochter mit dem jungen Arzte, aber er machte sich kein Gewissen daraus, eine solche Möglichkeit anzudeuten, um für den Augenblick die Gefahr zu beschwören, die ihm drohte. Hier aber hatte er sich doch verrechnet; das junge, unerfahrene Mädchen durchschaute ihn, und seltsam, er, der Mann mit der eisernen Stirn, ertrug das nicht. Er hatte der stolzen Empörung Wolfgangs, dem drohenden Auftreten Gronaus gegenüber seine Fassung bewahrt und neben dem Zorne höchstens noch Furcht empfunden. Jetzt zum ersten Male nahte ihm etwas, das er während seines ganzen Lebens nicht gekannt hatte – die Scham! Wenn die Gefahr auch wirklich abgewandt wurde, er fühlte es doch im tiefsten Innersten, daß er verurtheilt, gerichtet war von seinem einzigen Kinde.


Die Arbeiten an der Bahn wurden mit einer beinahe fieberhaften Thätigkeit gefördert. Es war in der That nicht leicht, Wort zu halten und die Bauten in der gegebenen kurzen Frist zu vollenden, aber Nordheim hatte recht, wenn er erklärte, daß der Chefingenieur weder sich noch seine Untergebenen schone. Elmhorst spornte die Arbeitskraft seiner Leute bis aufs äußerste an, griff überall selbst mit Befehlen und Anordnungen ein und gab seinen Ingenieuren das Beispiel einer Unermüdlichkeit, das sie gleichfalls anfeuerte. Unter seiner Leitung schien sich die Leistungsfähigkeit der sämmtlichen Arbeitskräfte zu verdoppeln, und er erreichte damit wirklich seinen Zweck. Die zahlreichen Bauten auf der ganzen Gebirgsstrecke waren größtentheils schon fertig und an die Wolkensteiner Brücke legte man soeben die letzte Hand.

Wolfgang war von der Fahrt zurückgekehrt, die er heute morgen unternommen hatte. In Oberstein hatte er den Wagen verlassen und fortgesandt, um die letzte Strecke zu Fuße zu besichtigen, und jetzt stand er auf einem Abhange, oberhalb der Wolkensteiner Schlucht, und sah den Arbeitern zu, die wie Ameisen geschäftig auf dem Schienengeleise und an dem Gitterwerk der Brücke wimmelten. Noch wenige Tage, dann war das Werk vollendet, das jetzt schon die allgemeine Bewunderung auf sich zog und im Laufe der nächsten Jahre von Tausenden angestaunt werden sollte; aber der, welcher es geschaffen, blickte so düster darauf hin, als sei ihm jede Freude an seiner Schöpfung genommen.

Er war für heute noch einer Unterredung mit dem Präsidenten ausgewichen und hatte nur durch sein Nichterscheinen bei dessen Ankunft gezeigt, daß er bei seinem Nein blieb; aber es mußte doch noch zu einer letzten Auseinandersetzung zwischen ihnen kommen. Daß der Bruch ein endgültiger war, wußten sie beide; auch Nordheim war schwerlich mehr geneigt, einen Mann, der ihm so offen und verächtlich Trotz geboten hatte, von dem er auch in Zukunft keine Unterstützung seiner Pläne mehr erwarten durfte, zum Schwiegersohn anzunehmen. Es kam nur darauf an, auf welche Art man sich trennte, und das beiderseitige Interesse erforderte, daß es in möglichst schonender Form geschah. Darüber allein hatten sie sich noch zu verständigen, und das sollte morgen geschehen.

Ein Hufschlag, der dicht hinter ihm ertönte, weckte Elmhorst aus seinen Gedanken, und sich umwendend, gewahrte er Erna von Thurgau auf einem der Bergpferde, welche man für den Gebirgsaufenthalt angeschafft hatte. Sie hielt sichtlich überrascht an, als sie den Chefingenieur erblickte.

„Sie sind schon zurück, Herr Elmhorst? Wir glaubten, Ihre Fahrt würde Sie den ganzen Tag in Anspruch nehmen.“

„Ich bin früher mit der Besichtigung fertig geworden, als ich glaubte,“ versetzte Wolfgang. „Aber Sie werden für den Augenblick Ihren Weg nicht fortsetzen können, gnädiges Fräulein, dort unten wird gesprengt, doch es kann nicht lange dauern, die Leute müssen in zehn Minuten fertig sein.“

Die junge Dame hatte das Hinderniß bereits bemerkt; der Weg, der den Abhang hinunter und in einiger Entfernung an der Brücke vorüberführte, war durch Wachen abgesperrt und eine Anzahl von Arbeitern war um einen riesigen Felsblock beschäftigt, der augenscheinlich gesprengt werden sollte.

„Ich habe keine Eile,“ erwiderte sie gleichgültig. „Ich wollte ohnehin auf meinen Verlobten warten, der mich bat, vorauszureiten, da er ganz unerwartet mit Herrn Gronau zusammentraf. Ich möchte aber doch keinen zu großen Vorsprung haben.“

Sie lockerte die Zügel und schien ihre Aufmerksamkeit gleichfalls den Arbeitern zuzuwenden. Die letzte Nacht hatte einen völligen Umschlag der Witterung gebracht; ein kalter Regensturm hatte all die sonnige, duftige Schönheit ausgelöscht. Jetzt lag der Himmel grau und schwer über der Erde, die Berge standen wolkenumhüllt und in den Wäldern brauste der Wind – es war über Nacht Herbst geworden.

„Wir werden Sie doch heute abend sehen, Herr Elmhorst?“ brach Erna endlich das Schweigen, das schon mehrere Minuten gedauert hatte.

„Ich bedaure sehr, daß es mir nicht möglich ist, zu kommen. Ich habe gerade heute abend noch Dringendes zu erledigen.“

Es war der alte Vorwand, der ihm schon so oft hatte dienen müssen, und er fand auch keinen Glauben mehr, denn Erna sagte mit merklicher Betonung:

„Sie wissen vermutlich nicht, daß mein Onkel heute vormittag angekommen ist?“

„Doch, ich weiß es und habe mich bereits bei ihm entschuldigen lassen; ich werde ihn morgen sprechen.“

„Aber Alice scheint nicht wohl zu sein. Sie leugnet das zwar und will durchaus nicht zugeben, daß nach dem Doktor

Reinsfeld gesandt wird, aber sie sah vorhin, als sie aus dem Zimmer ihres Vaters kam, so bleich und angegriffen aus, daß ich erschrak.“

Sie schien eine Antwort zu erwarten, aber Elmhorst schwieg und blickte angelegentlich nach der Brücke hinüber.

„Sie sollten sich doch heute frei machen und nach Ihrer Braut sehen,“ mahnte Erna in vorwurfsvollem Tone.

„Ich habe nicht mehr das Recht, Alice meine Braut zu nennen!“ sagte Wolfgang kalt.

„Herr Elmhorst!“ Es lag eine schreckensvolle Ueberraschung in dem Ausrufe.

„Ja, mein Fräulein! Es haben sich zwischen dem Präsidenten und mir Meinungsverschiedenheiten ergeben, die so schroff und tiefgehend waren, daß ein Ausgleich unmöglich wurde. Wir sind darauf beiderseitig von der geplanten Verbindung zurückgetreten.“

„Und Alice?“

„Sie weiß noch nichts davon, wenigstens nicht durch mich. Es ist möglich, daß der Vater ihr die Sache mitgetheilt hat, und jedenfalls wird sie sich seiner Entscheidung fügen.“

Die Worte kennzeichneten mehr als alles andere diese seltsame Verbindung, die eigentlich nur zwischen Nordheim und seinem Schwiegersohne bestanden hatte. Alice war verlobt worden, als das Interesse der beiden es erforderte, und jetzt, wo dieses Interesse aufhörte, wurde die Verlobung aufgehoben, ohne die Braut auch nur zu fragen; man erachtete es als selbstverständlich, daß sie sich fügte. Auch Erna schien keinen Zweifel daran zu hegen; aber sie war bleich geworden bei der unerwarteten Nachricht.

„Also ist es doch dahin gekommen!“ sagte sie leise.

„Ja, es kam dahin! Ich sollte einen Preis zahlen, der mir zu hoch war, bei dem ich die Augen nicht mehr frei hätte aufschlagen können Es galt ein Entweder – oder – und ich habe meine Wahl getroffen.“

„Das wußte ich!“ rief das junge Mädchen aufflammend. „Daran habe ich nie gezweifelt!“

„Also das wenigstens haben Sie mir zugetraut!“ sagte Wolfgang mit unverhehlter Bitterkeit. „Ich glaubte es kaum.“

Sie antwortete nicht, aber ihr Blick begegnete dem seinigen wie mit einem Vorwurfe; endlich fragte sie zögernd:

„Und – was nun?“

„Nun stehe ich wieder da, wo ich vor einem Jahre stand. Der Weg, den Sie mir einst so begeistert priesen, liegt offen vor mir, und ich werde ihn so auch gehen, aber allein – ganz allein!“

Erna bebte leise zusammen bei den letzten Worten; aber sie wollte sie augenscheinlich nicht verstehen und fiel rasch ein:

„Ein Mann wie Sie ist nicht allein. Er hat sein Talent, seine Zukunft, und diese Zukunft liegt so weit und groß vor Ihnen –“

„Und so öde und sonnenlos wie die Bergwelt dort!“ ergänzte er, indem er aus die herbstliche, wolkenumschleierte Landschaft deutete. „Doch ich habe kein Recht, mich zu beklagen. Es trat mir so auch einst entgegen, das sonnige, leuchtende Glück, und ich wandte ihm den Rücken, um einem anderen Ziele nachzujagen. Da breitete es seine Flügel aus und zog fort, weit fort in unerreichbare Ferne, und wenn ich auch jetzt mein Leben hingeben wollte, es kommt doch nicht zu mir zurück. Wer es einmal verscherzt hat, dem entflieht es auf immer!“

Es sprach ein dumpfer, qualvoller Schmerz aus diesem Schuldbekenntnis; aber Erna hatte kein Wort der Erwiderung darauf und auch keinen Blick für die Augen, welche die ihrigen suchten. Bleich und starr schaute sie in die nebelumhüllte Ferne hinaus. Ja freilich, jetzt wußte er, wo sein Glück und sein Heil lag – jetzt, wo es zu spät war!

Wolfgang trat an die Seite des Pferdes und legte die Hand auf den Hals desselben.

„Erna, noch eine Frage, ehe wir für immer scheiden! Ich werde nach der letzten Unterredung, die ich morgen noch mit Ihrem Onkel haben muß, selbstverständlich sein Haus nicht mehr betreten und Sie ziehen weit fort, mit Ihrem Gatten – hoffen Sie glücklich zu werden an seiner Seite?“

„Wenigstens hoffe ich, ihn glücklich zu machen.“

„Ihn! Und Sie selber?“

„Herr Elmhorst –“

„O, Sie brauchen die Frage nicht so streng abzuwehren“ unterbrach er sie. „Es birgt sich kein eigensüchtiger Wunsch mehr dahinter. Ich habe mein Urtheil so schon aus Ihrem Munde empfangen, in jener Mondnacht am Wolkenstein. Sie wären mir doch verloren, auch wenn Sie noch frei wären, denn Sie vergeben es mir nie, daß ich um eine andere warb.“

„Nein – niemals!“ Das Wort klang in herbster Entschiedenheit.

„Ich weiß es, und eben deshalb möchte ich Ihnen noch eine letzte Warnung zurufen. Ernst Waltenberg ist kein Mann, der eine Frau, der Sie beglücken kann; seine Liebe wurzelt nur in dem Egoismus, der der Grundzug seiner ganzen Natur ist. Er wird nie danach fragen, ob er ein geliebtes Wesen quält und martert mit seiner Leidenschaft, und wie werden Sie es ertragen, an der Seite eines Mannes zu leben, dem all das Streben und Ringen, all die Ideen, für welche Sie sich begeistern, nur todte Begriffe sind? Ich habe endlich gelernt einzusehen, daß es noch etwas anderes, besseres giebt als dies ‚Ich‘, das auch mir einst das Höchste war, wenn ich die Lehre auch theuer bezahlen mußte – er wird es nie lernen!“

Ernas Lippen zuckten, das alles wußte sie ja längst und wußte es besser als jeder andere; aber was half das, es war auch für sie zu spät.

„Sie sprechen von meinem Verlobten, Herr Elmhorst,“ sagte sie mit ernster Zurechtweisung, „und Sie sprechen zu seiner Braut – ich bitte, kein solches Wort mehr!“

Wolfgang verneigte sich und trat zurück.

„Sie haben recht, gnädiges Fräulein, aber es war ein Abschiedswort, und das dürfen Sie immerhin verzeihen.“

Sie neigte stumm das Haupt und machte Anstalt, umzukehren, als Waltenberg am Rande des Waldes erschien, gleichfalls zu Pferde, und in raschem Trabe näher kam. Er und der Chefingenieur begrüßten sich mit jener kalten Höflichkeit, die zwischen ihnen zur Gewohnheit geworden war, seit sie beinahe täglich miteinander verkehren mußten. Sie wechselten einige Worte über das Wetter, über die Ankunft des Präsidenten, und jetzt bemerkte auch Ernst, daß der Weg gesperrt war.

„Die Leute lassen sich unverantwortlich lange Zeit,“ sagte Wolfgang, der froh war, daß er eine Gelegenheit fand, das Gespräch abzubrechen. „Ich werde dafür sorgen, daß sie sich beeilen, in wenigen Minuten können Sie passiren.“

Er eilte den Abhang hinunter und nach der betreffenden Stelle, aber bei den Sprengversuchen schien irgend etwas nicht in Ordnung zu sein, und der Ingenieur, der die Sache leitete, trat heran, um dem Chef Bericht zu erstatten. Dieser zuckte ungeduldig die Achseln, gab einige Befehle und trat dann mitten unter die Arbeiter, wahrscheinlich, um die Vorbereitungen zu besichtigen.

Inzwischen hielt Waltenberg auf dem Abhange neben seiner Braut, die jetzt fragte:

„Du hast also mit Gronau gesprochen?“

„Ja, und ich habe ihm mein Befremden nicht verhehlt, ihn hier zu finden, ohne daß er mich in Heilborn aufgesucht hat, ohne daß ich überhaupt von seiner Rückkehr weiß. Statt aller Antwort erbat er sich eine Unterredung für heute abend, er habe mir Wichtiges mitzutheilen, das in gewisser Hinsicht auch mich angehe. Ich bin doch neugierig, was er mir zu sagen hat, denn bloße Geheimnißkrämerei ist seine Sache nicht. – Sieh nur, Erna, wie dunkel und drohend es sich über dem Wolkenstein zusammenzieht! Wir werden doch nicht ein Wetter bekommen auf unserem Spazierritt?“

„Für heute wohl kaum,“ meinte Erna mit einem flüchtigen Blick nach dem dichtumschleierten Berge. „Vielleicht morgen oder übermorgen. Die Sturmperiode, die unsere armen Aelpler so fürchten, scheint diesmal früher im Anzuge zu sein als sonst, wir hatten heute nacht bereits eine Probe davon.“

„Es muß doch etwas sein an der Zaubermacht Eurer Alpenfee,“ sagte Ernst halb scherzend. „Dieser Wolkengipfel, der seinen Namen mit Recht führt, denn er entschleiert sich ja fast niemals, hat es mir förmlich angethan. Es winkt und lockt mich immer wieder von neuem mit geheimnißvollem, unwiderstehlichem Reiz, den Schleier dieser stolzen Eiseskönigin zu heben und den Kuß zu erzwingen, den sie bisher noch jedem versagt hat. Wenn man versuchte, die Hochwand von dieser Seite –“

„Ernst, Du hast es mir versprochen, den tollkühnen Gedanken ein- für allemal aufzugeben!“ fiel Erna ein.

„Sei ruhig, ich halte Wort. Ich versprach es Dir ja damals beim Sonnwendfeuer.“

„Beim Sonnwendfeuer!“ wiederholte das junge Mädchen leise, wie traumverloren.

„Erinnerst Du Dich noch jenes Abends, wo ich Deinem Verbote, Deiner Bitte wich? Der Aufstieg zum Wolkenstein war beschlossene Sache bei mir und ich hätte ihn um jeden Preis erzwungen, aber vor Deinen bittenden Augen, vor Deinem: ‚Ich ängstige mich!‘ sank all mein Trotz zusammen. Hättest Du wirklich um mich gezittert, wenn ich damals ungehorsam gewesen wäre?“

„Aber Ernst, welche Frage!“

„Nun, verpflichtet warst Du nicht dazu, ich war ja damals noch nicht Dein erklärter Bräutigam.“ In Waltenbergs Stimme klang wieder der alte, quälende Argwohn. „Du hättest Dich wahrscheinlich auch um Sepp oder um Gronau geängstigt, wenn einer von ihnen das Wagniß unternommen hätte. Ich meine jene bebende Angst, mit der man nur um das Geliebte zittert, vor der alles andere versinkt und verschwindet, die mich blind und besinnungslos in die Gefahr treiben würde, wenn ich Dich darin wüßte – Du freilich hast diese Empfindung wohl nie gekannt.“

„Wozu denn solche Schreckbilder heraufbeschwören!“ sagte Erna halb unwillig. „Ich habe Dein Wort, also keinen Grund, mich zu ängstigen, und das bloße ‚Wenn‘ zu erörtern –“

Ein lautes, donnerähnliches Krachen unterbrach sie. Dort unten flogen Erde und Steine empor und der mächtige Felsblock sank, in drei Theile gespalten, mit dumpfem Falle zu Boden, aber zugleich gab sich eine schreckensvolle Bewegung kund. Die sämmtlichen Arbeiter stürzten von der Brücke fort und nach jener Stelle, wo eben noch der Chefingenieur mit seinen Untergebenen gestanden hatte. Man konnte nicht unterscheiden, was eigentlich geschehen war, man sah nur einen dichten Menschenknäuel, aus dem wirres, angstvolles Rufen ertönte.

Aber mitten durch das alles drang ein Schrei, wie ihn nur die Verzweiflung, die Todesangst auspressen kann; und als Ernst sich umwandte, sah er seine Braut hoch aufgerichtet im Sattel, aber bleich wie eine Todte, die starren Augen nach der Unglücksstätte gerichtet.

„Erna!“ rief er, aber sie hörte nicht, sondern gab dem Pferde die Zügel. Das Thier, erschreckt von dem Lärm, scheute und wollte nicht vorwärts, aber ein rücksichtsloser Hieb mit der Gerte zwang es zum Gehorsam, und in der nächsten Minute jagten Roß und Reiterin wie auf Tod und Leben den steilen Abhang hinunter, gerade auf den Menschenknäuel zu.

Der Arbeiterhaufen stob auseinander, als Erna in wildem Galopp herangesprengt kam; einige der Leute, die da glaubten, das Pferd sei scheu geworden und durchgegangen, fielen ihm in die Zügel und hielten es auf. Erna schien das kaum zu bemerken, ihr Blick suchte in Todesangst nur eins − Wolfgang! und jetzt sah sie ihn, aufrecht und unverletzt in der Mitte des Kreises.

Aber auch er hatte sie gesehen, als sie diesen Kreis durchbrach; er sah den Blick, der ihn suchte, das tiefe, tiefe Aufathmen, als sie ihn lebend gewahrte, und da brach es aus seinen Zügen hervor wie ein Strahl leidenschaftlichen Glückes. Seine Todesgefahr hatte ihr endlich das Geheimniß entrissen, er wurde doch geliebt!

„Die Angst war unnöthig, der Herr Chefingenieur ist ja unverletzt,“ sagte Ernst Waltenberg, der seiner Braut unmittelbar gefolgt war und jetzt, einige Schritte entfernt, außerhalb des Kreises hielt. Aber seine Stimme hatte einen seltsam fremden Klang; aus seinem Antlitz schien jeder Blutstropfen gewichen zu sein und in den dunklen Augen, die unverwandt auf den beiden hafteten, glühte ein unheimliches Feuer. Erna schrak zusammen und Wolfgang wendete sich rasch um; es bedurfte nur eines Blickes, um ihm zu zeigen, daß er von dieser Stunde an einen Todfeind hatte; gleichviel, es galt, sich zu fassen vor all den fremden Zeugen.

„Die Sache hätte sehr schlimm ablaufen können,“ sagte er mit erzwungener Ruhe. „Die Sprengung versagte anfangs ganz und ging dann zu früh los, ehe wir uns in Sicherheit bringen konnte. Wir sprangen glücklicherweise noch im letzten Moment seitwärts, aber zwei der Leute sind verletzt worden, anscheinend nur leicht. Wir andere sind wie durch ein Wunder der Gefahr entgangen.“

„Aber Sie bluten ja auch, Herr Elmhorst!“ rief einer der Ingenieure, indem er auf die Stirn seines Chefs deutete, von der einzelne Blutstropfen niederrannen. Wolfgang zog sein Taschentuch hervor und drückte es aus die Wunde, die er jetzt erst bemerkte.

„Das ist nicht der Rede werth; einer der auffliegenden Steine wird mich gestreift haben. Sehen Sie nach den Verwundeten, sie müssen sofort verbunden werden!“ − Gnädiges Fräulein, ich bedaure, daß der Vorfall Sie erschreckt hat −“

„Mein Pferd wenigstens hat er erschreckt,“ fiel Erna mit schneller Geistesgegenwart ein. „Es scheute und jagte davon, ich konnte es nicht halten.“

Der Vorwand klang sehr glaubhaft und wurde auch von all den Umstehenden geglaubt; er erklärte vollkommen das stürmische Erscheinen der jungen Dame, ihre sichtbare Angst und Aufregung. Es war ein Glück, daß man das scheue Pferd noch rechtzeitig aufgehalten hatte.

Nur zwei ließen sich nicht täuschen, Wolfgang, dem jene angstvollen Minuten eine Gewißheit gegeben hatten, die jetzt freilich zu spät kam, die er aber doch um keinen Preis hingegeben hätte, und Ernst, der noch immer an seinem Platze hielt, ohne das Auge von den beiden zu wenden; es lag ein bitterer Hohn in seiner Stimme, als er antwortete:

„Dann hätten wir ja ein zweites Unglück haben können! Hast Du Dich jetzt erholt, Erna?“

„Ja!“ versetzte sie tonlos.

„So wollen wir unseren Weg fortsetzen! − Auf Wiedersehen, Herr Elmhorst!“

Wolfgang verneigte sich mit kalter Gemessenheit, er verstand vollkommen, was dies „Auf Wiedersehen!“ bedeutete; aber er wandte sich ruhig zu den beiden Verwundeten, deren Verletzungen sich in der That als ungefährlich herausstellten; auch seine eigene Wunde war nur leicht, ein Steinsplitter hatte ihm im Vorüberfliegen die Stirn gestreift. Der ganze Vorfall schien unerwartet glücklich vorübergegangen zu sein.

Aber es schien nur so, denn wer Waltenbergs Gesicht sah, mußte doch anderer Meinung werden. Er ritt stumm an der Seite seiner Braut, ohne ein Wort zu sprechen, ohne sich ihr ein einziges Mal zuzuwenden; das dauerte Minuten, dauerte eine Viertelstunde lang, bis Erna es nicht mehr zu ertragen vermochte.

„Ernst!“ sagte sie halblaut.

„Du wünschest?“ fragte er.

„Laß uns umkehren, ich bitte Dich! Das Wetter wird drohender und wir können den Rückweg ja über die Bergstraße nehmen.“

„Wie Du befiehlst.“

Sie wandten die Pferde, um auf einem anderen Weg zurückzukehren, und wieder trat jenes Stillschweigen ein. Erna wußte nur zu gut, daß sie sich verrathen hatte; aber sie hätte den wildesten Ausbruch der Eifersucht ihres Verlobten leichter ertragen als dies dumpfe Brüten, das etwas Furchtbares hatte. Sie zitterte freilich nicht für sich, aber eben deshalb sollte und mußte es zu einer Erklärung kommen, sobald man das Haus erreicht hatte.

Doch ihre Absicht wurde vereitelt, vor der Thür der Villa half ihr Ernst zwar vom Pferde, stieg aber sofort wieder in den Sattel.

„Du willst wieder hinaus?“ fragte sie betroffen.

„Ja − ich muß heute noch ins Freie!“

„Bleib’, Ernst, ich wollte Dich bitten −“

„Leb’ wohl!“ unterbrach er sie kurz und schroff, und ehe sie noch einen weiteren Versuch machen konnte, ihn zurückzuhalten, sprengte er bereits davon und ließ sie allein mit einer namenlosen Angst, die ihr das Herz zusammenpreßte, sie wußte ja nicht, was er plante.

Als Ernst den Wald erreicht hatte, mäßigte er den Lauf seines Pferdes und ritt langsam dahin unter den dunklen Tannen, in deren Wipfeln der Herbstwind brauste. Er wollte keine Erklärung, brauchte keine mehr; er wußte ja alles, alles! Aber mitten durch den Sturm, der in seinem Inneren wühlte, brach eine wilde, glühende Genugthuung; der Schatten, der ihn so lange gequält und gemartert, hatte endlich Fleisch und Blut gewonnen; jetzt konnte er mit ihm kämpfen − und ihn vernichten!




Es war Abend geworden, Elmhorst befand sich in seinem Arbeitszimmer mit dem Doktor Reinsfeld, der vor einer halben Stunde gekommen war, und man sah es an den Mienen beider, daß der Gegenstand ihres Gespräches ein tiefernster war, Benno besonders schien sehr erregt zu sein.

„So steht die Sache!“ schloß er jetzt eine längere Auseinandersetzung. „Gronau kam unmittelbar nach der Unterredung mit dem Präsidenten zu mir und ich habe vergebens versucht, ihn von seinem Entschluß abzubringen. Ich gab ihm zu bedenken, daß es ihn seine Stellung bei Waltenberg kosten wird, der ein solches Vorgehen gegen den Oheim und Vormund seiner Braut nicht dulden kann; daß er keine direkten Beweise in Händen hat, daß Nordheim alles dran setzen wird, ihn als Lügner und Verleumder hinzustellen − umsonst! Er warf mir mit den bittersten Worten Feigheit und Gleichgültigkeit gegen das Andenken meines Vaters vor; Gott weiß es, daß er mir damit unrecht thut, aber − ich kann nicht mit einer Anklage auftreten!“

Wolfgang hatte schweigend zugehört, nur um seine Lippen spielte ein unendlich bitteres und verächtliches Lächeln. Es war hohe Zeit gewesen, daß er sich von dem Bündniß mit diesem Manne losmachte, er zweifelte auch nicht einen Augenblick daran, daß Gronau die Wahrheit gesprochen hatte.

„Ich danke Dir für Deine Offenheit, Benno,“ sagte er. „Es wäre sehr verzeihlich gewesen, wenn Du gar keine Rücksicht auf mich genommen und Dich nur als Sohn Deines Vaters gefühlt hättest. Ich weiß, was Du mir mit diesem Vertrauen giebst.“

Benno schlug die Augen nieder bei diesem Danke, denn er war sich bewußt, ihn nicht verdient zu haben. Es war ja nicht der Freund gewesen, den er schonen wollte, als er jene Entdeckung begraben zu sehen wünschte.

