Ein sächsischer Schulmeister im Mormonenlande

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Textdaten
<<< >>>
Autor: Moritz Lindeman
Illustrator: {{{ILLUSTRATOR}}}
Titel: Ein sächsischer Schulmeister im Mormonenlande
Untertitel:
aus: Die Gartenlaube, Heft 49, S. 794–796
Herausgeber: Ernst Keil
Auflage:
Entstehungsdatum:
Erscheinungsdatum: 1873
Verlag: Verlag von Ernst Keil
Drucker: {{{DRUCKER}}}
Erscheinungsort: Leipzig
Übersetzer:
Originaltitel:
Originalsubtitel:
Originalherkunft:
Quelle: Scans bei Commons
Kurzbeschreibung:
Eintrag in der GND: {{{GND}}}
Bild
[[Bild:|250px]]
Bearbeitungsstand
fertig
Fertig! Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle Korrektur gelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
Um eine Seite zu bearbeiten, brauchst du nur auf die entsprechende [Seitenzahl] zu klicken. Weitere Informationen findest du hier: Hilfe
Indexseite

[794]

Ein sächsischer Schulmeister im Mormonenlande.


Für den in transatlantischen Ländern reisenden Deutschen ist es von besonderem Interesse und Reiz, das Leben und Streben, Treiben und Ringen unserer Landsleute in der Fremde zu sehen und zu beobachten, wie im Kampf mit fremdartigen Verhältnissen, mit heterogenen Lebensbedingungen, in freiem Spiel der Kräfte einer tüchtigen Persönlichkeit die eigenthümlichen Vorzüge und Schwächen des Stammes, dem das Individuum durch Geburt und Erziehung angehört, erst recht sich herausbilden und markiren. Wenn man nun aber meine speciellen Landsleute, die „Königreich-Sachsen“, zum Beispiel in den Vereinigten Staaten in den mannigfachsten Lebensstellungen und auf den verschiedensten Niveaus der bunten Erwerbsthätigkeit wiederfindet, welche jene wunderbare amerikanische Welt bald aus dem Rohen im großen Style gestaltet, bald durch den Luxus raffinirter großstädtischer Uebercultur künstlich erzeugt, und sie in solcher Lage beobachtet, so widerspricht dies keineswegs obigen Beobachtungen. Ist doch das Königreich Sachsen selbst mit seiner stammlich gemischten Bevölkerung im hohen Grade ein Mikrokosmos, eine kleine aber ganze Welt, deren geistig und wirthschaftlich reichverzweigtes Leben alle Elemente und Hülfsquellen eines großen Staates im Kleinen wiederspiegelt. Kunst und Wissenschaft, Industrie und Landwirthschaft, Bergbau und Waldwirthschaft finden sich gleichmäßig vertreten und entwickelt in dem Ländchen, das auf seinen zweihundertfünfundsiebenzig Quadratmeilen eine mannigfaltige geographische Gestaltung aufweist und selbst von einer zum Meere führenden Wasserstraße durchzogen wird. Nach mannigfachen Begegnungen mit speciellen Landsleuten, die alle, auf sehr verschiedenen Wegen freilich, dem allgemeinen Ziele des Gelderwerbs zusteuerten, überraschte es mich aber doch in hohem Grade, als ich im Herbst 1872 in der großen Salzseestadt unter den Erziehern des heranwachsenden Mormonengeschlechts, ja als einen der Aeltesten der Mormonenkirche, ein Dresdener Kind, einen ehemaligen Lehrer einer dortigen Volksschule, Herrn M., fand.

Der Weg, welcher diesen Mann vom Katheder jener Schule zum Lehrertisch in der Mormonenschulclasse geführt hat, wo wir ihn zuerst, umgeben von seinen Schülern und Schülerinnen, fanden, ist ein krauser, seltsamer gewesen. Ich will mein merkwürdiges Zusammentreffen mit diesem Mann kurz zu schildern versuchen.

