Vom Nordpol bis zum Aequator/Eine Reise nach Sibirien
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Die volksbelebten Straßen St. Petersburgs, die goldstrahlenden Kuppeln Moskaus lagen hinter uns, die Thürme Nischni-Nowgorods am jenseitigen Ufer der Oka vor uns. Dankerfüllt waren wir aus den beiden Hauptstädten des russischen Reiches geschieden. Von Sr. Majestät, unserem ruhmreichen Kaiser Wilhelm, huldvoll verabschiedet, vom auswärtigen Amte Deutschlands warm empfohlen, von dem deutschen Botschafter in St. Petersburg aufs freundlichste empfangen, hatten wir in Rußland wohl eine gute Aufnahme erhofft, eine solche aber gefunden, welche unsere kühnsten Erwartungen bei weitem übertreffen mußte. Die besten Empfehlungen, deren Gewichtigkeit uns erst später erkennbar werden sollte, begleiteten uns.
Bis Nischni-Nowgorod hatten uns die Verkehrsmittel der Neuzeit gefördert; fortan sollten wir erfahren, wie man im russischen Reiche Entfernungen von Tausenden von Kilometern oder Wersten durchmißt – durchmißt im Winter wie im Sommer, des Nachts wie am Tage, im grollenden Unwetter wie im lachenden Sonnenscheine, im klatschenden Regen oder eisigen Schneesturme wie bei stäubender Dürre, im Schlitten wie im Wagen. Vor uns stand der riesige und massige, in allen Fugen verklammerte, durch weit auslegende Streben gegen das Umfallen, durch ein Verdeck gegen Schnee und Regen geschützte Reiseschlitten, und das Glöcklein erklang im Krummholze des Dreispanns.
Auf der krystallnen Decke der Wolga begannen wir am 19. März 1877 die hier rasch fördernde, aber doch nicht ungehinderte Fahrt. Thauwetter hatte uns begleitet von Deutschland nach Rußland, Thauwetter uns aus Petersburg und Moskau vertrieben, Thauwetter blieb unser beständiger Gefährte, als wären wir Boten des Frühlings. Mit Wasser gefüllte Löcher im Eise, an die gähnende Tiefe unter uns bedrohlich mahnend, durchnäßten Pferde, Schlitten und uns oder nötigten zu unliebsamen Umwegen, welche, des knarrenden und dröhnenden Eises halber, gefährlicher schienen, als sie waren, machten auch Kutscher und Postmeister so besorgt, daß wir schon nach kurzer Fahrt die glatte Eisbahn mit der bisher noch nicht befahrenen Sommerstraße vertauschen mußten. Sie, die Straße, auf welcher nicht allein Tausende von Frachtwagen, sondern ebenso viele der Verbannten dem gefürchteten Sibirien zuziehen, für letztere eine Seufzerstraße , wurde auch uns zu einer solchen. Meterhoch lag der noch lockere, aber bereits wassergesättigte Schnee auf ihr; rechts und links rannen und rauschten Bächlein überall da, wo sie rinnen und rauschen konnten; in beklagenswerther Weise quälten sich die jetzt in langer Reihe vor einander gespannten Pferde, um festen Fuß zu fassen, sprungweise versuchten sie, die Spuren der ihnen vorausgegangenen zu erreichen, und bis an die Brust sanken sie bei jedem Fehlsprunge ein in den Schnee, in das eisige Wasser. Hinterher polterte der Schlitten, in allen Fugen krachend, wenn er mit jähem Schwunge aus der Höhe herab in die Tiefe geschleudert wurde; stundenlang blieb er zuweilen, der unglaublichsten Anstrengungen der Pferde spottend, in einem Loche sitzen, und wehmüthig fast klagte das wölfescheuchende Glöcklein. Vergeblich mahnte, bat, beschwor, krächzte, kreischte, schrie, brüllte, fluchte und peitschte der Kutscher; in den meisten Fällen gelang es erst durch fremde Hilfe wieder flott zu werden.
Qualvoll dehnten sich die Stunden, zu vier- und fünffacher Länge die Wegstrecken. Vom Schlitten aus nach rechts und links zu schauen, verlohnte sich kaum der Mühe; denn reizlos und öde liegt das flache Land vor dem Auge; nur in den Dörfern bot sich viel Erbauliches und Beschauliches, aber auch bloß dem, welcher beobachten wollte und konnte. Noch hielt hier der Winter die Leute zurück in ihren kleinen, zierlich angelegten, meist aber arg vernachlässigten Blockhäusern; nur bepelzte Knäblein liefen barfüßig durch den wässerigen Schnee und kothigen Schmutz, welchen ältere Knaben und Mädchen mit Hilfe von Stelzen zu überwinden strebten; nur alte weißbärtige Bettler umlagerten Posthäuser und Schenken, Bettler aber, welche jeder Maler ebenso entzückend gefunden haben müßte, wie ich sie fand. Auch die Thierwelt trat in den Dörfern mehr hervor als auf den Feldern und selbst in den Wäldern, welche wir durchzogen. Draußen hielt der Winter noch alles thierische Leben gefesselt, war noch alles still und todt, bemerkten wir, außer der Nebelkrähe und der Goldammer, fast keinen Vogel, im Schnee kaum die Spuren eines Säugethieres; in den Dörfern bewillkommten uns wenigstens die reizenden Dohlen, der Blockhausdächer anmuthigster Schmuck, die Kolkraben – bei uns zu Lande scheue Gebirgs- und Waldbewohner, hier des Dörflers vertrauenselige Genossen –, Elstern und andere Vögel mehr, ganz abgesehen von den Hausthieren, unter denen vor allen die frei umherlaufenden Schweine unsere Beachtung auf sich ziehen mußten.
Nach viertägiger, ununterbrochener Fahrt, ohne erquicklichen Schlaf, ohne stärkende Ruhe, ohne genügende Nahrung, an allen Gliedern wie zerschlagen, erreichten wir, nachdem wir zu Fuße die vielfach geborstene Eisdecke der Wolga überschritten, Kasan, die alte Hauptstadt der Tataren, deren sechzig Thürme uns schon gestern freundlich entgegengeleuchtet hatten. Ich glaubte mich zurückversetzt in das Morgenland. Von den Minarets und den sie hier und da vertretenden spitzdachigen Holzthürmen herab klang mir wiederum in arabischen Lauten der Ruf zum Gebete entgegen, zu welchem der Islam seine Bekenner fordert; zwischen turbantragenden Männern huschten, ängstlich vor diesen sich verschleiernd, neugierig vor uns sich enthüllend, schwarzäugige Frauen dahin, der zierlichen und durchlässigen Saffianschuhe halber besorglich die übertrauften Stege längs der Häuser suchend; im Gewühle des Bazars trieb sich zwanglos Alt und Jung umher: alles ganz ebenso wie im Morgenlande. Nur die vielen pomphaften Kirchen, unter denen die des Klosters der „nicht von Menschenhänden gefertigten schwarzen Gottesmutter von Kasan“ durch Lage und Bauart hervortritt, wollten zu diesem morgenländischen Bilde nicht passen, so wenig sich auch verkennen ließ, daß hier zu Lande Christen und Mohammedaner einträchtiglich mit einander leben.
Mit leichteren Schlitten, auf womöglich noch grundloseren Wegen zogen wir weiter, Perm, dem Ural entgegen. Durch tatarische und russische Dörfer und die sie umgebenden Fluren, durch weitausgedehnte Wälder führt die Straße. Die tatarischen Dörfer stechen meist vortheilhaft von den russischen ab und machen sich nicht allein durch das Fehlen der als unrein geltenden Schweine, sondern, und mehr noch, durch den stets wohlgepflegten, mit hohen Bäumen bestandenen Friedhof kenntlich; denn der Tatar ehrt die Ruhestätte seiner Todten. Die Wälder sind, obschon forstlich eingeteilt, doch nichts anderes als Urwälder, welche wachsen und gedeihen, altern und vergehen, ohne Zuthun des Menschen; sie liegen viel zu weit ab von schiffbaren Flüssen, als daß sie sich jetzt schon verwerthen ließen.