„Ich konnte keinen Schritt in der Sache thun, das begreifst Du,“ entgegnete er leise. „Ich muß Dir das überlassen, Du wirst mit Deinem Schwiegervater reden −“

„Nein!“ unterbrach ihn Wolfgang kalt.

Reinsfeld sah ihn erstaunt an.

„Du willst nicht?“

„Nein, Benno; Gronau hat ihm ja offen und rückhaltlos den Krieg erklärt, wie Du sagst; er ist also vorbereitet und übrigens hat sich meine Stellung zu ihm vollständig geändert. Wir haben uns ein für alle Mal getrennt.“

Der Doktor fuhr in grenzenloser Ueberraschung auf.

„Getrennt? Und Deine Verlobung mit Alice −?“

„Ist aufgehoben! Erlaß es mir, Dir das ‚Warum‘ ausführlich auseinander zu setzen. Nordheim hat sich auch mir von der Seite gezeigt, von der Du ihn jetzt kennen gelernt hast; er stellte mir Bedingungen, die ich nicht für vereinbar mit meiner Ehre hielt, und darauf bin ich zurückgetreten.“

Reinsfeld starrte ihn noch immer ganz fassungslos an; er begriff nicht, wie der Mann, der einst alles an diese Verbindung gesetzt hatte, mit solcher Ruhe von dem Scheitern seiner Pläne sprechen konnte.

„Und Alice ist frei?“ stieß er endlich hervor.

„Ja,“ sagte Wolfgang befremdet. „Aber was hast Du denn? Du bist ja ganz außer Dir.“

Benno sprang in heftiger Bewegung auf.

„Wolf, Du hast Deine Braut nie geliebt, ich weiß es ja, sonst könntest Du auch nicht so ruhig, so kalt von ihrem Verlust sprechen. Ich glaube, Du fühlst es nicht einmal, was Du mit ihr verlierst, Du wußtest ja auch nie, was Du an ihr besaßest.“

Die Worte klangen in so leidenschaftlichem Vorwurfe, daß sie alles verriethen. Elmhorst stutzte und heftete einen halb erstaunten, halb ungläubigen Blick auf das Gesicht des Doktors.

„Was soll das bedeuten? Benno, wäre es möglich – Du liebst Alice?“

Der junge Arzt hob die ehrlichen blauen Augen, in denen kein Falsch war, zu dem Freunde empor.

„Du brauchst mir keinen Vorwurf daraus zu machen. Ich bin Deiner Braut mit keinem Worte genaht, das ich nicht vor Dir vertreten kann; und als ich die Unmöglichkeit einsah, meine Liebe zu bekämpfen, da entschloß ich mich zum Gehen. Glaubst Du denn, ich hätte jemals die Stellung in Neuenfeld angenommen, von der ich argwöhnen muß, daß sie von der Hand des Präsidenten kommt, wenn mir ein anderer Ausweg geblieben wäre? Aber ich hatte keine Wahl, wenn ich von Oberstein fort wollte.“

In Wolfgangs Zügen malten sich die widerstreitenden Empfindungen, welche diese Entdeckung in ihm hervorrief. Er hatte freilich seine Braut nie geliebt, aber das Geständniß Bennos berührte ihn doch seltsam und es lag etwas wie Bitterkeit in seiner Stimme, als er antwortete:

„Nun, ich stehe Dir ja jetzt nicht mehr im Wege, und wenn Du Hoffnung hast, Deine Liebe erwidert zu sehen −“

„So wäre es doch umsonst!“ fiel Reinsfeld ein. „Du weißt ja jetzt auch, was zwischen unseren Vätern vorgefallen ist, das trennt mich und Alice für immer!“

„Wie Du nun einmal geartet bist, vielleicht! Ein anderer würde es im Gegentheil benutzen, um Nordheim zu einer Einwilligung zu zwingen, die er freiwillig niemals geben würde. Du wirst das freilich nicht thun, wie ich Dich kenne.“

„Nein, niemals!“ sagte Benno gepreßt. „Ich gehe nach Neuenfeld und werde Alice nicht wiedersehen!“

Sie wurden unterbrochen durch die Meldung, daß Herr Waltenberg da sei und den Herrn Chefingenieur zu sprechen wünsche. Elmhorst erhob sich sofort und auch Reinsfeld machte Anstalt aufzubrechen.

„Gute Nacht, Wolf!“ sagte er, ihm treuherzig die Hand bietend. „Wir bleiben doch, was wir uns stets gewesen sind, trotzalledem - nicht wahr?“

Wolfgang erwiderte fest und warm den Händedruck.

„Ich komme morgen zu Dir − Gute Nacht, Benno!“

Er geleitete ihn bis zu der Thür, durch welche in demselben Augenblicke Waltenberg eintrat; man wechselte einen Gruß und einige gleichgültige Worte, dann ging der junge Arzt, und die beiden anderen waren allein.

Ernst schien auf seinem stundenlangen, einsamen Ritt die Selbstbeherrschung zurückgewonnen zu haben; er war äußerlich wenigstens kalt und ruhig, nur in seinen Augen glühte noch immer jenes unheimliche Feuer, das nichts Gutes verhieß.

„Ich störe Sie hoffentlich nicht, Herr Chefingenieur?“ sagte er, indem er langsam näher trat.

„Nein, Herr Waltenberg, ich habe Sie erwartet,“ lautete die ruhige Antwort.

„Um so besser, dann kann ich mir die Einleitung ersparen. Ich danke!“ unterbrach er sich, als Elmhorst ihn mit einer Handbewegung zum Sitzen einlud. „In unserem Falle sind diese Höflichkeitsformen überflüssig. Ich brauche Ihnen nicht erst zu sagen, weshalb ich Sie aufsuche. Wir fassen wohl beide den Vorfall von heute nachmittag anders auf, als die Fremden, welche Zeugen davon waren, und ich habe einige Worte mit Ihnen darüber zu reden.“

„Ich stehe ganz zu Ihrer Verfügung,“ erklärte Wolfgang mit eisiger Höflichkeit.

Ernst kreuzte die Arme und seine Stimme gewann einen Anflug von Hohn, als er fortfuhr:

„Ich bin mit Baroneß Thurgau verlobt, wie Sie ja wissen, und bin nicht gesonnen, meiner Braut eine so stürmische Theilnahme an der Gefahr eines anderen zu gestatten − doch das werde ich mit ihr selbst ausmachen. Für jetzt wünsche ich nur zu wissen, inwiefern Sie daran betheiligt sind. Lieben Sie Fräulein von Thurgau?“

Die Frage klang dumpf und drohend, aber Wolfgang zögerte nicht mit der Antwort. „Ja!“ sagte er einfach.

Ein Blitz tödlichen Hasses zuckte aus den Augen Waltenbergs und doch sagte ihm dies Geständniß nichts Neues. Er wußte es ja aus Ernas eigenem Munde, daß sie einen anderen geliebt hatte, aber er glaubte, diesen anderen im Grabe, unter den Schatten suchen zu müssen. Jetzt stand er lebend vor ihm, der Mann, der keiner reinen und großen Liebe fähig gewesen war, der eine Erna dem elenden Mammon geopfert hatte, und stand so hochaufgerichtet, die Stirn so stolz erhoben, als brauche er sie vor niemand auf der Welt zu beugen. Das reizte Ernst nur noch mehr.

„Und diese Liebe datirt vermuthlich nicht erst von heut oder von gestern?“ fragte er. „So viel mir bekannt ist, verkehrten Sie schon jahrelang im Hause des Präsidenten, bevor ich nach Europa zurückkehrte, bevor Baroneß Thurgau gebunden war.“

„Ich bedaure, eine solche Erörterung ablehnen zu müssen,“ erklärte Wolfgang in demselben eisigen Tone wie vorhin. „Ich werde Ihnen Rede stehen auf jede Frage, zu der Sie ein Recht haben; examiniren lasse ich mich nicht.“

„Das glaube ich!“ rief Waltenberg mit bitterem Auflachen. „Sie würden auch schlecht bestehen bei diesem Examen als − Bräutigam von Alice Nordheim!“

Elmhorst biß sich auf die Lippen; das traf seine verwundbare Stelle; aber schon in der nächsten Minute hatte er sich gefaßt.

„Vor allen Dingen, Herr Waltenberg, ersuche ich Sie, diesen Ton zu ändern, wenn Sie überhaupt wünschen, daß wir das Gespräch fortsetzen. Ich dulde keine Beleidigungen, das sollten Sie nachgerade wissen, und von Ihnen dulde ich sie am wenigsten.“

„Es ist nicht meine Schuld, wenn die Wahrheit Sie beleidigt,“ gab Ernst hochmüthig zurück. „Widerlegen Sie meine Worte und ich bin bereit, sie zurückzunehmen. Bis dahin erlauben Sie mir wohl, mein eigenes Urtheil über einen Mann zu haben, der eine junge Dame liebt oder zu lieben vorgiebt, während er sich gleichzeitig um eine reiche Erbin bewirbt. Sie können doch unmöglich Achtung verlangen für eine solche Erbärm −“

„Genug!“ fiel ihm Wolfgang mit mühsam beherrschter Stimme ins Wort. „Es bedarf keiner Beschimpfung, um Ihren Zweck zu erreichen. Ich errathe vollkommen, was Sie hergeführt, und werde Ihnen nicht ausweichen. Dergleichen Worte aber verbiete ich Ihnen − ich bin in meinem Hause!“

Er stand todtenbleich, aber ungebeugt vor dem Gegner. Dieser Elmhorst hatte nun einmal etwas Imponirendes, selbst in der Art, wie er die verdiente Verachtung zurückwies; es war ihm nicht beizukommen damit, das fühlte Ernst, wenn auch widerwillig genug.

„Sie sprechen ja in sehr hohem Tone!“ sagte er mit herbem Spotte. „Schade, daß Ihre Braut nicht Zeuge dieser Unterredung ist, vielleicht würden Sie ihr gegenüber nicht so selbstbewußt auftreten.“

„Ich habe keine Braut mehr!“ erklärte Wolfgang kalt.

Waltenberg trat aufs äußerste betroffen einen Schritt zurück.

„Was − wollen Sie damit sagen?“

„Nichts! Ich theile Ihnen nur eine Thatsache mit, um Ihnen zu zeigen, daß die Voraussetzung, auf welche hin Sie mich beleidigten, nicht mehr zutrifft, denn ich war es, der zurücktrat.“

„Und wann? Aus welchem Grunde?“ Die Frage klang in athemloser Hast.

„Darüber bin ich Ihnen wohl keine Rechenschaft schuldig.“

„Vielleicht doch, denn wie mir scheint, wird hier auf meine Großmuth gerechnet. Darin täuschen Sie sich aber. Ich gebe Erna niemals frei und sie selbst wird diese Freiheit auch nie von mir erbitten, das weiß ich. Sie giebt nicht heute ihr Wort, um es morgen wieder zu brechen, und sie ist viel zu stolz, sich einem Manne nachzuwerfen, der das Geld ihrer Liebe vorzog.“

„Hören Sie doch endlich auf, die alte Waffe zu brauchen, sie hat ihre Spitze verloren,“ sagte Wolfgang finster. „Was wissen Sie, der in der Fülle des Reichthums aufgewachsen ist, dem nie die Entbehrung, nie die Versuchung nahte, von dem Kämpfen und Ringen eines Emporstrebenden, der sich um jeden Preis freie Bahn schaffen will, von dem glühenden Ehrgeiz, der ein großes Ziel vor Augen hat! Ich bin der Versuchung erlegen, ja; aber jetzt habe ich mich frei gemacht und biete Ihnen und Ihrem Tugendhochmuth die Stirn. Sie wären auch unterlegen, wenn Ihnen das Leben Glück und Genuß versagt hätte, Sie zuerst! Aber Sie hätten sich vielleicht nicht daraus emporgerissen wie ich, denn leicht ist das wahrlich nicht.“

Es lag eine so zwingende Wahrheit in den Worten, daß Ernst davor verstummte. Er, dem der schrankenlose Genuß eine Lebensbedingung war, hätte schwerlich vor der Versuchung bestanden; aber eben weil er das fühlte, haßte er um so mehr den Mann, der Sieger geblieben war in dem schwersten Kampfe, in dem Streite mit sich selbst.

„Und nun gehen Sie hin und halten Sie Ihre Braut fest an dem gegebenen Worte,“ fuhr Wolfgang bitter fort. „Sie wird es nicht brechen und sie wird mir nicht verzeihen, was geschehen ist, darin haben Sie recht. Ich habe meine Schuld mit meinem Glücke bezahlt. Erzwingen Sie sich die Hand Ernas, ihre Liebe werden Sie sich nie erzwingen, denn die gehört mir − mir allein!“

„Ah, Sie wagen es −!“ fuhr Ernst wie ein Rasender auf, aber Wolfgangs Blick begegnete mit kühnem, stolzem Triumph dem seinigen, in dem es unheilverkündend glühte.

„Nun, weshalb wollen Sie denn sonst mit mir rechten? Daß ich Ihre Braut liebe, ist doch wohl keine Beleidigung; daß ich geliebt werde, können Sie nicht verzeihen − ich weiß es freilich auch erst seit heute!“

Waltenberg sah aus, als hätte er sich am liebsten auf den Gegner gestürzt, um das Wort zu rächen, das er nicht mehr Lügen strafen konnte;seine Stimme klang halb erstickt vor Leidenschaft, als er antwortete:

„Nun, dann werden Sie es begreifen, daß ich die Liebe meiner Braut mit keinem anderen theilen will, wenigstens mit keinem, der mir lebend gegenübersteht!“

Elmhorst zuckte nur die Achseln bei dieser Drohung.

„Soll das eine Forderung sein?“

[770] „Ja, und ich denke, wir machen die Sache so rasch als möglich ab. Ich werde Ihnen morgen Herrn Gronau schicken, um das Nöthige festzustellen, und ich hoffe, Sie sind einverstanden, wenn wir noch an demselben Tage −“

„Nein, das bin ich nicht,“ unterbrach ihn Wolfgang. „Ich habe morgen keine Zeit, auch übermorgen nicht.“

„Keine Zeit für eine Ehrensache?“ brauste Ernst auf.

„Nein, Herr Waltenberg. Ich habe überhaupt keine große Achtung vor dieser ‚Ehrensache‘, die darin besteht, daß man einen Mann, den man haßt, möglichst bald aus der Welt zu schaffen sucht. Aber es giebt Fälle, wo man gegen seine Ueberzeugung handeln muß, um nicht in den Verdacht der Feigheit zu gerathen. Ich bin also bereit. Aber wir Männer der Arbeit haben noch eine andere Ehre als die kavaliermäßige, und die meinige erfordert, daß ich mich nicht der Möglichkeit aussetze, niedergeschossen zu werden, bevor die Aufgabe, die ich übernommen habe, erfüllt ist. In acht bis zehn Tagen wird die Wolkensteiner Brücke fertig sein. Ich will selbst den Schlußstein legen, will mein Werk vollendet sehen, dann stehe ich zu Ihrer Verfügung, nicht eine Stunde früher, und Sie werden sich diesen Aufschub gefallen lassen müssen.“

Es lag eine beinahe verächtliche Ueberlegenheit in der Art, wie das Verlangen gestellt wurde, und hier wurde es einem Manne gestellt, der überhaupt kein Verständniß dafür hätte. Er hatte ja nie gearbeitet, nie ein Werk geschaffen, das er liebte und vollendet sehen wollte, sondern immer nur gethan, wozu Wunsch und Laune ihn trieb. Jetzt trieb es ihn zur Vernichtung des Feindes oder zum eigenen Untergange − gleichviel, danach fragte er nicht; aber warten zu müssen, tagelang, seine Rachsucht zu zügeln, das schien ihm ein Ding der Unmöglichkeit.

„Und wenn ich diese Bedingung nicht annehme?“ fragte er scharf.

„So nehme ich Ihre Forderung nicht an − Sie haben die Wahl.“

Ernst ballte in verhaltener Wuth die Hand, aber er sah, daß er sich fügen mußte; wenn der Gegner sich ihm stellte, so hatte er auch das Recht, den Aufschub zu verlangen.

„Es sei!“ sagte er, sich gewaltsam bezwingend. „Also in acht bis zehn Tagen! Ich verlasse mich auf Ihr Wort.“

„Das hoffe ich! Sie werden mich bereit finden.“

Noch ein stummer, feindseliger Gruß von beiden Seiten, dann trennten sie sich. Ernst verließ das Gemach und Wolfgang trat langsam an das Fenster.

Draußen warf der Mond, der nur hin und wieder zwischen den jagenden Wolken sichtbar wurde, sein ungewisses Licht auf die Umgebung. Jetzt trat er auf einen Moment klar hervor, und in seinem Schein blinkte die Brücke auf, das große, kühne Werk, das seinem Schöpfer eine so stolze Zukunft verhieß. Und in demselben Mondesstrahle schritt der Mann dahin, der ihm den Tod geschworen hatte, dessen Hand sicher nicht fehlte, wenn es galt, den Todfeind zu treffen. Wolfgang täuschte sich darüber nicht; er schloß jetzt ab mit den Zukunftsträumen, wie er schon mit dem Glücke abgeschlossen hatte.

Doktor Reinsfeld saß in seiner Wohnung und schrieb eifrig. Es mußte vor der Abreise doch noch so manches geordnet und aufgezeichnet werden für den Nachfolger, der im Lauf der nächsten Woche eintreffen sollte und mit der Wohnung auch deren Einrichtung übernahm. Groß war die Habe des jungen Arztes ja allerdings nicht, aber sein Blick streifte doch bisweilen mit einem wehmütigen Ausdruck die einfache, fast dürftige Umgebung. Er war hier so glücklich und − so unglücklich gewesen.

Draußen fuhr ein Wagen vor und hielt gerade vor dem Doktorhause. Benno hielt mit Schreiben inne, um hinauszublicken, und sprang dann überrascht auf, denn er gewahrte die zierliche Gestalt der Frau Doktor Gersdorf, die sich aus dem Schlage beugte. Die vornehme Verwandte, deren Bekanntschaft er einst so gefürchtet hatte, war ihm in der letzten Zeit eine so tapfere kleine Freundin geworden und hatte sich mit solchem Feuereifer seiner Liebe angenommen! Er hatte das freilich zurückgewiesen und zurückweisen müssen; aber er war ihr doch von ganzem Herzen dankbar dafür.

Mit einem frohen Willkommen auf den Lippen trat er an den Wagen, schrak aber plötzlich zusammen, denn neben der jungen Frau erblickte er noch eine andere Dame, die sich blaß und scheu in die Ecke drückte − Alice Nordheim!

„Ja, ich komme nicht allein,“ sagte Wally, die höchst zufrieden war mit dem Effekt ihrer Ueberraschung. „Wir sind auf einer Spazierfahrt begriffen und kamen durch Oberstein, da wollten wir doch nicht so ohne weiteres vorbeifahren. Nun, Benno, freuen Sie sich denn gar nicht über den Besuch?“

Reinsfeld stand noch immer ganz fassungslos da. Eine Spazierfahrt bei diesem kalten, regnerischen Wetter! Und weshalb kam Alice mit? Weshalb zitterte sie so, als er ihr aus dem Wagen half, und vermied es, ihn anzusehen? Er brachte kein Wort über die Lippen; aber das war auch nicht nöthig, denn Frau Doktor Gersdorf füllte die Pause hinreichend aus. Sie sprach unaufhörlich, bis man im Zimmer war, und da fing sie erst recht an.

„So, nun sind wir hier! Du hast es ja gewollt, Alice, und nun siehst Du aus, als ob Du am liebsten davonlaufen möchtest! Warum? Ich werde meinem Vetter doch einen Besuch machen können und Du bist ja in meiner Begleitung, unter dem Schutze einer verheiratheten Frau, dagegen darf selbst Deine gestrenge Frau Oberhofmeisterin nichts einwenden. − Uebrigens, braucht Ihr Euch gar nicht zu geniren Kinder! Ich weiß alles, ich bin vollkommen auf der Höhe der Situation und finde es ganz natürlich, daß Ihr Euch aussprechen müßt. Also fangt nur an!“

Sie setzte sich in den Armsessel, den der Doktor soeben verlassen hatte, und machte Miene, der Sache in aller Feierlichkeit beizuwohnen; aber vorläufig trat nur eine unendlich lange Pause ein. Alice stand auf der einen Seite des Zimmers und Benno auf der andern, keines von beiden sprach ein Wort, und als das einige Minuten gedauert hatte, fing die junge Frau an, sich zu langweilen.

„Ach so, Ihr wollt allein sein!“ sagte sie. „Nun meinetwegen, ich werde in das Nebenzimmer gehen, um dafür zu sorgen, daß Ihr ungestört bleibt − wenn ich vor der Thür stehe, kommt sicher kein Mensch hinein.“

Ohne eine Antwort abzuwarten, ließ sie dem Wort die That folgen und schloß geräuschlos die Thür hinter sich, hatte aber dann nichts Eiligeres zu thun, als sich am Schlüsselloch zu etabliren. Zu ihrem großen Mißvergnügen machte sie jedoch die Entdeckung, daß die alte, festgefügte Eichenthür keinen Laut hindurch ließ, und aus dem, was das Schlüsselloch ihr zeigte, wurde sie auch nicht klug. Die beiden da drinnen schienen noch immer nicht anzufangen. Trotzdem harrte Wally mit Selbstverleugnung aus auf ihrem Posten, sie hatte sich nun einmal in den Kopf gesetzt, ein Schutzgeist zu sein, und wenn sie in dieser Eigenschaft den ganzen Tag hier stehen sollte.

Leider ließ sie bei diesem lobenswerthen Vorsatze den Umstand außer Acht, daß das Zimmer noch eine zweite Thür hatte, die in einen kleinen Nebenraum und von dort in das Gärtchen führte, und überdies hatte sie keine Ahnung davon, daß gerade zu derselben Stunde sich Veit Gronau in Begleitung Saids und Djelmas dem Doktorhause näherte.

Ernst Waltenberg war gestern Abend nicht nach Heilborn zurückgekehrt, obgleich er seinem Sekretär eine Unterredung zugesagt hatte. Erst heute morgen war ein Bote von ihm gekommen mit der Nachricht, daß er sich für einige Tage in dem kleinen Wirthshause von Oberstein einquartiert habe und daß man ihm die beiden Diener mit den notwendigsten Sachen nachschicken solle. Das war denn auch unverzüglich geschehen und Veit hatte sich gleichfalls mit auf den Weg gemacht. Da das Fahren auf dem steilen und unbequemen Gebirgswege aber nicht gerade zu den Annehmlichkeiten gehörte, so hatten sie es vorgezogen, die letzte Strecke zu Fuß zu machen, während der Wagen mit dem Gepäck langsam nachfuhr.

Said und Djelma waren nicht sehr erbaut von dem Einfall ihres Gebieters, tage- und vielleicht wochenlang in dem kleinen Bergwirthshause zu bleiben, das nicht die mindeste Bequemlichkeit bot, während man in Heilborn eine schöne, behagliche Wohnung hatte. Sie zeigten sehr mißvergnügte Gesichter und der Neger erlaubte sich die wehmütige Bemerkung:

„Master Hronau, der Herr gar nicht mehr ist zu begreifen!“

„Ganz natürlich, und er wird noch viel unbegreiflicher werden, wenn er erst verheiratet ist!“ sagte Veit mit grimmiger Genugthuung. „Freut Euch nur auf die ‚serr schöne Geschichte‘, das habt Ihr davon! Nun, mich geht es nichts mehr an, ich werde wohl die längste Zeit bei Euch gewesen sei; jetzt seht zu, wie Ihr allein mit ihm fertig werdet.“

Der Afrikaner und der Malaye horchten entsetzt auf bei diesen Worten. So sehr Master Hronau sie auch hofmeisterte und gelegentlich ausschalt, sie hingen doch mit Leib und Seele an ihm, und der Gedanke, daß er sie verlassen könne, war ihnen unfaßbar. Sie begannen daher, mit Bitten und Klagen auf ihn einzustürmen, und trieben ihn mit ihren Fragen so in die Enge, daß Gronau heimlich seine Uebereilung verwünschte.

Er hatte sich längst selbst gesagt, was Benno ihm zu bedenken gab, daß es um seine Stellung bei Waltenberg geschehen war, wenn er wirklich mit einer Anklage gegen den Präsidenten auftrat. Trotzdem hielt er den Entschluß mit der ganzen Hartnäckigkeit seines Charakters fest. Gerade weil sich der Sohn seines alten Freundes so unverzeihlich lau und zaghaft zeigte, hielt er es für seine Pflicht, an dessen Stelle einzutreten. An sich selbst dachte er dabei nicht im mindesten; er war es gewohnt, sich von einer Lebensstellung in die andere zu werfen und nicht viel nach der Zukunft zu fragen, er kümmerte sich einzig und allein um die Gegenwart.

Das kannte er nun freilich den beiden Dienern nicht auseinandersetzen; aber er war nicht um einen Vorwand verlegen, und als sie ihm wieder mit der Frage nach dem Warum zu Leibe gingen, erklärte er:

„Weil die Unbegreiflichkeit des Herrn Waltenberg immer toller wird! Was ist das nun wieder für ein Einfall, sich bei solchem Wetter in dem elenden Bergneste hinzusetzen! Wahrscheinlich ist er seiner Braut noch nicht nahe genug, oder er hat Eifersuchtsmucken im Kopfe und will sie nicht aus den Augen lassen. Das wird wohl überhaupt chronisch bei ihm werden, wenn er erst Ehemann ist, und das kann ich nicht mit ansehen.“

„O, Master Hronau gar nicht mag die Damen,“ sagte Said betrübt, denn er teilte keineswegs diese Abneigung, sondern schwärmte für die künftige gnädige Frau.

„Nein, denn wo die Damen anfangen, da hört die Gemüthlichkeit auf, bei den Männern wenigstens!“ grollte Veit, der selten eine Gelegenheit vorbeigehen ließ, seiner Frauen- und Ehefeindschaft Luft zu machen. „Wenn sie verliebt sind, werden die klügsten Leute verrückt.“

„Verr − rückt!“ wiederholte Djelma, indem er sich Mühe gab, das R möglichst energisch zu schnarren, aber der arme Junge hatte kein Glück mit seinem Lerneifer; er erntete auch diesmal statt des gehofften Lobes nur Scheltworte.

