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Heimath (Wilbrandt)

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Textdaten
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Autor: Adolf Wilbrandt
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Titel: Heimath
Untertitel:
aus: Die Gartenlaube, Heft 50–52
Herausgeber: Ernst Keil
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Entstehungsdatum:
Erscheinungsdatum: 1867
Verlag: Verlag von Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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Quelle: Scans bei Commons
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[785]
Heimath.
Eine Novelle in Briefen von Adolf Wilbrandt.
Briefe Friedrich’s an seine Schwester.


Erster Brief.

Meine liebe Julie, in der Heimath wär’ ich nun also wieder, und das ist es, was ich Dir heute, nach so langen, stummen Zeiten, sagen will; aber – laß mich Dir im Vertrauen sagen: jene stummen Zeiten waren besser! Ich war zum Schreiben zu glücklich, darum schwieg ich. Jetzt, scheint mir, schreib’ ich, weil kein Mensch mir sagen kann, was ich Besseres thun sollte. Ich könnte zwar spazieren gehen, denn wie meine kleine, aufgeregte Madame Winter sagt, das Wetter ist „göttlich schön“, der Himmel blau wie ihr Halstuch, Flieder und Goldregen sehen mir in’s Fenster, die Morgensonne scheint in hundert singende Amsel- und Finkenkehlen hinein; es fehlt nichts als – – Ja, kurz, ich könnte im Morgensonnenschein spazieren gehen. Nur – wohin? Ich weiß hier Alles auswendig. Daß der Weizen und Roggen gut stehen – zehn Meilen in die Runde, auf dieser flachen Erdscheibe – hat mir mein Hauswirth heute früh erzählt. Um die alte Stadtmauer bin ich erst gestern gegangen. Des Nachbars Kohl wird sich seit dem letzten Sonntag wenig verändert haben. Und so sitz’ ich hier und denke einstweilen an Italien, das dort hinüber liegt, jenseits aller Berge. – Ach, mein Italien! Ich hab’ es ungern verlassen.

Julie, wie ich es verließ, das erzähl’ ich Dir ein ander Mal. Mir waren die blauen Meere, die ernsten Flächen, die stillen, vornehmen Berge, die lichten Lüfte lieb wie Menschen geworden. Nun erwach’ ich hier von meinem Traum, im nordischen „Idyll“, im guten Kleinstädternest, und fühle mich ohne Menschen, ohne Luft und Licht, einsam, einsam. Mir ist, wenn ich dieses mein Vaterstädtchen betrachte, wie wenn ich in die Rumpelkammer gerathen wäre und meine alte, wurmstichige, schwerbeinige Wiege wiedersähe. Man hat mich einst sanft und lieblich drin geschaukelt, aber wer wird mit ausgewachsenen Beinen in seine Wiege zurückkriechen? – „Undankbarer!“ sagt meine gute Schwester Julie. Ach, wenn ich Dir’s erklären könnte, was mich in Deinen Augen undankbar macht! wie Einem da unten im „gelobten Land“ die Augen aufgerissen, gefüllt, verwöhnt werden! Wenn ich nun hier umherschlendere und die grell grünen Wiesen anstarre, die hellen Häuser, die philisterhafte Reinlichkeit, die Pappelalleen, – und hinter den kleinen Mauern die kleinen Menschen, die rothen Gesichter und Hände, die – – doch ich will Dich nicht beleidigen; besser, den Mund halten, als die Weisheit fliegen lassen! Ja, ich sollte lieber spazieren gehen oder zu meinen Folianten zurückkehren, als eine mißmuthige Epistel schreiben. Ich sollte –

Meine kleine Madame Winter unterbricht mich eben, die Haushälterin – Du mußt sie kennen, sie hat Dich auf Deinen ersten Schulgängen mit der Schiefertafel am Arm begleitet, wie sie mir erzählt hat. Ich soll Dich von ihr grüßen, bittet sie mit ihrer fettweichen Stimme, wobei sie an der Wand hinfährt und meine Kupferstiche und Photographien zum sechsten Mal abstäubt. Meine einzige gute Gesellschaft, diese Bilder: lauter italienische Erinnerungen, Rom, Neapel, Venedig, und weil ich so oft davor stehe und voll Sehnsucht auf ihnen herumwandere, so denkt Madame, daß sie alle drei Stunden einmal abgestäubt werden müssen. Denn „Reinlichkeit ist ja das halbe Menschenleben“. Als ich hier einzog, lag der frische Sand auf den Fußboden gestreut, noch wie in meinen ersten Jugendzeiten. Ich, ohne Pietät für alte Sitten, hatte nichts Eiligeres, als mir diesen knisternden Teppich für immer zu verbitten. Das war der erste Schmerz, den ich der guten Wittib anthat. Der zweite war, noch ehe sie den ersten verwunden hatte, daß ich ihr die chinesischen Porcellanfiguren mit den wackelnden Köpfen, mit denen sie mir Commode und Schrank geschmückt hatte, in die runden, eingestemmten Arme drückte und sie lachend damit hinausschob. Ich Herzloser lachte, – aber ihr hat ohne Zweifel das rundliche Herz dabei geblutet. Denn was muß sie von einem Menschen denken, der die kleinen, langweiligen, dunklen, angelaufenen Bronzen, die ich mir aus Italien mitgebracht, diesen heiteren, buntbemalten Ungeheuern vorzieht?

– Liebe Julie, verzeihe mir: ich werde dieses unser Wiegennest, dieses Land meiner Jugend, bald wieder verlassen! Hier gedeih’ ich nicht mehr. Unsere Eltern liegen da drunten, und alles Andere, Schwester, ist mir entfremdet. Die Flügel der Empfindsamkeit, die bunten Federn der Knabenträume sind mir ausgerupft. Mich wieder in die alten Gäßchen und Kellerlöcher verlieben, weil mir einst wohl darin war, – dazu fehlt mir das Herz. Wie fühlt’ ich es gestern wieder, als ich auf unseren ersten Spielplatz, den alten Markt, in unser Geburtshaus trat und neben meinem werthen „Gastfreund“, dem Bierbrauers-Eduard, durch das lange Gebäude auf und nieder ging. Es ist Alles noch da: die halbdunkle, hochgewölbte Diele, der mit Brettern gepflasterte Thorweg, die Keller, in denen wir Burgen bauten und Ritter und Mädchenraub spielten, der Boden unter dem Dach, durch dessen Luken wir in die Rinne hinauskletterten und keck zwischen Himmel und Erde spazieren gingen, der große Kaninchenstall und der schmutzige sogenannte „Brunnen“, in den ich mit meinen ersten weißen Frühlingshosen hineinfiel: Alles ist noch da, aber ich fragte mich: wo bist Du geblieben? Mir wurde in den nüchternen Räumen übel zu Muth; ich war wie erquickt, als ich wieder draußen war. Mein [786] eigensinniger Kopf dachte an Marino, an Ariccia, an jeden Ort in Italien, an dem ich die spielenden Kinder beneidet und mir gewünscht hatte: hättest du hier zwischen Felsen und Schluchten, Höhlen und Hügeln, in diesem goldenen Märchen aufwachsen können! Nun sah ich mich wieder in dem backsteinernen Nichts, aus dem ich mir einst ein kümmerliches Etwas gemacht hatte.

Ich ging dann einsam weiter durch die Stadt und an der Stadtmauer hin; die alten Spielplätze! Aus dieser ganzen kleinen Welt war nun das Seelchen entflohen, Alles todt und still. Ich dachte an die Menschen, die sich oft so empfindsam ihre Kindheit zurückwünschen. Wohl mir, dacht’ ich, daß die meine weit, weit hinter mir liegt! und mit ihr alle jene Jugendsentimentalitäten, jene Nebelphantasien, jene Stadtgrabengefühle!

Ja, meine liebe Julie –

Ich habe – um Dich nicht länger auf die Folter zu spannen, liebe Neugier – ich habe auch jene Jugendfreundin wiedergesehen. Auch das war eins der alten Stadtgrabengefühle… Als ich zu ihr ging, hatte ich eben wieder Deinen letzten Brief gelesen, der, wie so viele frühere seinesgleichen, Dein beliebtes Thema variirte: „Ihr werdet doch noch ein Paar!“ Ja, so seid Ihr Frauen: jeden abgerissenen Faden haltet Ihr noch werth und wollt ihn wieder anknüpfen. Und unterwegs war ich in großer Heiterkeit geschäftig, über dieses Thema nachzudenken. Eine so kluge Schwester, dachte ich, der ein allzu leicht aufzuregender Bruder als Student von einem Mädchen zu erzählen liebte, das diese Schwester nie mit Augen gesehen hat; eine rechte Kindergeschichte, in den Jahren erlebt, in denen man sich jedes Nachbarkind zur Dulcinea verzaubert, und diese Heldin eines Kindermärchens soll nun – so will es meine kluge Schwester – ein für allemal mein Verhängniß sein! Dann malte ich mir aus, wie wir uns als Mann und Frau nebeneinander ausnehmen würden, und unwillkürlich sah ich uns in meinem sandbestreuten Zimmer, sie am Fenster in ihren Strickstrumpf vertieft, ich auf meine römischen Kupferstiche starrend, und Beide von Herzen seufzend; die chinesischen Ungeheuer aber nickten ironisch mit den Köpfen, und Madame Winter stand in der offenen Thür und lächelte fett und triumphirend über uns hin… So kam ich vor das Thor hinaus, ohne daß ich es merkte. Ging den alten, wohlbekannten Weg, am Fluß entlang, neben den Mühlen und Schleußen; – denn sie wohnen noch in der alten Wohnung vor dem Mühlenthor. Du kennst das Haus: es ist dasselbe, in dem ich meine ersten Schuljahre versessen habe. Als ich eintrat, erkannte ich sogleich die Treppe wieder, die ich früher – die Hand am Geländer – mit einem prahlerischen Satz heruntersprang. Durch die offene Hofthür sah ich auch den neugeflickten Schuppen, auf dessen Dach ich mit Anna und ihren Freundinnen in guten Zeiten gesessen und ihnen, während der Tag verdämmerte, Märchen erzählt hatte; damals war man verliebt! – Ich stand einen Augenblick draußen still, als eben die alte Tante durch ihr Küchenfenster sah und sogleich leidenschaftlich an die Scheiben klopfte. Ich blickte hinauf, erkannte die grauen Augen und die goldene Brille, – und mir war doch, Julie, als wäre ich in ein verwunschenes Märchenhaus getreten. Indessen, ich sprang beherzt (wie Du nun lachst!) die schmale Treppe hinauf. Oben stand sie schon und wartete – ich meine die Tante. Ich fühlte die herzlich drückende, kleine, magere Hand; „willkommen aus Italien!“ sagte sie nicht ohne Pathos, und ich glaube, wir waren nahe daran, uns in die Arme zu schließen.

Drinnen im Wohnzimmer hörte ich die jungen, hellen Mädchenstimmen durcheinander plätschern. Also sie ist nicht allein, dachte ich; wieder die Cousinen. Richtig, ich fand die ganze Gesellschaft aus jenen Zeiten beisammen: die kleine schnippische Schulcameradin von ehedem, an die sich damals auf Schritt und Tritt Anna’s Arm und Anna’s Herz gehängt hatten, und die beiden mittelalterlichen Cousinen, – damals noch einen Johannistrieb im Busen, aber nun vollends abgesommert. Wir hatten uns nie geliebt und ich es nie verhehlt; so machten wir auch diesmal die Begrüßung kurz und kühl, und am liebsten wäre ich gleich wieder hinausgegangen. Anna sah ohne Ueberraschung von ihrer Arbeit auf – ganz das alte, stille, ruhige Gesicht – und sagte mit einem gewöhnlichen Lächeln: „Bist Du wieder da? Ich dachte, Du wolltest erst zu Johannis kommen.“ Damit trat sie mir entgegen und gab mir die Hand; mit einer so sanften, gelassenen Freundlichkeit, wie wenn ich acht Tage über Land gewesen wäre. Ich gewann es kaum über mich, ihre Hand zu drücken. Ja, Julie, – ungern, mit einem widrigen Gefühl, setzte ich mich auf den Stuhl, den die Tante mir in aller Eile zugeschoben hatte. Die Vogelstimme der guten Alten schmetterte geschäftig um mich herum, mit tausend Fragen nach römischem Wetter und dem Papst und einem vor zwanzig Jahren verstorbenen berühmten Banditen. Die kleine Schulfreundin nahm Hut und Jacke, ging, blieb stehen, hatte noch eine Stadtgeschichte zu erzählen. Unterdessen sah Anna still auf ihre Stickerei, lächelte, wenn die Andern lachten, sah zuweilen auf und sah mich an, mit den beziehungslosen, monologischen Augen, die mich auch früher in blinderen Zeiten so oft in Verzweiflung brachten. Ich fragte, wie es ihr ergehe, sie gab die gebräuchlichen Antworten. Ich wurde endlich stumm und dachte: Und es gab eine Zeit, wo du zum Sterben verliebt warst! Nichts erinnerte mich mehr an meine alten Gefühle – nichts, als daß sie noch die einfachen, tiefen Farben trug, die ich immer so gern an ihr gesehen hatte. Ich mußte sie mit einem schnellen Blick mit den Andern vergleichen, und das ist wahr, zwischen diesen frühlingsbunten Vogelscheuchen saß sie da, wie wenn ein Künstler sie für ein Bild gekleidet hätte. Das warmbraune Kleid, der reizende Halskragen, das glühendrothe Band im dunklen Haar – die ganze Gestalt erinnerte mich an jene glücklichen Tage. Aber ich war nahe daran, wie in lautem Danke aufzuseufzen. Hier hat sich so wenig verändert, dachte ich, und du so ganz –

Eine Viertelstunde hielt ich es noch aus, dann stahl ich mich hastig davon. Die Tante hielt mich am Arm, daß sie ihn mir beinahe ausgerissen hätte: ich müsse auf jeden Fall zum Abend wiederkommen. Ich versprach Alles, um nur zu entrinnen. Diese Luft und der Anblick der Cousinen, das Geschnatter, die alten bekannten Familienköpfe an der Wand, – Alles that mir weh. Nur beim Abschied sah ich Anna noch einmal an und sah zum ersten Mal wieder ihre großen, ihre liebenswürdigen Augen – ich meine den Blick, der einst mit mir machen konnte, was er wollte. Es lag wieder der feuchte Glanz über den beiden Sternen. Mir war, als wenn ich ihr dafür danken müßte, ich drückte ihre Hand so warm, wie jener erste Druck kühl gewesen war; wir gutherzigen Menschen! – Draußen stand ich dann doch mich segnend still, athmete wieder auf, wie einer Höhle entstiegen; ich sah diese Augen nicht mehr, sah nur die Gitterfenster, die Riegel, die schwarzfeuchten Mauern, in die mir ihr Zimmer eingeschlossen schien – ihr Haus, die Straße, die Stadt – Alles, Alles.