Zwei große Flüsse, die Wjätka und Kama, kreuzen unsere Straße. Noch hält jene der Winter in starren Banden; aber der heranwehende Frühling beginnt bereits die eisige Decke zu lösen. Wasser überfluthet die Uferränder und zwingt die Pferde der Frachtfuhrleute, welche die über solche Stellen geschlagenen Nothbrücken verschmähen, schwimmend den hinter ihnen wie ein Boot treibenden Schlitten durch das Wasser zu ziehen.
Schon vor Perm müssen wir den Schlitten mit dem Reisewagen vertauschen, und in ihm rollen wir dem Europa und Asien trennenden Ural zu. Ueber langgestreckte, sanfte, aber mehr und mehr ansteigende Hügelreihen zieht sich die Straße. Das Gepräge der Landschaft ändert sich; zwar nicht großartige, aber doch hübsche Gebirgsbilder stellen sich dem Auge dar. Kleine Wäldchen mit dazwischen liegenden Feldern und Wiesen erinnern an die Vorberge der Alpen Steiermarks; die meisten Wälder sind arm und dürftig, denen der Mark vergleichbar, andere reicher und bunt, auch auf weithin geschlossen. Dort bilden sie niedrige Kiefern und [395] Birken, hier zeigen sie beide Bäume mit dazwischen eingesprengten Linden, Erlen, Espen, Schwarz- und Weißpappeln, über deren runde Krone die cypressenartigen Wipfel der herrlichen Pichta oder sibirischen Tanne wie Kerzen emporragen. Die Dörfer sind durchschnittlich größer, die Häuser stattlicher als in den bisher durchreisten Gegenden, die Wege aber über alle Begriffe schlecht. „Mit müder Qual“ schleichen Tausende von Frachtwagen auf oder richtiger in tiefkothigen Geleisen dahin, langsam und verdrießlich auch wir, bis wir endlich, nach dreitägiger Fahrt, die Wasserscheide der beiden großen Stromgebiete der Wolga und des Ob erreichen und durch einen Denkstein, auf dessen Westseite das Wort „Europa“, auf dessen Ostseite das Wort „Asien“ eingegraben ist, erfahren, daß wir die Grenze des heimatlichen Erdtheils überschritten haben. Unter dem Klange der Gläser gedenken wir der fernen Lieben.
Das freundliche Jekaterinburg mit seinen Goldschmelzen und Steinschleifereien darf uns, trotz der Gastlichkeit seiner Bewohner, nur kurze Zeit fesseln; denn mächtiger und eindringlicher regt sich der Frühling, und weicher und morscher wird das Eis der Flüsse und Ströme, welches bis nach dem fernen Omsk uns noch als Brücke dienen soll. Rastlos eilen wir weiter durch die Gefilde des asiatischen Theiles des Permschen Gouvernements, bis wir dessen Grenze und damit Westsibirien erreichen.
Hier, im ersten Posthause, erwartet uns der Kreishauptmann von Tjumén, um uns im Namen des Statthalters zu begrüßen und durch seinen Kreis zu geleiten; in der Hauptstadt desselben finden wir das Haus eines reichen Mannes zu unserem Empfange bereit. Fortan lernen wir erfahren, was russische Gastlichkeit bedeutet. Auch bisher hatte man uns allerorten gastlich empfangen, gastlich bewirthet; von jetzt an sind überall die höchsten Beamten des Kreises, der Provinz zu unseren Gunsten rege und thätig, die vornehmsten Häuser zu unserer Aufnahme geöffnet. Wie Fürsten hat man uns behandelt, bloß weil wir wissenschaftliche Zwecke verfolgten. So dankbar wir dies auch anerkennen, warm genug zu danken vermögen wir nicht, denn dazu fehlen uns die Worte.
Hinter oder jenseit Tjumén, woselbst wir drei Tage verweilten, um die Gefängnisse der Verbannten, die Lederfabriken und andere Sehenswürdigkeiten der ersten sibirischen Stadt in Augenschein zu nehmen, zeigten uns die Bauern, wie sie sogar die Flüsse zu bemeistern wissen. Der kommende Frühling hatte auch das Eis der Pyschma gelöst, und die Schollen begannen sich in Bewegung zu setzen, wir aber sollten vorher noch über den Fluß setzen. Unser harrend, stand die Bewohnerschaft des Dorfes Ramanoffskoje entblößten Hauptes vor der Pyschma; unser harrend, mußte auch diese sich gedulden, bevor sie ihre krystallenen Fesseln abschütteln durfte. Mit ebenso viel Geschick wie Kühnheit hatte man eine Noth- und Hilfsbrücke über den theilweise bereits eisfreien Fluß geschlagen, ein größeres Boot als mittlere Unterlage benutzend, die des Abgangs verdächtigen Eisflötze oberhalb und neben dieser Brücke aber mit starken Tauen und Stricken festgebunden. Geschäftige Hände entschirrten die für die heutige Fahrt erforderlichen Fünfgespanne, packten Achsen und Speichen, griffen handfest zu und führten einen Wagen nach dem andern über die schwankende, wellenförmig sich biegende, knarrende und ächzende Brücke. Sie hatte ihren Zweck erfüllt; drüben ging’s lustig weiter durch Wasser und Schnee, Schlamm und Koth, über Knüppeldämme und Eis.
Minder fügsam erwies sich der Tobol, welchen wir am Karfreitage den 14. April und dem ersten eigentlichen Frühlingstage überschreiten wollten. Auch hier hatte man alle erforderlichen Vorkehrungen getroffen, um uns überzusetzen, sogar einen unserer Wagen bereits ausgespannt und auf die Eisdecke gerollt, als diese krachend sich theilte und zu schleunigstem Rückzuge nöthigte. Fröhlich waren die Glöcklein im Krummholze erklungen, als wir Jalutaroffsk verlassen; traurig läuteten sie uns wieder nach dieser Kreisstadt zurück, und erst am Ostertage konnten wir den großen Fluß mit Hilfe einer Fähre überschreiten.
So ging es weiter; vor oder hinter uns warfen die Flüsse ihre Winterdecken ab, nur der gefürchtete Irtisch lag noch erstarrt und sicher unter uns, und so erreichten wir Omsk, die Hauptstadt Westsibiriens, nach mehr als monatiger Reise ohne weitere Zwischenfälle.
Nachdem wir in Omsk gesehen, was zu sehen war: die Straßen und Häuser, das Kadettenhaus, Museum, Krankenhaus, das Kriegsgefängniß und anderes mehr, fuhren wir auf der längs des rechten Irtischufers sich dahinziehenden, die Dörfer der sogenannten Kosakenlinie verbindenden Straße nach Semipalatinsk weiter. Schon zwischen Jalutaroffsk und Omsk hatten wir eine Steppe, die von Ishim, durchreist; jetzt umgab sie uns von allen Seiten, und allnächtlich fast rötheten die Flammen ihres in Brand gesteckten vorjährigen Grases und Krautes den Himmel. Längs des Irtisch zogen die Wandervögel dahin, unmittelbar hinter dem nordwärts treibenden Eise her; die Wasservögel erfüllten alle Altwässer und Steppenseen mit ihrer Menge; verschiedene Lerchenarten trieben sich in starken Flügen am Wege umher; die niedlichen Falken der Steppen hatten ihre Sommerstände bereits wieder bezogen: der Frühling war zur Wahrheit geworden.
In Semipalatinsk hatten wir das Glück, in dem Gouverneur, General von Poltorattski, einen warmen Freund und Beförderer unserer Bestrebungen, in seiner Gemahlin die liebenswürdigste Wirthin zu finden, welche wir überhaupt hätten finden können. Nicht zufrieden damit, uns in Semipalatinsk die gastlichste Aufnahme bereitet zu haben, beschloß der General, uns in der ansprechendsten Weise mit dem Haupttheile der Bevölkerung seines Gebietes, den Kirgisen, bekannt zu machen, und veranstaltete zu diesem Zwecke eine großartige Jagd auf Archare, Wildschafe, deren Größe die unserer Hausschafe fast um das Doppelte übertrifft.