„Du hast eine verwünschte Manier, Dir gerade die Worte zu merken, die Du nicht nachsprechen sollst!“ fuhr ihn Gronau an. „Wenn unsereins verrückte Streiche macht, so ist das eben Verrücktheit; wenn Herr Waltenberg sie aber macht, so ist das Genialität und man findet es ungeheuer poetisch. − Da kommen wir endlich wieder auf die Fahrstraße! Ihr könnt dort auf den Wagen warten, ich will inzwischen nur auf einen Augenblick bei dem Doktor Reinsfeld eintreten, mit dem ich ein paar Worte zu reden habe.“

Der Fußweg, den sie eingeschlagen hatten, führte gerade an dem Gärtchen des Doktorhauses vorüber; Gronau durchschritt dasselbe und öffnete die ihm wohlbekannte Hinterthür. Er war bei dem letzten Zusammensein mit Benno sehr heftig geworden, hatte ihm seine Zurückhaltung in den bittersten Worten vorgeworfen, und seine Gutmüthigkeit litt es nicht, daß ein solcher Mißklang bestehen blieb. Er kam jetzt, halb in der Absicht, sich zu entschuldigen, und halb in der Hoffnung, den Doktor noch nachträglich zu einer Theilnahme an seinem Vorhaben zu bestimmen. Da der Nordheimsche Wagen an der Vorderseite des Hauses hielt, so hatte er keine Ahnung von dem Damenbesuche, sonst hätte er wahrscheinlich davor die Flucht ergriffen.

Frau Doktor Gersdorf stand inzwischen aufopfernd auf ihrem Posten am Schlüsselloch, der ihr leider sehr wenig zu sehen und gar nichts zu hören erlaubte; freilich nahm das Gespräch da drinnen eine ganz andere Richtung, als sie voraussetzte.

Benno, der vergeblich darauf wartete, daß Alice sprechen sollte, nahm endlich selbst das Wort.

„Sie wollten zu mir, gnädiges Fräulein − wirklich?“

„Ja, Herr Doktor,“ war die leise, mit bebender Stimme gegebene Antwort.

Reinsfeld wußte sich das nicht zu deuten. Alice war ihm in der letzten Zeit stets so unbefangen und zutraulich genaht. Seit jenem Zusammensein im Walde war es freilich vorbei mit der Unbefangenheit; aber das erklärte doch nicht diese seltsame Veränderung, die mit ihr vorgegangen war. Sie stand bleich und zitternd da und schien eine förmliche Angst vor ihm zu hegen, denn sie wich zurück, als er ihr näher trat.

„Sie fürchten sich − vor mir?“ fragte Benno vorwurfsvoll.

Sie machte eine matt verneinende Bewegung.

„Nein, nicht vor Ihnen, aber vor dem, was ich Ihnen zu sagen habe − es ist so furchtbar!“

Reinsfeld sah sie noch immer verständnißlos an; aber plötzlich kam ihm wie ein Blitz die Erkenntniß der Wahrheit.

„Um Gotteswillen, Sie wissen doch nicht etwa −?“

Er vollendete nicht, denn Alice hob jetzt zum ersten Male das Auge zu ihm empor, so trostlos, so verzweifelt, daß es keiner anderen Antwort mehr bedurfte, der eine Blick sagte ihm alles. Er trat rasch zu ihr und faßte ihre Hand.

„Wie ist das möglich? Wer ist so grausam gewesen, Sie damit zu quälen?“

„Niemand!“ versetzte das junge Mädchen mit sichtbarer Anstrengung. „Ein Zufall − ich hörte eine Unterredung meines Vaters mit Gronau −“

„Und Sie glauben doch nicht, daß ich daran betheiligt bin?“ fiel Benno stürmisch ein. „Ich habe alles versucht, Gronau zurückzuhalten, habe jede Theilnahme meinerseits verweigert.“

„Ich weiß es − um meinetwillen!“

„Ja, um Ihretwillen, Alice! Und deshalb brauchen Sie auch nichts von mir zu fürchten. Es war nicht nöthig, daß Sie kamen, um mein Schweigen zu erbitten, ich hätte ohnehin geschwiegen.“

„Ich kam nicht deshalb,“ sagte Alice leise. „Ich wollte Sie um Verzeihung bitten, um Vergebung für −“

Ein lautes Aufschluchzen erstickte ihre Stimme; da fühlte sie sich plötzlich von Benno umfaßt. Sie war ja nicht mehr Wolfgangs Braut, er beging keinen Verrath mehr an dem Freunde, wenn er die Geliebte einmal wenigstens in die Arme schloß; aber er wagte es nicht, sie zu küssen, während sie im fassungslosen Weinen an seiner Brust lehnte.

Gerade in diesem Augenblick öffnete Veit Gronau die Seitenthür und blieb ganz entsetzt auf der Schwelle stehen. Er hätte eher des Himmels Einfall erwartet als einen solchen Anblick; aber er besaß leider nicht das diplomatische Talent der Frau Doktor Gersdorf, geräuschlos zu verschwinden und zu thun, als habe er nichts gesehen; die Ueberraschung entriß ihm im Gegentheil ein langgezogenes „Ah!“

Die beiden fahren erschrocken auf. Alice entwand sich in tödlicher Verlegenheit den Armen Bennos, der nicht viel mehr Geistesgegenwart zeigte, während der Störenfried noch immer groß und breit auf der Schwelle stand und in seiner Bestürzung gar keine Anstalt machte, sich zurückzuziehen. Endlich faßte sich das junge Mädchen so weit, um in das Nebenzimmer zu Wally zu flüchten, während der Doktor mit finster gerunzelter Stirn dem ungebetenen Gaste entgegentrat.

„Ich habe Sie wirklich nicht erwartet, Herr Gronau; das ist ja ein förmlicher Ueberfall!“

Seine Stimme klang in ungewohnter Schärfe; aber Gronau schien das durchaus nicht übelzunehmen. Er trat näher und sagte mit dem Ausdruck höchster Befriedigung:

„Das ist etwas anderes! Das ist etwas ganz anderes!“

„Was denn?“ rief Benno gereizt; aber Veit klopfte ihm statt einer Antwort freundschaftlich auf die Schulter.

„Warum haben Sie mir das nicht gleich gesagt? Jetzt begreife ich es, warum Sie durchaus nicht gegen Nordheim auftreten wollten, und jetzt finde ich das auch in der Ordnung, ganz in der Ordnung.“

„Ich werde auch nicht dulden, daß ein anderer es thut,“ erklärte Reinsfeld, dessen Gereiztheit durch diesen gemüthlichen Ton nur noch gesteigert wurde. „Ich gestehe keinem das Recht zu, sich hineinzumischen, auch Ihnen nicht, Herr Gronau.“

„Fällt mir auch gar nicht mehr ein!“ sagte Gronau ruhig. „Gut, daß ich bei Herrn Waltenberg noch keinen Lärm geschlagen habe, jetzt bleibt die Sache natürlich unter uns. Sie haben sie ja viel gescheiter angefangen als ich, Doktor, und da lassen Sie sich geduldig von mir ausschelten, ohne mir ein Wort zu sagen? Ich habe Ihnen diese Gescheitheit wahrhaftig nicht zugetraut.“

„Halten Sie mich etwa einer niedrigen Berechnung fähig?“ fuhr Benno auf. „Ich liebe Alice Nordheim.“

„Habe ich gesehen!“ bestätigte Veit. „Und sie läßt es sich gefallen − bravo! Jetzt gehen wir dem Herrn Präsidenten ganz anders zu Leibe, jetzt fordern wir nicht etwa das gestohlene Kapital, sondern seine sämmtlichen Millionen mit der Hand seiner Tochter. Wie gesagt, Benno, Sie sind unglaublich gescheit gewesen, eine glänzendere Genugthuung konnten Sie sich gar nicht schaffen und damit würde auch Ihr Vater im Grabe zufrieden sein.“

„Ja, so sehen Sie die Sache an,“ sagte Reinsfeld mit schmerzlicher Bitterkeit. „Alice und ich fassen sie ganz anders auf. Was Sie gesehen haben, war nur ein Abschied, eine Trennung für ewig.“

Veit machte bei dieser Erklärung ein Gesicht, als habe man ihm unversehens eine Ohrfeige versetzt.

„Trennung? Abschied? Doktor, ich glaube, Sie sind nicht recht bei Verstande!“

Der junge Arzt war sonst die Höflichkeit und Geduld selbst, bei dieser derben Einmischung aber in die zartesten Angelegenheiten seines Herzens verlor er die Geduld so vollständig, daß er sogar einen Versuch machte, grob zu werden.

„Ich wiederhole Ihnen, Herr Gronau, daß ich mir Ihre Einmischung verbitte!“ rief er heftig. „Glauben Sie etwa, daß ich den Mann, der meinem Vater das angethan hat, selbst Vater nennen könnte? Freilich, Sie kennen und verstehen nicht solche ideale Gründe.“

„Nein, von dem Idealen verstehe ich gar nichts,“ gestand Veit; „aber desto mehr vom Praktischen und hier ist die Sache so klar und einfach wie nur möglich. Sie haben das Mittel, Nordheim zur Einwilligung zu zwingen, also wird er gezwungen; Sie lieben seine Tochter, also wird sie geheirathet. Alles Uebrige ist Unsinn − Punktum!“

„Ganz meine Meinung!“ sagte eine Stimme von der Thür her, und Frau Doktor Gersdorf, die die letzten Worte gehört hatte, trat ein und bemächtigte sich mit gewohnter Entschiedenheit des Gespräches.

„Herr Gronau hat recht, die Sache ist so klar und einfach wie nur möglich,“ wiederholte sie. „Sie werden Alice unter allen Umständen heirathen, Benno − Punktum!“

Der arme Reinsfeld, der sich jetzt von zwei Seiten angegriffen sah, mochte wohl fühlen, daß er hier mit seinen idealen Gründen nicht durchkam. Er ermannte sich daher zu einem Gewaltstreich und erklärte:

„Ich will aber nicht! Und darüber habe ich doch wohl allein zu entscheiden.“

„Und das will nun ein Liebhaber sein!“ rief Gronau, indem er in heller Verzweiflung die Hände zum Himmel emporhob. Wally aber griff die Sache viel praktischer an und zähmte den Widerspenstigen in anderer Weise.

„Benno!“ sagte sie vorwurfsvoll; „da drinnen sitzt die arme Alice und weint, als ob ihr das Herz brechen sollte! Wollen Sie denn nicht wenigstens den Versuch machen, sie zu trösten?“

Das Mittel wirkte, der ganze Trotz Bennos sank zusammen. Er zögerte noch eine Minute, aber nur eine einzige, dann stürzte er in das Nebenzimmer.

„So, jetzt wird er vorläufig nicht wiederkommen“ sagte die junge Frau, indem sie die Thür hinter ihm schloß. „Jetzt wollen wir die Geschichte in die Hand nehmen, Herr Gronau!“

Veit sah etwas betroffen aus bei diesem Vorschlage. Er hatte zwar nichts gegen eine Bundesgenossenschaft einzuwenden, daß sie aber weiblichen Geschlechtes war, ging gegen seine Grundsätze. Wally ließ ihm jedoch keine Zeit, sich darüber zu beunruhigen, sondern fuhr fort:

„Den Doktor können wir dabei nicht brauchen und Alice auch nicht. Er glaubt sich zur Entsagung verpflichtet, weil der Chefingenieur sein Freund ist, und er wäre im Stande, sein ganzes Leben in Neuenfeld zu verseufzen, während Alice als Frau Elmhorst am gebrochenen Herzen sterben würde − aber daraus wird nichts, das leide ich nicht!“

Sie trat so nachdrücklich mit dem Fuße auf, daß Veit unwillkürlich auf denselben hinblickte, und er konnte nicht umhin, die Bemerkung zu machen, daß es ein zierliches, allerliebstes Füßchen war, das so energisch den Boden stampfte. Er wußte nun freilich, daß die Entsagung Bennos andere Gründe hatte; aber da er das nicht verrathen durfte, so zog er es vor, die junge Frau in ihrem Irrthum zu lassen.

„Ja, gnädige Frau, der Doktor ist, was man so einen Idealisten nennt,“ sagte er, „und denen ist von der vernünftigen Seite nicht beizukommen. Es sind hochachtungswerthe Menschen, aber etwas verrückt sind sie alle.“

Wally schien derselben Meinung zu sein, sie nickte ernsthaft mit dem Kopfe und bemerkte mit Selbstgefühl:

„Ich und mein Mann, wir sind gar keine Idealisten, Herr Gronau, wir sind ganz vernünftige Menschen.“

Gronau machte eine respektvolle Verbeugung, welche die Vernünftigkeit von Herrn und Frau Doktor Gersdorf unbedingt anerkannte, und die letztere war davon so befriedigt, daß sie ihn freundschaftlichst einlud, neben ihr auf dem Sofa Platz zu nehmen, damit man die Angelegenheit in aller Gemüthlichkeit besprechen könne.

Veit entsetzte sich einigermaßen bei dieser Zumuthung, aber ablehnen konnte er sie doch nicht. So nahm er denn auf der äußersten Ecke Platz und ließ all die Erörterungen, Vorschläge und Fragen über sich ergehen. Zu einer Antwort kam er allerdings nicht; er staunte nur darüber, daß jemand so unendlich viel sprechen könne! Aber unangenehm war ihm das eigentlich nicht; im Gegentheil, er fühlte sich ganz behaglich in dem Redestrome, der ihn umrauschte und umplätscherte. Dazu gestikulirten zwei kleine, rosige Hände unaufhörlich vor seinem Gesicht und ein zierliches Köpfchen, mit krausen schwarzen Ringellocken, neigte sich im Eifer des Gespräches immer näher zu ihm. Er fing schließlich an, die Situation ganz annehmbar zu finden, und da ihm keine Zeit zu einer Antwort gelassen wurde, so begnügte er sich, verschiedene Male mit dem Kopfe zu nicken, und sah sich inzwischen seine Bundesgenossin sehr gründlich an, wobei er die Entdeckung machte, daß das weibliche Geschlecht, so ganz in der Nähe betrachtet, doch viel von seinem Abschreckenden verlor.

Endlich versiegte auch Wallys Redestrom, sie schöpfte Athem und forderte ihren Zuhörer auf, nun endlich auch seine Meinung zu sagen.

„O, ich bin einverstanden, ganz einverstanden!“ versicherte dieser, in der Ueberzeugung, daß ein Protest ihn doch nichts helfen würde.

„Das freut mich,“ sagte die junge Frau. „Es bleibt also dabei, Sie setzen Benno den Kopf zurecht und ich werde den Chefingenieur auf mich nehmen und ihn zum Zurücktreten veranlassen. Mein Mann hat es mir zwar verboten, aber man muß den Männern gegenüber immer ja sagen und dabei das Gegentheil thun von dem, was sie wollen. Ist es einmal geschehen, dann fügen sie sich ganz geduldig.“

Gronau war sehr betroffen über den Einblick in die Behandlung der Ehemänner, welchen ihm Frau Doktor Gersdorf soeben eröffnet hatte. „Fügen die Ehemänner denn immer sich so ganz geduldig?“ fragte er etwas zaghaft.

„Immer! Und es ist auch stets zu ihrem Besten. Uebrigens finde ich es sehr dankenswerth daß Sie sich so angelegentlich mit dem Glücke und der Heirath meines Vetters beschäftigen. Warum sind Sie denn eigentlich noch Junggesell, Herr Gronau?“

„Ich?“ Veit machte ein höchst verblüfftes Gesicht bei dieser Frage, deren Zweck er vorläufig noch nicht errieth, aber er sollte nicht lange im Unklaren darüber bleiben, denn Wally fuhr mit Nachdruck fort:

„Ein Junggesell ist etwas Trauriges, etwas Frevelhaftes sogar! Diese Menschensorte müßte eigentlich von Staatswegen verboten werden. Das habe ich Benno auseinandergesetzt, gleich das erste Mal, als ich ihn sah. Hier an dieser Stelle habe ich ihm erklärt, daß ich mich seiner annehmen und ihn möglichst bald verheirathen werde, und ich halte Wort.“

Jetzt machte Gronau einen Versuch, entsetzt aufzuspringen; er schien zu fürchten daß „diese Stelle“ auch ihm verhängnißvoll werden könnte, aber Frau Doktor Gersdorf hielt ihn fest.

„Bitte, bleiben Sie sitzen, wir sind noch nicht fertig. Sie sind mir noch Antwort auf meine Frage schuldig.“

Die kleine Hand zog den riesigen Mann sehr energisch auf das Sofa nieder und ebenso energisch klang die Wiederholung der Frage:

„Warum sind Sie Junggesell?“

„Ich habe ja weder Haus noch Herd,“ stotterte er. „Ich bin seit Jahren von Land zu Land gezogen.“

„Das hat Herr Waltenberg auch gethan, und Fräulein von Thurgau reicht ihm doch die Hand,“ entgegnete Wally schlagfertig. „Wohin gehen Sie zunächst?“

„Nach – nach Hinterindien!“ erklärte Veit, der auf diese Weise loszukommen hoffte.

Die kleine Frau machte ein etwas bedenkliches Gesicht.

„Das ist sehr weit und da wird es schwer halten, Ihnen eine ordentliche Frau zu verschaffen, aber ich werde sehen, was sich thun läßt.“

„Ach nein, gnädige Frau, thun Sie das lieber nicht!“ bat Veit in wahrer Herzensangst.

„Was meinen Sie damit, Herr Gronau? Ich will doch nicht hoffen, daß Sie eine Abneigung gegen die Frauen oder gegen die Ehe haben?“

Die Frage klang sehr scharf und das vom Eifer des Gespräches geröthete Gesichtchen nahm einen so strafenden Ausdruck an, daß der Sünder keine Erwiderung wagte, sondern nur zerknirscht das Haupt senkte. Das stimmte Frau Doktor Gersdorf etwas gnädiger.

„Wie gesagt, ich werde mich auch Ihrer annehmen,“ versicherte sie, „aber erst muß mein Vetter verheirathet werden.“

„Ja, das ist die Hauptsache, das muß zuerst geschehen!“ rief Gronau mit einem Enthusiasmus, der die junge Frau entzückte. Sie ahnte ja nicht, daß es nur der Aufschub war, der ihn so sehr begeisterte.

„Und bis dahin sind wir Bundesgenossen und Mitverschworene, “ sagte sie feierlich. „Schlagen Sie ein!“

Dem braven Veit wurde es ganz eigen zu Muthe. Er konnte dies zierliche, rosige Händchen, das sich ihm entgegenstreckte, doch unmöglich drücken und schütteln und mußte gleichwohl ein Zeichen des Einverständnisses geben. Einige Sekunden zögerte er noch, dann aber geschah das Unerhörte, Veit Gronau beugte sich nieder und drückte seine Lippen auf jene rosigen Finger, etwas ungeschickt zwar, aber es war doch zweifellos ein Handkuß, der mit Genugthuung aufgenommen wurde. Wally fand, daß dieser Bär anfing menschlich zu werden; aber während sie sich noch darüber freute, sprang er plötzlich wie von der Tarantel gestochen auf.

„O diese Schlingel! Diese gottlosen Schlingel!“

„Was ist denn? Was giebt es?“ fragte die junge Frau erschrocken; aber jetzt gewahrte sie auch die Veranlassung dieses Ausbruches, ein schwarzes und ein braunes Gesicht, die sich draußen an die Fensterscheiben drückten so eng, daß ihre Nasen ganz platt erschienen, und vier schwarze Augen, die mit brennender Neugierde in das Zimmer starrten.

„Wartet, ich werde Euch spioniren lehren!“ ries Gronau, indem er wüthend nach dem Fenster eilte, worauf die beiden Gesichter blitzschnell verschwanden.

„So lassen Sie die Leute doch hereinschauen,“ sagte Wally ruhig. „Aber jetzt müssen wir abbrechen, ich muß nachsehen, ob das Liebespaar da drinnen noch immer bei der ewigen Trennung ist. Auf Wiedersehen, Herr Gronau!“

Sie neigte graziös den Kopf und ging in das Nebenzimmer, während Veit durch die Hinterthür das Haus verließ und Anstalt machte, den beiden Neugierigen eine derbe Strafpredigt zu halten. Aber es kam nicht dazu, denn Said grinste ihm voller Freude entgegen:

„O, Master Hronau hat jetzt auch eine Dame!“

„Und eine serr schöne!“ fügte Djelma ebenso vergnügt hinzu.

„Was? Bildet Ihr Euch etwa ein, daß die Geschichte da drinnen mich anging?“ fuhr Gronau entrüstet auf. „Ich habe mit der Dame ja nur Heirathspläne gemacht!“

Das unvorsichtige Wort war kaum heraus, als er es auch schon bereute, denn die Wirkung war eine sensationelle. Said fuhr drei Schritt zurück und sein Genosse stand wie versteinert da, während sie beide das Wort: Heirath wie aus einem Munde wiederholten.

„Gleich heut?“ fragte Djelma, während der Neger bedenklich einwarf:

„Aber Missis Gersdorf ja schon ist verheirathet!“

„Gerechter Himmel, jetzt glauben diese beiden Schafe, daß ich selbst heirathen will!“ rief Veit verzweiflungsvoll und bemühte sich, ihnen klar zu machen, daß die besagten Pläne ja einem ganz anderen, einem Wildfremden gegolten hätten, aber vergebens. Die beiden hatten es mit eigenen Augen gesehen, wie ihr Mentor eine Viertelstunde lang im vertraulichen Gespräche mit einer Dame verweilte und ihr schließlich die Hand küßte. Sie beharrten steif und fest auf ihrem Glauben, daß er diese Dame heirathen wolle, und begannen die Frage zu erörtern, ob man sie gleichfalls mit auf die Reise nehmen werde und ob Master Gersdorf damit einverstanden sein werde.

Veit sah endlich die Unmöglichkeit ein, diese afrikanische und indische Begriffsverwirrung zu heben. Allerdings ging er dabei auch nicht mit der gewohnten Energie zu Werke, denn er fühlte sich in gewisser Hinsicht schuldig. Er, der abgesagte Ehefeind, hatte sich mit schmählicher Verleugnung all seiner Grundsätze in ein Komplott eingelassen, dessen Zweck war, den Doktor Reinsfeld in das Ehejoch zu zwingen! Und wenn der besorgt und aufgehoben war, dann kam er selbst dran, das hatte ihm Frau Doktor Gersdorf ja bereits angekündigt!

„Gott bewahre mich vor diesem Kobold!“ murmelte er wüthend. „Ich glaube, wenn die Sache noch eine halbe Stunde länger gedauert hätte, ich wäre in der That auf irgend eine Weise verheirathet worden, ohne zu wissen wie!“


Im Wolkensteiner Gebiet herrschte seit drei Tagen ein Unwetter, wie es selbst hier in den Bergen für unerhört galt. Die Stürme, die sonst erst im November einzutreten pflegten, waren diesmal einige Wochen früher losgebrochen und tobten nun mit entfesselter Gewalt. Dazu strömte der Regen Tag und Nacht, in einzelnen Thälern waren Wolkenbrüche niedergegangen, die Ströme und Bäche stiegen mit reißender Macht, zerrissen ihre Ufer, überflutheten die ganze Umgebung, die Verbindung mit Heilborn war unterbrochen, der Verkehr selbst mit den nächsten kleinen Ortschaften nur mit Mühe aufrecht zu erhalten und die Gefahr stieg von Stunde zu Stunde.

In der Nordheimschen Villa hatte man bereits die Vorbereitungen zur Abreise getroffen, sie aber wieder aufgeben müssen, denn bei diesem Wetter war an Reisen nicht zu denken, und doch sehnten sich alle fortzukommen, denn es lag wie ein drückender Bann auf dem ganzen Hause.

Alice hatte sich für unwohl erklärt und verließ seit mehreren Tagen ihre Zimmer nicht. Es war ein Vorwand, um dem Zusammensein mit dem Vater zu entgehen, den sie nach jener Entdeckung scheute und fürchtete; aber der Präsident hatte jetzt andere Sorgen im Kopfe. Er hätte vielleicht die Scheu seines Kindes gar nicht bemerkt, so wenig wie er das seltsam gespannte Verhältniß zwischen Erna und Waltenberg bemerkte.

Sein altes Glück, das ihm sein Lebelang treu geblieben war, schien ihm jetzt auf einmal den Rücken zu kehren, es war, als ob eine feindselige Macht all seine Entwürfe durchkreuze, seine Pläne vernichte und alles, was er unternahm, in das Gegentheil verkehre.

Der mit so kühner, sorgfältiger Berechnung entworfene Plan, dessen Gelingen ihm einen Gewinn von Millionen verhieß, war gescheitert, und gerade an der Stelle gescheitert, wo er es am wenigsten erwartete. Der Mann, den er unlösbar an sich und seine Interessen gekettet zu haben glaubte, sagte sich im entscheidenden Augenblicke los von ihm und machte damit die Ausführung unmöglich. Nordheim wußte sehr gut, daß, wenn der Chefingenieur, sein künftiger Schwiegersohn, jener Abschätzung die Bestätigung versagte, sie überhaupt gar nicht vorgelegt werden durfte. Die Sache fiel unbedingt mit der Weigerung Elmhorsts, der dem nochmaligen Versuche, ihn umzustimmen, ein eisiges Nein entgegengesetzt hatte. Es war eine kurze, herbe Unterredung gewesen, sie drückte das Siegel auf die schon beschlossene Trennung.

Darauf war Wolfgang zu seiner Braut gegangen und über eine Stunde bei ihr geblieben. Den Inhalt des Gespräches erfuhr niemand, auch der Vater nicht; das junge Mädchen verweigerte mit ungewohnter Entschiedenheit jede Auskunft darüber, aber die Trennung war hier wenigstens keine feindselige gewesen. Denn als Elmhorst das Haus verließ, um es nicht wieder zu betreten, winkte ihm Alice vom Fenster aus einen Gruß nach, so warm und innig, wie sie es nie während der ganzen Verlobung gethan hatte, und er grüßte ebenso zurück.

Nordheim war nicht der Mann, der das Scheitern eines jahrelang gehegten und vorbereiteten Planes gleichgültig ertrug, und zu dem Groll darüber gesellte sich noch die Sorge über die Drohung Gronaus, die er im Anfange unterschätzt hatte. Jetzt bereute er es, den Jugendgenossen, dessen rücksichtslose Energie er kannte, nicht wenigstens beschwichtigt und hingehalten zu haben. Wenn auch die direkten Beweise fehlten, es ließ sich aus so manchem eine Waffe schmieden, die gefährlich, so verderblich werden konnte, und Veit hatte das sicher aufgespürt. Es war ein Fehler gewesen, ihn als Feind gehen zu lassen, ein Fehler, der sich vielleicht noch schwer rächte.

Für den Augenblick freilich trat selbst das in den Hintergrund vor einem nahen, drohenden Verlust, der bei dem Präsidenten alle anderen Sorgen zurückdrängte. Die Gebirgsbahn, die in wenig Tagen vollendet sein sollte, war durch den Ausbruch des Hochwassers aufs äußerste gefährdet. Von allen Punkten kamen bedrohliche Meldungen, eine schlimme Nachricht jagte die andere. Der Schaden war schon jetzt ein bedeutender; wenn der Sturm anhielt und das Wasser noch weiter stieg, konnte er unabsehbar werden und Nordheim war mit Summen betheiligt, deren Verlust selbst einem Manne von seinem Reichthum verhängnißvoll werden konnte.