Nein, meine liebe Julie, nicht wieder in dieses Gefängniß! Diesen Mauern, diesen Menschen, diesen Zuständen bin ich ganz entwachsen; glaube mir das. Gieb es auf, für mich zu sorgen, Dir mein Glück, meine Zukunft auszurechnen. Wer dankt Dir Deine Mühe, wenn die Rechnung nicht stimmen will? Laß mich als den Schmetterling gelten, der ich bin: an diesem Fliederbusch find’ ich nun nichts mehr zu saugen und flattere weiter.

Könnt’ ich nur, bis ich weiter flattere, hier wenigstens einsam sein! Aber die guten, aufdringlichen Leute! – Am liebsten geh’ ich noch, wenn ich mich über meinen Büchern müde gedacht habe, allein in den Tannenwald, der vor dem Mühlendamm neben der Landstraße ansteigt. Mein alter Freund, Julie: dort hab’ ich früher so oft auf der platten Erde zwischen Nadeln und Zapfen gelegen und den Himmel angeträumt oder den summenden Hummeln meine schwermüthigen Verse vorgetragen. Von dort sieht auch die Stadt recht freundlich aus, mit den hohen Thürmen, und wie sie ihrem alten See das Kinn streichelt, der ihr dafür die dachziegelrothen Füße bespült. Ich habe sie gestern gezeichnet, es war noch ein Blatt in meinem italienischen Skizzenbuche leer; – hernach mußte ich lachen, wie sich meine gute Vaterstadt neben den wilden, grauen Bergstädten, den hohen Klöstern, den buschigen Felsen ausnahm. Aber sowie ich dann ein paar Schritte weiter ging, war’s mit der Einsamkeit aus. Irgend ein verzweifelter Bankerotteur ist auf den Einfall gekommen, an der jungen Tannenschonung, ein paar Schritte von der Landstraße, eine „Einsiedelei“ anzulegen: hölzerne, mit Moos belegte Hütten, Tische und Bänke im Freien – kurz, eine Bier- und Kaffee-Wildniß für unsere gute Stadt. Da ziehen nun Bierbrüder, idyllische Sonntagsfamilien und Kindermädchen hinaus und verderben mir die Einsamkeit.

Doch dieser dritte Bogen ist auch schon wieder zu Ende; klappen wir zu, der Brief ist überlang! Du kennst meine alte Schwäche, entweder gar nicht zu schreiben, oder lang wie ein [787] Buch. Lebe wohl; hier bin ich am rechten Ort, die Zeit mit der Feder zu verplaudern; ob dieser erste Brief auch der längste sein wird?




Zweiter Brief.

Du machst mir Vorwürfe, liebste Julie; ich dachte es wohl: so ketzerische Ansichten über Deine vielgeliebte Vaterstadt! Daß Dein Herz sich dagegen empören würde, das konnte ich wissen. Aber ich muß mich vertheidigen; Herz gegen Herz! „Friedrich, Friedrich,“ schreibst Du, „Du hast die Heimath über dem Ausland verachten gelernt!“ Nein, meine liebe Julie, das ist es nicht. Die tausend Wurzeln und Würzelchen, mit denen mein Leben in diesen Mutterboden eingesenkt ist, die spür’ ich noch alle, die gedenk’ ich auch nicht auszureißen. Es wäre auch eine knabenhafte, vergebliche Bemühung. Hier hab’ ich mein Gesicht bekommen, mein bischen Sprache gelernt, Milch und Luft und Liebe eingesogen; wer stößt das wieder aus? Nein, ich verachte meine Heimath nicht; ich liebe die Fremde nicht mit bundbrüchiger Liebe. Aber das Kleine, Julie, das Dürftige, das Dürre und Nichtige, das fliehe ich, hier wie überall. In der ganzen Welt hab’ ich dem zu entrinnen gesucht; sollt’ ich es hier lieb haben, weil es dieselbe Scholle tritt, auf der ich gehen gelernt? Und so ist es auch mit jenem Mädchen, das Du mir an’s Herz gelegt, das Deine Schwesterphantasie mir angetraut hatte: warum bedachtest Du nicht, wie sehr uns das Leben und die Welt verändern?

„Sie kann sich auch verändern,“ schreibst Du mir. Deine liebe eigensinnige Seele hält den Traum noch fest, spinnt den Faden noch weiter. Indessen ich, Julie, der ich sie täglich sehe – täglich thut es mir leid, in ihr das Bessere durch die dürre, niedrige Umgebung erstickt zu sehen; und wie sie sich in dieser ihrer Verarmung mit Trotz, mit Schärfe und Bitterkeit gefällt, wie sie ihre kleinstädtische Dürftigkeit gegen mich herauskehrt, in jedem unschuldigen Wort den übermüthigen Fremdling wittert, dem sie ihren ganzen kleinen empfindlichen Stolz entgegenstellen muß – kurz, wie sie sich ärmer und elender macht, als sie war, als sie ist. So hat sie’s freilich längst geliebt, mit allen Menschen Komödie zu spielen, mit ihrem Herzen im Versteck zu stehen. Aber warum fühlt sie nicht, wie unliebenswürdig das macht? Warum in einer so jungen Seele diese Schärfe, diese Bitterkeit? Sie hatte es auch früher gern, dies Versteckenspielen, aber da war es übermüthiger, fröhlicher; da bezauberte es einen gewissen blinden, armen Jungen. Jetzt, wenn sie wieder einmal übermüthig wird, jetzt vermisse ich die wahre innere Heiterkeit; ihr Lachen explodirt, die Natur wirft es wie im Krampf heraus, – und was sie dann lustig macht, das sind gewiß die allernichtigsten Dinge.

Ich verklage sie schon wieder; wie rauh ihr das kleine, feine Ohr dabei klingen mag! Warum mußt Du mich auch herausfordern, Dir über junge Kleinstädterinnen meine Meinung zu sagen! – Wenn ich so dasitze, Julie, das sopranhelle Geklatsche meiner kleinen Landsmänninnen höre und im Stillen denke: es ist Sonntag Nachmittag, nun werden deine Freunde durch die römische Compagna streifen! – Die gute Tante hat mich in ihren Händen, sie giebt mich nicht wieder heraus; sie weiß die alten Zeiten trefflich aufzuwärmen. Ihr Herz hatte ich immer; dazu langweilt sie sich und hört über alle Begriffe gern von fremden Ländern erzählen oder lustige Erinnerungen auftischen. So erwartet sie mich täglich zum Nachmittagskaffee, zum Abendessen und läuft voll Unruhe hin und her, wenn ich einmal ausbleibe. Komm’ ich dann später noch, so reißt sie die Thür auf, ruft der Anna, daß sie leuchten soll (wenn ich auch längst die Treppe herauf bin), droht mir in komischer Zornfreude mit der kleinen Faust – denn sie hat eine ungewöhnlich kleine Hand, kleiner als Anna’s – und hat mich schon an’s Sopha geführt und niedergedrückt, eh’ ich so viel Athem schöpfen kann, ihr guten Abend zu sagen. Unterdessen steht Anna mit gekreuzten Armen am Clavier, lächelt auf uns Beide herunter, grüßt mit einem stillen, stillen Kopfnicken, setzt sich endlich geräuschlos auf ihren Claviersessel nieder, am liebsten halb abgewandt, wie wenn ich durchaus nur ihr Profil studiren sollte; zuweilen mit einem schwebenden Blick über uns hin, sonst in den Winkel hinein, daß man nicht weiß, ob sie hört oder ob sie träumt. Und so sitzt das Mädchen stundenlang, indessen die Alte mich fort und fort zum Erzählen ermuntert, unverwandt durch die große goldene Brille mich anstarrt, oder zehnmal hinter einander mit dem Kopfe nickt, oder einen plötzlichen Ruf der Verwunderung ausstößt, daß ihr die Haubenbänder locker werden.

Ein eigenes Publicum, Julie! Und doch bin ich lieber noch zu Dreien, als mit Anna allein. Wenn ich bei Tage hinüberkomme und die Tante zur Nachbarin gegangen oder im Nebenzimmer in ihrem Lehnstuhl eingeschlafen ist (was ihr oft begegnet), und das Mädchen am Clavier klimpert oder sich in den neuesten Leihbibliothekroman vertieft hat, so will sich mir der Hacken drehen, auf der Stelle wieder umzukehren. Aber die Höflichkeit – und die alte Gewohnheit – und ihre Stimme, die noch den alten närrischen Zauber hat (ich sage immer, ihre Freundinnen haben blonde, sie hat eine brünette Stimme) – kurz, sie winkt mir mit irgend einem freundlichen Wort auf meinen alten Platz neben dem Nähtisch, am Fenster, unter dem Epheu – und da sitz’ ich und lache über mich selber, – um nach einer Viertelstunde verstimmt und verdrossen wieder aufzustehen. Denn es ist kein vernünftig Wort mit ihr zu reden. Wenn ich von fremden Menschen und Dingen und Schicksalen erzähle, so fängt ihre Unterlippe an zu spielen, ihre Augen schlafen halb ein, und auf einmal kommt irgend ein trockenes Wort heraus, ein kleinbürgerliches Urtheil, eine Nichtigkeit – und ich verstumme. Wenn das Herz mir aufgeht und ich von Italien rede, von großen Landschaften, wundersamen Menschen, von Meer, Licht und Luft, so tritt sie an’s Fenster, um auf die Wiesen und den blanken See hinauszusehen, an die Scheiben zu trommeln und zu sagen: „Mein Gott, es ist überall schön!“ Es ist, wie wenn sie nichts davon wissen will, daß die Welt so groß und ihr Leben so klein ist. Neulich entfuhren mir ein paar Worte über Kleinstädterei, über die kleinen Mauern und die kleinen Menschen; da sah sie mich so feindselig an, wie ich sie nie gesehen, stand auf, ging stumm im Zimmer hin und her und endlich zur Thür hinaus. In einer jähen Verstimmung erhob ich mich auch, griff nach meinem Hut und ging davon… „Und so benehmt ihr euch freilich noch wie rechte Kinder,“ wirst Du sagen.

Ach, meine gute Julie! was soll ich in dieser Luft! Sie könnte nur anstecken; soll ich mich anstecken lassen?

– Sie ist nicht erzogen worden, das ist ihr Unglück. Von ihrer Tante konnte sie wohl verhätschelt, verstört, verengert, verkümmert werden, aber nicht erzogen. Doch da fällt mir ein, daß sich ein Erzieher für sie angefunden hat – nur daß das Kind sich noch weigert, sich erziehen zu lassen. Als ich gestern wieder in den Tannen mein stilles Plätzchen gesucht und mich mit dem alten Homer niedergesetzt hatte, kam unser Jugendfreund, der rosige „kleine Heinrich“, tiefsinnig über die Felder herangeschwebt, erkannte mich, fuhr auf mich zu, und ich mußte ein herzliches Wiedersehen feiern. Du kennst seine Art: in einer halben Viertelstunde hatte er mir anvertraut, daß er sich nun zu „setzen“ denke, daß er heirathen wolle und daß er sich – hier stockte er und sah mich erwartungsvoll an – daß er sich unsere gemeinsame Freundin Anna ausersehen habe. „Oder hast Du auch Absichten?“ fragte er und drehte an meinen Knopflöchern. Ich lachte und gab ihm die Versicherung, wenn ihm Niemand mehr im Wege stehe als ich, so könn’ er sie morgen heimführen. „Das hätte er sich auch gedacht,“ meinte er, „ich würde mir gewiß so eine Ausländische nehmen. Ich hätte auch wohl noch Zeit, aber er“ – – Und dabei sah er unwillkürlich auf sein Herz, und ich auf seinen Rock: denn wirklich, in diesem nie gebürsteten schwarzen Röcklein, das statt seiner im Bett gelegen zu haben schien, und mit den baumelnden Knöpfen und den aufgelösten Hosensäumen sah er recht hausfrauenbedürftig aus. Aber es wird ihm dennoch wohl gehen in der Welt: er hat die großen Ohren und die prädestinirte Stimme eines Bürgermeisters, fett und stark.