Am dritten Mai brachen wir zu dieser Jagd auf, setzten über den Irtisch und fuhren auf der Poststraße nach Taschkent in die Kirgisensteppe hinein. Nach sechzehnstündiger Fahrt hatten wir das Jagdgebiet, ein felsiges Steppengebirge, erreicht; bald darauf standen wir vor dem unseretwegen errichteten Aul oder Jurtenlager, freundlich begrüßt von der uns gestern vorausgeeilten Frau Generalin, herzlich auch von einigen zwanzig kirgisischen Sultanen, Gemeindevorstehern und deren zahlreichem Gefolge.
An den drei folgenden Tagen ging’s hoch her in den Arkatbergen. Für die stets nach Festlichkeiten verlangenden Kirgisen waren Feiertage angebrochen, für uns nicht minder. Das Thal und die Berge wurden laut unter dem Hufschlage der achtzig Reiter oder mehr, welche an den beiden nächsten Tagen zur Jagd hinauszogen; die Sonne blitzte, so oft sie sich zeigte, auf bunte, fremdartige Gewänder herab, welche bisher unter Pelzen verhüllt gewesen waren; lebendiges Gewimmel erfüllte Berge und Thalschluchten. Mit ihren besten Rennpferden, ihren werthvollsten Kostgängern, gezähmten Steinadlern, Windhunden und Kamelen, mit Citherspielern und Stegreifdichtern, Ringkämpfern und sonstigen Recken waren sie erschienen, die einst so gefürchteten Kirgisen, deren Name nichts anderes als Räuber bedeutet, heute die gefügigsten, getreuesten und zufriedensten Unterthanen des russischen Reiches. In Gruppen und Haufen saßen sie beisammen; einzeln und in Scharen sprengten sie hin und her, in Lust und Uebermuth ihre Rosse tummelnd; mit regster Aufmerksamkeit folgten sie dem Ringkampfe, mit Begeisterung den von Knaben gerittenen Rennpferden; mit Geschick und Verständniß leiteten sie die Jagd, mit Entzücken lauschten sie auf die Worte des Stegreifdichters, welcher diese Jagd besang. Ein Kirgise hatte schon vor unserer Ankunft einen Archar erlegt; mir führte das Jagdglück einen zweiten vor die sichere Büchse. Dieses Jagdglück war es, welches den Stegreifdichter begeisterte. Seine Verse waren zwar nicht besonders inhaltreich und tief gedacht, jedoch immerhin so eigenartig, daß ich sie aufzeichnete, um die erste Probe kirgisischer Dichtung zu sammeln. Während der Mann sang, übersetzte der Dolmetscher ins Russische, der General ins Deutsche, und als der Sänger geendet, hatte auch ich seine Worte eilschriftlich zu Papier gebracht.
„Sprich nur, rothe Zunge, sprich so lange du noch Leben hast; denn nach dem Tode wirst du stumm sein.
Sprich nur, rothe Zunge, die mir Gott gegeben, nach dem Tode wirst du schweigen.
Worte wie jetzt dir entklingen, nach dem Tode werden sie dich nicht verlassen.
Leute, ragend wie die Berge, seh’ ich vor mir; ihnen will ich Wahrheit sagen.
Berge, Felsen glaube ich vor mir zu sehen; mit dem Rennpferd mag ich sie vergleichen.
Sie, die großer sind als Boote, wie ein Dampfschiff auf des Irtisch Wellen.
Seh’ ich doch in dir, o Herrscher, nach des Kaisers Majestät, den höchsten, einem Berge zu vergleichen, werthvoll wie ein Rennpferd, das im Paß geht.
Eine Mutter war es, die mich hat geboren; meine Zunge aber hat mir Gott gegeben.
Wenn vor dir ich jetzt nicht rede, zu wem sonst soll ich wohl sprechen?
Vollste Freiheit habe ich zu reden, ebenso als ob zu meinem Volk ich spräche.
Glück dir, Herr, und Heil und Segen deinen Gästen, unter denen hochgestellte Leute, ob Sie jetzt auch auf der Seite liegen.
Jeder Gast des Generals ist auch der unsere, uns’rer Freundschaft sicher.
Gott nur gab mir meine Zunge, mag sie weiter reden.
In den Bergen sahn wir Jäger, Schützen, Treiber; doch nur mit einem war das Glück.
Wie des höchsten Berges Spitze über alle andern ragt, so überhob es diesen einen über alle, denn er schoß dem Archar wohlgezielt zwei Kugeln durch den Leib und brachte ihn zur Jurte.
Aller Jäger Wunsch war, Beute zu gewinnen; doch nur einer sah den Wunsch erfüllt: uns zur Freude, auch zur Freude dir, o hohe Frau, zu welcher jetzt ich rede.
Alles Volk ist hocherfreut, dich allhier zu sehen, zu begrüßen; alles Volk wünscht dir nur Freude, tausend Jahre Leben und Gesundheit.
Laß es dir gefallen, nimm die Huldigung entgegen! Ob du gleich viel besser Volk gesehen; treuer aber hat dir keines Gruß und Gastlichkeit gespendet.
Möge Gott dich segnen, segnen auch dein Haus und deine Kinder! Viel zu wenig Worte mag ich finden, dich zu preisen; aber meine Zunge hat mir Gott gegeben, und sie sprach, die rothe Zunge, was im Herzen keimte.“
Wir verließen die Arkatberge und bald darauf auch das Verwaltungsgebiet unseres Gastfreundes, von welchem wir uns auf dem Jagdplatze getrennt hatten, wurden in Sergjopol von Oberst Friedrichs empfangen, im Namen des Generalgouverneurs begrüßt und zogen nunmehr in seiner Gesellschaft unseres Weges weiter. Kirgisenhäupter gaben uns das Ehrengeleite und stellten uns Zugpferde, welche freilich vorher noch niemals als solche benutzt worden waren und anfänglich stets wie toll mit dem schweren Wagen davonjagten; Kirgisensultane erwiesen uns Gastfreundschaft, sorgten unterwegs für Obdach und Nahrung, stellten Jurten auf an allen Orten, wo wir rasten wollten oder ruhen sollten; Kirgisen fingen für unsere Sammlungen Schlangen und ander kriechendes Gethier, warfen zu Gunsten dieser Sammlungen Netze in den Steppenseen aus und folgten uns auf unseren Jagdzügen wie treue Hunde. So durchreisten wir die jetzt im vollsten Frühlingsschmucke prangende Steppe, verweilten, jagend und sammelnd, am Ala-kul oder „bunten See“, zogen durch blühende Thäler und über lachende Berge der am Alatau, einem der großartigsten Steppengebirge, gelegenen Kosakenstaniza Lepsa zu, durchstreiften die Umgegend der Ansiedelung, ein kleines Paradies, in welchem Milch und Honig fließt, erklommen die Hochberge, erlabten uns hier an rauschenden Gebirgswässern, grünen Alpseen und köstlichen Fernsichten, und wandten uns sodann, in nordöstlicher Richtung weiterreisend, der chinesischen Grenze zu, um auf dem kürzesten und bequemsten Wege durch einen Theil des Reiches der Mitte nach dem Altai zu gelangen.
[418] In Bakti, dem letzten russischen Grenzposten, ward uns die Kunde, daß Seine Unaussprechlichkeit, der Dschandsun Djun, Oberstatthalter der Provinz Tarabagatai, uns auch von seiten Chinas begrüßen wolle und zu einem Gastmahle eingeladen habe. Diesem Wunsche des hohen Mandarin nachzukommen, ritten wir am 21. Mai nach der Hauptstadt besagter Provinz, Tschukutschak oder Tschauutschak, hinüber.