Im Salon befanden sich Erna und Wally, deren Abreise sich gleichfalls verzögerte. Der Prozeß, der Gersdorf nach Heilborn führte, war mit einem Vergleich beendigt worden, dessen notarielle Feststellung den Rechtsanwalt noch einige Tage länger aufhielt. Seine Frau war entzückt darüber, denn sie hielt in ihrer Eigenschaft als Schutzgeist ihre Anwesenheit im Nordheimschen Hause für unbedingt nothwendig, mußte sich aber zu ihrer großen Enttäuschung bald genug überzeugen, daß es hier durchaus nichts zu schützen gab.

Der Chefingenieur war zurückgetreten, seine Verlobung mit Alice aufgehoben, das war jetzt auch der Familie kein Geheimniß mehr, aber die beiden hatten das ganz unter sich allein abgemacht, und Alice verweigerte mit hartnäckiger Verschlossenheit selbst der Jugendfreundin jede nähere Erklärung. Benno zeigte sich ebenso unzugänglich und schien an dem unsinnigen Gedanken einer Trennung festzuhalten und was das Schlimmste war, kein Mensch verlangte den Rath und die Hilfe von Frau Doktor Gersdorf, die begreiflicherweise entrüstet war über diese Undankbarkeit.

„Das habe ich nun von meiner Menschenliebe!“ sagte sie in der übelsten Laune. „Jetzt sitze ich hier wie aus einer wüsten Insel mitten im Ocean, abgeschnitten von aller Welt, getrennt von meinem Manne, jeden Augenblick in Gefahr, fortgeschwemmt zu werden. Albert wird aus einem der wüthenden Gewässer meine Leiche auffischen und als trostloser Witwer nach der Stadt zurückkehren. Ob er wohl jemals wieder heirathen wird? Es wäre entsetzlich, ich würde es ihm im Grabe nicht verzeihen; aber die Männer sind zu allem fähig!“

Erna, die am Fenster stand und in den Sturm und Regen hinausblickte, hörte kaum auf das Geplaudere; sie war mit ihren Gedanken ganz wo anders.

„Wir sind ja hier nicht gefährdet, Wally,“ entgegnete sie gepreßt. „Das Haus in seiner hohen Lage ist sicher, aber ich fürchte, in Oberstein sieht es bedrohlich aus, dort – und auf der Bahn!“

„O, die wird der Chefingenieur retten“ erklärte die junge Frau zuversichtlich. „Man hört es ja von allen Seiten, daß er sich wie ein Held benimmt und das beinahe Unmögliche leistet. Wir haben diesem Elmhorst doch unrecht gethan! Er hat Alice freigegeben, trotzdem er mit ihrer Hand Millionen verliert, und jetzt setzt er alles dran, Deinem Onkel die Bahn zu erhalten, obgleich sie sich feindselig getrennt haben. Gestehe es nur, Erna, Du hattest auch ein Vorurtheil gegen ihn.“

„Ja – ich hatte es!“ sagte Erna leise.

„Da kommt Dein Bräutigam!“ ries Wally, die zu ihr getreten war. „Aber wie sieht er aus! Das Wasser fließt ja förmlich von seinem Regenmantel, er hat wahrhaftig in diesem Wetter den Weg von Oberstein gemacht. Ich glaube, er geht durch Feuer und Wasser, um eine Stunde bei Dir zu sein. Aber das hört auf in der Ehe, mein Kinde glaube einer erfahrenen Frau, die schon vier Monate verheirathet ist. Mein Herr und Gemahl sitzt ganz ruhig in Heilborn bei seinen Akten und wartet, bis der Weg zu mir frei ist. Dein romantischer Ernst scheint freilich aus anderem Stoffe gemacht zu sein; aber was hat er denn eigentlich? Seit drei Tagen geht er herum wie eine leibhaftige Wetterwolke und läßt Dich dabei nicht einen Moment aus den Augen, wenn er bei Dir ist. Es ist förmlich beängstigend, Euch beide anzusehen, und es ist auch irgend etwas vorgefallen zwischen Euch, das redest Du mir nicht aus. So sei doch endlich einmal offen gegen mich, Erna, schütte Dein Herz aus, mir kannst Du unbedingt vertrauen, ich bin verschwiegen wie das Grab.“

Sie legte betheuernd die Hand auf die Brust, aber Erna, anstatt sich in ihre Arme zu werfen und zu beichten, erwiderte nur den Gruß ihres Bräutigams, der soeben vom Pferde stieg, und sagte dann abweisend:

„Du täuschest Dich, Wally, es ist nichts vorgefallen durchaus nichts.“

Frau Doktor Gersdorf wandte sich ärgerlich ab, auch hier brauchte man keinen Schutzgeist; diese Menschen hatten eine merkwürdige Art, alles mit sich allein abzumachen. Die kleine Frau begriff das nicht, ihr war die Mittheilung ein Lebensbedürfniß, und beleidigt über diesen Mangel an Vertrauen rauschte sie zur Thür hinaus.

Kaum war sie fort, so trat Waltenberg ein. Er hatte Hut und Mantel bereits abgelegt, aber sein Anzug trug trotzdem die Spuren des Wetters, gegen das keine Hülle schützte. Er näherte sich seiner Braut und begrüßte sie mit der gewohnten ritterlichen Artigkeit; aber es lag etwas Eisiges in dieser Begrüßung und in seinem ganzen Wesen, dem das Glühen der dunklen Augen seltsam widersprach. Wally hatte nicht so unrecht, er glich in der That einer finsteren Wetterwolke, die drohendes Unheil in ihrem Schoße birgt.

Erna trat ihm mit sichtbarer Befangenheit entgegen, sie hatte diese Ruhe und Kälte fürchten gelernt.

„Nun, wie steht es draußen?“ fragte sie hastig. „Du kommst von Oberstein?“

„Ja, aber ich habe einen Umweg machen müssen; denn auch die Bergstraße ist schon überfluthet. Oberstein selbst scheint ziemlich sicher zu sein; aber die Bewohner haben vollständig den Kopf verloren, alles jammert und rennt in sinnloser Angst durch einander. Doktor Reinsfeld thut das Möglichste, sie zur Vernunft zu bringen, und Gronau unterstützt ihn dabei nach Kräften; aber die Menschen gebärden sich wie die Unsinnigen, weil sie ihr bißchen Hab und Gut bedroht glauben.“

„Dies bißchen Hab und Gut ist aber alles, was sie besitzen,“ warf das junge Mädchen ein. „Ihre und ihrer Familien ganze Existenz ruht darauf.“

Ernst zuckte gleichgültig die Achseln.

„Nun ja, aber was ist das gegen die ungeheuren Verluste, welche die Bahn erleidet! Eben als ich in das Haus trat, kamen wieder neue Meldungen an den Präsidenten, nichts als Hiobsposten. Es scheint so ziemlich alles auf dem Spiele zu stehen.“

„Aber es wird ja mit Anspannung aller Kräfte gearbeitet! Sollte denn das alles vergebens sein?“

„Ja, der Chefingenieur kämpft wie ein Verzweifelter mit den Elementen,“ sagte Ernst mit einer Art wilder Genugthuung. „Er vertheidigt sein geliebtes Werk auf Leben und Tod, aber solchen Katastrophen ist keine Menschenkraft gewachsen. Das Wasser steigt fortwährend, die Dämme halten nicht mehr Stand, auf der unteren Strecke sind die Brücken bereits fortgerissen. Die ganze Natur scheint ja in Aufruhr zu sein.“

Erna schwieg, sie trat wieder an das Fenster und ihr Blick irrte hinaus in den wogenden Nebel, der jeden Ausblick hinderte. Auch die Bahnstrecke, die sich unterhalb der Villa hinzog, war heute nicht sichtbar, nur das Brausen der entfesselten Fluth drang herauf. Dort unten kämpfte Wolfgang an der Spitze seiner Leute und kämpfte vielleicht vergebens.

„Nun, die Wolkensteiner Felsenbrücke bleibt jedenfalls stehen,“ fuhr Waltenberg fort. „Herr Elmhorst sollte damit zufrieden sein und sich nicht so unsinnig preisgeben, wie er es bei jeder Gelegenheit thut. Feig ist er nicht, das muß man ihm lassen, er geht immer mitten hinein in die Gefahr; aber es ist eine Thorheit, sein Leben einzusetzen, um irgend einen bedrohten Damm zu retten. Er leistet Tollkühnes an der Spitze seiner Ingenieure und Arbeiter, die ihm blindlings folgen. Sie sollen sich nur in Acht nehmen, daß er sie nicht mit in das Verderben reißt.“

Es lag eine kalte, berechnende Grausamkeit in der Art, wie er seiner Braut die Gefahr des Mannes, den sie liebte, immer und immer wieder vor Augen führte; sie wandte sich um und streifte ihn mit einem schweren, vorwurfsvollen Blick.

„Ernst!“ „Du befiehlst?“ fragte er, ohne den Blick zu beachten.

„Warum verweigerst Du eine offene Aussprache, die ich so oft schon herbeizuführen suchte. Du willst ja keine Erklärung.“

„Nein, ich will sie nicht – laß uns darüber schweigen!“

„Weil Du weißt, daß Dein Schweigen mich mehr quält als alle Vorwürfe, und weil es Dir Freude macht, mich zu quälen.“

Die Augen des Mädchens flammten; aber der leidenschaftliche Ausbruch begegnete einer Eiseskälte.

„Wie Du mich verkennst! Ich will Dir eine peinliche Auseinandersetzung ersparen.“

„Wozu das? Ich fühle mich nicht schuldig; ich werde Dir nichts verhehlen und ableugnen –“

„So wenig wie bei unserer Verlobung!“ unterbrach er sie schneidend. „Du warst ja auch damals sehr aufrichtig – bis auf den Namen! Du ließest mich geflissentlich in dem Irrthum, den ich allerdings selbst verschuldete.“

„Ich fürchtete –“

„Für ihn – natürlich! Ich begreife das vollkommen; aber beruhige Dich; es kommt mir wirklich nicht so genau auf die Zeit an, ich kann warten.“

Erna zuckte zusammen bei dem seltsamen, vieldeutigen Worte.

„Warten – worauf? Um Gotteswillen, was meinst Du damit?“

Er lächelte mit derselben kalten Grausamkeit wie vorhin.

„Wie schreckhaft Du geworden bist! Sonst pflegtest Du muthiger zu sein; aber freilich, eins giebt es, das Dich in besinnungslose Angst treiben kann, das habe ich gesehen.“

„Und dies Eine läßt Du mich täglich und stündlich büßen! Das ist eine unedle Rache, Ernst, ich werde Dir keine Antwort, kein Bekenntniß verweigern, wenn Du fragst; aber stehe mir endlich Rede. Du hast Wolfgang Elmhorst gesprochen seit jenem Vorfall?“

Es verging eine volle Minute, ehe Ernst antwortete; er schien jeden Zug in ihrem Gesichte zu studiren.

„Ja!“ sagte er endlich langsam.

„Und was ist geschehen zwischen Euch?“ Ihre Stimme bebte in verhaltener Angst, so sehr sie sich auch Mühe gab, sie zu beherrschen.

„Verzeih’, das geht wohl nur aus beide allein an; aber Du darfst Dich durchaus nicht beunruhigen. Ich habe bei Herrn Elmhorst jedes nur wünschenswerte Entgegenkommen gefunden, wir sind im besten Einvernehmen geschieden.“

Er betonte jedes Wort scharf und hohnvoll, und dieser Hohn brachte Erna aufs äußerste. Sie hatte bisher stumm und wehrlos alles ertragen, am ihn nicht noch mehr gegen Wolfgang zu reizen, sie wußte es ja, daß diesem allein seine Rache galt; jetzt aber richtete sie sich auf in voller Empörung.

„Ernst, geh’ nicht zu weit, Du könntest es bereuen. Noch bin ich nicht Dein Weib, noch kann ich mich losreißen –“

Sie vollendete nicht, denn Waltenbergs Hand legte sich plötzlich auf die ihrige mit so eisernem Drucke, als wollte er sie zerbrechen.

„Versuche es!“ zischte er; „der Tag, an dem Du Dich von mir trennst, ist der letzte seines Lebens.“

Erna erbleichte, der Ausdruck seines Gesichtes erschreckte sie noch mehr als seine Drohung. Jetzt, wo er die Maske der Kälte und des Hohnes fallen ließ, lag etwas Tigerartiges darin, und in seinen Augen sprühte es so wild und furchtbar, daß sie um willkürlich zusammenschauerte. Sie fühlte es, er würde dem Worte die That folgen lassen.

„Du bist entsetzlich!“ sagte sie leise. „Ich – füge mich!“

„Das wußte ich!“ rief er mit einem herben Auflachen. „Der Grund ist zwingend für Dich.“

Er gab langsam ihre Hand frei, denn in diesem Augenblick trat Wally ein, die nun ausgeschmollt hatte und wissen wollte, wie es in Oberstein stehe, was ihr Vetter Benno mache und wie es drunten auf der Bahn aussehe; sie hatte wie gewöhnlich tausend Fragen und Erkundigungen.

Waltenberg antwortete mit voller Artigkeit; er war wieder ganz Herr seiner selbst und man sah es ihm nicht an, daß er eben noch eine Tigernatur verrathen hatte.

„Wenn es den Damen Vergnügen macht und sie den Regen nicht scheuen; können wir ja hinunter reiten,“ sagte er am Schlusse seines ausführlichen Berichtes.

„Vergnügen?“ rief Wally, die trotz all ihres Uebermuthes doch ein warmes Mitgefühl für fremdes Leid besaß. „Wie können Sie im Angesichte eines solchen Unglücks nur davon sprechen!“

„Ja, gnädige Frau, der einzelne kann da wirklich nicht helfen,“ versetzte Ernst achselzuckend. „Aber ich versichere Ihnen, der Anblick ist hochinteressant.“

Erna äußerte kein Wort des Vorwurfes, aber es wandelte sie ein Grauen an vor diesem krassen Egoismus. Dort unten setzten Hunderte Kraft und Leben ein, um ein großes, kühnes Werk zu retten, an dem sie jahrelang gearbeitet hatten, die ungeheuersten Summen standen auf dem Spiele und daneben bangten auch die armen Aelpler noch um ihren dürftigen Besitz. Ernst hatte auch nicht ein Wort des Bedauerns dafür, ihm war das nur „hochinteressant“ und neben diesem Interesse empfand er höchstens nach Genugthuung darüber, daß die Schöpfung seines Feindes vernichtet wurde.

Und dieser Mann wollte sie an seine Seite zwingen für ein ganzes langes Leben, sie sollte ihm angehören mit Leib und Seele; und wenn sie sich aufbäumte und versuchte, die Kette zu zerreißen, die sie in einem Moment der Ueberraschung, halb willenlos auf sich genommen hatte, dann drohte er ihr mit dem Tode dessen, den sie liebte, und machte sie wehrlos damit. Das Mittel war gut gewählt, all ihr Trotz, all ihre Widerstandskraft sank zusammen vor dieser Angst.

Da hörte man im Nebenzimmer die Stimme des Präsidenten, der hastig und laut dem Diener einen Befehl gab und gleich darauf selbst eintrat, bleich und aufgeregt, nur mit Mühe seine Fassung bewahrend. Die letzten Meldungen ließen das Schlimmste befürchten, er wollte selbst hinunter und sehen, wie es stand. Waltenberg erklärte sofort, sich ihm anschließen zu wollen, und wandte sich dann an seine Braut so ruhig, als sei nicht das Geringste zwischen ihnen vorgefallen.

„Willst Du uns nicht begleiten, Erna? Wir reiten nach den am meisten bedrohten Stellen, und Du bist ja furchtlos genug.“

Erna zögerte einige Sekunden, dann willigte sie hastig ein. Sie mußte sehen und wissen, was da unten geschah, und wenn es das Schlimmste war. Nur nicht länger hier oben ausharren, in den wogenden Nebel blicken, der alles verschleierte, und die Meldungen hören, die von Stunde zu Stunde beängstigender klangen! Es ging nach den am meisten bedrohten Stellen; dort war Wolfgang, sie sah ihn wenigstens!

Wally, die nicht begreifen konnte, wie man sich in solchem Wetter in das Freie wagen könne, blickte ihnen kopfschüttelnd nach, als sie davonritten; auch der Präsident war zu Pferde, denn auf dem gänzlich aufgeweichten Wege kam der Bergwagen nicht vorwärts; selbst die Thiere arbeiteten sich nur mühsam durch den tiefen Schlamm. Die kleine Gesellschaft ritt in drückendem Schweigen dahin, nur Waltenberg machte hin und wieder eine kurze Bemerkung, die kaum beantwortet wurde. Sie nahmen ihren Weg zunächst nach der Wolkensteiner Brücke.




Der Wolkenstein hatte sein Haupt noch dichter als sonst verhüllt; schwere Wetterwolken umlagerten seinen Gipfel und zogen an seinen Wänden hin, wilde Gletscherbäche stürzten von seinen Eisfeldern nieder und die Stürme umtobten ihn Tag und Nacht. Die Alpenfee schwang das Scepter über ihrem Reiche, die wilde Herrscherin des Gebirges zeigte sich in ihrer ganzen furchtbaren Macht.

Die Herbststürme waren ja so oft verhängnißvoll geworden, mehr als einmal hatten sie Hochwasser und Lawinengefahr gebracht; manches Dorf, mancher einsame Berghof hatte das schwer empfinden müssen, aber eine solche Katastrophe war seit einem Menschenalter nicht eingetreten. Seltsamerweise verschonte sie diesmal größtentheils die Ortschaften; die Fluthen und Stürme bedrohten nur die Bahn, die sich, dem Laufe des Stromes folgend, durch das ganze Wolkensteiner Gebiet zog und mit ihren zahlreichen Brücken und Bauten nur zu viele Angriffspunkte bot.

Der Chefingenieur hatte gleich beim ersten Ausbruch der Gefahr mit gewohnter Umsicht und Energie seine Maßregeln getroffen. Die ganzen Arbeitermassen wurden aufgeboten, um die Bahn zu schützen; die Ingenieure waren Tag und Nacht auf ihrem Posten, Elmhorst selbst schien sich zu verzehnfachen und überall zugleich zu sein. Er flog von einer bedrohten Stelle zur anderen; ermuthigte, befahl, feuerte an und gab dabei rücksichtslos seine eigene Sicherheit preis. Sein Beispiel riß alle fort; was Menschenkräfte nur leisten konnten, das wurde geleistet, aber all die Menschenkraft erwies sich als ohnmächtig den entfesselten Elementen gegenüber.

Seit drei Tagen und Nächten strömte der Regen wolkenbruchartig; all die tausend Wasseradern, die sonst so harmlos und silberhell von den Höhen niederrannen, tobten und stürzten wie Wildbäche in das Thal nieder, die Bäche wurden zu reißenden Strömen, die durch die Wälder brachen und Tannen und Felstrümmer mit sich fortrissen, und alles strebte dem Bergstrome zu, dessen Fluth stieg und stieg und ihren wilden Wogenschwall immer wieder von neuem gegen die Bahndämme warf. Sie konnten diesem unaufhörlichen Ansturm endlich nicht mehr widerstehen, hier wurden sie überfluthet, dort zerrissen; das nasse, zerwühlte Erdreich hielt nirgends mehr zusammen und riß weichend das Mauerwerk mit sich.

Auch die Brücken hielten nicht mehr Stand, eine nach der anderen erlag dem Ansturm der Wogen, die man vergebens zu theilen und zu brechen versuchte. Infolge der unaufhörlichen Regengüsse gingen überall Erd- und Felsstürze nieder; eins der Stationsgebäude wurde dadurch völlig vernichtet, die anderen schwer beschädigt. Dazu tobte der Sturm in den Lüften und erschwerte das Arbeiten im Freien übermäßig. Wenn der Chefingenieur nicht an ihrer Spitze gewesen wäre, die Leute hätten längst die Arbeit aufgegeben und thatenlos dem Verderben zugeschaut, dem sie doch nicht wehren konnten.

Aber Wolfgang Elmhorst führte den Kampf durch bis aufs äußerste. Schritt für Schritt, wie er sich einst diesen Boden erobert hatte, vertheidigte er ihn jetzt. Er wollte nicht unterliegen, wollte sein Werk nicht preisgeben; aber während er mit verzweifelter Energie kämpfte und alles dransetzte, es der Vernichtung zu entreißen, klangen ihm immer Wieder die letzten Worte des alten Freiherrn von Thurgau in den Ohren:

„Nehmt Euch in Acht vor unseren Bergen, die Ihr so hochmüthig zwingen wollt, daß sie nicht herabstürzen und all Eure Bauten und Brücken wie Splitter entzweibrechen. Ich wollte, ich könnte dabei stehen und es mit ansehen, wie das ganze verfluchte Werk in Trümmer geht!“

Die düstere Prophezeiung schien sich jetzt zu erfüllen – nach Jahren. Man hatte Wälder und Felsen durchbrochen, Ströme bezwungen und das ganze weite Bergesreich unter die eiserne Fessel gebeugt, die es den Menschen dienstbar machen sollte, man hatte sich so stolz gerühmt, die Alpenfee besiegt und unterworfen zu haben, und jetzt, unmittelbar vor der Vollendung des Werkes, erhob sie sich von ihrem Wolkenthrone und schüttelte zürnend das Haupt. Jetzt kam sie hernieder in Sturm und Verderben und vor diesem Sturmesathem sank all das stolze Meuschenwerk in Trümmern zusammen. Da half kein Muth und keine Energie, kein Ringen der Verzweiflung; die wilde Elementargewalt zertrat in wenigen Tagen all die Spuren, die der Menschengeist in jahrelanger, mühevoller Arbeit geschaffen hatte, und trieb hohnlachend ihr Spiel mit denen, die geglaubt hatten, ihre Herren zu sein – ein furchtbares, todbringendes Spiel!

Freilich die Wolkensteiner Brücke stand noch fest und sicher, wo alles andere wankte und stürzte. Selbst der weiße, kochende Gischt, den die wild schäumende Ache emporschleuderte, drang nicht bis zu ihr, die sich oben in schwindelnder Höhe hinzog. Und so furchtbar es in den Lüften tobte, der Sturm brach sich an den Eisenrippen des mächtigen Baues. Auf seinem Felsengrunde ruhte er, wie für die Ewigkeit geschaffen, und bot all den Unheilsmächten Trotz.

Das Stationsgebäude, das der Chefingenieur einstweilen bewohnte, war seit dem Ausbruch der Katastrophe das Hauptquartier gewesen, wohin sich alle Berichte und Meldungen wandten, von wo all die Befehle und Maßregeln ausgingen. Man hatte diesen Theil der Bahnstrecke bisher für sicher gehalten, da sie hier eins der schmalen, tief eingeschnittenen Seitenthäler kreuzte, die Wolkensteiner Schlucht überbrückte und sich dann auf steilen, hohen Abhängen wieder dem Bergstrome zuwandte, der an dieser Stelle einen weiten Bogen machte. Das Hochwasser, das der unteren Strecke so verhängnißvoll geworden war, konnte die obere nicht erreichen; aber jetzt waren die Wildbäche vom Wolkenstein losgebrochen und die Schlamm- und Geröllmassen, welche sie mit sich führten, drangen bis zur Brücke vor. Die Gefahr mußte auch hier dringend sein, denn Elmhorst selbst war zur Stelle und leitete persönlich die Arbeiten.

In der allgemeinen Hast und Aufregung wurde das Erscheinen des Präsidenten und seiner Begleiter kaum bemerkt, nur einige der Ingenieure traten heran und bestätigten achselzuckend die letzten Meldungen. Es wurde trotz des Unwetters mit fieberhafter Anstrengung gearbeitet, ganze Scharen von Arbeitern waren in der Nähe der Brücken beschäftigt, auch bei dem Stationsgebäude schien irgend etwas vorzugehen und dazwischen strömte der Regen und brauste der Sturm, so daß es oft nicht möglich war, die Zurufe und Befehle der Ingenieure zu verstehen.

Nordheim war vom Pferde gestiegen und näherte sich seinem ehemaligen Schwiegersohn, der gleichfalls seinen Posten verließ und ihm entgegenkam. Sie hatten beide geglaubt, jene Unterredung, in der sie sich endgültig trennten, werde ihre letzte sein, jetzt sahen und sprachen sie sich täglich und fühlten im Drange der Ereignisse kaum das Peinliche dieser erneuten Begegnungen. Sie wußten ja am besten, was hier zu verlieren, was theilweise schon verloren war, und die Gefahr des Unternehmens, an dem sie beide gleich beteiligt waren, kettete ihre Interessen wieder so unlöslich zusammen wie zu der Zeit ihrer engsten Verbindung.

„Du bist hier auf der oberen Strecke?“ fragte der Präsident mit angstvoller Unruhe. „Und die untere –?“

„Haben wir preisgeben müssen!“ ergänzte Wolfgang. „Es war nicht möglich, sie länger zu halten. Die Dämme sind durchbrochen, die Brücken fortgerissen. Ich habe nur die nothwendigsten Leute zum Schutze der Stationen gelassen und alle verfügbaren Kräfte hier zusammengezogen. Wir müssen die Wildbäche bändigen, um jeden Preis.“

Der unstete Blick Nordheims flog über die Brücke und nach dem Stationsgebäude hinüber, wo gleichfalls eine Anzahl von Arbeitern beschäftigt war.

„Und was geschieht dort? Du läßt das Haus räumen?“

„Ich lasse wenigstens das technische Bureau mit den Plänen und Zeichnungen in Sicherheit bringen, denn es droht Lawinengefahr vom Wolkenstein; er hat uns schon einige Warnungszeichen herabgesandt.“

„Auch das noch!“ murmelte der Präsident verzweiflungsvoll, und plötzlich fuhr er wie von einem Gedanken ergriffen auf.

„Um Gotteswillen, Du glaubst doch nicht, daß die Brücke –?“

„Nein!“ sagte Wolfgang mit einem tiefen Atemzuge. „Der Bannwald schützt die Schlucht und mit ihr die Brücke, den bricht keine Lawine nieder. Ich habe diese Möglichkeit schon bei der Anlage vorausgesehen und ihr vorgebeugt.“

„Es wäre auch furchtbar!“ stöhnte Nordheim. „Der Schaden ist schon jetzt unabsehbar. Wenn die Brücke fällt, ist alles vorbei!“

Die finstere Stirn des Chefingenieurs furchte sich noch tiefer bei diesem verzweifelten Ausbruch.