Als ich mich seiner annestelnden Gesellschaft entwunden hatte und heimschlenderte, fiel mir erst ein: dies war der Bräutigam, aber was sagt die Braut? – Ich kam ohnehin an ihrem Hause vorbei; die Tante sah aus dem Fenster und rief mich an. Da sprang ich denn hinauf, und da auch das Mädchen im Zimmer war, fragte ich, ob sie schon wisse, daß man sie heirathen wolle? „Zu viel Ehre,“ antwortete sie trocken, während die Alte mich neugierig aufgeregt bei der Schulter packte. Ich hielt ihr still und erzählte meine Geschichte; kaum hatte ich aber den „kleinen Heinrich“ genannt, so warf sich Anna in’s Sopha und wollte sich [788] todtlachen, mit einer so seltsam heftigen Heiterkeit, daß ich nicht begriff, was ich mir dabei denken sollte. Die Tante schien es zu verdrießen, sie sah das Mädchen unwillig an, wagte aber doch kein Wort des Vorwurfs zu sagen. Ich stand und wunderte mich; endlich setzte das Mädchen sich wieder aufrecht, trocknete sich die gelachten Thränen und sagte zur Erklärung: sie wolle lieber am Lachen sterben, als einen Menschen mit so rothen Ohren heirathen. Unwillkürlich sah ich in den gegenüberhängenden Spiegel und sah meine Ohren an; sie waren weiß und bescheiden. Darüber brach sie nun wieder in ein kindisches Gelächter aus. „Sie ist eine rechte Trine, Friedrich,“ sagte die Tante verdrießlich und schrammte auf ihren Hausschuhen in das andere Zimmer. Mir aber fiel unsere alte Verabredung aus den verliebten Halbekinder-Jahren ein, mit der sich Anna und ich damals auf’s Beste unterhalten hatten: daß ich sie heirathen solle, wenn sie mit dreißig Jahren noch unvermählt sei. Gott sei Dank, dachte ich, indem ich wieder hinausging, sie ist erst einundzwanzig!

Aber nun endlich genug von diesen Kindergeschichten! Ich will den guten Homer wieder zur Hand nehmen, will wieder im Baum der Menschheit etwas höher hinaufklettern. Es wird auch Zeit! Lebe wohl!




Dritter Brief.

Dem Himmel sei Dank, liebste Julie, ich athme wieder auf; nun fühl’ ich erst, wie ich mich nach dieser Befreiung gesehnt hatte! – Ja, Schwesterherz, ich habe Aussicht, in meine geliebte wärmere Welt zurückzugehen. Frau Amanda, unsere vortreffliche Freundin, die Dir diesen Brief überbringt und mit der ich hier einen viel zu kurzen, herzerquickenden Tag verlebt habe, wird Dir mehr davon erzählen. Genug, ich werde die Bibliotheken durchwühlen, die alten Geschichten ausgraben und darüber die Gegenwart und ihr Vorrecht nicht vergessen; ich werde wieder am Arno lustwandeln, vom Capitol auf die Erde heruntersehen – und dann wird diese vaterstädtische Idylle wie ein kurzer närrischer Traum in meiner Seele entschlafen. Ich übernehme zwar Verpflichtungen auf längere Zeit, aber sie sind ein gern gebrachtes Opfer, das ich den alten Heidengöttern und den südlichen Lüften bringe. Hier hielt’ ich es doch nicht aus; ich sehe es täglich. Nur der alte Gewohnheitsteufel ist es, der mich immer wieder unter die Stadtmauerlinden, vor’s Mühlenthor hinaus, – in Anna’s Haus führt. Und nichts unwürdiger, als sich von einer Gewohnheit schleppen lassen, die keine Frucht trägt, die nie eine tragen kann, noch tragen konnte.

Ach, Schwester, und wie ich sie bei alledem von Herzen bedaure! Wenn ich Anna’s Leben überdenke, so wird mir Alles begreiflich und verzeihlich, was den flüchtigen Zuschauer nicht anders als ungeduldig machen kann. Du hättest sie in jenen ersten Zeiten kennen sollen, als sie nach ihrer Mutter Tode zu uns in’s Haus kam, so eine kleine blasse, verschüchterte Waise; aber unter den Fittichen unserer guten Mutter lebte sie auf, der kleinen Seele wuchsen ein paar goldene Flügel. Man nannte sie damals im Hause die „Schwärmerin“, und es mag auch etwas daran gewesen sein: für mich, ihren Spielgenossen, war sie ein rechtes Märchenkind, das frei und offen und liebenswürdig in die Welt hineinwuchs, wie wenn ihr Alles gehörte. Gott, wir waren noch jung; ich weiß, mit welcher Achtung ich zu Dir hinaufsah, die damals in der Residenz, in der Pension, ihre französischen Zopfstyl-Poeten absolvirte. Wir lernten unterdessen unser gewöhnliches Deutsch, träumten den Himmel an, ließen unsern Theaterpuppen Tugend und Edelmuth ausströmen und sogen aus den „Räubern“ und „Wilhelm Tell“ die Nahrung hoher Gefühle. Das war die Anna von damals! Die schöne Saatzeit ihrer guten Seele war zu kurz: denn nun kam die Tante angezogen, forderte sich ihr geliebtes Nichtchen, steifte sich auf die „heiligen Bande des Bluts“ und versetzte die zarte Pflanze in den gröberen Boden, in die trocknere Luft. Die alte Trompete, mit all’ ihrer gutherzigen Zärtlichkeit, verstand von Erziehung so viel wie ich vom Corsettschneidern, und sie ließ sich nicht dreinreden, sie hätte sich am liebsten mit ihrem Nichtchen unter eine große Glocke gesetzt. So wuchs das Kind zwischen Gehorchen und Befehlen ziellos heran und suchte nur in dieser rauheren Umgebung ihre feineren Fühlfäden einzuziehen. Es gab auch allerlei Unsauberes um sie her, kleine gemeine Zustände, kleine gemeine Menschen; davon erschreckt, begann sie ihr seltsames, starres, zur Gewohnheit werdendes Versteckenspielen, um ihren inneren Funken nicht zu verrathen, um nicht verhöhnt, um nicht getreten zu werden. Denn in enger Luft, unter unedlen Menschen giebt es wohl keinen stärkeren Trieb, als die Scheu vor Lächerlichkeit. Um der hundertäugigen Spottsucht zu entgehen, umhärtet man sich lieber wie ein Schalthier, geht mit Krebsen den Krebsgang oder vergräbt sein Pfund wie jener unweise Knecht. Und so, denk’ ich mir, entstand in ihrer offenen Seele diese schauspielende Verschlossenheit. Ich sehe, sie hat kein reines, aufrichtiges Verhältniß zu keinem Menschen. Sie will nicht besser sein als die Andern um sie her und ist es doch und sucht’s vom Morgen bis zum Abend zu verbergen. Ja, ich beobachte sie, Julie, und täglich find’ ich von Neuem, daß ihre alten goldenen Flügel sich regen, aber der harte Selbstzwang drückt sie nieder, oder läßt sie nur hinter Gittern und Mauern flattern, verstohlen, ganz verstohlen. Zuweilen verräth mir plötzlich ein verlorenes Wort, daß sie irgend ein gutes Buch mit Eifer gelesen, von dem sie beharrlich geschwiegen, über das sie unter den Menschen nie ein Wörtchen mitgeklatscht hatte. Sie hatte dann stumm und träumend dagesessen und gedacht an – wer weiß es?

In diesen letzten Wochen ärgerte sie mich oft damit, daß sie nicht singen wollte, daß sie gegen alle die alten guten melancholischen Lieder lästerte und, so oft ich sie um irgend ein innigeres Musikstück bat, ihr eigensinniges Nein sagte. Sie spielte nur, was ihre Freundinnen spielten, das Neueste vom Leihinstitut, die fabrikmäßigen Salonstücke mit den französischen Titeln. Doch wie ich gestern Abends zu ihr komme – die Tante war nicht daheim, es war schon dunkel geworden, und sie glaubte sich unbelauscht – da höre ich sie die Lieder singen, die holden, herzlichen, rührenden Lieder, nach denen ich mich in Italien so oft gesehnt hatte, darunter auch dies – liebes Herz, Du kennst es:

Es steht ein Baum im Odenwald,
     Der hat viel grüne Aest,
Da bin ich schon viel tausend Mal
     Bei meinem Schatz gewest.

Der Vogel sitzt in seinem Nest
     Wohl auf dem grünen Baum.
Ach, Schätzel, bin ich bei Dir gewest
     Oder ist es nur ein Traum?

Und als ich wieder kam zu Dir,
     Gehauen war der Baum – –

Liebe Julie, mir lief das Herz davon und die Augen über; ich stand noch immer draußen auf dem Gang, ich hatte den Muth verloren, einzutreten. Mit meinen kindlichen Thränen auf der Backe schlich ich mich davon. Draußen schienen die Sterne, der Mond wanderte neben mir an dem blinkenden Fluß, meinem ältesten Freund, entlang. Mir ging so viel Altes und Neues durch die Seele, köstlich-unsterbliche Erinnerungen; ich hätte sie um nichts dahingegeben.

Ich wollte so nicht heimgehen, es zog mich noch zu der guten heimlichen Sängerin zurück, gerührt, wie ich war. Als ich wieder hinauf komme und vor der Zimmerthür horche, ist Alles still. Ich klopfe leise, Niemand ruft Herein; endlich öffne ich – und da saß sie beim Mondlichte auf ihrem Stuhl am Fenster, in die Ecke gedrückt, und war eingeschlafen. Der Kopf lag so friedlich auf der Schulter; ich schlich näher heran, aber nun sah ich die ernsten, großen, schweren Züge, ein Gesicht wie aus dem Traum, die Lippen schmerzlich verzogen; – so hatt’ ich sie nie gesehen. Mir ward ganz beklommen zu Muth; die Hyacinthen am Fenster wirkten mit ihrem starken Duft wie Wein auf meine Sinne; dazu ihr luftiges gelbes Kleid, von der gleichen Farbe wie damals, als ich ihr Kleid auf halbe Meilen erkannte, – und darüber diese melancholisch gereiften Züge – liebe Julie, ich fühlte mich seltsam erschüttert. Auf einmal erwachte sie, wie von meinen Blicken aufgestört, starrte erschreckt zu mir auf, – und wie ein Bild des Gehirns verweht, war ihre ernste Schwermuth ausgelöscht, das Gesicht wieder still und kalt, sie hatte die alte Maske vorgebunden.

Dies war mir endlich zu viel. Als sie sich aufrichtete und mich mit einer ihrer nüchternen Fragen scheinbar ganz gelassen anredete, schüttelte ich mich, wie mit kaltem Wasser übergossen, trat an’s andere Fenster und sah, auf’s Widrigste verstimmt, hinaus, ohne ihr Antwort zu geben. Sie schien nun selbst zu fühlen, was in mir vorging. Auf ihren leisen Füßen kam sie mir nach. Sie rührte meine Schulter an, zog aber hastig die [790] Hand wieder zurück und fragte ernster und weicher: „Was hast Du? Warum antwortest Du mir nicht?“ – Ich wandte mich herum, nahm sie bei der Hand und sagte: „Wem soll ich antworten, Anna? Ich weiß nicht, wer Du bist: die Anna von vorhin, die singen und herzlich sein und ihre wahre Seele zeigen kann, oder die Andere, die nur mit uns spielt?“ – Sie erröthete heftig. „Wie verstehst Du das?“ fragte sie und wollte mir ihre Hand entziehen, aber ich hielt sie fest und fuhr fort: „Wenn ich wüßte, Anna, warum Du stets so verschlossen, so seltsam versteckt, so ein täuschendes Irrlicht bist!“

Bei diesem Wort riß sie sich hastig los. Sie trat zurück, und stumm und blaß, halb von mir abgewandt, den Mund bitter geschlossen, starrte sie in die Nacht hinaus. Endlich sagte sie, ihre Gedanken mit schwerer Zunge einzeln hervorstoßend: „Wen geht es an, wie ich bin? Kann ich mich anders machen? – Wer zwingt Dich auch, daß meine Art Dir gefallen soll? Mögen Dir Deine Italienerinnen, Deine Großstädterinnen lieber sein, ich wehre Dir’s ja nicht; willst Du mir wehren, so zu sein, wie ich bin?“

Ihre Stimme zitterte, sie athmete schwer; ich war bestürzt, Julie, und dachte nur, wie ich sie wieder beruhigen könnte. „Anna,“ sagte ich, „willst Du mich mißverstehen? An Italienerinnen, an Großstädterinnen hab’ ich nicht gedacht. Aber bist Du selbst nicht etwas Besseres, als Du sein willst? Warum zerdrückst Du Dich, Anna? Warum machst Du Dich so klein wie die Andern? Warum versteckst Du Deinen innern Werth? Liebe Anna, warum willst Du Deine Seele nicht mehr fliegen lassen, wie sie einst geflogen ist und noch fliegen könnte?“

Ich weiß nicht Alles mehr, was ich ihr sagte, aber sie sah still vor sich hin und hörte mich schweigend an. Und, Julie, da kam mir auf einmal Dein Name und Dein Bild in die Sinne; mein ganzes Herz trat mir auf die Lippen, und ich sagte mit meiner sanftesten Stimme: „Verzeih’ mir, Anna, – daß ich an meine Schwester denken muß, die auch in einer kleinen, stillen Welt aufgegangen ist, die auch nicht in die Weite und Breite wandern konnte – aber sich die freie Seele bewahrt hat – und eine offene, unverstellte Seele und ein empfängliches Herz.“ – Und nun schüttete ich meine übereinander gedrängten Gedanken aus und Alles, was ich von Dir zu sagen wußte; – ich will es meiner geliebten Leserin nicht wiederholen. Das Mädchen hörte noch immer halb abgewandt zu. Auf einmal sah ich eine Thräne über ihre Wangen rollen; sie fühlte es, sah sich im hellen Mondschein stehen und wandte sich vollends ab und ging in’s andere Zimmer. „Morgen!“ war Alles, was sie mit halber Stimme noch zu mir zurück sprach. Ihre Thränen schienen unaufhaltsam hervorzubrechen. Ich erwiderte nichts, sie that mir in der Seele leid; ich wünschte ihr herzlich „Gute Nacht“ und ging hinaus.