Der Reiterzug, welcher sich durch die sommerlich glühende Steppe bewegte, war zahlreicher und glänzender als je zuvor. Theils um in dem von Aufruhr heimgesuchten Lande die nöthige Sicherheit zu genießen, theils um vor Seiner Herrlichkeit würdig, um nicht zu sagen pomphaft, auftreten zu können, hatten die uns begleitenden Herren außer den uns unter Führung unseres neuen Geleitgebers, Major Tichanoff, aus Saisan entgegengekommenen dreißig Kosaken und unseren alten kirgisischen Freunden noch eine halbe Sotnie Kosaken aus Bakti aufgeboten, und somit erdröhnte die bisher so öde Steppe unter den Hufschlägen eines kleinen Heeres. Alle unsere Kirgisen ritten heute in Feierkleidern, und ihre schwarzen, blauen, gelben und rothen, mit Silber und Goldtressen besetzten Kaftane wetteiferten an Glanz und Schimmer mit den Uniformen der uns begleitenden russischen Offiziere. An der neuerdings vereinbarten Grenze erwartete uns ein chinesischer Krieger höheren Ranges, um uns zu begrüßen, kehrte sich hierauf um und jagte, so schnell sein Roß ihn tragen wollte, wiederum zurück, um seinem Gebieter unsere Ankunft zu melden. Ueber Trümmerhaufen stolperten, zwischen halb eingefallenen und halbfertigen Gebäuden, aber auch zwischen blühenden Gärten dahin schritten die Hufe unserer Pferde, als wir die Stadt erreicht hatten; fratzenhafte Mongolengesichter grinsten uns entgegen; Frauen von geradezu abschreckender Häßlichkeit beleidigten mein Schönheitsgefühl in empfindlichster Weise.
Vor dem Wohngebäude des Statthalters sammelte sich der Zug; Erlaubniß zum Eintreten begehrend, hielten wir vor der breiten Pforte. Ihr gegenüber erhob sich eine künstlich zusammengesetzte Mauer, in der Mitte ein wundersames Thierbild zeigend, rechts und links davon lagen chinesische Marterwerkzeuge am Boden. Ein Hausbeamter bat einzutreten, bedeutete aber gleichzeitig Kosaken und Kirgisen, draußen zu bleiben. Der Statthalter empfing uns in seinen Wohn-, Geschäfts- und Gerichtsräumen mit größter Feierlichkeit. Alle Würde eines hohen Mandarin bewahrend, mit der Rede kargend und nur einzelne abgebrochene Laute ausstoßend, welche jedoch stets von einem heiter grinsenden Lächeln begleitet wurden, reichte er uns die Hand und lud zum Niedersitzen an der mit Thee und unzähligen kleinen Schüsseln beschickten, wunderliche Genüsse aufweisenden Frühstücktafel ein, „und wir erhoben die Hände zum lecker bereiteten Mahle“. Reis, verschiedene in Oel eingemachte und getrocknete Früchte, pergamentdünne Scheibchen Schweinefleisch, gedörrte Garnelenschwänze nebst einer Menge unkenntlicher oder doch unbestimmbarer Leckereien und Süßigkeiten bildeten die Speisen, trefflicher Thee und abscheulich fuseliger Reisbranntwein von weingeistartiger Stärke die Getränke. Nach der Mahlzeit, welche infolge eines vorsichtigerweise schon vorher eingenommenen reichlichen und zweifellosen Imbisses, für mich wenigstens, unschädlich ablief, wurden Wasserpfeifen gereicht und sodann verschiedene denkbare und undenkbare Gegenstände dieses und des Nebenraumes besichtigt. Landschafts- und Thierbilder, von der Regierung gesandte Belobigungsschreiben, das große, mit erheiternder Sorglichkeit in bunte Seidenstoffe gekünstelt eingehüllte Staatssiegel, absonderliche Pfeile von einer Bedeutsamkeit, wie solche nur ein chinesisches Gehirn ihnen beilegen konnte, Erzeugnisse europäischer Betriebsamkeit und dergleichen mehr. Ueberaus gemessen und unaussprechlich würdevoll bewegte sich die Unterhaltung. Unsere Anreden wurden aus dem Französischen ins Russische, aus dem Russischen ins Kirgisische, aus dem Kirgisischen ins Chinesische übersetzt und die Antworten auf dem rückwärtigen Wege uns übermittelt – kein Wunder daher, daß die Gespräche den Ton der größten Feierlichkeit annahmen.
Nach dem Frühstücke traten chinesische Pfeilschützen an, um uns ihre kriegerische Tugend und Geschicklichkeit zu zeigen; hierauf führte uns der Dschandsun allerhöchst selbst in seinen Gemüsegarten, um uns dessen Erzeugnisse kosten zu lassen; endlich verabschiedete er uns, und wir ritten nunmehr durch die Straßen und Märkte der Stadt, fanden im Hause eines Tataren Gastfreundschaft und ein vortreffliches, durch die Gegenwart der bildschönen, jungen, zu unserer Ehre in das Männergemach [419] berufenen Frau noch besonders gewürztes Mahl, und verließen hierauf gegen Sonnenuntergang den auch geschichtlich merkwürdigen Ort.
Tschukutschak ist dieselbe Stadt, welche im Jahre 1867 nach langwieriger Belagerung den Dunganen, einem mongolischen, aber dem Islam ergebenen, gegen die chinesische Oberherrschaft in beständigem Aufruhr stehenden Volksstamme, in die Hände fiel, mit Mann und Maus vernichtet und der Erde gleich gemacht wurde.
Von den dreißigtausend Einwohnern, welche Tschukutschak kurz vorher gezählt haben soll, war über ein Drittel geflohen, der Rest aber, durch wiederholt abgeschlagene Stürme sicher gemacht, zu seinem Verderben geblieben. Als den Dunganen der letzte Sturm gelang, hausten sie mit derselben Grausamkeit und Unmenschlichkeit, welche die Chinesen ihnen gegenüber bethätigt hatten. Was nicht dem Schwerte verfiel, wurde vom Feuer vernichtet.
Als unser bisheriger Reisegeleiter, Oberst Friedrichs, vierzehn Tage später die Stätte besuchte, auf welcher Tschukutschak gestanden, kräuselte keine Rauchwolke mehr um die verkohlten Firsten. Wölfe und Hunde, die Bäuche geschwellt vom Fraße an menschlichen Leibern, schlichen, beutesatt, vor ihm davon oder ließen sich in ihrem eklen Mahle nicht stören und nagten weiter an dem Gebein ihrer früheren Gebieter; Adler, Milane, Raben und Krähen theilten mit ihnen den Schmaus. Wo man Raum hatte schaffen müssen, waren die Leichen auf Haufen geworfen worden, Dutzende, Hunderte über einander; in den übrigen Stadttheilen, in den Straßen, Hofräumen, Häusern, lagen sie einzeln, zu zweien, zu zehn, Gatte und Gattin, Urahne, Großmutter, Mutter und Kind, Familien und nach Rettung geflüchtete Nachbarn neben einander, die Stirnen zerklafft von Schwerthieben, die Gesichter zerfetzt, verbrannt, die Glieder vom Zahne der Hunde und Wölfe benagt, zerrissen, die Leiber ohne Köpfe, ohne Hände. Was die tollste Einbildung an Greueln ersinnen kann, fand das entsetzt umherirrende Auge hier verwirklicht.
Zur Zeit unserer Anwesenheit zählte Tschukutschak höchstens tausend Einwohner; die neu aufgebaute zinnengekrönte Festung stand tatsächlich unter dem Schutze des kleinen russischen Pikets in Bakti.
Unter Führung des Major Tichanoff und seiner dreißig Kosaken durchzogen wir das Thal des Emil, ohne einen Dunganen zu sehen zu bekommen, ohne auf tagelangen Wanderungen Menschen zu begegnen. Der Emil fließt, vom Saur herkommend, zwischen dem Tarabagatai und Semistau, zwei in spitzigem Winkel zusammenstoßenden Hochgebirgsketten, dahin, von beiden Seiten her zahllose Bächlein in sich aufnehmend. Die Bewässerungskunst der Chinesen hatte, alle Wasseradern benutzend, aus dem ganzen Thale einen fruchtbaren Garten geschaffen, als die Dunganen hereinbrachen und diesen Garten verwüsteten und der Steppe, welcher jene ihn entrungen, wieder übergaben. Wohl durchritten wir in der Nähe der Stadt noch kleine Dörfer, stießen auch auf einen Aul der Kalmücken, dann aber nur noch auf die Trümmer früheren Besitzes und Wohlstandes, früherer Betriebsamkeit des Menschen.