„Fasse Dich!“ mahnte er leise, aber mit vollem Nachdruck. „Wir werden beobachtet, alles sieht auf uns; wir müssen das Beispiel des Muthes und der Hoffnung geben, sonst halten die Leute nirgends mehr Stand.“

„Hoffnung!“ wiederholte der Präsident, der sich an das Wort wie an einen letzten Rettungsanker klammerte. „Hoffst Du denn wirklich noch?“

„Nein – aber ich kämpfe bis zum letzten Atemzuge!“

Nordheim blickte in das Gesicht des Sprechenden. Die bleichen, finsteren Züge waren eisern und unbewegt, sie verriethen nichts von dem Sturme, der in seinem Innern wühlte, und doch stand auch für ihn alles auf dem Spiele. Seit die stolzen Träume von Macht und Reichthum zerronnen waren, blieb ihm nur noch sein Werk, auf das er eine neue Zukunft gründen konnte, wenn er am Leben blieb; das wenigstens eine unverwischbare Spur seines Daseins hinterließ, wenn er von Waltenbergs Kugel fiel – jetzt ging auch das zu Grunde! Und doch stand er aufrecht und kämpfte, während der Präsident nur ein Bild haltloser Verzweiflung bot. Was fragte er danach, daß man seine Fassungslosigkeit bemerkte, daß man von einem Manne seiner Stellung das Beispiel des Muthes erwartete, er dachte nur an die ungeheuren Verluste, welche die Katastrophe ihm brachte, Verluste, die ihn stürzen konnten, wenn dem Verderben nicht schleunigst Einhalt geschah.

„Ich muß auf meinen Posten zurück!“ sagte Elmhorst abbrechend. „Wenn Du bleiben willst, so wähle Deinen Standpunkt mit Vorsicht, die Muhren und Erdstürze gehen überall nieder, wir haben schon Unfälle genug dabei gehabt.“

Er wandte sich wieder den Dämmen zu und bemerkte erst jetzt, daß Nordheim nicht allein gekommen war. Eine Minute lang schien sein Fuß am Boden zu wurzeln und sein Blick flog zu Erna hinüber. Er ahnte, was sie herführte; er wußte es ja jetzt, daß sie um ihn zitterte und bangte, aber er versuchte nicht, sich ihr zu nähern; denn neben ihr hielt der Mann, dem sie angehören sollte, der sie schon jetzt als sein unentreißbares Eigenthum betrachtete, stumm und unerbittlich, wie das Verhängniß selbst. Waltenberg sah den angstvollen Blick, der Wolfgang folgte, als dieser wieder zu den Arbeitern zurückkehrte und sich mitten auf den bedrohten Damm stellte, und wie zufällig faßte er den Zügel des andern Pferdes und hielt es mit eiserner Hand fest.

Da tauchte hinter den beiden die lange Gestalt Gronaus auf, der über und über durchnäßt und kotbespritzt, aber mit vollster Gemütsruhe herantrat.

„Da sind wir!“ sagte er grüßend. „Wir kommen direkt von Oberstein, sind aber allerdings mehr geschwommen als gegangen.“

„Wir?“ fragte Ernst. „Ist Doktor Reinsfeld mit Ihnen?“

„Jawohl, wir haben mit Mühe und Noth die Obersteiner wieder zu Verstand gebracht und sie überzeugt, daß ihr Nest diesmal nicht in Gefahr ist. Es war ein schweres Stück Arbeit, aber sie sahen es endlich ein, und kaum waren wir fertig damit, da kam ein Bote von dem Chefingenieur, um den Doktor herzurufen, es seien bei den Rettungsarbeiten ein paar Unglücksfälle vorgekommen. Der gute Doktor lief natürlich, als ob ihm der Kopf brenne, von einem Jammer in den andern, und ich lief mit, denn ich dachte mir, ein Paar kräftige Arme sind überall zu brauchen, und das war ein gescheiter Gedanke. Vorläufig habe ich mich dort drüben in dem Wärterhäuschen als Lazarethgehilfe etablirt und komme nur auf einen Augenblick, um mich zu melden, denn wir haben leider alle Hände voll zu thun.“

„Es sind also schon Unglücksfälle vorgekommen – doch keine schweren?“ fragte Erna hastig.

Gronau zuckte mit bedenklicher Miene die Achseln.

„Einer der Leute ist von dem Wildbache fortgerissen und halb zerschmettert wieder aufgefischt worden; der Doktor meint, er würde schwerlich davonkommen; ein zweiter ist von einem niedergehenden Erdsturze am Kopfe getroffen, bei dem geht es gleichfalls auf Tod und Leben; die Verletzungen der anderen sind leichter Art.“

„Wenn Doktor Reinsfeld noch Hilfe brauchen sollte, ich bin zu jeder Dienstleistung bereit!“ erklärte das junge Mädchen und machte Miene, ihr Pferd nach dem bezeichneten Hause zu wenden.

„Danke, gnädiges Fräulein, wir schaffen es schon allein,“ versetzte Veit, während Waltenberg sich umwandte und seine Braut erstaunt ansah.

„Du, Erna? Dazu sind doch wohl andere Hände da! Du hörst es ja, daß Gronau den Doktor unterstützt. Warum also dieser überflüssige Heroismus?“

„Weil ich es nicht ertrage, allein müßig und theilnahmslos zu bleiben, wo alles arbeitet und ringt und die letzte Kraft einsetzt.“

Es lag ein harter Vorwurf in der Antwort, aber Ernst schien ihn nicht verstehen zu wollen.

„Nun, theilnahmslos bist Du wenigstens nicht, Du fieberst ja förmlich vor Erregung,“ bemerkte er kalt. „Aber es ist wahr, die Leute leisten in der That das Aeußerste, trotzdem sie bei der Arbeit fortwährend in Gefahr sind.“

„Weil der Chefingenieur ihnen immer voran ist,“ ergänzte Veit. „Wenn er nicht überall der erste wäre und ihnen zeigte, wie man die Gefahr verachtet, sie würden sich wohl bedenken und zurückbleiben; aber solch ein Führer reißt auch die Zaghaften fort. Da steht er wieder mitten auf dem Damm, den das wüthende Wasser jeden Augenblick fortreißen kann, und kommandirt, als könne er der ganzen Bergwelt befehlen! Seit drei Tagen schlägt er sich nun so mit dieser verwünschten Alpenfee herum, die diesmal einen förmliches Wuthanfall zu haben scheint, und ich glaube wahrhaftig, er bringt es fertig, sie zu zwingen. – Doch ich muß jetzt zurück zu dem Doktor! Gott befohlen!“

Er ging, und der Präsident, der jetzt erst zu seinen Begleitern zurückkehrte, sah ihn noch in der Thür des Wärterhäuschens verschwinden. Er zuckte unwillkürlich zusammen; das Erscheinen dieses Mannes war ihm eine Unheilsbedeutung mehr an diesem unheilvollen Tage; es erinnerte ihn daran, daß noch etwas anderes ihn bedrohte, was die jetzige Katastrophe nur zurückgedrängt hatte, und diese Katastrophe war schon furchtbar genug.

Die kurze Unterredung mit Wolfgang hatte Nordheim den letzten Hoffnungsschimmer genommen. Wenn auch die obere Strecke endlich preisgegeben werden mußte, was blieb dann noch von all den Bauten, die Millionen verschlungen hatten und die in derselben Weise wiederherzustellen wenigstens für ihn ein Ding der Unmöglichkeit war? Er war von Anfang an der Haupteigenthümer der Bahn gewesen und hatte in der letzten Zeit, mit Rücksicht auf den zu erhoffenden Gewinn bei der Abtretung, noch mehr in seine Hände gebracht, jetzt traf ihn der ganze ungeheure Verlust fast allein. Er wußte, daß sein Vermögen, das ja in vielfachen anderweitigen Unternehmungen steckte, einen solchen Schlag nicht aushalten konnte, und wenn Gronau setzt seine Drohung wahr machte und mit einer öffentlichen Anklage auftrat, war alles verloren. Der Millionär in seiner gesicherten Stellung hätte ihr vielleicht Trotz bieten können, dem Wankenden, Stürzenden mußte sie verderblich werden, Nordheim kannte die Welt, mit der er so oft kaltblütig gerechnet hatte.

Jetzt freilich hielten diese Kaltblütigkeit und Energie nicht mehr Stand. Der Mann, den das Glück so verwöhnt hatte während seiner ganzen Laufbahn, der immer nur erworben und gewonnen hatte, konnte es jetzt nicht fassen, daß sein Glück ihn so völlig verließ. Er war von jeher nur ein kühner, kluger Geschäftsmann gewesen, kein Charakter; vor diesem Schicksalsschlage sank er kläglich zusammen. In dumpfem, verzweiflungsvollem Brüten starrte er in den Regen und auf die Arbeitenden, deren Leitung der Chefingenieur wieder übernommen hatte.

Wolfgang war in der That überall, bald stand er hoch oben auf den Dämmen an der am meisten preisgegebenen Stelle, bald war er mitten auf der Brücke und stemmte sich gegen den Sturm, der an dem eisengefügten Gitterwerk rüttelte, als wolle er es zerbrechen, bald eilte er wieder nach dem Stationshause und gab dort seine Befehle. Sein ganzer Anzug triefte, das Wasser rann aus seinen Haaren, von seinem Mantel; er schien es nicht zu fühlen, schien weder Ruhe noch Erholung zu brauchen, und doch hielt ihn nur die furchtbarste Anspannung aller Seelen- und Körperkräfte aufrecht in diesem Kampfe, der nun dreimal vierundzwanzig Stunden dauerte. Es waren Stunden, in denen Wolfgang Elmhorst selbst seine ärgsten Gegner zur Anerkennung und Bewunderung nötigte.

Auch seinen Todfeind zwang er dazu! Aber dessen Haß und Eifersucht loderten nur noch glühender auf unter diesem Zwange. Waltenberg war ja auch vertraut mit der Gefahr; er hatte sie oft genug herausgefordert und mit ihr gespielt, tollkühn und zwecklos, wie man einen Sport treibt, aber es lag doch noch etwas anderes in dieser unbezwinglichen Energie, mit der Elmhorst seine Pflicht that. Er wußte, daß er auf einem verlorenen Posten stand, die eine Hälfte seines Werkes hatte er schon preisgeben müssen, die andere war auch nicht mehr zu retten, und doch vertheidigte er sie noch und schien entschlossen, eher zu fallen als zu weichen.

Und während dessen hielt Ernst Waltenberg drüben auf seinem Pferde als Zuschauer bei dem „hochinteressanten Anblick“; aber er fühlte es jetzt doch, zu welcher Rolle er sich selber verurtheilt hatte. Es war nicht absichtslos gewesen, daß er Erna veranlaßte, mit ihm nach der Bahn hinunterzureiten; dieselbe berechnende Grausamkeit, mit der er sie bisher durch sein Schweigen gefoltert hatte, diktirte auch diesen Vorschlag. Er wußte, sie würde ihn nicht zurückweisen, weil er ihr die Möglichkeit gab, Wolfgang noch einmal zu sehen und sie sollte ihn sehen, mitten in der Gefahr, der er sich so rücksichtslos preisgab, sollte zittern, sich zu Tode ängstigen und doch mit keiner Miene diese Angst verrathen dürfen. Elmhorst hatte recht: selbst die Liebe dieses Mannes war Egoismus, er fragte nicht danach, ob er ein geliebtes Wesen marterte und quälte, wenn er nur seine wilde Rachsucht befriedigte. Erna sollte laden, wie er litt, er war erbarmungslos gegen sie wie gegen sich selber.

Aber er unterschätzte doch die kühne, furchtlose Natur seiner Braut, wenn er glaubte, sie könne nur zittern in dieser Gefahr. Wohl hingen ihre Augen unausgesetzt an Wolfgang in angstvoller, athemloser Spannung, aber diese Augen flammten auch in leidenschaftlicher Bewunderung, in glühender, stolzer Genugthuung, als sie sah, wie er kämpfte, wie er der Alpenfee in das furchtbare Antlitz schaute und mit ihr rang auf Tod und Leben. In diesem Kämpfen und Ringen wuchs er ihr zum Helden empor, dem ihre ganze Seele zuflog. All die Schatten, die ihr so lange sein Bild verdunkelt hatten, zerrannen in diesem Lichte, er stand vor ihr, wie er damals vor Nordheim gestanden hatte, frei von all den Schlacken, mit dem Siege seiner besseren, seiner wahren Natur.

Ernst mußte es sehen, wie der Pfeil, den er so rachsüchtig abgesandt hatte, auf ihn selbst zurückprallte. Er hatte Erna die Gefahr des Geliebten zeigen wollen, und nun zeigte er ihr nur sein Heldenthum. Wohl hielt er wie ein Wächter an ihrer Seite, entschlossen, jede Annäherung zu hindern, aber er konnte die wortlose Sprache nicht hindern, in der die beiden miteinander redeten, die Blicke, die sich suchten und fanden durch Trennung und Entfernung, durch Sturm und Vernichtungsgraus, und in dieser Sprache sagten sie sich alles. Wolfgang fühlte es, daß in dieser Stunde die Schranke niedersank, die seine Werbung um Alice zwischen ihnen aufgerichtet hatte, und mitten in der düsteren Hoffnungslosigkeit, mit der er seine Pflicht that, leuchtete es auf wie an heller, verklärender Sonnenstrahl, freilich wie ein letzter Strahl vor dem Untergange der Sonne.

Es war ist der That, als ob von der Gegenwart, von dem Auge dieses einzigen Mannes das ganze Rettungswerk abhinge. Wo er stand, wo er selbst befahl und anfeuerte, rang man erfolgreich mit den Elementen, denn da wich keiner zurück, da ging jeder in die augenscheinlichste Gefahr. Die Leute holten sich Muth und Zuversicht aus dem unbewegten Antlitz, aus der unerschütterlichen Ruhe ihres Führers; sie meinten wie Gronau, er müsse das Unheil zwingen.

Und endlich schienen die furchtbaren Anstrengungen auch von Erfolg gekrönt zu werden. Es war gelungen, den gefährlichsten der Wildbäche, der unaufhörlich gegen die Bahndämme anstürmte, unschädlich zu machen. Elmhorst hatte einen tiefen Felseinschnitt benutzt, um der verderblichen Fluth eine andere Bahn zu schaffen, und sie hatte wirklich diesen Lauf genommen. All die Wasser- und Geröllmassen stürzten nun der Wolkensteiner Schlucht zu, wo sie tobend, aber unschädlich in die Tiefe niedergingen. Die nächste

Gefahr war bezwungen und für den Augenblick schien auch das Unwetter nachzulassen. Der Regen hörte auf, der Sturm milderte sich und droben am Wolkenstein begann es lichter zu werden.

Auch die Arbeit ruhte einige Minuten. Der Präsident und Waltenberg, der gleichfalls abgestiegen war, schritten nach der Brücke, wo sich an Theil der Arbeiter versammelt hatte, um zu sehen, wie der bezwungene Wildbach seinen Weg in die Schlucht nahm. Alles athmete auf und schöpfte neue Hoffnung.

Nur der Chefingenieur stand noch seitwärts, abgesondert von den übrigen. Er hörte nicht die frohen Zurufe der Leute, sondern schien weit vorgebeugt auf irgend etwas zu lauschen, was aus der Höhe, aus den Lüften niederklang, wie fernes, fernes Meeresbrausen; er blickte unverwandt zu dem Gipfel des Wolkenstein empor und plötzlich wurde sein Antlitz fahl wie das eines Todten.

„Fort von der Brücke!“ donnerte er den Erschreckten zu. „Zurück – rettet Euch! Es gilt Euer Leben!“

Die letzten Worte wurden bereits verschlungen von einem dumpfen Rollen, das in wenigen Sekunden zum Donner anwuchs; aber der Warnungsruf war doch gehört worden. Die Leute stoben auseinander, sie fühlten es jetzt auch, daß irgend etwas Furchtbares nahte; es zu sehen und zu unterscheiden, dazu blieb ihnen keine Zeit, sie flohen in wilder Hast den beiden Endpunkten der Brücke zu.

Nordheim und Waltenberg wurden in dieser Flucht mitgerissen und der erstere erreichte auch wirklich den festen Boden, während Ernst gerade bei dem Brückenpfeiler strauchelte und stürzte. Neben und über ihm stürmten die anderen dahin; im Egoismus der Todesangst dachte jeder nur an die eigene Rettung, während er, betäubt von dem Sturze, am Boden lag, eine Minute lang völlig unfähig, sich zu erheben, und hier handelte es sich um Sekunden.

Da fühlte er plötzlich, wie ein kraftvoller Arm ihn packte und gewaltsam emporriß; er wurde festgehalten, eine Strecke fortgeschleift, endlich losgelassen und umfaßte nun taumelnd den Stamm eines Baumes, den er vor sich sah und der ihn aufrecht hielt.

Da kam es durch die Lüfte gezogen, heulend und brausend wie ein Orkan, gegen den all das Stürmen der letzten Tage nur leichtes Wehen war, und was in seinem Wege lag, das wurde niedergeworfen oder fortgerissen. Die Sturmesboten gingen der Alpenfee voran und schafften ihr Bahn, und nun kam sie selbst hernieder von ihrem Wolkenthrone. Es rollte wie tausendfacher Donner, auf allen Höhen, in allen Tiefen, als stürze die ganze Bergwelt zusammen; die Felsen schienen zu beben, die Erde zu wanken, als dies furchtbare Etwas weiß und gespenstig vorüberbrauste – das dauerte minutenlang, dann wurde es still – todtenstill.

Die Lawine hatte ihren Weg vom Gipfel des Berges direkt in die Schlucht genommen, einen Weg der Vernichtung. Der mächtige, schützende Bannwald am Fuße der Hochwand war verschwunden und der Abhang, wo er gestanden, zeigte nur ein wüstes, ödes Trümmerfeld. Der Lauf der Ache war gehemmt, die Schlucht zur Hälfte ausgefüllt mit einer eisigen, zerklüfteten Masse, aus der Felstrümmer und Baumstämme emporragten, und dort, wo die Brücke mit ihrer kühnen Wölbung sich von Fels zu Fels schwang, gähnte jetzt eine weite Leere. Zwei der riesigen Seitenpfeiler standen noch, die anderen waren ganz oder theilweise niedergebrochen und an ihnen hing noch ein Theil der Eisenrippen, verbogen und zerknickt wie dünne Rohrstäbe, alles andere lag da unten in der Tiefe. Sie hatte sich gerächt, die wilde Alpenfee – wie Splitter zusammengebrochen lag das stolze Menschenwerk zu ihren Füßen!




Dem furchtbaren Elementarereignisse folgte eine Scene der unbeschreiblichsten Verwirrung. In den ersten Minuten wußte überhaupt niemand, was eigentlich geschehen war, und als man es sich endlich klar machte, galt es vor allen Dingen, Hilfe zu bringen. Zwar hatte der Warnungsruf des Chefingenieurs das Schlimmste abgewandt; im Augenblick der Katastrophe hatte sich niemand mehr auf der Brücke befunden, aber ein Theil der Leute lag, von dem entsetzlichen Luftdruck niedergeworfen, betäubt am Boden, andere hatten durch die umherfliegenden Stein- und Eistrümmer mehr oder weniger Verletzungen erlitten; getödtet schien allerdings niemand zu sein und alles, was unversehrt geblieben war, stürzte jetzt herbei. Es gab zunächst nur ein wirres Durcheinander, ein Rennen und Rufen ohne Ende. Keiner wußte, was er zuerst thun sollte, bis es endlich den Besonneneren gelang, sich Gehör zu verschaffen.

Um so stiller ging es in einer Gruppe zu, die sich seitwärts um einen Schwerverwundeten gesammelt hatte und sich zusehends vergrößerte. Die Ingenieure, die Arbeiter, alles drängte heran; in den Mienen aller las man Bestürzung und ein banges, halblautes Flüstern ging wie ein Lauffeuer von Mund zu Mund: „Der Präsident?“ – „Nordheim selbst?“ „So schafft doch um Gotteswillen den Arzt herbei!“

Es war in der That Präsident Nordheim, der hier am Boden lag, blutend, bewußtlos, fast ohne Lebenszeichen. Er hatte sich anscheinend bereits in Sicherheit befunden, als einer der auffliegenden schweren Eisentheile aus dem zerstörten Brückenpfeiler ihn traf und niederwarf. Erna und Waltenberg waren um ihn beschäftigt und von allen Seiten war man bestrebt, ihnen Hilfe zu leisten, als sich jetzt der Kreis öffnete und der Chefingenieur mit dem Doktor Reinsfeld herantrat.

Benno war etwas bleicher als gewöhnlich, aber vollkommen ruhig, als er niederkniete und die Wunde zu untersuchen begann. Der Schmerz der Berührung schien Nordheim wieder zu sich zu bringen, mit einem lauten Stöhnen schlug er die Augen auf und sein starrer Blick blieb an dem Antlitz des Mannes hängen, der sich über ihn beugte. Er mochte ihn wohl nicht erkennen und glaubte offenbar, die Züge des einstigen Jugendfreundes zu sehen, die sich in dessen Sohn wiederholten, denn sein Gesicht nahm den Ausdruck eines unverkennbaren Entsetzens an und mit einer krampfhaften Bewegung versuchte er, sich aufzurichten und die helfende Hand zurückzustoßen, aber das gelang ihm nicht. Mit einem zweiten qualvollen Aufstöhnen sank er wieder zurück und ein Strom von Blut schoß aus seinem Munde hervor.

Die Umstehenden sahen darin nur den Ausdruck des körperlichen Schmerzes, Benno allein errieth die Wahrheit, er beugte sich noch tiefer und während er sanft seine Hand unter das Haupt des Leidenden schob und es zu stützen versuchte, sagte er leise:

„Stoßen Sie meine Hilfe nicht zurück, ich biete sie gern – aus vollem Herzen!“

Nordheim war unfähig zu sprechen, und jene heftige Bewegung hatte seine Kraft erschöpft, er verlor von neuem das Bewußtsein. Der junge Arzt untersuchte so schonend als möglich die Wunde in der Brust, legte den ersten Verband an und wandte sich dann mit tiefernster Miene zu Waltenberg und Elmhorst.

„Du hast keine Hoffnung?“ fragte der letztere halblaut.

„Nein, hier ist jede Hilfe vergebens,“ versetzte Benno in dem gleichen Tone. „Wir wollen versuchen, ihn nach seinem Hause zu schaffen; wenn der Transport mit der äußersten Vorsicht geschieht, hält er ihn vielleicht aus. – Gnädiges Fräulein, ich möchte Sie bitten, vorauszugehen und die Tochter vorzubereiten, damit sie das Schreckliche nicht allzu jäh trifft. Wir dürfen es ihr nicht verhehlen, daß der Vater sterbend zurückkehrt, denn er wird die Nacht nicht überleben.“

Er trat zurück und gab die nöthigen Anweisungen. An helfenden Händen war kein Mangel; es wurde rasch eine Tragbahre hergestellt, einige Mäntel und Decken herbeigeschafft und der Verwundete mit äußerster Sorgfalt darauf gebettet, dann trat der traurige Zug langsam den Weg nach der Villa an. Erna war bereits vorausgegangen und Reinsfeld, der sofort nachzukommen versprach, wandte seine Sorgfalt den anderen Verletzten zu, bei denen es nur einer ersten Hilfeleistung bedurfte, in Lebensgefahr befand sich keiner von ihnen.

Waltenberg war gleichfalls zurückgeblieben , er stand unentschlossen da und schien mit sich zu kämpfen; als er aber sah, daß der Chefingenieur sich nach der Wolkensteiner Schlucht wandte, folgte er ihm und holte ihn mit wenigen Schritten ein.

„Herr Elmhorst!“

Wolfgang blieb stehen und wandte sich um, es lag eine starre, unheimliche Ruhe in seinen Zügen und seine Stimme war völlig klanglos, als er sagte: „Sie kommen, mich an das gegebene Wort zu mahnen? Ich stehe Ihnen zur Verfügung, zu jeder Stunde – meine Pflichten sind zu Ende.“

Ernst hatte eine solche Mahnung in diesem Augenblicke wohl nicht beabsichtigt, er machte eine heftig abwehrende Bewegung.

„Ich glaube, wir sind jetzt beide nicht in der Stimmung, unseren Streit auszufechten. Vor allen Dingen sind Sie es nicht.“

Elmhorst fuhr mit der Hand über die Stirn; jetzt, wo die furchtbare Anspannung seiner Nerven nachließ, fühlte er erst, wie erschöpft und todesmatt er war.

„Sie mögen recht haben,“ sagte er mit demselben starren, unheimlichen Ausdruck. „Es kommt von der Ueberarbeitung. Ich habe seit drei Nächten nicht geschlafen, aber ein paar Stunden der Ruhe werden mich völlig wiederherstellen und ich wiederhole, daß ich Ihnen gänzlich zur Verfügung stehe.“

Ernst blickte schweigend in das Gesicht des Mannes, dem der heutige Tag alles vernichtet hatte – ihn täuschte diese Ruhe nicht. Er hatte augenscheinlich eine Entgegnung auf den Lippen, unterdrückte sie aber und sein Auge flog zu dem Ausgange der Brücke hinüber, wo er vorhin gestürzt war bei der Flucht. Gerade an jener Stelle war der Seitenpfeiler niedergebrochen und die Eisentheile desselben hatten sich tief in das Erdreich eingewühlt. Dort hätte auch er zerschmettert und zermalmt gelegen, wenn eine rettende Hand ihn nicht dem Verderben entrissen hätte, vielleicht war ihm diese Hand nicht so fremd, als es den Anschein hatte.

„Ich muß hinauf und sehen, wie es mit dem Präsidenten steht,“ sagte er hastig. „Doktor Reinsfeld hat versprochen, die Nacht über bei uns zu bleiben, wir senden Ihnen Nachricht.“

„Ich danke,“ sagte Wolfgang, der nur rein mechanisch zu hören und zu antworten schien; seine Gedanken waren nicht bei dem Gespräch, und als Waltenberg sich von ihm wandte, schritt er langsam weiter, dem Orte zu, wo die Wolkensteiner Brücke einst – stand! –

Es war eine furchtbare Nacht, welche die Familie und Umgebung Nordheims durchlebte. Der Herr des Hauses kämpfte den letzten Kampf, einen langen, qualvollen Kampf, der nicht enden wollte. Unfähig, zu sprechen oder sich zu regen, aber bei vollem Bewußtsein, sah und fühlte er es, wie der Sohn des verrathenen, betrogenen Jugendfreundes, den er der Armuth und Entbehrung preisgegeben hatte, während er selbst mit den Früchten der geraubten Arbeit zu fürstlichem Reichthum emporstieg, sich abmühte, seine Schmerzen zu lindern und ihm das Sterben, das er nicht abzuwenden vermochte, wenigstens zu erleichtern. Man konnte nicht schonender und aufopfernder seine Pflicht thun, als Benno sie hier that, und vielleicht war gerade diese Aufopferung die schwerste Strafe für den Sterbenden. Im Angesichte des Todes hielten Lüge und Betrug nicht mehr Stand, da zeigte nur die Wahrheit ihr unerbittliches Antlitz und hier war es ein vernichtendes. Das schwere qualvolle Ringen dauerte ja nur eine einzige Nacht, aber in diesen wenigen Stunden drängte sich die Qual eines ganzen Lebens und die Vergeltung für ein ganzes Leben zusammen.