Am Abend des 14. October 1872 war ich mit zwei werthen Landsleuten, Touristen gleich mir, in der großen Salzseestadt angekommen. Wir hatten uns im Townsend-House einquartiert, einem Hôtel, das, geleitet von einem dreifach beweibten Mormonen, in der That in Einrichtung und Verpflegung eine dieser vierfältigen Direction entsprechende Vielseitigkeit der Fürsorge nicht vermissen ließ. Am anderen Morgen suchten wir alsbald einige Herren auf, an welche uns verschiedene Landsleute in schon von uns besuchten Städten der Union behufs Auskunft und Führung adressirt hatten. Allein vergeblich waren unsere Nachfragen. Die Herren waren eben nicht aufzufinden, da sie gestorben oder weiter nach Westen, nach irgend einem unbekannten Bergstädtchen Montanas oder Idahos, gezogen waren. Was nun beginnen? Wir schlenderten durch einige der breiten, wohlchaussirten, von dem bekannten Stadtbach durchströmten und mit freundlichen villenartigen Häusern besetzten Straßen zur schattigen Veranda unseres Gasthauses zurück und ließen uns das Adreßbuch geben. Vielleicht, daß wir auf diesem Wege einen gefälligen Cicerone durch das Rom der Mormonen und mit seiner Hülfe Gelegenheit zu einer Unterredung mit ihrem Papste Brigham Young erlangen könnten. Und siehe da, wir fanden in der That einen deutschen Namen mit dem Beifügen: Professor an der Universität, Aeltester der Mormonenkirche und Schuldirector. Die Salzseestadt, welche mit weit größerem Rechte als Chicago den Namen der Gartenstadt führen könnte, streckt sich weithin in dem Thale, welches die in edlen Formen sich erhebende Kette der Wahsatchberge begrenzt. Die Wohnung unseres Schulmeisters lag so ziemlich am Ende der Stadt. Wir mietheten daher eine Droschke – für drei Dollars die Stunde – und fuhren hinaus, an dem Tempel mit seinem Schildkrötendach und an der Residenz Brigham’s und seiner Weiber vorüber, die noch von der mächtigen Steinmauer umgeben ist, welche früher zum Schutz der bei Indianerangriffen dahin mit Weib und Kind sich flüchtenden Schaar der Heiligen aufgeführt worden ist. Auch an dem berühmten Adlerthor, das sich mit seinem aus Holz geschnitzten Aar gar wunderlich ausnimmt, führte uns unser Weg vorüber und dann auf staubigem, von Fruchtgärten besäumtem Wege weiter, bis der Wagen vor einem länglichen niedrigen Hause hielt.

Ohne Zögern traten wir über ein paar Stufen ein und sahen uns sofort im Schulzimmer; auf den Schulbänken saß eine Schaar meist gesund und blühend aussehender Kinder, Knaben und Mädchen durcheinander, in zwei Abtheilungen, von einem jüngeren und einem älteren Lehrer unterwiesen. Der letztere trat auf uns zu und bezeichnete sich uns als der Gesuchte, ein Mann mittlerer Größe, frischen Aussehens und kräftiger Gesundheit, nicht bebrillt und mit einem wenig schulmeisterlichen Wesen, so daß man ihn eher für einen deutschen Farmer hätte ansehen können. Er reichte uns, nachdem er unser Anliegen vernommen, freundschaftlich die Hand und versprach uns für den Nachmittag seine Führung, indem er uns einlud, seiner Lection beizuwohnen, was wir denn auch thaten. Während nun Herr M. seinen Schülern und Schülerinnen – die natürlich zum großen Theil aus polygamischen Ehen stammten – die beste Methode der Zinsenrechnung, des sogenannten compound interest, wie der technische Ausdruck der amerikanischen Schulterminologie lautet, lehrte, war auf der anderen Seite des ziemlich großen Raumes ein anderer Lehrer bemüht, seiner Schülerabtheilung einen elementaren Theil des stets auf die praktischen Bedürfnisse des Lebens berechneten Schulprogramms beizubringen. Um nicht zu stören, schieden wir bald, mit der Verabredung des Wiedersehens am Nachmittage. Bei aller Achtung vor den Leistungen der Verwaltung Brigham Young’s fiel doch die Parallele zwischen diesem dürftigen, räumlich so beschränken Schulhause und dem am Abend von uns besuchten geräumigen und luxuriös ausgestatteten Theater, dessen Baukosten zum großen Theil aus kirchlichen Mitteln flossen, zu dessen Ungunsten aus.