(Fortsetzung, am andern Tage.) Dies Alles im Vertrauen, liebe Schwester, und nun nichts mehr von diesen drückenden Dingen – nun wieder von Italien, von der Welt, vom Leben! – Ich wollte nur noch hinzusetzen (weil Du doch einmal Alles wissen willst): ich habe sie wiedergesehen, ich ging noch gestern zu ihr. Denn ihr „Morgen“ hatte mir, während ich an Dich schrieb, immer im Ohr gesummt. Als ich eben an die Thür klopfen wollte, trat mein „kleiner Heinrich“ heraus, im Frack, feuerroth, das ganze Gesicht eine Kupferplatte; der Aermste! Er schob sich hastig an mir vorbei, mit einem Blick, der drei Mal „Schlange!“ auszurufen schien, wie wenn ich ihn aus dem Paradies vertrieben hätte. Mir stieg das Mitleid auf, da ich ihm sein Schicksal aus dem Giftblick ablas, aber als er dann die Treppe hinunterhüpfte, sein zitternder Frackzipfel verschwand und der verunglückte Ehemann in der Hast ausglitt, ein paar Stufen weiterstürzte und sich erst unten mit einem drolligen Fluch seiner fetten Stimme wieder zusammenfand, mußte ich doch das Lachen mühsam verbeißen. Endlich war sein letzter Schritt verhallt, und ich trat ein. Anna saß am Fenster neben ihren verblühenden Hyacinthen, in dem ernsthaften braunen Kleid vom ersten Tag, das blasse Gesicht nachdenklich aufgestützt. Als sie mich erblickte, erröthete sie wie über ihre eigenen Gedanken.

Ich hatte diesmal Scheu vor ihrer ernsten Miene; mit einem leichten Scherzwort fragte ich nach dem Schicksal des armen Werbers. „Was soll ich mit dem Menschen?“ antwortete sie kurz, ohne Lächeln, und stand auf. Mich überraschte ihre hohe, schlanke Gestalt; sie war mir noch nie so groß erschienen. Es lag in den Augen, glaub’ ich: sie waren so groß, so ernst, mit Gedanken angefüllt; ihre Seele schien noch immer mit sich allein zu sein. Plötzlich besann sie sich, ging an den Tisch, auf dem das Schachbrett stand (das Lieblingsspiel ihrer Tante), und indem sie sich niedersetzte, sagte sie: „Friedrich, Du bist mir noch Revanche schuldig!“ – Ich glaubte in diesen Worten einen geheimen Sinn zu hören. Ich saß, wir spielten, aber Beide zerstreut. Endlich trat die Tante herein; die Freundinnen kamen dazu. Anna empfing sie einsilbig, mir war der Anblick dieser Geschöpfe widerwärtig, ihre zweideutigen Blicke desgleichen, und ehe noch das Räderwerk des Geplauders wieder im Schwunge war, macht’ ich mich auf und davon.

Dies wird nun wohl mein letzter Brief aus diesem „verwunschenen“ Ort gewesen sein; wohl ihm – und mir! Den nächsten, Liebste, schreib’ ich Dir wieder als Wandervogel, mit einer Feder aus der frischgelüfteten Schwinge, auf dem Fluge in’s „gelobte Land“. Lebe wohl, lebe wohl!



[801]
Vierter Brief.

Wirst Du Dich nicht schon über das Postzeichen auf dem Couvert verwundert haben? Ja, meine liebe Julie, – noch bin ich hier. Warum? Weil ich ein gutes Herz habe, liebe Schwester; weil ich meine Jugendfreundin nicht in ihrer Elendigkeit verlassen wollte; weil ihre Erkrankung – doch ich muß es Dir, damit Du mich verstehst, zusammenhängend erzählen.

Schon vor jenem ernsten Abend, Julie, dessen Schilderung Dich so lebhaft gerührt hat, war Anna zuweilen bleich und matt gewesen (sonst ist sie immer blühend und gesund), aber Niemand hatte darauf geachtet, sie selber am wenigsten. Ich bemerkte nur, daß sie gern allein war, daß sie ihre Bekannten und Freundinnen mehrmals ablehnte, während sie gegen mich – das muß ich ihr nachsagen – sich liebenswürdiger, weicher, herzlicher zeigte, als zuvor. Ich war zwei Tage verreist, um in G… einen meiner Jugendfreunde zu besuchen. Als ich zurückkam, war mein erster Gang in das Haus vor dem Mühlenthor; denn diese letzten Tage sollten noch ganz den alten Freundschaften und Erinnerungen gewidmet sein. Es war kurz nach Tisch; ich fand Anna allein, sie saß auf dem Sopha, kläglich blaß, auf ihrem Schooß alte vergilbte Briefe ausgebreitet, und las und hatte Thränen in den Augen. Sowie sie mich sah, raffte sie die Briefe zusammen, versuchte zu lächeln und sagte: „Die Tante schläft, aber es ist schön, daß Du kommst,“ und wollte aufstehen, um die Briefe und die Thränen zu verbergen. „Anna,“ sagte ich, „wozu Dich wieder verstecken? Bin ich es denn so gar nicht werth, Dich ernst und bewegt zu sehen?“ Sie ward wieder purpurroth; dann aber kam die ganze Blässe zurück, ihre Augen standen voll neuer Thränen und sie hauchte hervor: „Du hast Recht. Ich habe in den Briefen meiner Mutter gelesen. Warum soll ich nicht traurig sein? Ich habe ihr Grab so lange nicht gesehen. Jetzt ist Alles voll süßer Blumen, – nur ihr Grab nicht. Ich möcht’ es besuchen, Friedrich, in dieser Stunde, es freundlich ausschmücken. Aber ich glaube,“ setzte sie matt und schwermüthig hinzu, „ich bin zu schwach, um allein hinauszugehen.“

„Wie,“ sagte ich erschrocken, „bist Du unwohl, Anna?“

„Das nicht,“ erwiderte sie, „aber matt bin ich, seltsam matt, wie ich mich gar nicht kenne. Und es ist etwas weit hinaus.“

„Könntest Du nicht eine Deiner Freundinnen bitten?“

„Nein,“ sagte sie hastig, „zum Grab meiner Mutter geh’ ich nicht mit den Menschen, nur allein.“ Dann setzte sie zögernd hinzu: „Nur mit Dir möcht’ ich hin, – wenn ich Dir nicht lästig falle. Du hast sie noch gekannt, Du bist auch nicht wie die Andern!“ Darauf wurde sie wieder stumm. Ich drückte ihr die Hand, bot ihr meinen Arm und führte sie hinaus.

Es war uns wohl Beiden seltsam, so miteinander auf der Landstraße, an den letzten Häusern vorbei, unter den alten Linden dahin zu ziehen. Sie suchte darüber zu scherzen, aber so oft uns ein Mensch begegnete, erröthete sie und sah fest auf den Boden. „Ich halte aus,“ sagte sie plötzlich und blickte mich mit einem reizend schwermüthigen Lächeln an; „ich will’s einmal versuchen, mir nichts aus den Menschen zu machen!“ Sie hatte sich, ehe wir gingen, drei schöne Blumenkränze über den Arm gehängt, die sie am Morgen gewunden hatte. Die schwüle, regenschwere Luft, der farbiggraue Himmel, die tiefe Beleuchtung stimmten ganz zu ihrem ernsten Unternehmen, und wie sie so langsam und bleich dahinging, konnte man sie nicht ohne Rührung betrachten. Ein paar Frauen saßen am Wege und boten uns Trauerkränze aus gemachten Blumen an, aber Anna wandte sich fast leidenschaftlich hinweg, zog mich weiter und sagte: „Diese todten Blumen sind mir schrecklich; will man denn nicht die armen stillen Gräber ein wenig lebendig machen?“ Dabei ließ sie mich los und that ein paar Schritte dem Bach entgegen, der sich an der Straße vorbeiplaudert, und pflückte dort noch eine Hand voll Vergißmeinnicht, um sie auch auf der Mutter Grab zu legen. So kamen wir hin. Als wir uns dem kleinen grünen Hügel näherten, warf sie mir einen bittenden Blick zu, den ich verstand. Ich blieb an der schönen, uralten Linde stehen, die so mitten auf dem Friedhof ihre ungeheure Krone über die nachbarlichen Gräber ausbreitet, wie eine Henne die Flügel über ihre Küchlein, gedachte meiner eigenen Todten und nahm mir vor, ihnen morgen die gleiche Liebe anzuthun, und überließ unterdessen Anna ihren einsamen Gefühlen. Als ich endlich zu ihr hinüberblickte, sah ich sie an der Mutter Grab hingesunken und in Thränen zerfließend.

Ich ließ sie sich ausweinen; sie richtete sich nach einer Weile wieder auf, wusch sich die Augen mit dem letzten Rest des Wassers, mit dem sie den Hügel und die Blumen begossen hatte, und kam zu mir zurück, um heimzugehen. Sie klagte, sie sei noch matter, als zuvor, aber eine unendliche Weichheit lag auf ihren Augen und um die Lippen, und sie fing an, von unserer ersten gemeinsamen Jugendzeit nach ihrer Verwaisung zu reden. Eine Erinnerung rief die andere wach, und uns fielen abwechselnd hundert kleine Erlebnisse und Stimmungen ein, an die wir nie mehr gedacht hatten. [802] Ich sagte endlich scherzend: „O Anna, damals warst Du liebenswürdig!“ Sie nahm es ernst und antwortete: „Ich hab’ es verlernt, das ist wahr!“ Und nach einer Weile: „Ich hätte in Eurem Hause bleiben sollen, oder hinaus in die Welt!“ Ich unterdrückte einen Seufzer, der sich mir unwillkürlich auf die Lippen drängte. Wie mit Einem Blick sah ich ihren ganzen schmalen Lebenslauf, der mir wie der kleine, eingeengte, langsame, nur von den blauen Vergißmeinnicht ein wenig verschönte Bach neben der Straße erschien, und dachte schwermüthig, wie das Alles anders hätte kommen können. Sie ließ mich eine Weile schweigen, dann fragte sie: „Denkst Du an Deine Schwester?“

„Nein. Warum?“

„Ich möchte sie wohl kennen lernen,“ sagte sie leiser.

„Du solltest sie einmal auf ihrem Landsitz besuchen, Anna. Sie ist eine sehr freundliche Wirthin.“

„Ich suche Niemand auf,“ antwortete sie, „der nicht nach mir verlangt.“

„O,“ sagte ich, „sie möchte Dich auch kennen lernen. Ich schreibe ihr oft von Dir.“

Sie blickte mit einem seltsam traurigen Lächeln: „Du? Da wird sie wohl alle Lust verloren haben, mich kennen zu lernen!“

„Anna,“ sagte ich, „bist Du nun wieder die alte Närrin?“ Sie sah mich groß mit verwunderten, zurechtweisenden Augen an. „Verzeih’ mir das Wort,“ setzte ich hinzu; ich war wieder in der Sprache unserer Backfischzeit. „Aber wirklich, Anna, Ihr solltet endlich miteinander bekannt werden. Ihr könntet mir dann gemeinschaftliche Briefe nach Italien schreiben.“

„Italien, immer Italien!“ murmelte sie und wandte sich hinweg. Dann sagte sie auf einmal hastig: „Du willst fort, wann reisest Du ab?“

„In wenigen Tagen.“

„Morgen?“

„Nein,“ sagte ich, „Du hörst, in wenigen Tagen.“

Nun verstummte sie wieder. Sie war so seltsam erregt; ich fühlte, wie sie mich ansteckte. Ich wollte eben die schwüle Stille mit einer vielleicht zu herzlichen Aeußerung unterbrechen, als von den Tannen her, auf der anderen Straße, die mit der unseren zusammentraf, die Cousinen und die kleine Freundin herankamen und sie lachend anriefen. Anna blieb in neuem Erröthen stehen. Ich bemerkte, wie sie auf einmal an allen Gliedern zu zittern anfing. Die Mädchen blickten uns Beide abwechselnd an, verzogen die Mundwinkel, stießen sich gegenseitig mit den Ellenbogen, begrüßten uns mit einem eigenthümlichen Lächeln, und ich fühlte, wie mir jeder Blutstropfen in Wallung gerieth. Ich warf ihnen mühsam ein paar Worte hin, die ihnen unsere Wanderung nothdürftig erklären sollten, und dachte: könnt’ ich sie umbringen! Auf einmal rief Cousine Emma: „Aber wie Du blaß wirst! Was ist Dir?“ Ich sah Anna wieder an; da stand sie schwankend wie ein Lilienstengel im Wind, das kreidige Weiß auf den Lippen, und war im Begriff, die Augenlider zu schließen.