Als der Morgen endlich anbrach, ein grauer, trüber Nebelmorgen, da waren Kampf und Qual zu Ende und da war es Benno Reinsfelds Hand, welche dem Todten die Augen zudrückte. Dann hob er sanft die schluchzende Alice empor, die an der Leiche des Vaters in die Kniee gesunken war, und führte sie fort. Er sprach kein einziges Wort der Liebe oder Hoffnung zu ihr; das wäre ihm in dieser Stunde wie Frevel erschienen, aber die Art, wie er den Arm um sie legte und sie stützte, zeigte, daß er das jetzt als sein Recht in Anspruch nahm und an keine Trennung mehr dachte. Er hätte dem Manne, der seinem Vater so Schweres angethan, niemals den Vaternamen geben können; das blieb ihm jetzt erspart, auch wenn Alice sein Weib wurde, und ihr Reichthum, der sich auf jenem Betruge aufbaute, war größtenteils zerronnen – jetzt stand nichts mehr trennend zwischen ihnen.

Auch Erna hatte sich, als alles vorüber war, in ihr Zimmer zurückgezogen. Alice bedurfte ihrer jetzt nicht, sie hatte einen besseren und näheren Tröster zur Seite.

Das junge Mädchen saß bleich und überwacht am Fenster und blickte hinaus in den grauenden Morgen, der auch nur Nebel und Wolken brachte. Wie fern ihr der Oheim auch gestanden, wie herb sie oft ihn und seinen Charakter beurtheilt hatte, die letzten schweren Leidensstunden hatten das alles ausgelöscht, es war nur noch der Bruder ihrer Mutter gewesen, den sie sterben sah.

Ihre Gedanken weilten freilich nicht mehr bei dem Todten, sie suchten einen Lebenden, der jetzt vielleicht im Nebelgrauen vor den Trümmern seines vernichteten Werkes stand. Sie wußte, was ihm dies Werk gewesen war, und fühlte den Schlag mit, der ihn getroffen. Erna hätte ihr Leben hingegeben für die Möglichkeit, jetzt an seiner Seite zu sein, ihn trösten und ermuthigen zu dürfen, und statt dessen mußte sie ihn allein lassen in seiner Verzweiflung. Sie beachtete es nicht, daß Greif sich zu ihr geschlichen hatte und bittend und schmeichelnd den Kopf in ihren Schoß legte, sondern starrte regungslos hinaus in das Nebelwogen.

Da wurde die Thür geöffnet. Waltenberg trat ein und näherte sich langsam seiner Braut, die, in ihre Träumereien versunken, ihn erst gewahrte, als er vor ihr stand und ihren Namen nannte.

[836] Erna zuckte zusammen, als Waltenberg auf sie zutrat, und wich zurück; es war eine unwillkürliche Bewegung des Schreckens und Widerwillens, die ihm nicht entgehen konnte; er lächelte, aber es war ein Lächeln der tiefsten Bitterkeit.

„Fürchtest Du meine Nähe so sehr? Ich bedaure, sie Dir trotzdem aufdrängen zu müssen, denn ich habe mit Dir zu reden.“

„Jetzt? In dieser Stunde, wo der Tod über unsere Schwelle geschritten ist?“ fragte das junge Mädchen in müdem vorwurfsvollen Tone.

„Gerade jetzt, später möchte ich – den Muth verlieren.“

Die Worte klangen so seltsam dumpf und gepreßt, daß Erna betroffen aufblickte. Ihre Augen begegneten den seinigen, aber sie fanden dort nicht mehr jene lodernde Gluth, die sie in der letzten Zeit so namenlos geängstigt hatte. In diesem dunklen Blick glühte jetzt etwas anderes, war es Haß oder Liebe, oder vielleicht beides zugleich – sie wußte es sich nicht zu deuten.

„So sprich!“ sagte sie matt. „Ich höre.“

Er schwieg noch immer und sah sie unverwandt an, endlich sagte er mit schwerem Nachdruck:

„Ich komme, Dir Lebewohl zu sagen.“

„Du willst abreisen? Jetzt, noch ehe der Onkel zur letzten Ruhe gebettet ist?“

„Ja – um nicht zurückzukehren! Da mißverstehst mich, Erna; es handelt sich hier nicht um Tage oder Wochen, das Lebewohl gilt unserer Trennung.“

„Trennung?“ Das junge Mädchen sah ihn ungläubig, halb verständnißlos an, die Botschaft kam zu jäh und unvermittelt, um sofort begriffen zu werden.

„Du scheinst nicht an meine Großmuth zu glauben,“ sagte Ernst im herbsten Tone. „Freilich, noch gestern hätte ich Euch beide, Dich und Deinen Wolfgang, eher vernichtet, als Dir die Freiheit zurückgegeben. Das ist vorbei – er hat es mich gelehrt, wie man seine Gegner zwingt. Denkst Du, ich kenne die Hand nicht, die mich emporriß, als ich am Ausgange der Brücke stürzte? Ohne diese Hand hätte mich der brechende Pfeiler niederschmettert, zermalmt. Du hast es auch gesehen, ich weiß es, und wirst ihn nun noch mehr bewundern, Deinen Helden, den Du gestern schon mit so verklärten Blicken anschautest. Mit dieser That wächst er Dir vollends zu einem Ideale empor – wie stehe ich dagegen da in Deinen Augen!“

„Ja, ich sah es!“ flüsterte Erna mit gesenktem Blick, „aber ich glaubte nicht, daß Du ihn erkannt hättest in der Betäubung des Sturzes, in der Verwirrung der allgemeinen Flucht.“

„Seinen Todfeind erkennt man immer, selbst wenn er einem das Leben rettet! Ich wollte es ihm schon gestern sagen, unmittelbar nach der Katastrophe, aber ich brachte es nicht über die Lippen; ein Dankeswort diesem Manne gegenüber hätte mich erstickt. So mag er es denn von Dir hören! Sage ihm, daß ich meine Forderung zurücknehme und ihn seines Wortes entlasse, daß ich Dich freigegeben habe. Dann sind wir quitt, mehr als quitt. Ich gebe ihm zehnfach so viel, als das Leben werth ist, das er mir erhielt.“

Erna war erbleichend aufgefahren bei der Enthüllung, die sie freilich längst geahnt hatte.

„Du hast ihn gefordert? Also kam es doch dahin in jener Unterredung zwischen Euch!“

„Glaubst Du, daß es meine Absicht war, ihm ein Glück in Deinen Armen zu gönnen?“ fragte Waltenberg mit bitterem Auflachen. „Darauf ist meine Natur nicht angelegt. Ich hätte ihn niedergeschossen ohne die gestrige Stunde, und er gab mir sein Wort, sich mir zu stellen, sobald die Wolkensteiner Brücke vollendet sei – das Schicksal selbst hat uns die Antwort darauf gegeben!“

Der hohnvoll bittere Ton beirrte Erna jetzt nicht mehr, sie hörte nur die verzehrende Qual darin, fühlte nur, was diese Entsagung dem leidenschaftlichen Manne kostete. Leise und bittend legte sie die Hand auf seinen Arm.

„Ernst, glaube mir, ich fühle das Opfer, das Du mir bringst, in seiner ganzen Schwere. Du hast mich grenzenlos geliebt –“

„Ja,“ sagte er schneidend, „und ich war Thor genug, mir einzubilden, daß eine Leidenschaft wie die meine sich Gegenliebe erzwingen müsse. Ich glaubte, wenn ich Dich nach einem andern Weltteil führte, wenn ich den Ocean zwischen Euch legte, dann würdest Du vergessen lernen und Dich Deinem Gatten zuwenden. Jetzt ist es mir klar geworden, daß ich verspielt habe! Ich werde

diese Liebe nie aus Deinem Herzen reißen, und wenn ich ihn niedergeschossen hätte, so hättest Du den Todten noch geliebt. Jetzt, wo er im Unglück ist, fliegt ihm ja Deine ganze Seele zu – so geh’ hin zu ihm, ich hindere Dich nicht mehr – Du bist frei!“

„Laß uns zusammen gehen!“ bat Erna mit aufflammender Innigkeit. „Biete Wolfgang die Hand zur Versöhnung, Du kannst es, denn jetzt bist Du der Großmüthige, der Gewährende, wir haben Dir nur zu danken.“

Er stieß mit einer beinahe wilden Heftigkeit ihre Hand zurück.

„Nein, ich wil, ich kann diesem Manne nicht mehr begegnen! Wenn ich ihn wiedersehe, stehe ich für nichts; dann bäumen sich all die Dämonen in mir wieder auf; Du ahnst nicht, was es mich gekostet hat, sie niederzuzwingen, laß sie ruhen!“

Erna wagte es nicht, ihre Bitte zu wiederholen, sie begriff, daß diese leidenschaftliche Natur wohl entsagen, aber nicht verzeihen konnte; in stummer Ergebung senkte sie das Haupt.

„Lebe wohl!“ sagte Ernst, auch jetzt noch in dem herben, feindseligen Tone, den er während der ganzen Unterredung festgehalten hatte. „Vergiß mich – es wird Dir leicht werden an seiner Seite.“

Sie sah zu ihm auf mit heißen Thränen im Auge.

„Ich werde Dich nie vergessen, Ernst, niemals! Aber ich werde es ewig als einen Vorwurf empfinden, daß Du in Haß und Bitterkeit von mir gegangen bist.“

„Im Hasse?“ rief er mit ausbrechender Leidenschaft, und plötzlich fühlte sich Erna von seinen Armen umschlossen, an seine Brust gerissen. Noch einmal überströmte er sie mit jener wilden, glühenden Zärtlichkeit, die nie auch nur die leiseste Erwiderung gefunden hatte; aber in diesem Augenblicke hatte sie etwas vom Wahnsinn des Schmerzes an sich. Dann riß er sich los und stürzte fort; der kurze, stürmische Liebestraum seines Lebens war zu Ende, war ausgeträumt für immer! –

Draußen war inzwischen der Tag angebrochen; seit gestern abend hatte der Regen aufgehört, auch der Sturm hatte sich während der Nacht, wenigstens theilweise, gelegt, der wilde Aufruhr der Natur schien sich allmählich zu beruhigen.

Die Rettungsarbeiten waren überall eingestellt worden, man hatte nur die nöthigen Wachen an den einzelnen Punkten zurückgelassen. Es gab in der That kaum mehr etwas zu retten, seit die Wolkensteiner Brücke vernichtet war. Der schwerste Schlag war zuletzt gefallen, aber die ganze weite Bahnstrecke hatte den ungeheuersten Schaden erlitten, nur wenige der zahlreichen Bauten und Brücken waren unversehrt geblieben, und angesichts dieser Verheerung erschien die Wiederherstellung fast unmöglich. Der Schöpfer des ganzen Unternehmens lag todt in seinem Hause, die geplante Uebernahme von seiten der Gesellschaft fiel selbstverständlich mit dieser Katastrophe. Ob und wann sich andere fanden, die das halbzerstörte Werk wieder aufnahmen, mußte erst die Zeit lehren.

Es mochten wohl solche Gedanken sein, die durch die Seele des Mannes zogen, der so einsam mit verschränkten Armen am Stande der Wolkensteiner Schlacht stand und auf die Verwüstung blickte. Es war ein eisig kalter, düsterer Herbstmorgen; in den Schluchten und Thälern gährten noch dichte, weißgraue Nebelmassen, lange Wolkenzüge schwebten an den Bergen hin und ein grauer, schwerer Himmel blickte nieder auf die nasse, zerwühlte Erde, die noch ringsum die Spuren dieser Schreckenstage trug.

Ueberall entwurzelte und abgebrochene Bäume, zerschmetterte Felsblöcke, wüste Schlamm- und Geröllmassen, überall noch die Spuren der Arbeiter, die so heldenmüthig und so vergeblich mit den Elementen gerungen hatten. Dazu tönte dumpf das Rauschen der Wildbäche, die zwar nicht mehr gefahrdrohend, aber noch immer reißend genug von den Höhen niederstürzten, und das Rauschen des Windes, der den triefenden, sturmgepeitschten Wäldern noch immer keine Ruhe gönnte.

Nur in der Wolkensteiner Schlucht herrschte die Ruhe des Grabes. Wie ein riesiger Gletscher lagerte es dort in der Tiefe, weiß und starr und dazwischen ein chaotisches Gemisch von Erd- und Felsmassen. Die Lawine, die zweifellos am Gipfel des Wolkenstein entstanden war, mußte furchtbar angewachsen sein auf ihrem Wege, denn sie hatte den ganzen Bannwald, von dem man unbedingten Schutz erhoffte, niedergeworfen, die hundertjährigen Tannen geknickt wie dürres Gesträuch und mit ihnen auch einen Theil des Bergesabhanges in die Tiefe gerissen. Und dann hatte sich diese ganze Masse von Eis und Schnee, von Felsblöcken und Baumstämmen mit einer durch die rasende Schnelligkeit ihres Laufes verzehnfachten Wucht gegen die Brücke geworfen und sie zerschmettert. Einem solchen Ansturm widerstand freilich kein Werk von Menschenhand.

Es war immerhin an Trost, sich das sagen zu können; aber Wolfgang Elmhorst schien für diesen Trost nicht zugänglich zu sein. In dumpfem Brüten starrte er auf das eisige Grab, wo all seine stolzen Hoffnungen und Entwürfe ruhten, um vielleicht nie wieder aufzuerstehen. Schon damals, als man den Plan der ganzen Bahnstrecke entwarf, war die Wolkensteiner Brücke beanstandet worden, der ungeheuren Kosten wegen. Man wollte die Schlucht überhaupt vermeiden und die Bahn auf einem Umwege weiter führen, der nicht halb so kostspielig war. Aber Nordheim, den das Kühne, Großartige des Entwurfes reizte, und der überdies einen Glanzpunkt für seine Bahn brauchte, war mit allem Nachdruck für die Brücke eingetreten und hatte schließlich seinen Willen durchgesetzt. Für die Zukunft war das nicht zu hoffen, da konnten nur Gründe der Sparsamkeit maßgebend sein, und damit war das Urtheil des Werkes gesprochen, das eine feindselige Macht gerade in dem Augenblick vernichtete, wo es der Welt vor Augen treten und seinem Schöpfer Ruhm und Namen bringen sollte.

Da kam etwas heran, was in mächtigen Sätzen über den nassen, schlammigen Erdboden hinjagte, ein großer, löwenartiger Hund, der, froh, der langen Zimmerhaft entronnen zu sein, seine Freude in ungestümer Weise kund gab. Er blieb dicht vor Elmhorst stehen und machte Miene, ihm in gewohnter Liebenswürdigkeit die Zähne zu weisen, unterließ das aber zum ersten Male, weil etwas anderes seine Aufmerksamkeit fesselte. Der kluge Greif merkte sofort, was geschehen war. Er wurde unruhig, richtete spürend den Kopf nach der Tiefe, nach der anderen Seite der Schlucht und wandte dann die großen, dunklen Augen wie fragend auf den Chefingenieur.

Wolfgang hatte bisher immer noch seine Fassung behauptet, wenigstens äußerlich; bei diesem unbedeutenden Zufall, vor der stummen Frage des Thieres, brach sie zusammen. Er legte die Hand über die Augen und ein paar Thränen, die ersten seit seiner Knabenzeit, rollten heiß und brennend über seine Wangen.

Da hörte er seinen Namen nennen, leise, schüchtern, mit einem Tone, wie er ihn noch nie vernommen hatte und der ihm gleichwohl nicht fremd war.

„Wolfgang!“

Er wandte sich um, eine rasche Bewegung mit der Hand tilgte die verräterische Spur auf den Wangen; dann trat er, sich gewaltsam zusammenraffend, der schlanken Gestalt entgegen, die, in einen dunklen Regenmantel gehüllt, das blonde Haar unter einem schwarzen Spitzentuche geborgen, einige Schritte entfernt stand, als wage sie es nicht, näher zu kommen.

„Sie hier, Erna?“ fragte er hastig. „Nach der furchtbaren Nacht, die Sie durchlebt haben?“

„Ja, sie war furchtbar!“ sagte das junge Mädchen mit einem schweren Athemzuge. „Sie haben die Nachricht von dem Tode des Onkels erhalten?“

„Vor zwei Stunden. Ich hatte nicht mehr das Recht, an seinem Sterbebette zu weilen; auch hätte wohl meine Anwesenheit ihn nur gepeinigt, deshalb bin ich fern geblieben. Wie trägt es Alice?“

„Sie ist für den Augenblick noch fassungslos; aber Doktor Reinsfeld ist an ihrer Seite.“

„Dann wird sie den Schlag überwinden. Sie lieben sich ja, und wenn man das Geliebte schirmend und tröstend zur Seite hat, erträgt sich alles, auch das Schwerste im Leben.“

Es sprach eine tiefe Bitterkeit aus den Worten; Erna antwortete nicht, aber sie trat langsam näher und stellte sich an seine Seite. Er blickte sie an; aber sein Antlitz verdüsterte sich nur noch mehr.

„Ich weiß es, warum Sie kommen; Sie wollen mir ein Wort des Trostes, der Theilnahme sagen – wozu das? Der Fluch, den Ihr Vater sterbend ausgesprochen, hat sich ja nun erfüllt, die Zerstörung des alten Erbsitzes der Thurgau ist gerächt, und ich glaube, der Freiherr würde zufrieden sein mit dieser Rache.“

„Legen Sie den Worten, welche die Verzweiflung, die Erregung des nahen Todes auspreßte, wirklich eine solche Kraft bei?“ fragte Erna vorwurfsvoll. „Seit wann sind Sie dem Aberglauben zugänglich?“

„Seit der Glaube an meine eigene Kraft darunter begraben liegt! Lassen Sie mich allein, Erna! Was soll mir das Almosen einer Theilnahme, zu dem Sie sich heimlich hinweggestohlen haben, das Sie vielleicht büßen müssen bei Ihrem Verlobten. Ich brauche kein Mitleid, auch von Ihnen nicht!“

Mit der ganzen wilden Gereiztheit des Unglücks wandte er sich ab und blickte zu dem Wolkenstein empor, dessen Gipfel weiß und gespenstig durch die Wolken dämmerte. Er allein schien sich heute entschleiern zu wollen, wo all die anderen Berge sich in Nebel verhüllten.

„Ich komme nicht heimlich und nicht mit einem Almosen“ sagte Erna, mit einer Stimme, deren Beben sie vergebens zu beherrschen versuchte. „Ernst weiß es, daß ich Sie aufsuche, und er hat mir eine Botschaft mitgegeben.“

„Ernst Waltenberg – an mich?“

„An Sie, Wolfgang! Er läßt Ihnen sagen, daß er Sie Ihres Wortes entbindet und seine Forderung zurückzieht.“

Elmhorsts Brauen zogen sich finster zusammen und ein beinahe verächtlicher Ausdruck spielte um seine Lippen, als er entgegnete:

„Und das hat er Ihnen mitgetheilt? Sehr rücksichtsvoll in der That! Sonst pflegen dergleichen Dinge unter Männern als Geheimniß betrachtet zu werden. Jedenfalls habe ich seine Bedingungen angenommen, diesen Akt der Großmuth aber nehme ich nicht an – jetzt am wenigsten.“

„Und Sie gaben ihm doch zuerst das Beispiel der Großmuth. Leugnen Sie es nicht! Er kennt die Hand, welche ihn hier an dieser Stelle dem Verderben entriß, wie ich sie kenne.“

„Ich lasse niemand verderben, wenn es in meiner Macht steht, ihn zu retten, auch meinen Feind nicht,“ sagte Wolfgang kalt. „In solchen Momenten wirkt nur der Instinkt der Menschlichkeit, nicht die Ueberlegung, und einen Dank weise ich entschieden zurück. Sagen Sie das Herrn Waltenberg, mein Fräulein, da er Sie doch nun einmal zum Boten auserwählt hat.“

„Weisen Sie diesen Boten wirklich so hart zurück?“ Die Stimme des Mädchens klang in weichem, verschleierten Tone und die großen tiefblauen Augen wandten sich mit einem seltsamen Aufleuchten dem Manne zu, der jetzt die mühsam verhaltene Qual nicht länger bändigte.

„Wozu foltern Sie mich mit diesem Blick und Ton?“ rief er in ausbrechender Leidenschaft. „Sie gehören einem anderen –“

„Den Sie verkennen, wie ich es that! Jetzt freilich kann ich die ganze Größe des Opfers ermessen, das er mir bringt, denn ich weiß, wie grenzenlos er mich geliebt hat, und mit dieser Liebe im Herzen gab er mir meine Freiheit zurück und sagte mir ein Lebewohl für immer.“

Wolfgang war aufgefahren bei der unerwarteten Nachricht, mitten durch die Nacht der Verzweiflung und Hoffnungslosigkeit zuckte ein blendender Strahl, der neues Licht und Leben verhieß.

„Du bist frei, Erna?“ brach er aus. „Und nun – nun kommst Du –“

„Zu Dir!“ ergänzte sie. „Du trägst allein so schwer an Deinem Unglück, ich fordere meinen Antheil daran!“

Die Worte klangen in einfacher Innigkeit, als sei das selbstverständlich, aber Elmhorsts Stirn färbte eine dunkle Röthe und sein Auge sank zu Boden. Er rang schwer mit seinem Stolze, der diese Hingebung in diesem Augenblick als eine herbe Demüthigung empfand.

„Nein, nein, jetzt nicht!“ murmelte er, mit einem Versuch der Abwehr. „Laß mich nur erst wieder Muth gewinnen, mich emporraffen, jetzt kann ich Dein Opfer nicht annehmen – es drückt mich zu Boden.“

„Wolf!“ Der alte Schmeichelname aus seiner Knabenzeit, den er seitdem nur noch von Benno gehört hatte, kam so weich und süß von den Lippen des Mädchens. „Wolf, jetzt gerade brauchst Du mich! Du brauchst eine Liebe, die Dich ermuthigt und aufrecht erhält; gieb keinem falschen Stolze Gehör. Einst fragtest Du mich, ob ich Dir zur Seite geblieben wäre auf dem einsamen, rauhen Wege, der zur Höhe führt, jetzt komme ich und bringe Dir die Antwort. Du sollst ihn nicht allein gehen, ich will bei Dir bleiben, in Arbeit und Ringen, in Noth und Gefahr. Wenn Du Deiner Kraft und Deiner Zukunft nicht mehr vertraust, ich glaube unerschütterlich daran – an meinen Wolfgang!“

Sie blickte mit einem strahlenden, siegesgewissen Lächeln zu ihm empor; da brach sein Widerstand, mit einer stürmischen Bewegung breitete er die Arme aus und zog die Geliebte an seine Brust.

Greif hatte inzwischen mit höchster Verwunderung und deutlichem Mißvergnügen dieser Entwickelung der Sache zugesehen. Sie war ihm zwar noch nicht ganz klar, aber soviel begriff er doch, daß er den Chefingenieur, der seine junge Herrin in den Armen hielt und sie küßte, in Zukunft nicht mehr anknurren und ihm die Zähne weisen dürfe, und das bekümmerte ihn aufrichtig. Er zog es vor, einstweilen eine abwartende Haltung anzunehmen, indem er sich niederlegte und die beiden unverwandt mit seinen klugen Augen anschaute.

Droben am Wolkenstein wallten noch immer die Nebelgewänder, aber immer klarer und deutlicher tauchte der Gipfel daraus empor. Heut entschleierte er sich nicht im träumerischen Mondesglanze, in der duftigen, geheimnisvollen Schönheit der Mittsommernacht. Eisig, weiß und geisterhaft stand er da, über ihm der düstere regenschwere Himmel, ringsum Sturm und Nebelwogen und zu seinen Füßen die Vernichtung, die er selbst herabgesandt hatte. Und doch keimte aus dieser Zerstörung ein hohes, reines Glück empor, das sich schwer genug durchgerungen hatte durch all die Stürme.

Wolfgang ließ die Geliebte aus seinen Armen und richtete sich empor, verschwunden war Bitterkeit und Verzweiflung. Es war ihm ja nun zurückgekommen, das sonnige leuchtende Glück, das er für immer entschwunden wähnte, und mit ihm kam auch der alte Muth wieder, die alte unbezwingliche Energie.

„Du hast recht, meine Erna!“ rief er aufflammend. „Ich will nicht kleinmüthig verzagen. Ich zwinge sie doch noch, die Unheilsmacht da oben, und hat sie mir mein Werk vernichtet – nun denn, ich baue es von neuem!“

[852] In der Nordheimschen Villa war es still und öde geworden. Man hatte die Leiche des Präsidenten nach dem Erdbegräbniß in der Residenz gebracht und Tochter und Nichte hatten sie begleitet. Die Dienerschaft war ihnen schon in den nächsten Tagen gefolgt und das Haus lag jetzt wie ausgestorben da.

Auch der Chefingenieur weilte augenblicklich in der Stadt, um mit der Gesellschaft, welche wenigstens theilweise Eigenthümerin der Bahn war, zu verhandeln und die Angelegenheiten des verstorbenen Präsidenten überhaupt zu ordnen. Er hatte dies unter den obwaltenden Verhältnissen sehr schwierige Amt übernommen und noch stand ihm die Autorität des Sohnes, des künftigen Gatten der Erbin zur Seite, denn noch wußte die Welt nichts von der Aufhebung jener Verbindung. Sie sollte es erst nach Ablauf der Trauerzeit erfahren, wenn Alice keines Vertreters mehr bedurfte. Man wollte gerade jetzt die inneren Angelegenheiten der Familie nicht der Neugier und Klatschsucht preisgeben, und die Katastrophe, welche mit dem Leben auch das Vermögen Nordheims getroffen hatte, forderte eine starke Hand, um noch das Möglichste zu retten.

Ernst Waltenberg befand sich noch in Heilborn. Er hatte seit dem Tage, an dem er sich von seiner Braut getrennt, das Wolkensteiner Gebiet allerdings nicht wieder betreten, aber irgend etwas schien ihn in der Nähe festzuhalten. Der Spätherbst war nun völlig und mit winterlicher Strenge in die Berge eingezogen und der große Kurort selbstverständlich ganz leer, nur der fremde Herr, mit seinem Sekretär und den beiden farbigen Dienern, weilte noch hier und machte auch noch keine Anstalt, abzureisen.

Im Salon der großen und behaglichen Wohnung, die Waltenberg innehatte, ging Veit Gronau mit unruhiger, besorgter Miene auf und nieder und warf von Zeit zu Zeit einen Blick auf die Thür zu dem Arbeitszimmer Ernsts, die fest geschlossen war.