Unter der Führung des Herrn M., der sich uns in der liebenswürdigsten Weise während der beiden Tage unseres Aufenthaltes in der Salzseestadt widmete, durchstreiften wir die Salzseestadt und ihre nächste Umgebung; wir besuchten vor Allem das alte und das neue Tabernakel, den Tempelbau, der, nach einem Plane des Propheten selbst begonnen, ein großartiges Werk zu werden verspricht, wenn er je vollendet wird, sodann das „naturwissenschaftliche Museum“, ein Sammelsurium à la Barnum im Kleinen, unter dessen hervorragenden Stücken uns unter Anderem eine Ziethenhusarenpatrontasche, die Portraits von Kaiser Wilhelm und seinen Getreuen und das Bild einer Scene aus der Schlacht von Sadowa mit Stolz gezeigt wurden.

Die Merkwürdigkeiten der Salzseestadt sind, wie das Mormonenthum selbst, seine Entstehung und Lehre, zu bekannte Themata der Darlegung und Schilderung, als daß ich es unternehmen möchte, dieselben nach meinen Eindrücken und Erfahrungen wiederzugeben. Auch hier bewährte sich mir die alte Wahrheit, daß das Meiste in der Wirklichkeit doch ganz anders ist, als die aus den verschiedensten Berichten und Meinungen kaleidoskopartig zusammengesetzte Vorstellung uns annehmen ließ. Jedenfalls bleibt mir von allen empfangenen Eindrücken der als mächtigster bestehen, daß die Niederlassung der Heiligen der letzten Tage hier zwischen dem großen Salzsee und den höchst imposanten und herrlichen Wahsatchbergen eine große colonisatorische That ist, die in der Geschichte der Besiedelung des amerikanischen Westens eine bedeutende Stellung einnimmt. Wie man auch über die Mormonenlehre und ihre Auswüchse, die Polygamie, die Gefangenhaltung der Geister, den Zehnten etc. denken mag, in den fünfundzwanzig Jahren, seitdem die ersten Mormonenschaaren von Nauvoo, flüchtend vor einem fanatisirten Mob, hier in dem öden, unfruchtbar scheinenden, nur von Büffeln und ihren weißen und rothhäutigen Verfolgern belebten Thale einzogen und ihre Zeltpfähle steckten, bis heute ist Großes hier vollbracht worden. Das zeigt sich uns, wo wir auch hinschauen. Das vermochte allein die schaffende Kraft unseres Jahrhunderts, der Geist der Association, der hier noch dazu durch eine religiöse Idee getragen wird. In der Bethätigung dieser Gemeinsamkeit auf allen [795] Gebieten des Lebens, vornehmlich dem wirthschaftlichen, liegt meiner Ansicht nach das Geheimniß der Erfolge dieser merkwürdigen Secte der christlichen Kirchen.

Eine der weniger bekannten Schöpfungen dieser Art ist die Zion-Cooperative-Mercantile-Institution. Die „Z. C. M. I.“, wie sie in der amerikanischen Geschäftssprache kurz bezeichnet wird, ist eine großartige Productiv- und Verkaufsgenossenschaft, gegründet auf Actien für fünfzig Dollars, deren Unterbringung bis zum Gesammtbelauf von einer halben Million Dollars von vornherein durch Ursprung und Zweck des Unternehmens, als eine wirthschaftliche Stütze der Kirche, gesichert war. Wir besuchten das Hauptdepot in einem der schönsten steinernen Gebäude der Stadt, welches natürlich Eigenthum der Stiftung ist. Dort wurden wir von Herrn M.’s Bruder, der, ebenfalls früher Lehrer, ihm nachfolgte, empfangen. Er ist einer der Leiter des natürlich auch durch Young und zwar im Jahre 1868 gegründeten Instituts. Nach Young’s eigener Erklärung belief sich im Frühjahr dieses Jahres das einbezahlte Actiencapital auf nahe 750,000 Dollars. Das Waarenlager hatte einen Werth von anderthalb Million Dollars. Die Einkäufe für das zweite Halbjahr 1872 betrugen anderthalb Million Dollars Papier und 140,000 Dollars Gold. Die in sechs Monaten gemachten Geschäfte erreichten die Summe von zwei und einer halben Million Dollars und die für das letzte halbe Jahr ausbezahlte Dividende betrug zehn Procent.