Du denkst Dir meine Bestürzung, Julie! Mein erster, widriger Gedanke war: wie nun diese Geschöpfe sich das Alles zurechtlegen werden! mein zweiter, Hülfe zu schaffen. Wir stützten sie, wir fragten, was ihr fehle. Sie verlangte nur heim. Aber an Gehen war bei dieser Schwäche nicht zu denken. Sie kam ein wenig wieder zu sich und warf einen Blick auf mich, der mir wirklich durch Mark und Bein ging. Endlich entschloß ich mich, so hart es mich ankam, sie mit den Frauenzimmern allein zu lassen und einen Wagen zu holen. Ich war so verwirrt, daß ich den nächsten, der mir entgegenkam, fast hätte vorbeifahren lassen. Als ich dann mit dem Gefährt zu der Stelle zurückkam, wo sie gegen einen Baum gelehnt, ein wenig zusammengefallen, wie ein welkes Schneeglöckchen dastand und mir mit matten Augen entgegensah, fühlte ich die herzlichste Freude – so hatte mich der plötzliche Anfall in Angst versetzt – sie doch noch aufrecht, noch lebendig zu sehen. Wir halfen ihr in den Wagen hinein, die Mädchen setzten sich ihr gegenüber, man ließ mich dankend stehen, rollte im Staub davon, und so hatte dieser seltsame Trauergang sein trauriges Ende.

Gegen Abend erkundigte ich mich, wie es ihr gehe. Der Arzt war da gewesen, er hatte versichert, eine ernstliche Erkrankung sei nicht zu fürchten, es sei offenbar nur eine wunderliche Erschöpfung und Ermattung, die Nerven seien verstört, das werde vorübergehen. Sie beginnt denn auch, sich langsam zu erholen, aber so langsam, daß ich nun schon acht Tage darüber verloren habe. Stehen und Gehen wird ihr sauer. Im Bett will sie auch nicht liegen; lesen, sich vorlesen lassen, das ist ihr liebstes Vergnügen. Und so ist es denn mein Amt, ihr täglich gute Bücher zu bringen; nur gute, andere will sie nicht, und was ihr die Freundinnen vom Verleiher in’s Haus schleppen, legt sie still bei Seite. Aber am glücklichsten ist sie, wenn ich ihr vorlese. Da werden ihre Augen höchst lebendig und die horchsamen Lippen schließen sich so schön. Ihre Blässe kleidet sie gut, der Ausdruck ihres Gesichtes hat an Geistigkeit unendlich gewonnen, seit ich sie zum ersten Male wiedersah.

Ja, liebe Julie, noch bin ich nicht abgereist. Es ist mir widerwärtig, sie jetzt den andern Menschen zu überlassen, deren Gegenwart sie nur belastet, davonzugehen, ohne sie genesen zu wissen – kurz, ich habe meinen Entschluß noch nicht gefaßt, wozu es weiter erklären. Meine Pflichten drängen mich nicht. In Rom brauch’ ich nicht vor einem Monat zu sein. Ich hatte vor, langsam über Südfrankreich hinzuschlendern, jetzt werde ich vielleicht diesen Umweg aufgeben, das ist Alles. Ach, Julie, ich fühle mich so seltsam hin und her gezogen! Doch genug davon, wir sind nicht die Herren unseres Schicksals, wir thun ja, was man uns eingiebt.




Fünfter Brief.

Liebe Julie, ich brüte über Deinen letzten Brief in der aufgeregtesten Stimmung. Du hast mich aus meiner Ruhe aufgeschreckt. Du hast es mir mit Deiner unerbittlich sicheren Hand gleichsam auf die Stirn geschrieben, daß ich nur noch die Wahl habe, entweder – Ernst zu machen, oder davonzugehen. „Aus Deinen Briefen,“ schreibst Du, „erseh’ ich es deutlich, daß hier nicht länger gespielt werden darf!“ Julie, diese Worte haben mich seit gestern zum unruhigsten, verworrensten, unseligsten Menschen gemacht. Ja, ich sehe wohl, es muß ein Ende gemacht werden. Ich will fort, ich will fort. Zwar das Gerede der Leute kümmert mich nicht. Ich bin zu stolz, mir von den Zungen und Gesinnungen und Vorurtheilen der kleinen Menschen mein Leben vorschreiben zu lassen. Darum hab’ ich es auch verschmäht, Dich von den Sticheleien zu unterhalten, die mir reichlich zu Theil geworden, von den Vettern und Basen aus unser Beider Verwandtschaft, die sich mit heuchlerischen Kratzfüßen eingemischt, von den Blicken, dem Achselzucken, dem Aufpassen, an’s Fenster Fahren, Zusammenzischeln. Wohl ihnen, daß sie an ihrem Mitbürger, der sie von Herzen verachtet, wenigstens eine unerschöpfliche Unterhaltung haben! Nur einmal, an einem dieser letzten Tage, hab’ ich irgend einer Frau Gevatterin, die mir geradeheraus zur Verlobung glückwünschte, meine Meinung gesagt: daß ich nicht gesonnen bin, mir durch die niedrige Denkart der Menschen ein herzliches, altes, wohlerprobtes Freundschaftsverhältniß vergiften zu lassen. Da ist denn die Giftkröte wieder davongewatschelt… Aber sei ruhig, Schwester, ich seh’ es dennoch ein, ich muß fort. Ich werde gehen. Ich werde den Staub von meinen Füßen schütteln und wieder hoch aufathmen, wenn ich in freier Luft bin.

Es ist wahr – da Du es wissen willst – ich bin der einzige junge Mann, der in dem Hause so vertraulich verkehrt. Nur Anna’s Musiklehrer ausgenommen, den guten Walter, einen langjährigen Hausfreund, der immer schwarz gekleidet geht, sie mit Blumensträußchen und eigenen Compositionen beschenkt und sonst ein stiller, weichmüthiger, etwas melancholischer Mensch ist. Ihm beklatscht man seine Besuche und seine langgedehnten Musikstunden nicht, weil er mit einem anderen Mädchen, einer Jugendliebe, schon halb verlobt gesagt wird. Ich freilich, bei dem dies Beides zusammenfiele – was für ein dankbarer Stoff für unsere Spießbürger und Gevatterinnen, Julie, und wie würden sie schmunzeln! O, mir sträubt sich Alles, wenn ich nur daran denke. Es würde im ganzen Nest eine grenzenlose Schadenfreude sein. Wie sie mir die Hände schütteln und mir dabei in’s Gesicht lachen würden, und mit ihren fetten Fingern auf den „Italiener“ zeigen, der wieder eingeheimst sei, und daß es den vornehmen, jungen Gelbschnäbeln so zu ergehen pflege! Nein, nein! Dieses letzte Vergnügen wenigstens sollen meine geliebten Mitbürger nicht an mir erleben.

Ich bin so grimmig, Julie, so verstimmt, so voll Unmuth – – Ja, es ist Zeit, daß ich gehe. Es ist hohe Zeit. Mein Herz, denk’ ich, ist frei; aber ob auch das andere.… Ich sage nichts weiter; erlaß mir’s. Es wird mich noch eine harte Stunde [803] kosten. Es wird ihr schwer sein, mich, halb genesen, wie sie ist, ziehen zu lassen, nachdem uns eine seltsame, trauliche Zeit wieder an einander gewöhnt hat. Ihre hastige Röthe, wenn ich komme, ihre liebliche, sanfte Beruhigung, wenn ich ihr vorlese, und wenn ich gehe, ihr letzter stummer bittender Blick, daß ich nicht anders kann, als bald wieder da sein – das Alles merke ich wohl. Nun hört sie mich auch gern und ruhig an, wenn ich ihr von Italien, von Rom, von meinen heiligsten Erbauungsstunden im Pantheon, auf dem Forum, in der Campagna erzähle. Ihre ganze Seele fliegt mit hinaus, ihr alter Reisetrieb, der sie als Kind zur Schwärmerin machen konnte, ist wieder erwacht, und zuweilen, wenn die Fülle der Erinnerungen mich zu warmer Beredsamkeit dahinreißt, wird sie wie die Birke im Frühling: der frische Lebenssaft drängt unaufhaltsam nach oben und quillt in Thränen hervor.

Ja, Julie, ich mußte heute in lächelnder Rührung an sie denken – so, wunderlich der Vergleich Dir klingen mag – als ich in meiner Wirthin Gärtchen stand und an einem ihrer grün angestrichenen Blumenstöcke, an dem einzigen Pünktchen, wo der Pinsel des Anstreichers nicht gehaftet hatte, ein Harzthränchen hervorgequollen sah. Ich wischte es neugierig ab, es duftete so kräftig wie das Harz im Walde. Gutes Holz, dachte ich, man hat dir nun schon so lange Luft und Leben genommen, dich zu gemeiner Nützlichkeit verschnitten, dir mit dem künstlichen Firniß alle Poren verstopft; nur eine einzige hat man aus Zufall offen gelassen, – und der Mai kommt und aus dieser einzigen Pore bricht der Saft des Lebens wieder hervor! Konnte mich das nicht nachdenklich machen, Julie? Und ist es so ein einfacher, leichter Entschluß, den armen Baum, den ich meine, seinem mörderischen Schicksal zu überlassen?

Doch – mir fällt dabei ein, was Du am Schluß Deines Briefes schreibst: daß unsere Freundin, Frau Amanda, nach Italien reisen will und sich nach einer angenehmen Gesellschafterin umsieht. Glaubst Du nicht, liebe Julie, daß sie an Anna finden könnte, was sie wünscht? und daß es ihr nicht eine beständige Freude und Erquickung sein würde, der armen Gefangenen für eine Weile zur Freiheit zu verhelfen und ihre gute Seele sich in guter Luft entfalten zu sehen? Was meinst Du? Mir, das bekenn’ ich Dir, würde es einen großen, harten Stein vom Herzen wälzen.

Doch nun zum Scheiden, zum Scheiden! Leb’ auch Du wohl, meine geliebte Schwester. Mich ruft mein Glück, das ich schon so lange versäumt und verzögert habe; ach, wir Menschen, wir Menschen!




Sechster Brief.

Wünsche mir glückliche Reise, Julie! Nun endlich geh’ ich, man hat es mir leichter gemacht, als ich armseliger Hasenfuß gedacht hatte! – Seltsame, unglaubliche Erlebnisse liegen hinter mir, fast möcht’ ich mich in die Finger beißen, um mich sicher zu machen, daß ich nicht aus dem Traum rede. Traum! O, ein zu lange fortgesponnener Jugendtraum ist nun ausgeträumt; ich reibe mir noch die Augen, und nur an der juckenden Narbe fühl’ ich noch, daß ich Gefahr lief, mehr davon zu tragen als eine heilbare Wunde.

Ja, es ist mir wundersam ergangen, Schwester! Ich habe Dir ein beschämendes Bekenntniß abzulegen, und Du bist der einzige Mensch, gegen den ich es ablegen könnte… Doch wozu die Vorreden? Ich hatte schon gestern Abend abfahren wollen. Alles war vorbereitet, den Nachmittag hatte ich der Tante versprechen müssen bei ihr zu verbringen. Als ich hinkam, fand ich noch einen zweiten Gast, den schwarzen Walter, von dem ich Dir geschrieben, den langweiligen Menschen. Ich gestehe, daß seine Gegenwart in dieser Abschiedsstunde mir vom ersten Augenblick an zuwider war, wie wenn ich den Ausgang geahnt hätte! Die gute Tante hatte am hellen Nachmittag eine duftende Bowle auf den Tisch gestellt, fuhr noch mit dem großen Löffel darin herum, kostete ein Mal über das andere und ließ dann ihrer Zunge keine Ruhe, uns zum Trinken zu spornen. Das Mädchen saß in der Ecke, mit stillem Lächeln, aber bleich und stumm; Walter starrte in sichtbarer Aufregung auf die Tischecke, und mir, das muß ich bekennen, war recht erbärmlich zu Muthe. Ich hätte diesen Menschen so gern noch etwas Warmes, Liebes, Herzliches gesagt, und doch fühlte ich fort und fort, wie sehr ich dabei Gefahr lief, über die Grenze zu gehen, und so ward ich nur immer stiller und stiller und erlahmte bald, unsere gedämpfte, schwere Stimmung durch mühsame Scherze zu erleichtern. Dazu der Wein zu so ungewohnter Zeit, und nach dem warmen Regen die heiße Schwüle, die von draußen hereindrang. Ich mußte mich endlich in’s offene Fenster legen und rang nach Luft.