Ueber die Felder hat die Natur selbst mit milder Hand einen Schleier gebreitet; aber die noch nicht dem Sturme, dem Wetter erlegenen Trümmer der Dörfer klagen zum Himmel. Besucht man solche Dörfer, so treten die Greuel vergangener Tage mit erschreckender Klarheit vor Augen. Zwischen verödeten Mauern, deren Dächer verbrannt und deren Giebel halb oder gänzlich eingefallen sind, auf dem modernden Schutt, aus welchem geile Giftpilze aufschießen, Reste von chinesischem Porzellan und halbverkohlten, deshalb auch erhaltenen Einrichtungsgegenständen umherliegen, stößt man überall auf menschliches Gebein, zertrümmerte Schädel, vom Zahne der Raubthiere zersplitterte Knochen, vermischt mit einzelnen Theilen des Gerippes der Hausthiere, insbesondere des Hundes. Die Schädel zeigen noch heute die Spuren der scharfen Klingen, welche sie zertrümmerten, der Axthiebe, welche sie zerschmetterten. Die Menschen verfielen der Wuth der mordenden Feinde und die Hunde theilten das Schicksal ihrer Herren, zu deren Schutze sie jenen sich gestellt haben mochten; die übrigen Hausthiere aber wurden weggetrieben, geraubt wie alles werthvolle Besitzthum der Erschlagenen, die augenblicklich werthlosen Gegenstände endlich zerstückelt und verbrannt. Bloß zwei halbwilde Hausthiere sind den Trümmern noch geblieben: die Schwalbe und der Sperling; an Stelle der übrigen haben sich die Vögel der Ruinen eingefunden und eingenistet.
Wir zogen einsam durch das verödete Thal. Kein Dungane ließ sich blicken; denn hinter unseren dreißig Kosaken stand das große mächtige Rußland. Als wir wiederum auf Menschen stießen, fanden wir, daß es russische Kirgisen waren, welche hier in China ihre Herden weideten, ihre Felder bebauten und für einen ihrer Todten ein Grabmal errichteten.
Vom Thale des Emil aus überstiegen wir den Tarabagatai, an einer der niedrigsten Stellen des Gebirgskammes, stiegen dann auf die von ihm, dem Saur, Manrak, Terserik, Mustau und Urkaschar umgebene, ungefähr 1600 Meter über dem Meere liegende, fast ebene Hochfläche Tschilikti hinab, überquerten sie, mehrere ungemein große Kurgane oder Grabhügel der Eingeborenen berührend, und suchten uns dann in dem unendlich zerrissenen Manrakgebirge schlangenartig sich windende Thäler, um nach der Ebene von Saisan und dem erst seit vier Jahren bestehenden Grenzposten gleichen Namens, einem freundlichen Städtchen, zu gelangen. Hier, hart an der chinesisch-russischen Grenze, umgab uns seit Lepsa wieder einmal europäische Bequemlichkeit und Behaglichkeit. In den Gesellschaften, denen wir beiwohnten, verkehrte man wie in Petersburg oder Berlin: man unterhielt sich, spielte, sang und tanzte im engeren Familienkreise wie in einem öffentlichen Garten. Köstlich schlagende Sprosser begleiteten Tanz und Gesänge: man vergaß, wo man sich befand.
Ich benutzte die Zeit unseres Aufenthaltes zu einer Jagd auf Ullare, Hochgebirgshühner in Rebhuhngestalt, aber von der Größe des Auerhuhnes, und lernte dabei nicht allein die Wildheit des Manrakgebirges, sondern auch das Hirten- und Herdenleben ärmerer Kirgisen von einer für mich neuen Seite kennen, kehrte daher in hohem Grade befriedigt von meinem erfolgreichen Ausfluge zurück.
Am Nachmittage des 31. Mai bestiegen wir unsere Reisewagen wieder und rollten dem Schwarzen Irtisch zu, um ein uns vom General Poltorattski im Altaigebirge gegebenes Stelldichein nicht zu verfehlen. Durch reiches Steppenland, über kohlschwarze Erde, später durch trockenere Hochsteppen ging die rasche Fahrt bis zum Strome, dessen hochgehende Wellen uns am nächsten Tage dem Saisansee zuführten. So langweilig uns bisher alle Flüsse und Ströme Sibiriens erschienen waren, der Schwarze Irtisch war es nicht; denn köstliche Fernsichten auf zwei gewaltige Hochgebirge, Saur und Altai und die damit zusammenhängenden Ketten, entzückten, ein frischgrüner Ufersaum mit Vogelfang und heiterem Vogelleben erquickten das Auge. Ein rasch ausgeworfenes Netz förderte in reicher Menge köstliche Fische ans Licht und bewies uns, daß der Strom ebenso reich wie schön ist. Nachdem wir am 2. Juni den flachen und trüben, überaus fischreichen, aber nur durch die von ihm aus sich bietenden Fernsichten anziehenden See überfahren hatten, durchzogen wir am nächsten Tage den ödesten Theil der Steppe, welcher uns bisher zu Gesicht gekommen, lernten aber gerade hier drei der bemerkenswerthesten Steppenthiere kennen: den Kulan, ein Wildpferd; die Steppenantilope und das Fausthuhn. Vom erstgenannten wurde durch unsere Kirgisen ein Füllen gefangen, von letzterem ein Stück erlegt. Abends rasteten wir in den Vorbergen des Altai; am nächsten Tage trafen wir am bestimmten Orte mit den früheren Gastfreunden zusammen und ritten fortan unter ihrem Geleite weiter.
Es war eine köstliche Reise, ob auch Sturm, Schnee und Regen nur allzu oft uns umtobten und die freundliche Jurte, hier mit uns wandernd, dann einen guten Theil ihrer Behaglichkeit verlor, ob auch Wildwässer unsere Pfade sperrten und zur rauschenden Tiefe jach abstürzende Gehänge sie in Wege verwandelten, wie sie bei uns zu Lande wohl der Gemsjäger, nicht aber der Reiter zieht. Ein russischer Gouverneur reist nicht wie andere Sterbliche, am allerwenigsten dann, wenn er durch unbewohnte Gegenden seinen Weg nimmt. Mit ihm ziehen die Kreishauptleute und die unter diesen stehenden Amtsvorsteher, Gemeindeältesten und Gemeindeschreiber, die vornehmen und angesehenen Männer der ganzen Gegend, welche er zu besuchen gedenkt, ein Trupp Kosaken und deren Offiziere, bis zum Obersten hinauf, die eigenen und die Diener der Geleitgebenden etc. Und [420] wenn es sich nun vollends, wie in unserem Falle, um theilweise fremdes Land handelt, wenn es gilt, mit kirgisischen Gemeinden Berathungen zu pflegen, vermehrt sich der Troß ins Unendliche. Dann müssen nicht allein Wagen und Zelte mitgeführt werden, wie sonst bei Reisen in der Steppe, sondern gleich ganze Schafherden dem wandernden Heere vorausgehen, um die Hunderte ernähren zu können in der Wildniß. Seitdem wir den Saisansee verlassen hatten, befanden wir uns wiederum in China und eine Reihe von Tagen hatten wir zu reisen, bevor wir hoffen durften, in den jetzt nur in den tieferen Thälern besiedelten Theilen des Gebirges wiederum auf Menschen zu stoßen.
Mit uns aber reisten anfänglich mehr als zweihundert Menschen, meist Kirgisen, welche berufen worden waren, um einen kaiserlichen Befehl betreffs Aufhebung ihrer Weiderechte im kaiserlichen Krongute Altai entgegenzunehmen und sich über ihre infolge dessen zu ändernden Wanderungen zu einigen, aber auch nachdem die Berathungen vorüber waren, zählte unser Reisezug noch immer über hundert Pferde und sechzig Reiter. Am frühen Morgen wurden die Jurten uns Männern über dem Kopfe abgebrochen und dem Zuge vorausgesandt; dann folgten wir in kleineren oder größeren Gesellschaften, langsam reitend, bis uns auch die Damen, des Generals liebenswürdige Gemahlin und holde Tochter, wieder eingeholt hatten. Wir frühstückten an Stellen, die dafür geeignet waren, ließen die letzten Packpferde an uns vorüberziehen, folgten ihnen nach, überholten sie wieder, trafen meist schon mit den zu allererst aufgebrochenen, täglich sich verringernden Schafen am Halteplatze ein und hatten somit Gelegenheit, allabendlich das bunte Bild des Lagerlebens vor unseren Augen sich gestalten zu sehen. Herrliche, frischgrüne, frühlingsduftige Thäler nahmen uns auf, hohe, steil aufsteigende, weithin noch mit Schnee bedeckte Berge gewährten uns Fernblicke ins Hochgebirge hinein, auf die durchzogene Steppe hinab; bis zum Saur und Tarabagatai hinüber, bis wir endlich den Markakul, diese Perle unter den Gebirgsseen des Altai, vor uns liegen sahen und damit ins Hochgebirge selbst eingetreten waren. Drei Tage lang zogen wir, durch Weg und Wetter behindert, durch eine an den Gouverneur gelangte chinesische Gesandtschaft aufgehalten, längs des Sees dahin; dann aber eilten wir durch wirklich geschlossene Wälder, über schwer zu erklimmende Pässe bergauf, bergab der russischen Grenze entgegen und auf halsbrechenden Wegen in das blühende Thal der Buchtarma hernieder, um in der neugegründeten Kosakenansiedelung Altaiska Staniza wiederum einmal russische Gastlichkeit und Behaglichkeit zu genießen, zu rasten und zu ruhen.