Auf der Geschäftsempfehlungskarte sehen wir den Bienenkorb, das Symbol der Mormonen, mit der Umschrift: „Holiness to the Lord“. Auch Herrn M.’s Bruder bewährt in dieser Stellung die angeborene sächsische Vielseitigkeit. Die Verkaufshalle und die Waarenlager an Schnitt-, Kram- und Eisenwaaren, Mobiliar, Ackerbaugeräthen und Maschinen etc. kann man kaum eleganter und reichhaltiger in einer der großen Städte des Ostens finden. Alles, was der tägliche Bedarf erfordert, ist hier und in den zahlreichen Filialgeschäften der Stadt und des Territoriums zu haben. Die Institution hat auch eine Apotheke. Sie fabricirt auch in verschiedenen Spinnereien und einer Schuhwaarenfabrik viele ihrer Verkaufsartikel selbst. Die Kundschaft und die gute Rente kann natürlich bei der ganzen Organisation nicht fehlen. Auch das Theater der Salzseestadt, welches wir mit Herrn M. besuchten, ist kein Privatunternehmen; auch da bethätigt sich der Mormonismus. Der Prophet beschaffte die Mittel, hundertfünfzigtausend Dollars, zu dem kostspieligen Bau des stattlichen Gebäudes. Die Schauspieler sind großentheils mormonische Dilettanten; Repertoire und Leitung stehen unter Brigham’s Einfluß. Das Innere ist elegant, in Weiß und Gold decorirt, die Sitzplätze der vier Ränge sind freilich Holzbänke, nur die Sperrsitze gleichen denen unserer Theater. Der Prophet hat hier natürlich eine Reihe reservirter Plätze für seine Gattinnen, Söhne und Töchter; ihm selbst ist eine prächtig ausgeschmückte Prosceniumsloge gewidmet.

„The mixed marriage“ war der ominöse Name des Stückes, welches heute mit einem Gast aus New-York in der Hauptrolle gegeben wurde. Der Inhalt bestand, kurz gesagt, darin, daß ein junger Mann von zwei Frauen geliebt wird, allerlei böse Schicksale, ja sogar die Verurtheilung zum Tode erfährt, und zuletzt neben der einen ihm bereits angetrauten Auserwählten die andere, welche nicht von ihm lassen will, als „Schwester“ acceptirt. Jeder Act endete natürlich mit einem Knalleffect und zwar unter gehöriger Steigerung: der erste mit einer Ohnmacht, der zweite mit einem Fluch, der dritte mit einem Durchbruch durch das Eis, der vierte mit einem tödtlichen Axthieb. Dieses Alles wurde aber durch das in bengalischem Feuer strahlende Schlußtableau überboten: man sieht den Bösewicht am Galgen hängen – in der That ein unverdientes Schicksal, denn der treffliche New-Yorker Schauspieler war es allein, der dem abgeschmackten Stück das Interesse des Publicums zu erhalten wußte. Glücklicherweise betreibt der Bösewicht das Geschäft hier in der Salzseestadt schon seit mehreren Wochen, ohne merklichen Schaden an seiner Gesundheit zu leiden. Das Stück wurde schon seit längerer Zeit allabendlich gegeben, daher die Leere des Hauses. Nur hie und da sieht man eine junge, hübsche Mormonin, gekleidet in die schreiend bunten Farben der amerikanischen Mode. Auch die beiden Herren Söhne des Präsidenten Young, welche vor uns auf den sonst leeren Sitzreihen der Young’schen Familie Platz genommen hatten, schienen das Stück schon oft gesehen zu haben; die Burschen, im Alter von zwölf bis vierzehn Jahren, langweilten sich; der eine hatte sich der Länge nach ungenirt auf einer Sitzreihe gelagert; zur Abwechselung bewarf er einen anderen Burschen, der ebenfalls auf einer leeren Bank lag, mit Crackers. Ein zweiter dieser hoffnungsvollen Blüthen des zukünftigen Mormonenthums schaukelt sich, den Hut auf dem Kopf, auf einem Rollstuhl, der extra zur Benutzung für eine der älteren Frauen Brigham Young’s hingestellt ist.