Als ich mich wieder zurückwandte, waren Walter und die Tante verschwunden und schienen im Nebenzimmer leise mit einander zu sprechen, und ich war mit Anna allein. Sie saß noch in ihrer Ecke und hatte die Hände vor die Augen gelegt. Um uns her war es so still, daß man fast das leise Lüftchen hören konnte, das durch’s Fenster hereinkam und durch’s Schlüsselloch hinausglitt. Meine Beklemmung wuchs. Aus reiner Herzensangst war ich drauf und dran, neben sie hin zu treten und den Arm um ihren Hals zu legen und sie zu fragen: „willst Du mein sein?“ Aber unwillkürlich, Julie, schüttelte ich den Kopf; eine tiefe Stimme im Innersten flüsterte mir lebhaft und immer lebhafter zu: „Deine Freiheit, Deine Freiheit! Diese enge Welt! Verkaufe Dein Leben nicht!“ Ich war so erregt, so aufgewühlt, daß bei diesem Gedanken meine Stimme plötzlich zu tönen anfing. Ich erschrak vor mir selbst, Anna aber fuhr auf, warf ihre verwirrten Augen umher und sah mich an. Das Gefühl brannte mich, daß ich nun um jeden Preis etwas sagen müsse. Ich fing an, wie schön diese Zeit gewesen, wie ungern ich sie abbräche. „Anna,“ sagte ich endlich, „willst Du mir gut bleiben?“

„Warum sollt’ ich nicht?“ gab sie kurz zur Antwort.

„Du mußt meine liebe Schwester bleiben.“

Sie sah zur Seite und nickte.

„Wirst Du mir nicht zuweilen schreiben?“ fragte ich, um die Stille zu unterbrechen.

Sie suchte nach einem Wort, dann antwortete sie: „Nein.“

„Warum nicht?“

„Weil ich ehrlich sein will,“ brachte sie mühsam hervor, „und das kann ich nur, wenn ich schweige.“

„Ich verstehe Dich nicht, Anna!“

„Wär’ es das erste Mal?“

„Wie,“ fragte ich, „wirst Du wieder bitter gegen mich, in der letzten Stunde?“

Sie antwortete herb: „Ich? bitter gegen Dich? Wie sollt’ ich – wie käme mir das in den Sinn?“ Auf einmal trat sie auf mich zu, sah mir in die Augen und fragte: „Wann kommst Du wieder?“

„Ich weiß nicht,“ sagte ich stockend. „Ich habe noch nicht daran gedacht. Es werden wohl Jahre darüber hingehen, Anna.“

Sie wiederholte langsam: „Du hast noch nicht daran gedacht!“ Und nach einer Pause setzte sie hinzu: „Ich weiß genug.“ Und damit starrte sie zum Fenster hinaus.

– Liebe Julie, ich erzähle Dir das Alles wörtlich und ehrlich, so bitter schwer es mir wird! Mir war sehr unheimlich zu Muthe. Immer drängte es mich, sie anzurufen, aber was konnte dann noch folgen, als das eine Wort, das ich nicht sagen wollte! Endlich trat die Tante aus dem Nebenzimmer herein, aber mit einem unerhört ernsten Gesicht; sie sah die beiden Schweigenden traurig an und schwieg. Um etwas zu thun, stellte ich mich an den Tisch und leerte mein Glas. Die Tante gab dem Mädchen einen Wink, den ich nicht verstand, machte sich am Clavier zu schaffen und fuhr dann an mir vorbei, in die Küche hinaus. Nun endlich bewegte sich auch Anna von der Stelle, wo sie wie eine Bildsäule gestanden hatte, und schwebte leise in das andere Zimmer, und ich war allein.

Das Unerträgliche meiner Lage brachte mich fast von Sinnen. Soll ich so gehen? dachte ich und fühlte den bangen Schweiß an den Schläfen heruntertröpfeln; soll das mein Lebewohl sein? Und so könnte es enden? Ich hörte, wie Walter nebenan mit gedämpfter, aber eindringlicher, erregter Stimme zu Anna sprach; ein unaussprechliches Gefühl packte mich an, ich konnte diese Stimme, dieses Geflüster nicht länger aushalten und schlich hinaus, die Treppe hinunter und halb taumelnd am Fluß entlang meinem Hause zu.

So konnt’ ich nicht abreisen, das war das Einzige, was ich klar empfand. Ich schlenderte so dahin und ließ mich willenlos von meinen wechselnden Gefühlen, wie von warmen und kalten Quellen, überströmen. Es fing eben an zu dämmern, die Luft war so weich, so schmeichelnd, meine kleine Madame Winter saß mit einer Nachbarin auf der Sommerbank vor unserer Thür und lachte so herzlich, vor allen Häusern waren die grünen und weißen [804] Bänke voll plaudernder Mädchen, die Kinder spielten auf den breiten Trottoirs, die kleinsten krochen auf den Kellerluken herum, es war Alles so wohlig, so fröhlich, die Menschen konnten nirgends glücklicher sein. Ich sagte der kleinen Dame, ich würde heut’ noch nicht abreisen; ein vergnügtes Lächeln ging über ihr ganzes Gesicht. Das that mir wohl – ja, Julie, lache mich aus – und schon ein wenig beruhigt ging ich weiter. Ich war wieder ein Kind. Ich hätte mich fast zu den Frauen gesetzt, um mit ihnen zu plaudern. Ich fühlte mich unsäglich einsam und allein. Und indem ich so vorüberging – ich will mir nichts ersparen, Schwester, mögen mir auch vor Scham die Backen brennen – indem ich so weiter ging, stieg auf einmal wie eine Wasserblase in mir der Gedanke auf: Und wenn du hier bliebest? Wenn du ganz hier bliebest, und Anna würde dein Weib? – Die Worte klangen mir im Ohr, als hätte eine fremde Stimme sie gesprochen; ich setzte mich in meinen schnellsten Schritt – lache nur, lache nur – wie um ihnen zu entfliehen, aber sie zogen neben mir her, wie der Mond neben einem laufenden Kind, das ihm zuvorkommen will. Ich blieb endlich stehen, um etwas Athem zu schöpfen und meiner armen gehetzten Seele Ruhe zu predigen. Da stand ich gerade vor der Hausthür des „kleinen Heinrich“, und indem ich hinübersah, entdeckte ich, daß die kleine Gestalt im Zimmer, nahe am offenen Fenster, im hellen leinenen Kittel rastlos auf und nieder fuhr wie ein Stempel im Schwung. Mitten in meiner dumpfen Verstörtheit mußte ich auflachen. Der Gute turnte und führte offenbar die schöne Uebung aus, auf den Zehen stehend in die Kniee zu sinken und sich wieder emporzuschnellen. Ich eilte weiter, damit er mein Lachen nicht hörte. Willst du auch so endigen? dachte ich im Gehen; soll das dereinst für dich einsamen Junggesellen an goldenen Sommertagen auch dein Feierabend-Vergnügen sein, dreißig Mal hinter einander die Kniebeuge zu machen? Mir wurde so kindlich wehleidig zu Muth, wie wenn ich wirklich ein Zwillingsbruder des armen Heinrich wäre, wie wenn ich mein Heimathsstädtle nie verlassen, nie die Luft der alten Römer geschmeckt hätte. „Mach’ einen Gang um die Stadt,“ sagte ich zu mir, „das wird dich wieder aufrichten, du weinerlicher Säugling!“ Aber wie hatte ich mich geirrt! Unter den alten hohen Bäumen, an der verfallenen Mauer entlang, an den halbverschütteten Gräben, meinen alten Spielplätzen, erwachten alle die verspotteten Stadtgrabengefühle; tausend Erinnerungen streichelten mich, ich sah meine Eltern, meine Gespielen, meine kleine „Braut“, die zärtliche Anna, um mich her, mir ward so weich und so wehe. Die dämmernde Nacht legte sich brauner um die Mauern und Thürme, die hinabsinkende Mondsichel erschien mir wie die ausgeblichene Sonne jener Jugendzeit, die noch einmal die alten Wonneplätze zu vergolden suchte, und zwei kindliche, knabenhafte Thränen standen mir im Auge, die ich mit einem Gefühl zerdrückte, Schwester, als hätt’ ich nun Allem, was mir lieb war, die Augen für immer zugedrückt.

Endlich lenkte ich wieder dem Hause der Tante zu, es möchte daraus werden, was da wolle… O, diese Erregung, als ich wieder vor der schmächtigen hohen Thür stand und zu den schon erleuchteten Fenstern hinaufsah – ganz mit der beklemmten Brust, dem fassungslosen Gefühl, mit dem ich vor so vielen Jahren – –

Aber wie soll ich Dir das erzählen, liebste Schwester, was nun folgt? Gott, wie wird mir’s so schwer! Wenn ich an jenen Augenblick zurückdenke, da ich nun oben in die Thür trat, in meiner Knabentrunkenheit zu Allem entschlossen, – und Anna mir an Walter’s Arm entgegenkam! Nein, erlaß mir den Rest, thu mir die Liebe, Alles zu errathen.

(Am anderen Morgen.) Der Brief ist noch nicht fort; ich konnte gestern nicht weiter. Heute Abend reise ich ab. Mein Kopf ist elend, Alles wird mir schwer; aber es muß ja sein! – Ja, liebe Julie, Anna ist verlobt, und damit endet unsere Geschichte. In jener Stunde hatte er um sie angehalten. Bemerke die Ironie des Schicksals! – O, doch dem Himmel sei Dank, ich bin nun wieder frei, frei wie der Vogel, dem man unerwartet die Thür seines Käfigs geöffnet – hinaus, hinaus!

Wie er mir sie vorstellte als seine Braut, und was ich darauf gestammelt und wie ich wieder hinauskam, – das Alles weiß ich nicht mehr. Ein Traum ist klares Bewußtsein gegen so ein betäubtes Erwachen. Ich sehe nur ihr blasses, todtenblasses Gesicht und ihr Lächeln – Julie, was für ein Lächeln! – Lebe wohl.




Siebenter Brief.

Ich sitze in einem Wirthshauszimmer in der Residenz, liebe Julie, sitze, lauf’ umher, werfe mich auf’s Sopha, laufe wieder, trommele an den Fensterscheiben, singe und lache – und weiß nicht, werd’ ich diesen Brief zu Ende schreiben oder nicht? Juliette, ich habe die seltsamste Eisenbahnfahrt erlebt, die mein armes Gehirn sich hätte erträumen können!

Es war also heute Abend geworden und ich reiste ab, und zwar in der allerkläglichsten Verfassung. Mir schlotterte meine Seele; ich fühlte nun erst ganz, wie fest ich mich in einem gewissen Hause vor dem Mühlenthor eingewurzelt hatte. Italien – ich werde schon wieder lächerlich, Julie – Italien erschien mir in weiter Ferne wie ein Gerüst, auf dem man zu spät gekommene Liebhaber hinrichtet. Einsam und auf Seitenwegen, wie ein Verbrecher, schlich ich dem Bahnhof zu und hatte wirklich so ein Gefühl, wie wenn mein letztes Stündlein geschlagen und das Armesünderglöcklein schon zum zweiten Mal geläutet hätte. Eben wollte ich einsteigen, als ein Junge herantrat und mir einen Brief übergab. Ich sehe die Aufschrift an, glaube die Hand eines meiner Jugendfreunde, der Cigarrenhändler geworden, das heißt eine unbezahlte Rechnung, zu erkennen und stecke sie ruhig ein, und wir Beide – der Brief und ich – rollen davon. Ich drücke mich in eine Ecke und mache die Augen zu, um jeder Anrede auszuweichen, und versuche, nach alter Uebung, durch ein halbschlafendes Hinbrüten, meinen erbärmlichen Gefühlen wenigstens die scharfe Spitze abzubrechen. Aber diesmal gelang es schlecht. Unbeweglich stand es mir vor der Seele, daß ich so abschiedlos davongegangen, so besiegt, so in die Flucht geschlagen – und Sie und ihr trauriges, blasses Lächeln.

Julie, bei dieser Stelle bin ich wieder aufgesprungen und umhergerannt. O, warum schreib’ ich Dir? warum kann ich nicht plötzlich die Hand auf Deine Schulter legen und Dir sagen: es ist vorbei, ich werde sie glücklich sehen und glücklich sein? Zwinge Dich, liebe Seele, schreibe, schreibe! – Ja, ich schreibe. Ich hatte mehrere Stationen hinter mir, das Land und die Nacht flogen vorüber, eine gewisse dumpfe Traurigkeit begann mich wie eintöniger Ammengesang einzulullen. Mir kamen – wie es so geht – ein paar italienische Verse in’s Ohr, die ich einmal in Siena von einem blinden Sänger gehört und in mein Taschenbuch geschrieben hatte. Sie stimmten wunderbar zu meiner Verfassung, es war mir eine Wollust, sie mir vorzusagen, in ihrem schwermüthigen Wohllaut zu schwelgen, aber ich blieb stecken, mein Gedächtniß versagte. Ungeduldig griff ich endlich nach meinem Taschenbuch, um sie bei dem flackernden Licht unserer Wagenlampe nachzulesen, und zog dabei den ganz vergessenen Brief mit heraus, glaubte nun auf einmal eine andere Handschrift zu erkennen, öffnete ihn – und las.