Von den Offizieren der Staniza reichlich beschenkt mit allerlei Erzeugnissen der Umgegend, setzten wir am 13. Juni die Reise fort. Hell und freundlich lachte die Sonne vom reinen Himmel herab auf die großartige, heute zum ersten Male unverschleierte Landschaft. Unabsehbare parkartige Thäler, eingerahmt durch schroff sich auftürmende, schneebedeckte, heute mit zauberischen Farben übergossene Hochgebirge, herrliche Bäume auf den Wiesen, blühende Gebüsche an den Gehängen, unendlich mannigfaltiger, über alle Beschreibung köstlicher Schmuck der im langentbehrten Sonnenlichte gleichsam aufjauchzenden Blumen, frisch erblühte Heiderosen aller Farben dazwischen, Kuckucksruf und Vogelgesang aus allen Kehlen, kirgisische Auls in den breiteren Thälern am Fuße der Berge und russische, grün umbuschte Dörfer, weidende Herden, fruchtbare Felder, rauschende Bäche und zackige Felsmassen, milde Luft und würziger Frühlingsduft umschmeichelten die Sinne während der ganzen Fahrt.
Bald überschritten wir die Grenzen des kaiserlichen Gutes Altai – eines Gutes, welches an Größe nur wenig hinter Frankreich zurücksteht; nach einer Tagesfahrt erreichten wir das Bergstädtchen Serianoffsk mit seinen Silbergruben. Nachdem wir hier, freundlich empfangen wie immer und überall, alle Werke besichtigt, wandten wir uns wiederum dem Irtisch zu, ließen uns von seinen zwischen hohen und malerischen Felsenbergen rasch dahinfluthenden Wogen an Buchtarminsk vorüber und nach Ustkamenegorsk treiben und zogen von hier aus wiederum zu Wagen durch das zukunfttreiche Kaisergut. An die anmuthigen Gelände der Vorberge schließen sich steppenartige Ebenen an; mit dem besiedelten Lande wechseln ausgedehnte, bunte Wälder ab. Große, reiche Dörfer, wertvolle, fruchtbare, in kohlschwarzer Ackererde angelegte Felder, schön gebaute, ihres Wohlstandes bewußte Männer, schöne, in malerische Tracht gekleidete Frauen, kindisch neugierige und kindlich gutmüthige Menschen, treffliche, leistungsfähige, unermüdliche Pferde, kräftige, wohlgestaltete Rinder, in großen Herden weidesatt die Dörfer umlagernd, unendliche Wagenkarawanen, auf guten Wegen Erz und Kohlen verführend, Murmeltiere an den Berggehängen, Ziesel in den Ebenen, Kaiseradler auf den Markpfählen am Wege, reizende Zwergmöven an den Gewässern um die Ortschaften beleben die Gegend, welche die Straße durchschneidet. Wie im Fluge eilten wir durch das Land; wie im Fluge besuchten wir das mit Fug und Recht Schlangenberg benannte Hüttenstädtchen; kurze Rast nur gönnten wir uns in dem Hauptorte des Gutes, der Kreisstadt Barnaul, dann ging es weiter nach dem Bergstädtchen Salair, nach der großen Gouvernementsstadt Tomsk.
[447] Schon vor Barnaul hatten wir den Ob erreicht, bei Barnaul ihn überschritten; in Tomsk schifften wir uns ein, um ihn zu befahren. 2600 Werst, fast 400 geographische Meilen, schwammen wir, nachdem wir durch den Tom in ihn gelangt, abwärts. Gewaltig, überaus großartig ist dieser Strom, so einförmig, so öde er auch genannt werden mag. In einem Thale, dessen Breite von zehn bis dreißig Kilometern wechselt, strömt er dahin, mit unzähligen Armen zahllose Inseln umschließend, zu oft unabsehbaren seeartigen Flächen sich breitend. Kaum durch Lichtungen unterbrochene Urwälder, bis in deren Innerstes noch nicht einmal der eingeborene Mensch vorgedrungen, bekleiden das Gelände seiner wirklichen Ufer; Weidewaldungen in allen Zuständen des Wachsthums dieser Baumart decken die ewig durch die umgestaltenden Fluthen benagten, ihnen verfallenden und von ihnen wiederum neu aufgebauten Inseln. Aermer und ärmer wird das Land, ärmer und dürftiger werden diese Wälder, liederlicher auch die Dörfer, je weiter man stromabwärts kommt, obgleich der Strom, je näher seiner Mündung, desto reichlicher spendet, was das arme Land versagt. An Stelle des Bauers tritt der Fischer und Jäger, an Stelle des Viehzüchters der Renthierhirt. Seltener und seltner werden die russischen Ansiedelungen, häufiger die Wohnsitze der Ostjaken, bis endlich nur noch die beweglichen, kegelförmigen Birkenrindenhütten, hier „Tschum“ genannt, und dazwischen höchstens überaus ärmliche Blockhäuser, die zeitweiligen Wohnsitze der russischen Fischer, von dem Dasein des Menschen Kunde geben.
Wir hatten beschlossen, auch eine Tundra oder Moossteppe zu durchwandern, und deshalb das zwischen dem Ob und dem Karischen Meerbusen gelegene Land der Samojedenhalbinsel ins Auge gefaßt. Behufs dieser Reise mietheten wir in Obdorsk und weiter unten am Strome mehrere Leute, Russen, Syranen, Ostjaken und Samojeden, und traten am 15. Juli unsere Fahrt an.
Auf den nördlichen Höhen des Ural, welcher hier als wirkliches Gebirge, seinem Gepräge nach sogar als Hochgebirge, sich zeigt, entspringen nahe bei einander drei Flüsse, die Ussa, welche der Petschora, die Bodarata, welche dem Karischen Meerbusen, und die Schtschutschja, welche dem Ob zuströmt. Das Gebiet der letztgenannten beiden war es, welches wir bereisen wollten. Wie das Land beschaffen sei, wie es uns ergehen würde, ob wir auf Renthiere hoffen dürften oder den Weg zu Fuß zurücklegen müßten, wußte uns niemand zu sagen.
Bis zur Mündung der Schtschutschja reisten wir noch in gewohnter Weise, bei jeder ostjakischen Ansiedelung unsere gemietheten Ruderer ablohnend und neue annehmend; auf der Schtschutschja selbst traten unsere eigenen Leute in Thätigkeit. Acht Tage lang fuhren wir langsam dem Flusse entgegen, jeder seiner zahllosen Schlangenwindungen getreulich folgend, immer in der überaus eintönigen, ja ertödtend langweiligen Tundra dahin, bald dem Ural uns nähernd, bald wieder von ihm uns entfernend. Acht Tage lang sahen wir keinen Menschen, sondern nur die Spuren desselben, seine auf Schlitten gepackten, für den Winter nöthigen Schätze und seine Grabstätten. Unwegsame Sümpfe zu beiden Seiten des Flusses hemmten jeden weiteren Ausflug, Milliarden blutgieriger Mücken quälten uns unablässig. Am siebenten Tage der Fahrt sahen wir einen Hund – für uns wie für unsere Leute ein Ereigniß; am achten Tage trafen wir auf einen bewohnten Tschum und in ihm den einzigen Menschen, welcher uns über das vor uns liegende Land Auskunft geben konnte. Ihn nahmen wir als Führer mit, und mit ihm traten wir drei Tage später eine Wanderung an, welche ebenso beschwerlich wie gefährlich werden sollte.