Unter der Veranda unseres freundlichen Hôtels bei einer Tasse Kaffee sprach sich Herr M. uns gegenüber offen und schlicht über die Mormonenlehre und das, was er für das Wesentliche derselben halte, aus. Er ist felsenfest überzeugt, daß die Mormonenkirche noch eine große Zukunft habe und daß alle Verfolgungen und Anfeindungen, welchen sie besonders durch die „Frömmler in Massachusetts“ ausgesetzt sei, ihr nur zum Segen gereichen können. Auch die Polygamie vertheidigte unser mormonischer Landsmann und wies darauf hin, daß sie einen Schutz gewähre gegen die Prostitution (!). Die Geschichte seiner Bekehrung gebe ich so, wie sie mir nach seiner Erzählung im Gedächtniß liegt. Hier ist sie:

„Ich war Lehrer an einer der Volksschulen in Neustadt-Dresden und gehörte einem Verein an, in dessen Kreise populärwissenschaftliche Vorträge gehalten zu werden pflegten. Die Reihe kam an mich, und ich wählte, angezogen durch die Lectüre des Buches von Moritz Busch, das Thema: ‚Die Mormonenlehre‘. Allein ich wünschte mir eine selbstständigere Auffassung, ein gründlicheres Verständniß von der Sache zu verschaffen, und schrieb, da ich wußte, daß die Mormonenkirche Missionäre, namentlich in den skandinavischen Ländern, unterhalte, an einen Freund, der in Kopenhagen lebte. Einige Zeit verging, ohne daß ich Antwort erhielt. Die Mormonenlehre beschäftigte mich indessen vielfach, da ich mir sagen mußte, daß viele Zweifel, Widersprüche und Ungewißheiten, welche mir bisher beim Religionsunterricht über manche wichtige Punkte geblieben waren, in der Mormonenlehre auf die einfachste, für mich zusagendste Weise gelöst waren. Etwas Außerordentliches sollte sich aber zutragen, um mich zu bekehren. Ich gab dem Sohne einer polnischen Gräfin Privatstunden. Eines Tages, als ich zur gewöhnlichen Zeit meinen Schüler besuchte, war derselbe verhindert, und ich daher genöthigt, im Gartensalon des Hauses zu warten. Hier eine längere Zeit allein und über allerlei nachdenkend, vernahm ich plötzlich mit dem geistigen Ohre ein längeres Gespräch, das ich mit einem unbekannten Manne führte, zuerst über gewöhnliche Dinge, dann über Grundfragen des Mormonismus. Nach einiger Zeit trat Jemand ein – Alles war vorüber.

Wer schildert mein Erstaunen, als ich bald darauf den Besuch eines Fremden empfing, der sich mir als ein Aeltester der Mormonenkirche, aus Kopenhagen stammend, vorstellte. Bei meiner damaligen geringen Kenntniß der englischen Sprache und da er des Deutschen nicht mächtig war, wurde das Gespräch nur mangelhaft geführt. Unter der Firma des Sprachunterrichts blieb der Aelteste einige Zeit in Dresden und ich eignete mir von dem Manne, der eine stattliche, hohe Gestalt hatte, und das Wort mächtig führte, doch Einiges über die Mormonenlehre an.