„Mein Freund!“ (ich muß ihn Dir abschreiben, Wort für Wort.) „Ich halte es für meine Pflicht, Ihnen eine Mittheilung zu machen, die vielleicht das Glück zweier Menschen bewirken kann, wenn ich auch mein eigenes zu Grabe trage. Als ich mich durch eine plötzlich groß gewordene Neigung hinreißen ließ, um unsere gemeinsame Freundin Anna zu werben, glaubte ich mich überzeugt zu haben, daß Sie an ihre Hand keinen Anspruch machten, glaubte auch annehmen zu dürfen, daß Anna’s Herz noch frei sei. Indessen schon Ihr Benehmen, mein Freund, als Sie uns verlobt fanden, Ihr schlecht verhehltes Entsetzen, Ihre hastige Flucht und Anna’s Ergriffenheit hatten mich mehr als nachdenklich gemacht. Heute Nachmittag aber hat mich ein Geständniß vollends aufgeklärt, das unsere kurze Verbindung nothwendig wieder aufhebt. In einer Stunde, die für mich vielleicht die schwerste unseres ganzen Lebens war, hat sie mir unter vielen Thränen erklärt, sie habe sich gelobt, nie mehr gegen irgend einen Menschen unehrlich zu sein, und am wenigsten gegen mich. Sie habe gestern in einer unglückseligen, bis zur Sinnlosigkeit verdüsterten Stimmung sich hinreißen lassen, meine Frage an ihr Herz zu bejahen; heut müsse sie mir sagen, daß sie unfähig sei, mir dieses Wort zu halten, daß sie es nur gegeben, um ihrem Gefühl für einen Andern zu entrinnen, daß sie mir ihre unselige Uebereilung abbitte, daß sie unglücklicher sei, als ich jemals werden könne. Mehr bedurfte es nicht, um mir meine Handlungsweise auf’s Klarste vorzuzeichnen und das herbeizuführen, was ich nun thue, indem ich Ihnen schreibe. Ich war nicht ohne Schuld, ich hätte es bemerken müssen, daß sie einen Andern liebte. Mein Schicksal hoffe ich mit der Zeit zu verwinden. Ihnen Glück zu wünschen vermag ich nicht; lassen Sie [806] sich daran genügen, daß ich als ein ehrlicher Mann Ihnen bereitwillig und offen aus dem Wege trete.“

Ich hatte diesen Brief kaum gelesen, Julie, so sprang ich auf und rief: Halt! wie wenn ich, statt im Eisenbahnwagen, in einer Kutsche säße. Die ganze fahrende Gesellschaft sah mich wie einen Tollgewordenen an, lächelte, zischelte; mir war Alles gleich, ich hatte genug zu thun, mir klar zu machen, daß ich warten und aushalten müsse, bis der Dampfwagen so gefällig sein werde, still zu stehen. Endlich hielten wir, ich sprang hinaus und wollte sogleich zurückfahren. Nun besann ich mich erst, daß vor dem andern Morgen kein Zug mehr dahin abgehe. Und so stand ich nun da und mußte, wohl oder übel, mit meiner grenzenlosen Erregung, meiner Erwartung, meinem angstvollen Glücksgefühl in ein Gasthaus wandern und die lange Nacht wie angekettet verwachen. Und da sitz’ ich und schreibe. Ja, meine Julie, ich habe sie lieb über Alles, und mein muß sie werden! Nun ist es heraus aus dieser närrischen, verhangenen Brust, und klar steht’s mir vor Augen. Sie soll nicht unglücklich sein! Sie soll erfahren, daß ich ein Mensch von ernsten, treuen, ganzen Gefühlen bin, daß ich sie unsinnig liebe. Ja, nun weiß ich es, und die ganze Welt soll es wissen. Auf dieser Hand will ich sie tragen, ihr Reich soll das meine sein, ihre Blumen will ich begießen, ihre Lieder mit ihr singen, ihr Lachen mitlachen, ihre Thränen wegflüstern – und wo wir sind, ist die Welt! Was gilt mir Rom? Was soll ich jenseits der Berge? Ein Mensch, ein Mensch, und alle Ruinen, alle Felsenstädte, alle duftigen Fernen sind ein Schattenspiel, das vor dem Strahl eines beseelten Blicks verschwindet! –

Ach, und dieser Walter, dieser Unglückliche – hat er Dich nicht gerührt? Guter, edler Mensch, laß mich Dich in Gedanken drei Mal umarmen! Wär’ er ein Römer, Julie, er hätte seinen Nebenbuhler mit einem untadelhaften Stiletstich bei Seite geräumt; er ist ein Deutscher und zerdrückt verschämt seine Thränen und sagt mir: nimm sie hin! Wie vergelt’ ich ihm das? Was kann ich thun, als daß ich ihm im stillen Herzen meine Liebe erkläre und mir heilig gelobe, das Mädchen, das er lieb hat, unsäglich glücklich zu machen?

O wär’ es erst Tag und läg’ ich an ihrem Fensterplatz zu ihren Füßen!




Achter Brief.

Gute Nacht! Julie, ich habe mein Schicksal versucht, und nun ist es aus. Für immer aus und vorbei! Lebe wohl, ich bin schon unterwegs; aus Rom schreib’ ich Dir mehr, jetzt versagt mir Alles. Meine blinde Hoffnung hatte mich betrogen. Es sollte nicht sein, man war ohne Zweifel zu gut für mich – o, ohne Zweifel! – Ich weiß nicht, was ich schreibe; lebe wohl. Mir ist, als ob die Erde unter mir wankte und bebte. Ein kleiner Zusammensturz aller Dinge, das wär’ es jetzt, was mir wohlthäte! – Bleib’ Du mir treu. Gute Nacht.



[817]
Neunter Brief.

Aus Monterossi, am Rande der Campagna, etwa fünf Meilen von Rom.

Der Vetturin übernachtet hier, liebe Julie; morgen in aller Frühe brechen wir wieder auf, der Siebenhügelstadt zu. Der Wind heult um das Haus, Gewitterregen knattert an die Scheiben; bei der trübsten aller Lampen sitze ich neben meinem Bett auf einem wackelnden Stuhl und suche mich durch Schreiben vor der schlaflosen Einsamkeit zu retten. Ja, meine theuerste Julie, Du sollst endlich Alles erfahren! Ich kann nicht nach Rom hinein, eh’ ich mir diese Last von der Seele geschüttelt; ich kann nicht an Dich schreiben, ohne Dir Alles zu beichten.

Aber das Herzblut steigt mir in’s Gesicht, bis zum Stirnhaar hinauf, wenn ich an dieses demüthigende Bekenntniß denke. Noch immer fass’ ich es nicht. … Als ein eitler, selbstzufriedener Narr, voll der hochfahrendsten Gewißheit, fuhr ich an jenem nächsten Morgen nach Hause zurück. Der Gedanke machte mich selig, sie zu beglücken. Ich entwarf schon alle die Reisepläne, die ich mit ihr ausführen wollte, um ihren Geist vollends aufzuwecken, ihre begonnene Erziehung zu vollenden. Ich sah mich schon mit ihr im Pantheon, auf dem Palatin und führte sie unter den ewigen Rosen des Monte Pincio spazieren: Und endlich landete unser langsamer, überfüllter Zug, und da stand ich in unserem Bahnhof, als wär’ ich von einer weiten, langen Reise heimgekehrt, und wie ein Eisenhammer schlug mein Herz. Es war Sonntag und das goldenste Wetter – o, ein Tag, Julie, wie dazu geschaffen, um sich im Angesichte aller Engel zu verloben! Eine Blumenverkäuferin stand am Weg, ich kaufte ihr schönstes Sträußchen und wand ein rosenfarbenes Band herum, das ich vor wenig Tagen einmal in einem von Anna’s Büchern als Lesezeichen gefunden und in einem ersten Anfall verliebter Tändelei zu mir gesteckt hatte, und so wanderte ich, bei traulichem und erhebendem Glockengeläute, ihrem Hause zu. Die Köchin, die gute Sophie, saß im Sonntagskleid vor der Thür und lächelte mich an. „Sind Sie schon von Rom zurück?“ sagte die Spitzbübin. „Hier finden Sie Niemand zu Haus, den ganzen Tag nicht: die Herrschaften sind mit einer fremden Dame auf den See gefahren und wollen in ‚Marieneh’‘ zu Mittag essen.“ Ich kehrte, ohne „Ah“ oder „O“ zu sagen, stracks wieder um und eilte ihnen nach. Auf dem Wasser schwammen eine lange Reihe von Kähnen mit geputzten Menschen, die alle den Sonntag am See genießen wollten. Die leichten, weißen Wolken spiegelten sich so schön, die Wälder am Ufer dunkelten ernst in diese blaue Heiterkeit hinein, der leise, erfrischende Wind schien mich fast zu tragen, Alles, Alles stimmte mich glücklich und froh, alle die Tage standen mir vor Augen, wo ich hier Anna und unser verstorbenes Cousinchen gerudert oder einsam schaukelnd die Abendstunden verträumt hatte.

Endlich erspähte ich den Kahn, den ich suchte; ich schwenkte mein Taschentuch, rief sie an, lief ihnen am Ufer eine Strecke entgegen. Sie bemerkten mich und kamen zurück. Ich glaubte, Anna bei meinem Anblicke heftig erschrecken zu sehen, doch als das Boot sich dem Ufer näherte, begrüßte sie mich mit ihrer gewöhnlichen Fassung. Nun erkannte ich auch die Fremde, die neben ihr auf der Bank saß: Frau Amanda, meine gute Freundin, im Reisekleide wie eine Engländerin und Anna’s Hand in der ihren. Ich war verwundert, sie in dieser Gesellschaft zu sehen, doch nur einen Augenblick, denn alle Gedanken vergingen mir im Anschauen dieses Mädchens, das mir die Sinne verwirrte. In ihrem hellen Kleid, unter dem breiten, zierlichen Strohhut war sie so reizend, sie war wieder das Märchenkind, das sie in ihrer ersten Knospenzeit gewesen; ein liebliches Durcheinander von aufgeregter Heiterkeit und plötzlichem Ernst, das mich Unglücklichen bezauberte; ich schwankte fast wie ein Trunkener, als ich einstieg. Die Tante bestürmte mich mit Fragen, warum ich wieder da sei; ich antwortete, was ich mir ausgedacht hatte, aber wie aus dem Traum. Anna saß still, und schwieg. Endlich umschlang sie Frau Amanda mit einer seltsam leidenschaftlichen Zärtlichkeit und sagte: „Auch ich werde reisen, und mit dieser holden Frau, – weit, weit in die Welt hinaus!“

Nun erst fiel mir ein, was ich selber Dir einst geschrieben hatte, und ich starrte diese plötzliche Erfüllung meines eigenen Wunsches mit unfrohen Augen an. „Wohin?“ fragte ich stammelnd. „Das ist unser Geheimniß,“ antwortete sie und lächelte so kühl vor sich hin, daß mir alles Fragen verging. „Wir haben uns schnell in einander verliebt,“ sagte Frau Amanda und sah dabei das Mädchen mit innigen Blicken an, „und ich hoffe, wir werden in aller Welt gute Freunde sein!“ – „O, hinaus, hinaus,“ rief Anna mit einer zitternd seligen Stimme, – „mir ist schon, wie wenn ich Flügel hätte! So lange Jahre hab’ ich mir’s gewünscht, geträumt und geträumt und saß hinter meinem Drahtgitter und ließ mich von meiner guten Kerkermeisterin mit Zucker füttern,“ und sie warf einen Blick auf die Alte, der wie Sonnenschein über deren ganzes Gesicht hinüberging, „und nun kommt auf einmal eine weiche Hand und holt mich freundlich heraus und trägt mich [818] über alle Wipfel und Berge!“ Sie schwärmte, sie sang, sie ließ das Wasser durch ihre Finger gleiten, sie drückte Amanda’s Hand, ihr ganzes Wesen schwebte höher und höher. Sie schien so glücklich zu sein. Mir that das Herz weh, – ich kann Dir’s nicht sagen.