„Wenn ich nur wüßte, was aus der Geschichte eigentlich werden soll!“ brummte er. „Da schließt er sich nun Tag für Tag ein und hat seit einer Woche keinen Fuß in das Freie gesetzt, er, der nicht leben konnte, wenn er nicht täglich ein paar Stunden im Sattel saß. Mit einem Arzte darf man ihm ja nicht kommen! Wenn wenigstens noch der Doktor Reinsfeld erreichbar wäre, aber der mit seiner unbequemen Gewissenhaftigkeit sitzt natürlich schon in Neuenfeld, obgleich er viel gescheiter thäte, bei seiner Braut zu bleiben; er hatte die Stellung einmal angenommen und nun hielt ihn nichts mehr, als der Termin da war. Hoffentlich sorgt er dort schleunigst für einen Nachfolger, denn so viel wird von den Nordheimschen Millionen wohl übrig bleiben, daß die ärztliche Praxis an den Nagel gehängt werden kann – Nun, da bist Du ja endlich, Said! Was hast Du ausgerichtet?“

„Der Herr läßt Master Hronau sagen, zu speisen allein,“ berichtete Said, der aus dem Zimmer Waltenbergs kam. „Er nicht hat Lust zu essen.“

„Schon wieder nicht!“ murmelte Gronau, „und schlafen thut er auch nicht mehr. Ich sage es so, er bringt die verwünschte Geschichte nicht aus dem Kopfe!“

„Der Herr gar nicht hat schlimme Laune,“ sagte der Neger wichtig. „Wir haben heut morgen fallen lassen die große Vase, welche serr viel Geld gekostet hat, er hat zugesehen und nur gezuckt die Achseln.“

„Ich wollte, er hätte den Stock genommen und Euch beide durchgeprügelt,“ erklärte Veit nachdrücklich.

„O – o!“ protestirte Said, mit entrüsteter Miene, aber Gronau fuhr unbeirrt fort:

„Nun, geschadet hätte es Euch nichts und ihm wäre die Bewegung sehr heilsam gewesen, aber ich glaube, man könnte vor seinen Augen jetzt alles kurz und klein schlagen, er rührte sich nicht. Das kann nicht so weiter gehen, ich muß versuchen, ihn zu sprechen.“

Er ging sehr entschieden auf das Arbeitszimmer zu, da öffnete sich die Thür desselben und Waltenberg selbst trat heraus.

„Sie sind noch hier, Gronau?“ fragte er mit einem leichten Stirnrunzeln, denn er hatte wohl geglaubt, den Salon leer zu finden. „Ich ließ Sie doch bitten, allein zu speisen.“

„Es geht mir wie Ihnen, Herr Waltenberg, ich habe keinen Appetit,“ versetzte Veit ruhig.

„So bestelle das Diner ab, Said – geh!“

Said gehorchte und verließ das Zimmer, während Gronau, der sehr gut merkte, daß seine Entfernung gleichfalls gewünscht wurde, nicht die geringste Notiz davon nahm, sondern hartnäckig seinen Platz behauptete.

Ernst war an das Fenster getreten, das einen vollen Ausblick auf die ferne Gebirgskette gewährte. In den acht Tagen, die seit der Hochwasserkatastrophe verflossen waren, hatte sich das Wetter nicht aufgehellt, es war trübe und stürmisch geblieben und die Berge trugen Tag für Tag ihre Wolkenschleier. Heut zum ersten Male zeigten sie sich wieder in voller Klarheit.

„Es hellt sich auf – endlich!“ sagte Waltenberg, mehr zu sich selber als zu seinem Gefährten, der zweifelnd den Kopf schüttelte.

„Das wird nicht lange dauern. Wenn die Linien der Berge sich so scharf abheben und die Gipfel so nahe erscheinen, hält das Wetter nicht.“

Ernst antwortete nicht, er blickte unverwandt hinüber nach der blauen Alpenkette, aber nach Verlauf von einigen Minuten wandte er sich plötzlich um.

„Ich fahre morgen nach Oberstein, lassen Sie den Wagen bestellen.“

Gronau sah ihn betroffen an.

„Nach Oberstein? Haben Sie eine Bergpartie vor?“

„Ja – ich will auf den Wolkenstein.“

„Auf – das heißt doch nur bis zur Hochwand?“

„Nein, auf den Gipfel!“

„Jetzt? In dieser Jahreszeit? Das ist unmöglich, Herr Waltenberg. Sie wissen ja, daß der Gipfel überhaupt für unersteiglich gilt.“

„Eben deshalb reizt er mich! Ich bin eigens deswegen in Heilborn geblieben, aber bei dem fortwährenden Nebelwetter war ja nichts zu unternehmen. Sorgen Sie für an paar tüchtige Führer –“

„Die werden wir nicht bekommen, für diese Partie nicht!“ unterbrach ihn Gronau ernst.

„Weshalb nicht? Etwa wegen des alten Kindermärchens? Man wird den Leuten eine größere Summe bieten, das ist ein unfehlbares Mittel gegen den Aberglauben.“

„Möglich, aber hier könnte es doch versagen, denn das alte Kindermärchen hat einen sehr realen Hintergrund, das haben wir gesehen. Die Lawinenkatastrophe steht bei den Leuten noch in zu frischem Andenken; was hat sie nicht alles vernichtet!“

„Ja, sie hat viel vernichtet – sehr viel!“ sagte Ernst langsam und träumerisch, ohne das Auge von den Bergen abzuwenden.

„Und deshalb lassen Sie den Wolkenstein für diesmal in Ruhe,“ ergänzte Veit. „Die Schneeverhältnisse sind grade jetzt sehr ungünstig und das Wetter hält sich nicht, darauf gebe ich Ihnen mein Wort. Jetzt können wir das Wagniß nicht unternehmen.“

Ernst zuckte nur die Achseln bei diesen Vorstellungen.

„Ich habe Sie ja noch nicht aufgefordert, es mit mir zu theilen. Bleiben Sie zurück, wenn Sie sich fürchten, Gronau.“

Ueber Veits braunes Gesicht flog ein Ausdruck des Unwillens, aber er bezwang sich.

„Ich dächte, wir hätten schon so manche Gefahr zusammen bestanden, Herr Waltenberg, daß Sie über meine Furchtsamkeit beruhigt sein könnten. Ich gehe mit bis an die Grenze des Möglichen, aber ich fürchte, Sie gehen darüber hinaus und – Ihre Stimmung ist wirklich nicht danach, der Gefahr kaltblütig entgegenzutreten.“

„Da irren Sie sich, meine Stimmung ist vortrefflich und ich will nun einmal hinaus! Mit oder ohne Führer, im Nothfall gehe ich allein!“

Gronau kannte diesen Ton und wußte aus Erfahrung, daß dagegen nicht aufzukommen war, trotzdem machte er noch einen letzten Versuch. Er wußte, es würde einen Sturm geben, wenn er diesen Punkt berührte, aber er beschloß, es daraufhin zu wagen.

„Denken Sie an Ihr Versprechen!“ mahnte er halblaut. „Sie gaben Baroneß Thurgau Ihr Wort, den Wolkenstein zu meiden.“

Ernst zuckte zusammen, sein Erbleichen, sein jähes, drohendes Auffahren verrieth, wie die Wunde noch blutete bei der Berührung; aber das dauerte nur einen Moment, dann hüllte er sich wieder in die eisige, unzugängliche Ruhe, die jede fernere Bitte und Mahnung ausschloß.

„Die Verhältnisse, unter denen ich jenes Wort gab, existiren nicht mehr, das wissen Sie ja, Gronau,“ sagte er kalt. „Uebrigens wünsche ich nicht, daß jene Beziehungen in meiner Gegenwart wieder berührt werden – ich bitte ein für alle Mal darum.“

Er wandte sich um und ging nach seinem Zimmer, blieb aber aus der Schwelle noch einmal stehen.

„Also morgen früh um acht Uhr den Wagen nach Oberstein, es bleibt dabei!“

* * *

Auf einem Schneefeld, oberhalb der Hochwand des Wolkenstein, lagerte die kleine Gruppe der kühnen Bergfahrer, die nun in der That das Wagniß unternommen und es zum größten Theil auch ausgeführt hatte, die beiden Führer, kraftvolle, wetterfeste Gestalten und Veit Gronau. Sie waren mit Seilen, Eishacken und allen Hilfsmitteln einer Alpenfahrt ausgerüstet und hielten hier offenbar eine längere Rast.

Man war gestern von Oberstein aufgebrochen und bis zum Ausgang des Felsenmeeres gestiegen, wo sich eine nothdürftige Unterkunft für die Nacht fand, und hatte dann mit dem ersten Grauen des Morgens den Weg auf die für unersteiglich gehaltene Hochwand angetreten. Jetzt war sie erstiegen, mit unendlicher Mühe, mit unsäglicher Anstrengung und rücksichtsloser Verachtung der Gefahr, die bei jedem Schritte drohte, aber zum ersten Male erstiegen!

Dies Bewußtsein war freilich der einzige Lohn des kühnen Unternehmens, denn das Wetter, das gestern und heute morgen noch ziemlich klar gewesen war, hatte sich in den letzten Stunden geändert. Jetzt lagerte dichter Nebel in den Thälern, der jeden Ausblick hemmte, und von den umliegenden Bergen waren nur die Spitzen sichtbar. Auch der eigentliche Gipfel des Wolkenstein, eine mächtige Eispyramide, die unmittelbar über der Hochwand emporstieg, begann sich allmählich zu umschleiern. Von der Tiefe aus gesehen schien sie eins zu sein mit der Hochwand, während in Wirklichkeit ein breites Gletscherfeld dazwischen lagerte.

Es war immerhin ein großer, schwer errungener Erfolg, die unzugängliche Hochwand besiegt zu haben, aber die freudige Genugthuung darüber schien den drei Männern zu fehlen. Gronau hielt sein Fernglas unverwandt auf die Eispyramide gerichtet und die beiden anderen tauschten nur kurze, einsilbige Bemerkungen aus, während ihre ernsten Mienen eine unverkennbare Besorgniß verriethen.

„Ich sehe nichts mehr!“ sagte Veit, indem er das Glas sinken ließ. „Die Nebel ziehen jetzt auch um die Spitze, es ist unmöglich, noch etwas zu unterscheiden.“

„Und es ist Schnee, was dort heranzieht!“ ergänzte einer der Führer, ein älterer Mann mit grauen Haaren. „Ich habe es dem Herrn vorhergesagt, aber er wollte ja nicht hören.“

„Ja, es war ein Wahnsinn, unter diesen Umständen noch die Spitze erzwingen zu wollen!“ murmelte Gronau. „Ich dächte, wir hätten schon genug geleistet mit dem Ersteigen dieser Hochwand. Das war eine Kletterei auf Leben und Tod, die macht uns so leicht keiner nach und vor uns hat sie auch keiner gemacht.“

Der andere, jüngere Führer hatte inzwischen nach allen Seiten hin scharfen Ausblick gehalten; jetzt trat er heran und sagte:

„Es geht nicht länger an mit dem Warten – wir müssen zurück, Herr!“

„Ohne Herrn Waltenberg? Auf keinen Fall!“ fuhr Gronau auf.

Der Mann zuckte die Achseln.

„Nur bis zum Schneekaar, da haben wir Schutz an den Felsen, wenn es zum Aergsten kommt. Hier oben halten wir kein Schneetreiben aus, und wir müssen den schlimmsten Theil der Hochwand noch vorher passiren, sonst kommt keiner lebendig davon. Es ist ja auch ausgemacht, daß wir beim Schneekaar auf den Herrn warten.“

Das war allerdings verabredet worden, als Waltenberg sich von seinen Begleitern trennte. Die Führer, die man durch das Dreifache des gewöhnlichen Lohnes endlich zum Mitgehen bewog, hatten die beiden Fremden auch glücklich bis auf die Hochwand gebracht. Da aber weigerten sie sich entschieden, weiter zu gehen, nicht weil es ihnen an Muth fehlte – der Gipfel, der unmittelbar vor ihnen lag, bot verhältnißmäßig weniger Gefahr als die fast senkrecht steile Hochwand – aber die kundigen Männer wußten, was dies weißgraue Gewölk bedeutete, das sich, anfangs noch so leicht wie schwebender Dunst, zu sammeln begann. Sie mahnten zu schleuniger Rückkehr, und Gronau unterstützte ihre Bitten und Warnungen aufs nachdrücklichste, aber vergebens.

Ernst sah den so heiß ersehnten Gipfel in unmittelbarer Nähe vor sich aufsteigen und nun hielt ihn keine Warnung mehr zurück. Mit dem ganzen Starrsinn seines Charakters, der das eigene Leben so wenig wie das fremde achtete, bestand er auf der Vollendung des Wagnisses. Jede Vorstellung glitt ab an diesem Starrsinn, das drohende Wetter kümmerte ihn nicht und die Weigerung der Führer entflammte seinen Trotz nur noch mehr. Mit einem herben Spott über die „Vorsichtigen“, die im Angesicht des Zieles umkehrten, war er gegangen und man mußte ihn gewähren lassen.

Gronau hatte Wort gehalten, er war mitgegangen bis an die Grenze des Möglichen; als diese Grenze aber erreicht war, als das Wagniß zum Wahnsinn wurde, zu einer trotzigen Herausforderung des Aeußersten, da war auch er zurückgeblieben, und doch drückte ihn das wie ein Vorwurf. Der Aufsteigende war noch eine Weile auf der Firnkante sichtbar geblieben, bis unmittelbar unter die Spitze hatte man seiner Spur mit dem Fernglase folgen können, dann zogen auch hier die Nebel heran und hinderten jede fernere Beobachtung.

„Wir müssen hinunter!“ mahnte jetzt auch der ältere Führer mit vollem Nachdruck. „Wenn der Herr überhaupt zurückkommt, so findet er uns auch beim Schneekaar. Unser Bleiben nützt ihm nichts und wir riskiren das Leben mit jeder weiteren Viertelstunde.“

Gronau sah die Richtigkeit der Vorstellung ein, um einem Seufzer schob er das Glas zusammen.

* * *

Die gährenden Nebelmassen waren dichter und dunkler geworden, sie stiegen aus allen Thälern, guollen aus allen Schluchten und hüllten Wälder und Matten in ihren feuchten Mantel. Die Abhänge des Wolkenstein, der ganze riesige Felsabsturz der Hochwand verschwanden in diesem gährenden Dunst, nur die Eispyramide des Gipfels hob sich in vollster Klarheit daraus empor.

Und hoch oben auf diesem Gipfel stand einsam der Mann, der es nun doch erzwungen hatte, das scheinbar Unmögliche. Sein Anzug trug die Spuren der furchtbaren Wanderung, seine Hände bluteten von den scharfen Eiskanten, an denen er sich emporgeholfen hatte, aber er stand aufrecht auf dem Boden, den vor ihm noch keines Menschen Fuß betreten hatte. Er hatte es gewagt, den Wolkenthron der Alpenfee zu ersteigen, ihren Schleier zu heben und der Herrscherin dieses eisigen Reiches in das Antlitz zu schauen.

Und es war schön, dies Antlitz! Aber von einer unheimlichen, geisterhaften Schönheit, die keine Spur des Irdischen mehr trug und das Auge des kühnen Bergfahrers fast schmerzhaft blendete. Rings um ihn her und zu seinen Füßen nur Eis und Schnee, starre, weiße Gletschermassen, wild zerklüftet und zerrissen und doch leuchtend in seltsamer, märchenhafter Pracht. In den Eisklüften schimmerte es bald grünlich, bald tiefblau wie Meereswogen und von dem blendenden Weiß des Schneemantels, den all diese Zacken und Spitzen trugen, sprühte es in tausend Funken zurück. Und darüber wölbte sich der Himmel in so leuchtender Klarheit, in so strahlendem Blau, als wolle er all seine Lichtfülle ausgießen auf den alten Sagenthron des Gebirges, auf den krystallenen Eispalast der Alpenfee.

Ernst athmete tief, tief auf; zum ersten Male wich der schwere Druck, der so lange auf ihm gelastet hatte; die Welt mit all ihrem Lieben und Hassen, ihrem Stürmen und Ringen lag so fern da unten, sie verschwand in dem Nebelmeer, das die ganze Tiefe ausfüllte, wie die Erde mit all ihren Thälern, Wäldern und Menschenwohnungen darin verschwand. Nur die Bergspitzen schauten einsam daraus hervor, wie Inseln auf einem weiten Ocean, hier ein paar zackige dunkle Felshäupter, dort ein blendend weißer Schneegipfel, dort ein ferner Höhenzug. Aber das alles schien körperlos, schemenhaft zu schwimmen und zu schweben in dieser Fluth, die leise wallend und wogend immer höher stieg. Und dazu ringsum das Schweigen des Todes – hier im ewigen Eise regte sich kein Leben mehr.

Und doch schlug ein heißes, stürmisches Menschenherz in dieser Oede, das der Welt und ihrem Weh hatte entrinnen wollen, das Vergessenheit suchte hier oben, und das doch nur sein Weh mit sich heraufgetragen hatte. So lange die Gefahr noch alle Nerven anspannte, so lange das Ziel noch lockte und winkte, schwieg auch der quälende Schmerz im Innern. Der alte Zaubertrank, den Ernst so oft erprobt hatte, that auch jetzt seine Wirkung, Gefahr und Genuß unlösbar verbunden, die Gewalt einer mächtigen Naturscenerie und die schrankenlose Freiheit, der er nun zurückgegeben war. Er fühlte wieder die berauschende Macht dieses Trankes, und mitten in der Eiswüste ergriff ihn eine brennende Sehnsucht nach jenen Ländern der Sonne und des Lichtes, die von jeher seine eigentliche Heimath gewesen waren. Dort konnte er vergessen und genesen, dort konnte er wieder leben und glücklich sein.

Das Nebelmeer stieg und stieg, langsam, lautlos, aber unaufhaltsam, ein Gipfel nach dem andern versank, eine Spitze nach der anderen tauchte unter in dieser grauen geheimnißvollen Fluth, die wie eine Sintfluth alles verschlang, was der Erde angehörte. Nur die Eispyramide des Wolkenstein ragte noch einsam daraus hervor, aber ihre leuchtende Pracht war erloschen mit dem Sonnenlicht, das sie nicht mehr traf.

Der einsame Träumer schauerte plötzlich zusammen unter einem Hauch, der ihn schneidend und eiskalt berührte. Er fuhr auf; der blaue Himmel über ihm war verschwunden, dort wallte jetzt weißer Dunst und auch neben ihm und um ihn begann es sich zu verschleiern.

Ernst war durch die Führer hinreichend gewarnt, er kannte diese Anzeichen; aber mit der Gefahr kehrte auch seine Spannkraft zurück, es war die höchste Zeit zur Rückkehr. Er begann den Abstieg, langsam, vorsichtig, jeden Schritt prüfend, wie er es beim Aufstieg gethan; aber der Nebel verlegte ihm überall den Weg und durchschauerte ihn mit seiner Eiseskälte bis ins Mark hinein. Trotzdem ging es unaufhaltsam abwärts, die Spuren, die er vorhin im Schnee zurückgelassen, leiteten ihn, aber er mußte sie mühsam suchen, mehr als einmal irrte er ab davon, und jetzt begannen sich auch die Folgen der Ueberanstrengung geltend zu machen.

Waltenbergs Athem ging schwer und keuchend, der Schweiß trat ihm auf die Stirn und sein sonst so sicherer Blick begann sich zu trüben. Er fühlte das und raffte sich nur um so trotziger empor. Wie er auch die Gefahr herausgefordert hatte, hier und jetzt wollte er ihr nicht erliegen, das alte Ammenmärchen sollte nicht recht behalten, und seine aufs äußerste angespannte Willenskraft, seine stählernen Sehnen und Muskeln trugen auch wirklich den Sieg davon. Er bezwang den furchtbaren Weg zum zweiten Male, keuchend, halb erstarrt, zu Tode erschöpft, erreichte er endlich den Fuß der Pyramide, er stand auf dem Gletscherfelde der Hochwand.

Ein tiefer, erleichternder Athemzug entrang sich seiner Brust, jetzt war das Schwerste überstanden. Zwar galt es noch, den obersten, jähen Absturz der Hochwand zu überwinden, aber dort hatte man schon beim Emporklimmen Stufen in das Eis gehauen und an den schlimmsten Stellen Seile zurückgelassen, um den Abstieg zu erleichtern. Ernst wußte, daß er diese Hilfsmittel finden werde, sie mußten ihn trotz des Nebels zum Schneekaar führen, wo die Gefährten ihn erwarteten.

Da kam es aus dem Nebel herangezogen, weiß, feucht und schimmernd, gleich wehenden Schleiern, die sich ihm auf Stirn und Wangen legten, anfangs nur leicht und lind, wie kosend und schmeichelnd – das Schneetreiben begann. Und schon nach wenigen Minuten wurde dies Kosen und Schmeicheln zu einer beklemmenden, erstickenden Umarmung, der er vergebens zu entrinnen versuchte. Er strebte vorwärts, wandte sich zurück, aber überall waren diese eisigen Arme, die ihm den Athem raubten und das Blut in seinen Adern erstarren ließen. Noch ein kurzer, verzweifelter Kampf, dann hielten sie ihn unlösbar umklammert – er sank zu Boden.

Aber mit dem Kampfe endete auch die Qual. Es war so süß, dies Entschlummern, diese tödliche Mattigkeit, wo sich Traum und Wirklichkeit einten. Er stand wieder oben auf dem Gipfel im Sonnenglanz, er schaute den krystallenen Eispalast in seiner Märchenpracht und blickte der Alpenfee in das entschleierte Antlitz, dessen tödliche Schönheit kein Sterblicher ertrug. Aber fremd war es ihm nicht; er kannte diese Züge, diese Augen mit ihrem leuchtenden, tiefen Blau, und jetzt strahlten und lächelten sie ihm, wie sie ihm nie im Leben gelächelt. Das Bild des einzigen Wesens, das er so wild, so namenlos geliebt hatte, ließ ihn selbst jetzt an der Schwelle des Todes nicht los, es stahl sich in den letzten Schimmer seines Bewußtseins.

Aber dann wallte die Nebelfluth wieder heran und stieg und stieg, langsam, unaufhaltsam, bis alles darin versank. Nur das geliebte Antlitz dämmerte noch fern und traumhaft durch den grauen Schleier, endlich verschwand es auch und der Träumende ward fortgetragen von diesem Nebelmeer, das sich endlos, uferlos ausdehnte, er steuerte hinaus in unermeßliche Fernen, hinaus in die Ewigkeit! –

Ueber den Wolkenstein hin brauste der Schneesturm. Hoch auf flatterten die weißen Schleier und sanken dann nieder auf den Schläfer, der zu Füßen des erstiegenen, des bezwungenen Gipfels lag. Der Mann, dessen ganzes Wesen nur Gluth und Leidenschaft gewesen war, der nur hatte athmen können in den Ländern der Sonne und des Lichtes, ruhte jetzt in kalten starren Armen. Er hatte sie ertrotzt, diese Umarmung, aber das Leben des kühnen Sterblichen erlosch in dem Eiseskusse der Alpenfee!



Es war am Tage vor Sankt Johannis und heller, goldener Sonnenschein begünstigte das Fest, das heute das ganze Wolkensteiner Gebiet feierte, die Eröffnung der neuen Gebirgsbahn. All die kleinen Ortschaften, welche an der Bahnlinie lagen und nun zu dem Range von Stationen erhoben waren, prangten mit grünem Laubschmuck und flatternden Fahnen, und überall waren die Bergbewohner in ihren Sonntagstrachten zusammengeströmt, um den ersten Zug kommen zu sehen, dem sie mit Staunen und Neugier entgegenblickten. Der nun endlich vollendete eiserne Weg sollte so auch Wohlstand und Gedeihen in ihre einsamen Thäler bringen.

Seit jenen unheilvollen Herbsttagen waren fast drei Jahre vergangen, und im Anfange schien die Vollendung der Bahn ganz in Frage gestellt zu sein, wenigstens soweit es die obere Strecke, die eigentliche Wolkensteiner Gegend betraf. Die Verhandlungen mit der Gesellschaft hatten monatelang gedauert, bis endlich die Energie und Ausdauer des Chefingenieurs siegte und das halb zerstörte Werk in seinem ganzen Umfange wieder aufgenommen und glücklich zu Ende geführt wurde.

Die Station Oberstein, die eine ziemliche Strecke von dem Orte selbst entfernt, am Ausgange der Wolkensteiner Brücke lag, trug einen besonders reichen Laub- und Fahnenschmuck. Der Zug, der den Chefingenieur und seine Gattin, die sämmtlichen Mitglieder des Verwaltungsrathes und eine Anzahl geladener Gäste brachte, sollte hier einen längeren Aufenthalt nehmen, deshalb war auch ein besonders feierlicher Empfang beabsichtigt. Die ganze Kurkapelle von Heilborn stand auf dem Bahnhofe, auf der nächstliegenden Anhöhe war eine Anzahl von Böllern aufgefahren und die Bevölkerung der Umgegend war hier zahlreicher zusammengeströmt als auf all den andern Stationen.

Mitten unter der bunten, freudig erregten Menge bemerkte man auch die lange Gestalt Veit Gronaus. Er sah noch etwas brauner und verwetterter aus als vor drei Jahren, schien aber sonst ganz der Alte geblieben zu sein. Ernst Waltenberg hatte in seinem Testamente seinen ehemaligen Sekretär sehr großmüthig bedacht und ihm eine durchaus unabhängige und behagliche Zukunft gesichert; aber der alte Wandertrieb war zu mächtig gewesen, Veit war wieder hinausgezogen in die Welt und erst jetzt nach jahrelanger Abwesenheit zurückgekehrt, um sich „das alte europäische Nest“ einmal wieder anzusehen. An seiner Seite befanden sich Djelma, jetzt kein Knabe mehr, sondern ein hübscher, schlanker Bursche von achtzehn Jahren, und Said, der europäische Kleidung trug und seinen ehemaligen Vorgesetzten und Mentor soeben freudigst begrüßt hatte.

„Ich bin serr froh, Master Hronau wiederzusehen,“ versicherte er einmal über das andere. „Ich schon wußte von Doktor Gersdorf, daß Master Hronau würde kommen zu dem Feste, aber wir glaubten, Master Hronau –“

„Said, thu’ mir den Gefallen und höre endlich auf mit Deinem Master Hronau!“ unterbrach ihn dieser in der alten derben Weise. „Hast Du noch nicht Deutsch gelernt? Da radebrechst es noch immer in derselben ohrenzerreißenden Weise und bist doch nun drei volle Jahre in Deutschland gewesen. Da höre den Djelma an, der plappert jetzt wie ein Staarmatz, trotzdem wir die ganze Zeit in Indien herumgezogen sind. Das Deutsche habe ich ihm beigebracht; aber die Dummheit habe ich ihm noch nicht ganz austreiben können, die ist zu solide angelegt. Du wolltest ja damals durchaus hier bleiben. Wie ist es Dir denn ergangen in Deiner neuen Stellung bei dem Doktor Gersdorf?“

„O serr gut!“ versicherte Said; „aber ich nicht bleibe dort, ich gehe fort, schon in wenig Wochen.“

„So? Wohin denn?“ fragte Djelma, der das Deutsche jetzt in der That ganz fließend sprach, mit offenbarer Neugierde.