Eines Abends ging ich mit ihm über eine der Elbbrücken, und hier begann Wort für Wort jenes Gespräch, das ich damals im Gartensalon der Gräfin im Voraus vernommen hatte. Seitdem stand mein Entschluß fest, zur Mormonenkirche überzutreten; meine Frau wollte ihr Schicksal nicht von dem meinen trennen, und so gab ich, fest gegen alle Versuche meiner Freunde, mich zurückzuhalten, meine Stellung auf. Zu meiner Taufe traf ein Apostel der Mormonenkirche von London ein. Dieser Act wurde, natürlich heimlich, Abends spät, am Ufer der Elbe, oberhalb der Stadt vollzogen. Als ich aus dem Wasser kam und meine Kleider angethan hatte, nahmen mich beide Glaubensgenossen unter den Arm und wir gingen nach der nächsten Station der böhmischen Bahn.“

Herr M. versicherte uns, daß auf diesem Wege auch seine mangelhafte Kenntniß des Englischen verschwunden sei, und er jedes Wort, das die Beiden zu ihm sprachen, verstanden habe, bis der Pfiff der Locomotive plötzlich das Gespräch störte und unterbrach.

Bald darauf zog Herr M. mit seiner Frau, die auch Mormonin wurde, nach der Salzseestadt. Er hat übrigens von [796] dort seine Geburtsstadt Meißen einmal besucht, bei Gelegenheit einer Mission, die er im Auftrag der obersten Kirchengewalt nach der Schweiz unternahm. Herr M. ist bisjetzt nur theoretischer Polygame. Der Unterhalt mehrerer Frauen soll auch in der Salzseestadt unverhältnißmäßig kostspielig sein.

Unser freundlicher Cicerone führte uns, wenige Stunden vor unserer Abreise, noch zum Präsidenten Brigham Young. Wir wurden in ein Gartenzimmer des großen Gebäudecomplexes geführt, welches den Namen: the President’s house trägt. Hier, in einem einfach möblirten, mit einigen in Oel gemalten Portraits von Propheten der Mormonenkirche geschmückten salonartigen Comptoir, pflegt Young seine Visiten zu empfangen und seine zahlreichen weltlichen Geschäfte, die ihm als Eisenbahn-, Bank- und Zioninstituts- etc. Director obliegen, zu erledigen. Bald erschien er denn auch und wandte sich nach einem kurzen Gespräch mit einem seiner Söhne zu uns, indem er uns die Hand bot. Er hat eine kurze gedrungene Gestalt, mit mächtigem Kopfe, hoher Stirn, unruhigen, lebhaften Augen von grünlicher Farbe, breiten Lippen, vorspringendem Kinn. Das Haupt des Einundsiebzigers war noch vollständig mit zurückgelegten, blonden, graugemischten Haaren bedeckt; den unteren Theil des Gesichts umschloß ein röthlicher Backenbart. Der „Präsident“ war im Morgenrock und hatte, von einer Eisenbahnexcursion des vorhergehenden Tages erkältet, ein dickes wollenes Tuch um den Hals geschlungen. Er schien denn auch noch jetzt indisponirt, denn er lispelte nur. Auf Anregung von unserer Seite sagte er einige Worte über die Schwierigkeit, welche die Gründung der Salzseestadt gemacht, über die Eisenbahnen, welche gebaut und noch zu bauen. Er erzählte uns, daß er zwar in Europa, nämlich in England, aber noch nie in Deutschland gewesen. Schließlich ersuchte uns der Secretair, ein junger Mann, dessen Schauspielertalent wir am Tage vorher im Theater hatten bewundern können, unsere Namen in das Fremdenbuch zu schreiben, und darauf empfahlen wir uns.