Neun volle Tagereisen von uns entfernt, auf dem Weideplatze Saddabei im Ural, sollten sich Renthiere befinden; an der Schtschutschja war zur Zeit kein einziges aufzutreiben. Es blieb uns daher nichts anderes übrig, als die Reise zu Fuß zu beginnen und alle Beschwerlichkeiten und Unannehmlichkeiten einer solchen Wanderung durch ein unwegsames, nahrungsloses, mückenerfülltes, menschenfeindliches und – was das schlimmste – unbekanntes Gebiet auf uns zu nehmen.
Umsichtig, erst nach langen Berathungen unter uns und mit den Eingeborenen wurden die Vorbereitungen bewerkstelligt, sorgfältig die Lasten abgewogen, welche jeder auf seinen Rücken laden sollte; denn drohend stand das Gespenst des Hungers vor uns. Wohl wußten wir, daß nur der Wanderhirt, nicht aber der Jäger im Stande ist, sein Leben zu fristen in der Tundra; wohl kannten wir erfahrungsmäßig alle die Mühseligkeiten, welche der pfadlose Weg, die Qualen, welche das Heer der Mücken bereitet, die Wetterwendigkeit des Himmels, die Unwirthlichkeit der Tundra überhaupt, und trafen danach unsere Vorkehrungen; gegen das aber, was wir nicht kannten, nicht ahnen konnten und was uns dennoch betraf, uns vorzusehen, ihm vorzubeugen, war unmöglich. Umkehren wollten wir nicht; hätten wir voraussehen können, was uns begegnen sollte, wir hätten es doch wohl gethan.
In kurze Pelze gehüllt, schwer belastet, außer dem durch gewichtigen Schießbedarf beschwerten Rucksack noch Gewehr und Reisetäschchen über der Schulter, brachen wir am 29. Juli auf, unser Boot der Obhut zweier Leute überlassend. Mühselig, keuchend unter der unserem Rücken aufgebürdeten Last, ununterbrochen, Tag und Nacht gequält von den Mücken, schritten wir durch die Tundra, nach stündiger, halbstündiger Wanderung, zuletzt nach je tausend Schritten Ruhe heischend und wegen der Mücken kaum sie findend. Zahllose Hügel überstiegen, ebenso viele Thäler überschritten, kaum weniger Sümpfe, Moräste und Brüche durchwateten wir; an hundert namenlosen Seen gingen wir vorüber; Bäche und Flüßchen mußten wir kreuzen. Unfreundlicher, als es geschah, konnte die Tundra uns nicht wohl empfangen. Feinen Regen peitschte der Wind uns ins Gesicht; in den durchnäßten Pelzen legten wir uns auf dem regengetränkten Boden nieder, ohne Obdach über, ohne wärmendes Feuer neben uns, auch jetzt noch immer unablässig gequält von den Mücken. Doch die Sonne trocknete die Kleider wieder, brachte neuen Muth und neue Kraft: es ging vorwärts. Eine freudige Nachricht stärkt mehr als Sonne und Schlaf: unsere Leute entdecken zwei Tschums; unsere Ferngläser zeigen uns deutlich sie umgebende Renthiere. Beglückt im innersten Herzen, sehen wir uns bereits behaglich hingestreckt auf das einzige und allein mögliche Gefährt, den Schlitten, sehen wir vor uns das diesen Schlitten rasch bewegende absonderliche Hirschgespann. Wir erreichen die Tschums, die Renthiere – ein grauenvoller Anblick verletzt das Auge. Unter der geweiheten Herde wüthet der Milzbrand, die fürchterlichste, auch für Menschen gefährlichste aller Viehseuchen der unerbittlichste, ohne Wahl und ohne Gnade vernichtende Todesengel, dessen verderbenbringendem Würgen der Mensch ohnmächtig gegenübersteht, welcher hier zu Lande Völkerschaften verarmen macht und unter den Menschen ebenso unrettbar Opfer fordert wie unter den Thieren.
Sechsundsiebzig todte Renthiere zähle ich in unmittelbarer Nähe der Tschums; wohin das Auge sich wendet, trifft es auf Leichen, auf gefallene, in den letzten Zuckungen liegende Hirsche, Thiere und Kälber. Andere kommen, den Tod im Herzen, zu den bereits zur Abfahrt gerüsteten Schlitten herbeigelaufen, als hofften sie in der Nähe der Menschen Hilfe und Rettung zu finden, lassen sich von hier nicht vertreiben, bleiben mit glotzenden Augen und über einander gekreuzten Vorderläufen eine, zwei Minuten lang stehen, wanken hin und her, stöhnen und fallen um; weißer, blasiger Schaum tritt ihnen vor Maul und Nase – noch einige Zuckungen und ein Leichnam mehr liegt am Boden. Säugende Mutterthiere mit ihren Kälbern trennen sich von der Herde; die Mütter verenden unter gleichen Erscheinungen; die Kälber betrachten neugierig und verwundert die absonderlich sich gebärdenden Mütter oder äsen sich unbesorgt neben dem Sterbelager ihrer Erzeugerinnen, kehren dann zu ihnen zurück, finden anstatt der liebevollen Ernährerin einen Leichnam, beschnuppern diesen, prallen erschreckt zurück, eilen weg, irren blökend umher, beriechen dieses Altthier, nähern sich jenem, werden von allen vertrieben, blöken und suchen weiter, bis sie finden, was sie nicht gesucht: den Tod durch einen Pfeilschuß von der Hand ihres Besitzers, [449] welcher wenigstens ihr Fell zu retten sucht. Der Tod haust unter den alten wie unter den jungen Rentieren mit gleicher Unerbittlichkeit; die stärksten, stattlichsten Hirsche verfallen dem Würgengel ebenso sicher wie die Sprößlinge ihres und des anderen Geschlechtes.
Zwischen den sterbenden und verendeten Thieren aber wandeln und hasten die Menschen, der Herdenbesitzer Sehungei und seine Angehörigen und Knechte, um in sinnloser Gier zu retten, was sich irgend retten läßt.
Obwohl nicht unkundig der furchtbaren Gefahr, welcher sie sich aussetzen, wenn auch nur der geringste Theil eines Blutstropfens, ein Stäubchen des blasigen Schaumes mit ihrem Blute sich vermischt, obschon vertraut mit der Thatsache, daß bereits Hunderte ihres Volkes unter entsetzlichen Schmerzen der unheilbaren Seuche erlegen, arbeiten sie doch mit allen Kräften, um die vergifteten Thiere zu entfellen. Ein Beilschlag endet die Qualen der sterbenden Hirsche, ein Pfeilschuß das Leben der Kälber und einige Minuten später liegt das Fell, welches noch nach Wochen ansteckend wirken kann, bei den übrigen, tauchen die blutigen Hände den vom Leibe der Kälber losgelösten Bissen in das in der Brusthöhle des erlegten Thieres sich sammelnde Blut, um ihn roh zu verschlingen. Schindersknechten gleichen die Männer, scheußlichen Hexen die Frauen, im Aase wühlenden, blutbeschmierten, bluttriefenden Hyänen die einen wie die andern; achtlos des über ihrem Haupte schwebenden, nicht an einem Roßhaar, sondern an einer Spinnwebe aufgehängten, toddrohenden Schwertes, zerren und wühlen sie weiter, unterstützt sogar schon durch ihre Kinder, vom halberwachsenen Knaben an bis zu dem wie sie bluttriefenden, kaum dem Säuglingsalter entwachsenen Mädchen herab.
Die Tschums werden verrückt und auf einem benachbarten Hügel wieder aufgeschlagen; die unglückliche Herde, welche, zweitausend Köpfe stark, vom Ural aufgebrochen und auf zweihundert zusammengeschmolzen ist, welche die ganze von ihr beschrittene Straße durch gefallene Thiere bezeichnet hatte, sammelt sich von neuem um die Tschums; am anderen Morgen aber liegen wiederum vierzig Leichname in der Nähe des nächtlichen Ruheplatzes.