„Nach Oberstein! Ich“ – der Neger machte eine sehr bedeutende Kunstpause, sah erst Djelma, dann Gronau an und vollendete endlich mit ungeheurem Selbstbewußtsein:

„Ich verheirathe mich!“

„Du Unglücksmensch, wie kommst Du denn dazu?“ fuhr Gronau auf. „Und wo in aller Welt hast Du denn hier eine schwarze Landsmännin aufgetrieben?“

„Meine Braut ist ganz weiß und serr, serr hübsch,“ erklärte Said mit höchster Genugthuung. „Sie ist die Wärterin des kleinen Bertie, sie liebt mich serr, und Missis Gersdorf sagt, wir uns müßten heirathen unter allen Umständen.“

„Natürlich, in dem Hause, wo die Frau regiert, muß alles heirathen!“ brummte Veit. „Was willst Du denn aber mit Deiner künftigen, Dich so serr liebenden Gemahlin in dem Nest von Oberstein anfangen?“

„Oberstein jetzt ist Station!“ berichtigte Said mit Nachdruck. „Doktor Gersdorf hat mir verschafft die Pacht von dem neuen Gasthause, welches die Bahngesellschaft gebaut hat. Wir werden geben zu essen und zu trinken all den Fremden, welche kommen werden mit den Zügen, viele Hunderttausende.“

„Viele Hunderttausende!“ spottete Gronau. „Das scheint so ein recht ausgedehnter Geschäftsbetrieb zu werden. Du hättest gleich heute damit anfangen können, denn die Herren vom Verwaltungsrath und die sonstigen Gäste, die mit dem Zuge kommen, werden doch alle essen und trinken wollen, und hier auf dem Bahnhof sehe ich noch gar keine Anstalten dazu.“

„Nein, Doktor Reinsfeld giebt droben in seiner Villa großes Diner all den Herrschaften,“ erklärte Said wichtig.

„Doktor Reinsfeld in seiner Villa? Großes Diner? Ja so“ – Veit lachte laut auf. „Ich bin doch neugierig, wie der gute Benno sich eigentlich als Millionär ausnimmt. Wahrscheinlich ist ihm das sehr unbequem, aber er wird sich wohl in das Unglück finden müssen, denn eine Million ist immer noch von dem riesigen Nordheimschen Vermögen übrig geblieben, wie mir Gersdorf schrieb.“

„Master Gronau, da kommt der Zug!“ rief Djelma, das Gespräch unterbrechend. Die ganze auf dem Bahnhofe harrende Menge gerieth in Bewegung, alles drängte heran und reckte die Hälse, um den ersten Zug zu sehen, der auf dem schmalen eisernen Wege aus der Tiefe emporstieg. Jetzt verschwand er in dem großen Tunnel unterhalb Oberstein; setzt kam er wieder zum Vorschein und glitt stolz und ruhig heran. Die bekränzte Lokomotive ließ ihre lange, weiße Rauchwolke wie eine Siegesfahne dahinwallen, jetzt erreichte sie die Schlucht, und nun donnerte die ganze Wagenreihe über die Brücke, empfangen von rauschender Musik, von jubelnden Hochrufen und Böllerschüssen, die rollend das Echo der Felsen ringsum weckten.

Auf dem Bahnhofe entleerte sich der Zug, aber es dauerte fast noch eine halbe Stunde, ehe man die Fahrt nach der Villa antrat. Zunächst wurde der Haupt- und Glanzpunkt der Bahn, die Wolkensteiner Brücke, die ein Theil der Gäste noch nicht kannte, eingehend besichtigt. Der kühne Riesenbau war wieder auferstanden aus der Vernichtung; stolz und mächtig wie einst schwang er sich von Fels zu Fels, unter ihm in schwindelnder Tiefe brauste die Ache in ihrer alten Wildheit, und hoch über ihm hob der Wolkenstein sein Haupt empor, das auch heut eine leichte Nebelkappe trug. Aber auf dem Abhange, wo einst der Bannwald gestanden hatte, erhob sich jetzt ein breites, festgefügtes Mauerwerk, ein sicherer Schatz gegen eine mögliche Wiederholung des Lawinensturzes.

Der Chefingenieur mit seiner jungen Gattin am Arme machte den Führer bei der Besichtigung. Er war selbstverständlich der Held des heutigen Tages, den man von allen Seiten mit Glückwünschen und Ausdrücken der Bewunderung überhäufte. Er nahm sie ohne jede Ueberhebung, mit ruhigem Ernste hin.

Erna dagegen strahlte vor Glück und freudigem Stolze, ihre Augen leuchtetet auf bei jedem Glückwunsche, jedem Wort der Bewunderung, das ihrem Manne galt, der wie sie selbst von allen Seiten umdrängt und in Anspruch genommen wurde. Jeder geizte danach, mit der schönen Gemahlin des Chefingenieurs wenigstens einige Worte zu sprechen, für jeden mußte sie eine freundliche Erwiderung, eine Aufmerksamkeit haben.

Allerdings mußten die beiden die Repräsentation allein übernehmen, denn Doktor Reinsfeld, der als Gemahl der Erbin des verstorbenen Präsidenten die zweite Hauptrolle zu spielen hatte, kam dieser Pflicht nur sehr unvollkommen nach. Er trug nicht mehr das berühmte altmodische Staatskleid und die safrangelben Handschuhe, in denen er die Bekanntschaft seiner jetzigen Frau gemacht hatte. Sein Gesellschaftsanzug war völlig tadellos, aber man sah es ihm doch an, daß er den heutigen Tag als eine schwere Aufgabe betrachtete. Er beschränkte sich auf Verbeugungen und vielfache Händedrücke und hielt sich möglichst im Hintergrunde, als ein hageres, sonnenverbranntes Gesicht vor ihm auftauchte und eine bekannte Stimme fragte:

„Habe ich noch die Ehre, von dem Herrn Doktor Reinsfeld gekannt zu sein?“

„Veit Gronau!“ rief der Doktor, froh überrascht, indem er ihm die Hand hinstreckte. „Also haben Sie unsere Einladung doch noch rechtzeitig erhalten! Aber warum meldeten Sie sich nicht früher und machten die Fahrt mit?“

„Ich bin über Heilborn gekommen“ versetzte Gronau, „und da war gerade noch Zeit, den Empfang hier in Oberstein mitzumachen. Meinen Glückwunsch zu dem heutigen Tage, Benno, an dem Sie so auch so nahe betheiligt sind.“

[458] „Ja, leider – mit einem Diner für achtzig Personen!“ seufzte Benno. „Wolfgang meinte, es sei schicklich und unumgänglich, daß ich heute den Wirth mache, und wenn Wolf sich etwas in den Kopf gesetzt hat, muß man es schlechterdings thun.“

„In diesem Falle hat der Chefingenieur aber recht,“ sagte Gronau lachend. „Sie können als Hauptaktionär und erstes Mitglied des Verwaltungsrathes schon ein Uebriges thun bei der Eröffnungsfeier.“ „Wenn ich nur nicht überall dabei sein und mit aller Welt reden müßte!“ klagte der arme Doktor und nunmehrige Millionär in beweglichem Tone. „Denken Sie nur, sogar die Tischrede sollte ich halten, dagegen habe ich mich aber gewehrt mit Händen und Füßen. Wolfgang hat die Bahn gebaut, also kann er auch das Reden besorgen. Er hat zwar heute morgen schon gesprochen, vor der Abfahrt, als er die Bahn dem Verkehr übergab, und er sprach genial, hinreißend, wir waren alle entzückt und am meisten seine eigene Frau. Sie sieht heut blendend schön aus, nicht wahr?“

Veit nickte stumm und sein Gesicht verdüsterte sich, während sein Auge zu der jungen Frau hinüberflog. Diese Schönheit war es ja gewesen, die einen anderen in den Tod gejagt hatte, Ernst Waltenberg hätte seine Seligkeit hingegeben für einen Blick, wie Erna ihn eben ihrem Gatten zusandte. Die Erinnerung wollte freilich nicht in den Festjubel passen und Gronau verscheuchte sie auch rasch, indem er sich nach Frau Doktor Reinsfeld erkundigte.

„O, meine Alice blüht wie eine Rose und nun vollends unsere Kleine!“ Bennos ganzes Gesicht verklärte sich, als er von seiner Frau und seinem Kinde sprach. „Sie wissen doch –?“

„Daß Frau Alice Ihnen ein Kleines geschenkt hat – ja, das weiß ich, Sie schrieben es mir ja, und nun wird die ärztliche Praxis vermuthlich nur noch in der Familie ausgeübt.“ „Im Gegentheil, ich habe mehr Patienten als je,“ erklärte der Doktor seelenvergnügt. „Wenn wir im Sommer hier sind, gehe ich natürlich nach wie vor zu allen Kranken meines ehemaligen Bezirkes, und da ich bei den Aermeren jetzt meine Verordnungen auch mit den nöthigen Mitteln unterstützen kann –“

„So nutzen die biederen Wolkensteiner Sie gehörig aus!“ fiel Gronau ein. „Das kann ich mir denken! Ein Doktor, der ihnen nichts kostet und noch obendrein die Kurkosten bezahlt, das ist ein Mann nach ihrem Herzen. Sie machen sich vermuthlich jetzt öfter das Vergnügen, krank zu werden, da es so billig ist. – Aber nun will ich Sie Ihren gesellschaftlichen Pflichten nicht länger entziehen, Benno, wir können ja später plaudern.“

Er wollte zurücktreten, aber Benno hielt ihn schleunigst am Rockschoße fest.

„So bleiben Sie doch! Wenn ich mit Ihnen rede, kann ich so hübsch hier in der Ecke bleiben und brauche keine Komplimente zu machen. Wir haben ja alle möglichen Kapazitäten eingeladen, Minister und Provinzialbehörden, Abgeordnete und Bürgermeister und einen ganzen Stab von Journalisten, und mit all den geistreichen und vornehmen Herrschaften soll ich sprechen und womöglich auch geistreich sein – es ist fürchterlich!“

Gronau lachte und blieb, aber die Zurückgezogenheit sollte dem Doktor nicht lange gegönnt werden, denn jetzt trat Gersdorf, der als juristischer Vertreter der Bahngesellschaft gleichfalls an der Eröffnungsfeier theilnahm, mit seiner Frau heran. Die letztere schien ihren Grundsatz, dem armen Manne seine Dienstreisen durch ihre Gegenwart erträglicher zu machen, konsequent festzuhalten, aber sie hatte, mit Rücksicht auf ihre jetzige Stellung als Gattin und Mutter, eine gewisse feierliche Würde angenommen, die einen höchst ergötzlichen Kontrast zu ihrer quecksilbernen Natur bildete, welche bei jeder Gelegenheit durchbrach.

„Stehen Sie schon wieder hier in der Ecke, Benno!“ sagte sie vorwurfsvoll. „Soeben hat der Minister nach Ihnen gefragt, Sie werden ihn aufsuchen müssen.“

„Um Gotteswillen, laßt mich doch mit der Exzellenz in Ruhe!“ rief Reinsfeld verzweiflungsvoll. „Was habe ich denn eigentlich mit der ganzen Geschichte zu thun? Das ist Wolfgangs Sache.“

„Ja, das hilft Dir nichts, Benno, Du mußt aufmerksam gegen Deine Gäste sein, komm nur mit,“ sagte der Rechtsanwalt, indem er seinen Vetter beim Arm ergriff und fortzog; Frau Doktor Gersdorf aber blieb zurück und stellte sich dicht vor Gronau hin, der in dunkler Ahnung des Kommenden sich nach irgend einer Gelegenheit zum Rückzuge umsah.

„Also Sie sind noch immer unverheiratet, Herr Gronau?“ fragte sie mit strafender Miene.

„Ja, noch immer, gnädige Frau,“ gab Veit kleinlaut zu.

„Das ist unverantwortlich! Warum sind Sie damals so schnell abgereist? Ich hatte eine Lebensgefährtin für Sie in Vorschlag, eine sehr reiselustige Dame, die auch mit nach Indien gegangen wäre. Jetzt ist sie leider verheiratet.“

„Gott sei Dank!“ seufzte Gronau aus Herzensgrunde.

„Dem Said habe ich auch zu seinem Glücke verholfen, trotz seiner schwarzen Farbe,“ fuhr die junge Frau fort. – „Wo ist denn Djelma geblieben? Ich sah ihn doch vorhin an Ihrer Seite.“

„Djelma ist erst achtzehn Jahr, gnädige Frau, der kann noch nicht heirathen!“ erklärte Gronau, der für seinen Schützling das gleiche Schicksal heranziehen sah, mit großer Entschiedenheit. Wally schien das auch einzusehen und wurde jetzt glücklicherweise von einigen Bekannten in Anspruch genommen.

„Gott bewahre uns in Gnaden!“ murmelte Veit entsetzt. „Ich glaube, die Frau schont nicht einmal die Kinder in der Wiege mit ihren Heirathsplänen!“

Elmhorst gab jetzt das Zeichen zum Aufbruch, man bestieg die bereitstehenden Wagen und begab sich nach der Nordheimschen Villa, wo Alice, welche die Eröffnungsfahrt nicht mitgemacht hatte, die Gäste empfing. Sie war noch immer eine zarte Erscheinung, wenn auch jetzt zu vollster Gesundheit erblüht; aber eine gewisse mädchenhafte Schüchternheit war auch der jungen Frau geblieben und machte sie nur um so anmuthiger. Die eigentliche Würde und Vornehmheit des Hauses wurde durch Frau von Lasberg vertreten, die ihrer ehemaligen Pflegebefohlenen auch jetzt zur Seite stand. Sie hatte die sämmtlichen Anordnungen für das Fest übernommen und unter ihrer Leitung wurde denn auch der Ruf des früher Nordheimschen und nunmehr Reinsfeldschen Hauses glänzend gewahrt. Das Festmahl verlief in aller Pracht und Feierlichkeit, die zündende Rede des Chefingenieurs wurde mit stürmischem Beifall aufgenommen, man toastete auf das Gedeihen der Bahn, auf deren Erbauer, selbstverständlich auch auf den Festgeber und dessen Gemahlin. Benno mußte schließlich doch noch eine Dankesrede halten und mit einem Toast auf die Gäste antworten. Natürlich blieb er in der Mitte stecken, aber Wolfgang kam ihm zu Hilfe, indem er, gerade im kritischen Augenblick, der Musik ein Zeichen gab, einzufallen. In dem rauschenden Tusch und dem allgemeinen Hochrufen ging der Zwischenfall denn auch glücklich unter.

Nach Verlauf von einigen Stunden brach die Gesellschaft wieder auf, um unter Führung Elmhorsts bis zum Endpunkte der Bahn zu fahren, von wo sie abends ein zweiter Zug zurückbringen sollte. Benno aber erklärte, er habe heut das Möglichste

geleistet und wolle nun endlich bei seiner Frau bleiben. Er stand mit Gersdorf und Wally, die gleichfalls zurückgeblieben waren, noch im Salon, als an der Hand eines hübschen blonden Mädchens, der so serr geliebten Braut Saids, der junge Herr Gersdorf erschien, der während der Eisenbahnfahrt unter dem Schutze von Alice geblieben war. Ihnen folgte Greif, der offenbar übler Laune war, weil seine Herrin ihn nicht mitgenommen hatte, und der sich, ohne von den Anwesenden weiter Notiz zu nehmen, draußen auf der Galerie niederlegte.

Albert der Kleine glich durchaus nicht seinem ernsten, ruhigen Vater. Er hatte das rosige Gesicht und die dunklen Augen der Mutter und über seiner Stirn kräuselten sich ebenso eigenwillig die schwarzen Ringellöckchen.

Frau Wally nahm ihren Sohn auf den Arm, aber der junge Herr drängte sofort wieder nach dem Boden, um sich der zur Galerie führenden Thür zu nähern.

„Gott sei Dank, daß die Geschichte vorüber ist!“ sagte Benno jetzt vergnügt. „Es hätte beinahe noch zuletzt ein Unglück gegeben, als ich in der Rede stecken blieb, aber Wolf half mir aus der Noth und ließ Tusch blasen – jetzt haben wir endlich Ruhe!“

Frau von Lasberg, die gleichfalls anwesend war und heute einen Tag des Triumphes gefeiert hatte, schüttelte bei diesem Stoßseufzer mit feierlichem Unwillen das Haupt.

„Mir scheint, Herr Doktor, Sie tragen Ihrer Stellung doch zu wenig Rechnung,“ bemerkte sie zurechtweisend. „Sie legt Ihnen zweifellos Pflichten auf in Bezug auf die Repräsentation, und seinen Pflichten sollte sich niemand entziehen. Ich hoffe, Sie sehen das ein, Herr Doktor.“

Der Herr Doktor sah das nun zwar nicht ein, aber er machte der majestätisch zur Thür hinausrauschenden Dame eine tiefe Verbeugung, Wally lachte laut auf.

„Da sitzt nun der Herr des Hauses und läßt sich von der gestrengen Frau Oberhofmeisterin den Text lesen! Sie hat Euch beide vollständig unter ihrem Scepter, ich glaube, Benno, Sie fürchten sich noch immer vor ihr.“

„Im Gegentheil,“ protestirte Reinsfeld. „Die Baronin ist ein wahrer Schatz für uns. Sie hat eine förmliche Leidenschaft für das Repräsentiren, sie besorgt das immer ganz allein und da können Alice und ich um so ungestörter –“

„In der Kinderstube sitzen,“ ergänzte Wally. „Das ist allerdings Eure Hauptbeschäftigung.“

„Ja, ich muß wirklich nach Alice und der Kleinen sehen,“ erklärte Benno, der schon lebhafte Zeichen von Unruhe gab. „Entschuldigt mich nur einen Augenblick, ich komme gleich zurück.“

Damit verschwand er und Frau Doktor Gersdorf sah ihm mit einem mitleidigen Achselzucken nach.

„Vor einer halben Stunde kommt er nicht wieder! Ich habe nie einen Vater gesehen, der so vernarrt in sein Kind ist wie Benno. Ich weiß mich frei von dieser Schwäche, ich beurtheile die Vorzüge wie die Fehler meines Sohnes in rein objektiver Weise. Allerdings muß ich zugeben, daß Bertie ein ungewöhnlich begabtes Kind ist, daß er schon jetzt Charaktereigenschaften zeigt, die man nur bewundern kann. Ich zweifle auch durchaus nicht, daß etwas ganz Bedeutendes aus ihm werden wird, und daß seine Zukunft –“

Die rein objektive Beurtheilung wurde hier unterbrochen, und zwar durch den jungen Herrn Gersdorf selbst, der sich unbemerkt auf die Galerie geschlichen hatte und nun triumphirend auf Greif angeritten kam. Er saß fest auf seinem „Pferdchen“ und hielt sich mit den kleinen Händen an dem zottigen Fell des Hundes. Greif schien zwar einigermaßen entrüstet über die ihm angesonnene Rolle, fand sich aber darein und trug den Reiter. Wally wollte entsetzt dazwischen fahren. „Er wird sich wieder wie das letzte Mal eine Beule holen,“ jammerte sie, aber ihr Mann hielt sie zurück und sagte lachend:

„Laß den Jungen! Er ist konsequent und setzt seinen Willen durch, auch wenn es Beulen dabei giebt, und da hat er recht!“

Benno stand richtig in der Kinderstube vor der Wiege seines Töchterchens und schaute dies und die junge Mutter, die daneben saß, mit ganz verklärten Blicken an. Dann sah er sich schüchtern und vorsichtig um und brachte endlich ein Sträußchen von Alpenrosen zum Vorschein.

„Es ist Johannisabend, Alice,“ sagte er leise. „Da muß ich Dir doch das gewohnte Sträußchen bringen.“

„Hast Da das wirklich nicht vergessen in dem Strudel des heutigen Tages?“ fragte die junge Frau lächelnd.

„Eine Glücksprophezeiung vergißt man nicht, am wenigsten, wenn sie sich erfüllt hat!“ Er bot ihr das Sträußchen.

„Weis meine Blümel’n
Nimmer zurück.
Johannissegen
Bracht’ uns das Glück!“ –

Es war bereits Abend geworden, als der Zug mit den Festtheilnehmern wieder die Station Oberstein passirte, wo er diesmal nur einen kurzen Aufenthalt nahm, um dann nach dem Ausgangspunkte der Bahn zurückzukehren. Nur der Chefingenieur und seine Gattin, die Gäste in der Reinsfeldschen Villa waren, und Gronau, der mit Djelma einige Tage in Oberstein bleiben wollte, waren auf dem Bahnhofe ausgestiegen, wo sie sich trennten.

„Ich habe den Wagen abbestellt,“ sagte Wolfgang, indem er den Arm seiner Frau nahm. „Ich denke, wir gehen zu Fuß, der Abend ist herrlich, und es ist unser erstes Alleinsein an dem heutigen Tage. Wir waren ja vom Morgen bis zum Abend unaufhörlich in Anspruch genommen.“

„Und es war doch ein Tag stolzen, langersehnten Glückes!“ entgegnete Erna, sich fest an seinen Arm schmiegend. „Aber Du warst so ernst, Wolfgang, mitten in all den Triumphen und Huldigungen – und Du bist es noch!“

Er lächelte, aber der Ernst klang noch in seiner Stimme, als er erwiderte: „Ich dachte daran, wie schwer dieser Triumph erkauft werden mußte. Das wissen nur wir beide allein! Du warst ja meine einzige Vertraute, meine einzige Zuflucht, bei der ich mir Muth und Kraft holte, wenn man mich mit Intriguen und Kleinlichkeiten bis aufs äußerste trieb. Wärst Du nicht an meiner Seite gewesen – ich hätte vielleicht nicht Stand gehalten.“

„Ja, es war das Schwerste, was einer Natur wie der Deinigen auferlegt werden konnte, sich überall gehemmt und gehindert zu sehen, und Du hast dennoch den Kampf siegreich durchgeführt bis an das Ende.“

„Aber Benno hat mir redlich dabei geholfen! Sobald Alice erst seine Frau war, sobald er sie auch gesetzlich vertreten konnte, legte er mit unbedingtem Vertrauen alles in meine Hände – ich werde ihm das nie vergessen.“

„Er dankt Dir aber noch mehr als Du ihm!“ warf Erna ein. „Benno mit seiner Geschäftsunkenntniß hätte sicher nichts gerettet aus jener Katastrophe, die das Vermögen meines Onkels so schwer traf. Das erforderte eine starke Hand wie die Deinige. Es ist Dein Werk allein, wenn Alice und Benno sich noch zu den Reichen zählen können.“

„Sie machen sich aber sehr wenig daraus,“ sagte Wolfgang halb scherzend. „Sie würden auch in einer Hütte zufrieden und glücklich sein.“

In diesem Augenblicke verließ der Zug den Bahnhof, die erleuchtete Wagenreihe donnerte wieder über die Brücke und wand sich dann wie eine glühende Schlangenlinie dahin, bis sie in der Mündung des Tunnels verschwand. Durch die Abendstille klang deutlich der Pfiff der Lokomotive und das Echo der Felswände gab ihn leise verhallend zurück. Wolfgang war stehen geblieben, und während sein Auge dem verschwindenden Zuge folgte, hob ein stolzer, freudiger Athemzug seine Brust.

„Jetzt ist sie besiegt, die alte Unheilsmacht da oben! Sie hat mir den Sieg schwer genug gemacht; aber ich zwang sie doch! Sieh nur, Erna, da weichen die letzten Nebel von dem Wolkensitze Deiner Alpenfee, sie scheint sich immer nur in der Sonnwendnacht zu entschleiern.“

Ueber Ernas eben noch so strahlendes Antlitz legte sich ein Schatten, und in dem Blick, mit dem sie zu dem Wolkenstein aufsah, glänzte eine Thräne, während sie leise erwiderte:

„Es hat sie noch ein anderer bezwungen – aber er mußte mit seinem Leben dafür büßen!“

„Für ein tollkühnes, zweckloses Unternehmen, das keinem nützte!“ Elmhorsts Stimme hatte einen herben Klang. „Er hat den Tod so herausgefordert, er fand nur, was er suchte. Kannst Du denn diesen Ernst noch nicht vergessen? Noch immer nicht?“

Sie schüttelte verneinend das Haupt.

„Sei nicht ungerecht, Wolf, und nicht eifersüchtig auf den Todten. Da weißt es so doch am besten, bei wem meine Liebe von Anfang an gewesen ist. Aber Du mit Deinem energischen Thatendrange, mit Deinem Ringen und Streben auf dem festen Boden der Wirklichkeit konntest eine Natur wie die Ernsts nicht verstehen.“

„Möglich, wir waren von jeher zu schroffe Gegensätze, um gegen einander gerecht zu sein. Doch heute nichts mehr von dieser Erinnerung, Erna, heute gehört all Dein Denken und Fühlen nur mir allein! Die erste steile Höhe ist ja nun erstiegen, mit der Vollendung der Wolkensteiner Bahn ist mein Ruf und meine Zukunft fest begründet – aber leicht war der Weg wahrlich nicht.“

„Und er war doch schön, trotz Klippen und Abgründen!“ sagte Erna mit leuchtenden Augen. „Hatte ich nicht damals recht, Wolf? Es ist so schön, emporzusteigen aus der Tiefe; mit jedem Schritt, den man vorwärts thut, mit jedem Hinderniß, das man überwindet, die eigene Kraft wachsen zu sehen und endlich droben zu stehen auf der freien Höhe, im Gefühl des selbsterrungenen Sieges, wie Du jetzt dastehst!“

„Und mein Weib zur Seite!“ ergänzte Wolfgang mit leidenschaftlicher Zärtlichkeit. „Du tratest ja damals zu mir in der dunkelsten Stunde meines Lebens, als alles um mich wankte und stürzte, und mit Dir kam mir das verlorene Glück wieder. Jetzt halte ich es fest, und nun mag es weiter aufwärts gehen – zu neuen Zielen!“ –

Langsam sank die Nacht nieder, die alte, heilige Mittsommernacht mit ihrem Geisterweben. Heute war sie nicht erfüllt von träumerischem Mondesglanze, aber ein klarer, funkelnder Sternenhimmel breitete sich darüber aus, und nun begann es auch hier und dort an den Bergen aufzuglühen wie leuchtende Sterne – die Sonnwendfeuer, die überall emporflammten, und das größte und mächtigste loderte wie damals am Abhange des Wolkenstein. Sie grüßten das Reich der Alpenfee, das bezwungene Reich, in dem der Menschengeist sich nun doch Bahn gebrochen hatte, trotz aller Schrecken der Vernichtung, in dem er endlich doch Sieger geblieben war gegen die blinde Wuth der Elemente. Das große Riesenwerk war vollbracht. Neu geschaffen und fest gesichert stieg der eiserne Weg aus der Tiefe empor, mächtig schwang sich die Brücke über die Felsenschlucht und entschleiert blickte der Wolkenstein darauf nieder. Ein großes leuchtendes Sternbild stand über seinem Gipfel, über dem Haupte der Alpenfee.