Eine Stunde später schieden wir unter herzlichem Händedrucke von unserem Freunde, Herrn M. Seiner Gefälligkeit hatten wir es zu verdanken, daß wir die kurze Zeit unseres Aufenthaltes vollständig ausnutzen konnten. Ich habe nichts wieder von ihm gehört und rufe ihm daher durch dieses auch drüben so viel verbreitete Blatt nochmals einen landsmännischen Gruß zu. Die Zeitungen brachten kürzlich Allerlei über den Propheten. Sie meldeten, daß er, der vielen Anfeindungen müde, sich nach Arizona begeben und dort eine neue mormonische Colonie gründen wolle. Sie theilten auch mit, daß ihn eine seiner Frauen wegen Polygamie angeklagt habe, und daß die Regierung überhaupt der Polygamie in Utah ein Ende machen wolle. Was daran Wahres ist, habe ich bis jetzt nicht ermitteln können, wohl aber liegt mir eine Erklärung Young’s vor, die er vor einiger Zeit im „New-Yorker Herald“ veröffentlichte. Dieselbe wurde meines Wissens bis jetzt nur durch wenige Zeilen auf telegraphischem Wege in Deutschland bekannt. Demnach hat der Prophet allerdings einige von seinen weltlichen Aemtern und namentlich die Präsidentschaft der obengenannten Institute niedergelegt, dagegen, so heißt es in der Erklärung, bleibt er Präsident der mormonischen Kirche. Er sagt:

„In dieser Eigenschaft werde ich fortfahren, die Oberaufsicht über kirchliche und weltliche Angelegenheiten zu führen, indem ich die Details jüngeren Männern überlasse. Wir beabsichtigen, in Arizona, im Lande der Apaches Niederlassungen zu gründen. Wir sind überzeugt, daß, wenn wir mit diesen Indianern bekannt geworden sind, wir sie zum Frieden in Uebereinstimmung mit der Indianerpolitik des Präsidenten Grant bewegen und jenes Land den Weißen zu Niederlassungen zugänglich machen können. Unsere Städte, Ortschaften und Dörfer erstrecken sich jetzt über vierhundert Meilen nach jener Richtung hin.“

Mit folgenden charakteristischen Worten schließt der Prophet seine Erklärung:

„Das Resultat meiner Arbeiten während der letzten sechsundzwanzig Jahre ist kurz zusammengefaßt folgendes: Dies von den Heiligen des jüngsten Tages bevölkerte Territorium zählt jetzt gegen hunderttausend Seelen. Mehr als zweihundert Städte, Ortschaften und Dörfer sind gegründet und von den Unsrigen bewohnt. Dieselben erstrecken sich im Norden bis Idaho, im Osten bis Wyoming, im Westen bis Nevada, im Süden bis Arizona. Schulen, Fabriken und andere Anstalten, welche dem Fortschritte und der Wohlfahrt unseres Gemeinwesens dienen, sind gegründet worden. Alle meine Unternehmungen und Arbeiten sind in Uebereinstimmung mit meinem Berufe als Diener Gottes ausgeführt worden. Ich erkenne keinen Unterschied zwischen geistlichen und weltlichen Arbeiten an. Es hat Gott gefallen, mich mit Wohlstand zu segnen, und als treuer Verwalter wende ich denselben an zum Wohle meiner Mitmenschen, um deren zeitliches Glück zu fördern und sie zugleich für die künftige Welt vorzubereiten. Mein ganzes Leben ist dem Dienste des Allmächtigen geweiht. Während ich bedaure, daß meine Mission von der Welt nicht besser verstanden wird, bin ich überzeugt, daß die Zeit, da ich verstanden werde, kommen wird. Das Urtheil über mein Wirken und dessen Ergebnisse stelle ich der Zukunft anheim.“

Einsichtige Kenner der Verhältnisse sind freilich der Meinung, daß das Mormonenthum sich schon jetzt in einer höchst bedenklichen Krisis befinde, da der Silberbergbau Utahs jährlich große Schaaren nichtmormonischer Einwanderer heranziehe. Mit jedem Jahre wächst die Zahl der Nicht-Mormonen auch in der Salzseestadt sehr bedeutend, wie wir dies von den Heiligen selbst hörten. Die Neigung der jungen mormonischen Damen, sich mit Nicht-Mormonen zu verheirathen, ist im entschiedenen Zunehmen. Wenn aber erst der Prophet das Zeitliche gesegnet hat, so werde, meint man, die neue Kirche schnell und schneller einem unaufhaltsamen Verfalle und schließlich ihrer Auflösung entgegengehen.

     Bremen.
M. Lindeman.