Wir kannten die Gefahr, welche das milzbrandige Thier auch dem Menschen bereiten kann; aber wir kannten sie doch nicht in ihrem ganzen, grausenerregenden Umfange. Deshalb kauften wir neun dem Anschein nach noch gesunde Renthiere, bespannten mit ihnen drei Schlitten, beluden dieselben mit unserem Gepäck und zogen, nebenher schreitend, erleichtert weiter. Renthierfleisch zu genießen, wie wir gehofft, worauf wir gerechnet, verbot die furchtbare Seuche; sorgender und ängstlicher spähten wir daher von jetzt an in die Runde, um Kleinwild ausfindig zu machen, ein Morasthuhn, eine Doppelschnepfe, einen Goldregenpfeifer, eine Ente zu erlegen. Unsere geringen Vorräthe so viel als möglich schonend, hockten wir, falls die geringste aller Dianen dienenden Nymphen uns hold gewesen war, um das mühsam genährte Feuer, je männiglich ein so unbedeutendes Gewild am Spieße bratend, so gut es eben gehen wollte. Wirklich zu sättigen aber vermochten wir uns nicht mehr.
Wir erreichten, nachdem wir die von Sehungei gezogene Todesstraße gekreuzt, das erste Ziel, die Bodarata; wir hatten das unnennbare Glück, noch einmal Tschums aufzufinden, noch einmal auf Renthiere zu stoßen; wir zogen mit deren Hilfe dem Meere zu und mußten umkehren, ohne unseren Fuß auf den Strand gesetzt zu haben. Vor uns lag nicht allein ein unwegsamer Morast, sondern wiederum ein unabsehbarer Haufen von Renthierleichen; wir standen noch einmal vor der Straße, auf welcher Sehungei heimwärts geflüchtet war, und unser neuer Bekannter, der Hirt Sanza, wagte nicht, diese Straße zu kreuzen.
Denn auch unter seiner Herde mähete der Schnitter Tod; auch sein und, noch ungleich mehr, seines Nachbarhirten Haus hatte das Verderben heimgesucht. Der Mann, welcher bisher mit ihm gewandert, geweidet, hatte von einem milzkranken feisten Renthierhirsche gegessen, welchen er kurz vor dem Tode noch rasch geschlachtet, und er hatte diesen Frevel mit dem eigenen und dem Leben seiner Familienglieder zahlen müssen. Dreimal hatte Hirt Sanza seinen Tschum verrückt und dreimal je ein Grab zwischen den Leichen der gefallenen Renthiere gegraben. Zuerst waren zwei Kinder, dann der Knecht des leichtsinnigen Mannes, am dritten Tage er selbst gestorben und begraben worden. Ein Kind war noch krank und stöhnte unter entsetzlichen Schmerzen, als wir die Reise nach dem Meere antraten. Sein Stöhnen war verstummt, als wir zurückkehrten zum Tschum: denn das vierte Grab hatte inzwischen das fünfte Opfer aufgenommen. Und noch sollte es nicht das letzte sein.
Einer unserer Leute, der Ostjake Hadt, ein williger, immer heiterer, uns lieb und werth gewordener Mann, klagte und wand sich seit vorgestern unter entsetzlichen, mehr und mehr sich steigernden Schmerzen, klagte namentlich auch über zunehmendes Kältegefühl. Wir hatten ihn auf einen Renthierschlitten gelagert, als wir dem Tschum des Hirten zugewandert waren; wir schafften ihn in derselben Weise fort, als der Tschum zum fünften Male verrückt wurde. Unter und zwischen uns lag er klagend und wimmernd am Feuer. Von Zeit zu Zeit erhob er sich, entblößte seinen Leib und ließ die Wärme des Feuers dagegen strahlen. Ebenso brachte er seine erstarrenden Füße gegen die Flammen – daß diese die Sohlen versengten, schien er nicht zu achten. Endlich schliefen wir ein, er wohl auch; als wir jedoch am andern Morgen erwachten, war seine Ruhestätte leer. Draußen aber vor dem Tschum, an einen Schlitten gelehnt, das Antlitz der Sonne zu gekehrt, deren wärmende Strahlen er gesucht, saß er ruhig und still, ohne zu stöhnen oder zu ächzen. Hadt war todt.
Wir begruben ihn wenige Stunden später nach Sitte und Gebrauch seines Volkes. Er war ein ehrlicher „Heide“ gewesen und sollte deshalb auch nach heidnischer Weise bestattet werden. Unsere „rechtgläubigen“ Begleiter weigerten sich, dies zu thun; unsere „heidnischen“ Gefährten verrichteten daher das zwar nicht christliche, aber doch menschenwürdige Werk nur mit unserer Hilfe. Im fünften Grabe lag das sechste Opfer.
Sollte das Grab das letzte gewesen sein? Unwillkürlich legte ich mir diese Frage vor: denn unheimlich wurde es mir und wohl uns allen in diesem Geleite des Todes. Zu unserem Glücke war Hadts Grab das letzte auf diesem Wege.
Ernst, sehr ernst gestimmt, bedrängt auch durch den immer fühlbarer werdenden Mangel zogen wir weiter, der Schtschutschja wiederum entgegen. Sanza ernährte nothdürftig unsere Leute, unsere Jagdkunst in kärglicher Weise uns selber. Als es uns gelang, an einem einzigen Vormittage eine Familie von Gänsen zu erbeuten und dazu noch Hühner und Schnepfen und Regenpfeifer zu erlegen, feierten wir ein Fest; denn wir waren einmal im Stande zu essen, ohne mit den Bissen zu kargen. Ohne die Hilfe unseres Wirthes aber würde es uns doch kaum möglich gewesen sein, uns durchzuhelfen.
Wir erreichten die Schtschutschja; wir langten, von allen Vorräthen fast entblößt, wiederum auf unserem Boote an und schwelgten hier nach vierzehn Tagen zum ersten Male wieder in zwar sehr bescheidenen, für uns jedoch unschätzbaren, langentbehrten Genüssen. Von der Tundra nahmen wir Abschied für immer.
Ein Schamane freilich, welchen wir weiter oben am Ob mit Fischen beschäftigt fanden und baten, uns eine Probe seiner Kunst und Weisheit abzulegen, verkündete uns, nachdem er durch den dumpfen Klang seiner Trommel Jamaul, den ihm befreundeten Boten der Götter, herbeigerufen, als Botschaft der Himmlischen, daß wir schon im nächsten Jahre wiederum in das unwirthliche Land, welches wir soeben verlassen, zurückkehren, dann aber dahin uns wenden würden, wo Schtschutschja, Bodarata und Ussa ihren Lauf begonnen, denn zwei Kaiser würden uns belohnen, unsere „Aeltesten“ mit unseren Schriften zufrieden sein und uns von neuem aussenden. Auf dieser Reise aber werde fernerhin kein weiterer Unfall uns treffen. So habe sich der Götterbote, nur ihm vernehmbar, geäußert. Der letzte Theil seiner Weissagung ist eingetroffen.
Langsam zwar, aber ohne Unfall oder störende Zwischenfälle fuhren wir 23 Tage lang den Ob aufwärts, drei Tage mit einem nach langem Harren glücklich erreichten Dampfschiffe den Wellen des Irtisch entgegen. Ohne Unfall, wenn auch nicht ohne Hemmnisse, überschritten wir den Ural; rasch glitten wir im bequemen Dampfer die Kama hinab; langsamer trug uns das Schiff die Wolga hinauf. In Nischni Nowgorod, in Moskau, in Petersburg wurden wir freundlich empfangen wie das erste Mal, in der Heimath freudig begrüßt. Unsere „Aeltesten“ scheinen auch mit unseren Schriften zufrieden zu sein – zur Tundra zurück aber ziehen wir, ziehe ich wenigstens nicht wieder.
- ↑ In Anbetracht des Interesses, welches in letzter Zeit die geplante „russische Pacificbahn“ und die Eröffnung der ersten Strecke derselben bis Tjumen in weiteren Kreisen erregt haben, dürfte dieser Reisebericht A. E. Brehms unseren Lesern um so willkommener sein, als er die früheren Zustände in denjenigen Ländern schildert, welche jetzt zum Theil dem Dampfroß erschlossen worden sind. D. Red.