Ich starrte eine Weile vor mich hin; endlich blickte ich sie wieder an und sah, wie ihre feuchten Augen auf mir ruhten. Mir war, als müßte ich mitten unter den Menschen aufschreien: „Anna!“ und ihr im engen Kahn vor die Füße stürzen. Sie aber sah wieder kalt und abwehrend zu mir herüber und sagte in gleichgültigem Ton: „Frau Amanda hat mir auch Grüße von Deiner Schwester gebracht, für Dich und mich. Sie glaubte Dich noch hier.“ – „Kennst Du denn meine Schwester?“ fragte ich verwundert. Das räthselhafte Mädchen wandte sich zur Seite, spielte wieder mit dem Wasser und sagte endlich: „Wer weiß!“ Ich starrte sie an und wollte eben Aufklärung begehren, als plötzlich die Tante etwas in die Höhe fuhr und mit ihrer geräuschvollen Stimme flüsterte: „Dort am Ufer geht Walter, Anna, aber von uns hinweg. Er will wohl über Land, zu seinen Eltern.“ Anna ward bleich und roth, starrte in’s Wasser hinein mit unbeweglichen Gliedern und zusammengepreßten Lippen, und schwere Thränen traten ihr in die Augen. „Er wird noch glücklich werden,“ setzte die Alte nach einer Pause hinzu, um nur etwas zu sagen, da wir Alle schwiegen; „er wird die Emilie heirathen, die er von Kind auf so gern gehabt hat; man bleibt doch immer am besten bei der ersten Liebe!“ Anna zuckte zusammen. Wir saßen wieder in der peinlichsten Stille. Ich war unsäglich beklommen, ohne zu wissen, warum, all’ mein Muth war dahin, es legte sich mir wie ein kalter, nasser Mantel um’s Herz, und ich gewann erst wieder Athem, als wir endlich an’s Land stiegen.

Die Mittagszeit kam heran, aber noch immer fand ich keinen Augenblick, meine überfüllte Seele zu entladen. Wir aßen im Wirthsgarten in einer Laube am Wasser; die ersten Rosen dufteten herein, Bienen und Hummeln summten, der See plätscherte mit der ganzen süßen Geschwätzigkeit kleiner Strandwellen heran, aber ich, Julie, ward immer stummer und stummer. Frau Amanda fragte mich nach Tausenderlei von Rom und römischem Leben, und nie in meinem Leben hatte ich weniger Sinn und Verlangen, von Rom zu reden. Ich mußte ihr von den Wirthshäusern, von der italienischen Küche, von den gesunderen Stadtquartieren erzählen, und meine Seele lechzte in Bangigkeit nach einem Zwiegespräch mit ihr, die mir in wechselnder Farbe gegenübersaß. Endlich hatten wir abgetafelt; die Tante und Frau Amanda zog sich zurück, um ein wenig zu schlummern. Als ich sie bis an’s Haus begleitet hatte und fast zitternd vor Erregung mich nach Anna umsah, war sie verschwunden. Ich suchte sie, ging verstört dem Wasser zu und nun sah ich sie in unserem angebundenen Kahn am Steuer sitzen; sie hatte ihr braunes Schirmchen aufgespannt, sich gegen die Sonne zu schützen, und träumte ernst in das Land hinaus.

Ich näherte mich und fragte, ob ich einsteigen, ob ich sie ein wenig stören dürfe. Sie konnte ihre Aufregung nicht verbergen und nur ein stummes, sichtbar erzwungenes Kopfnicken gab mir Antwort. Nun faßte ich mir dennoch ein Herz, löste unvermerkt den Kahn vom Ufer und trieb ihn mit einem langen, sanften Ruderstoß gegen die Landungsbrücke auf den See hinaus.

„Das war nicht die Meinung,“ sagte sie.

„Verzeih’,“ antwortete ich, „was ich Dir sagen möchte, Anna, soll Niemand hören, als der schweigsame See. Laß uns nur immer ein wenig hinaustreiben! Anna, ich bin ein unglücklicher Mensch. Ich habe Dir weh, ich habe Dir Unrecht gethan. Ich habe mein Herz nicht gekannt, und als ich es erkannte, war’s zu spät. Doch nein, Anna, zu spät darf es nicht sein! Was geschehen ist, ist ungeschehen, Du bist frei, Du bist Dein – –“

Doch wie kann ich, Julie, wie kann ich Dir das Alles wiederholen? Weiß ich’s noch, was ich sagte? Und wenn ich es wüßte, was liegt nun daran? Mein Herz lag ihr zu Füßen, meine Zunge sprach durch ihr Stammeln, und was ich sagen wollte, stand in meinen Augen, in allen Zügen geschrieben.

Sie hörte mich ruhig an. Sie wich mir nicht aus, ihre dunklen Blicke waren auf mich geheftet. Sie ließ den Schirm sinken, und die Sonne lag nun voll auf ihrer wachsbleichen Stirn. „Bist Du zu Ende?“ sagte sie endlich mit bebender Stimme.

„Ist das Deine Antwort, Anna?“

„Nein, so kurz ist sie nicht,“ erwiderte sie, „ich habe Dir Manches zu sagen. Du sollst mich nicht wieder verklagen können,“ fuhr sie mit einem unerträglich erschütternden Tone fort, „daß ich unehrlich oder verschlossen sei! Ich habe Dich über Alles lieb gehabt. Nein,“ unterbrach sie sich herb, und die plötzliche Röthe schlug ihr wie eine Flamme bis zur Stirn hinauf, „auch das wäre unwahr, ich habe Dich lieb, noch in diesem Augenblicke. Aber nie werd’ ich Dein Weib, niemals, niemals! Ich hab’ es mir geschworen. Weißt Du, was Du an mir gethan hast? Ich habe Dir Alles aufgeopfert, was ich hatte: mein altes Leben, meine Menschen, meine Ruhe, meine Unwissenheit; dem Gerede der Menschen hab’ ich mich preisgegeben, um in Deiner Gesellschaft wieder leben zu lernen, und nun hattest Du endlich einen Menschen aus mir gemacht, und mit dieser Last auf meiner jauchzenden, beladenen, wund gedrückten Seele ließest Du mich allein! Glaubst Du, daß Du noch das Recht dazu hattest? War ich nun nicht Dein? Durftest Du mich an dem neuen Leben, das Du mir gegeben hattest, verbluten lassen?

Ich habe gewartet,“ fuhr sie fort, und noch immer hör’ ich ihre dunkle, bebende Stimme, „ich habe gewartet mit geduldiger Seele, Tag für Tag hab’ ich in meiner vertrauenden, seligen Ergebenheit geharrt, daß Du mir sagen würdest: ‚Von nun an gehören wir zusammen, Du bist mein Weib!‘ Bin ich nicht sinnlos, Dir das Alles zu sagen? Als aber jene Abschiedsstunde kam und auf die Frage, die ich in aller Herzensangst hervorstieß, mir diese leere, todte Antwort zurückkam, – von dem Augenblick an war es aus zwischen Dir und mir! Da wußt’ ich, daß Du mit mir wie mit einem Vogel oder einer Blume gespielt hattest! Nun kannst Du gehen, Du bist frei, ich habe Dich in jener Stunde losgesprochen, an mich bindet Dich nichts mehr. Was ich zu tragen habe, trag’ ich allein; mein neues Leben will ich mir selbst zurecht machen, und ich werde Dir auch nicht die Liebe anthun, Dich zu hassen.“

– Ich hatte längst die Ruder aus den Händen sinken lassen, der Kahn trieb von selbst wieder dem Lande zu. „Nun weißt Du Alles,“ sagte sie, „Du hast es gewollt.“ Weiter hörte ich nichts mehr. Ich weiß nicht, Julie, was sie noch gesagt haben mag. Ich saß in meinem grenzenlosen Kummer da, ließ sie ruhig aussteigen, sah ihr nicht nach; was hätt’ ich ihr auch erwidern sollen? Ich fühlte in jedem Nerv, daß sie im Recht war. Ich hatte keinen Zorn, keine Erbitterung, keine Empfindung des Widerspruchs, nichts als den Schmerz, daß es so gekommen war, daß ich sie verscherzt hatte.

Als ich mich endlich umzusehen wagte, war sie verschwunden. Ich wollte weder ihr noch den Andern wieder begegnen; ich band den Kahn fest und lief am Ufer entlang nach der Stadt zurück. Und unterwegs kamen die bösen Gefühle herauf, die der erste tiefe Schmerz niedergedrückt hatte. Ich sah mich mißhandelt, beleidigt, gedemüthigt, verkannt; ich fühlte den Haß in mir aufsteigen, den sie mir so stolz verweigert hatte. In dieser Stimmung schrieb ich Dir jene ersten fassungslosen Worte. Damals wäre ich unfähig gewesen, Dir zu bekennen, was ich Dir jetzt – unter tausend Windungen des tiefsten Widerstrebens – zu meiner Buße bekannt habe. Damals war mir unmöglich, was vielleicht Alles noch gerettet hätte: zu Anna zurückzueilen, ihr auf den Knieen in offener Zerknirschung abzubitten. Mein Stolz war empört. Und nun ist Alles vorbei.

Ja, Julie, ich habe sie mit Recht verscherzt, ich bekenne mich schuldig. In grausamer Selbstverachtung sitz’ ich da! Ich kam als ein hochfahrender Thor in meine Heimath zurück. Ich habe Anna’s Seele zu gering geschätzt, weil sie zu meinen fremdländischen Idealen nicht stimmte. Ich habe mit ihr gespielt, leichtfertig wie ein Knabe mit ihrem vertrauensvollen Herzen getändelt, und als ich sah, daß ich schon zu lange getändelt hatte, da ließ ich sie mit ihrer Verzweiflung allein.

O, warum sind wir so blinde, eitle, selbstgefällige Thoren!

Was nun aus mir werden soll, das weiß ich nicht. Ich fliehe nun schon Wochen lang vor mir und ihr, und dem Einen kann ich so wenig wie der Andern entrinnen. Langsam, dann wieder hastig, dann wieder gleichgültig träg an irgend einem Ort an der Landstraße stille liegend, – so bin ich gereist und bis hierher gekommen, bis an die Schwelle von Rom – und dort, Julie, hoff’ ich zu vergessen. Kann ich es, so kann ich es nur in Rom. Und kann ich es auch in Rom nicht – – doch den Gedanken [819] laß mich nicht ausdenken, er führt in die todte Finsterniß. Begleite mich, Schwester, mit Deinen guten Gedanken! – Meine Seele ist weich wie nie, ich muß enden, oder ich zerfließe.




Zehnter Brief.

So leb’ ich nun also in Rom, liebe Julie, zum zweiten Mal, und wie hier vor einem Jahr mein Geist genas, so soll diesmal, denk’ ich, mein Herz genesen. Ja, ich fühle schon wieder die beruhigende Wirkung dieser ewigen Stadt, dieses versteinerten Märchens. Eine leise, beständige, sanfte Melancholie begleitet mich, in ihren linden Armen hoff’ ich nach und nach zu gesunden. Ich lebe still, ich meide die Trümmerwelt, weil sie mich elend stimmt und in meiner Wunde wühlt und mir die Ruhe der Seele fehlt, sie zu genießen; ich suche lieber das Lebendige auf, die immer junge Natur, das unendliche Licht, die sanften Lüfte. Wenn ich bei Tage in den hohen kühlen Sälen gesessen und die alten Handschriften entziffert habe, führ’ ich am Abend diesen oder jenen meiner Freunde vor’s Thor hinaus, in die nächste Campagna, in eine Villa, einen Weingarten, an’s Tiberufer, überall hin, wo Natur ist, und lerne wenigstens, wenn ich nicht genießen kann, und über ewigem Lernen such’ ich zu vergessen.

Ach, Julie, wie groß, wie schön, wie reich hier Alles gemacht ist! Wir gingen gestern Nachmittag in die Villa Albani, in der vor hundert Jahren Winckelmann so glücklich war. Nie ist mir italienischer zu Muthe gewesen, als hier. Schon der Eintritt mit dem plötzlichen Blick über den langgestreckten, sich leise absenkenden Ziergarten hinaus auf das im Sonnenlicht glühende Sabinergebirge ist so ganz überraschend, und nun der Weg durch die Buchsbaum-Alleen, zwischen den alten bemoosten Hermen hin, bis man auf den freien, von Blumenarabesken durchschlängelten Platz hervortritt und hier das herrlichste, formenreichste Bild sich in tausend warmen Farben harmonisch zusammenordnet: die Riesencypressen, die den Park begrenzen, die künstliche Tempelruine, aus wunderbar tiefgrünen Eichen entgegenschimmernd, und hinter ihr aufragend die classische Silhouette der Vorstadt Santa Agnese, und die in allen blauen und rothen Farbentönen hinauswachsende Campagna, aus der die fernen Bergstädte wie leuchtende Inseln aufsteigen, und endlich der braune Monte Gennaro und das ganze Gebirg – und das Alles verklärt von unermeßlichem Licht! Wir standen wie trunken da und wie wenn dieses ganze, durch einen Schöpfertraum hervorgehauchte Bild nach kurzer Schaustellung wieder versinken müßte. „Hier fehlt nun nichts mehr,“ sagte mein Freund, „als Mozart’sche Musik und ein göttlicher Wein…“ Das fuhr mir auf einmal wie ein Stich durch’s Herz. Ich war wieder aufgestört, ich fühlte, was mir fehlte.

Ach, was hilft es, Julie, daß ich Dir und mir von diesen Wundern erzähle? Als wir nach einer Stunde wieder aus der schönen marmorreichen Halle hervortraten, die Augen mit Statuen und Schönheit und Griechenthum angefüllt, und nun die Lichtverschwendung der untergehenden Sonne in’s Märchenhafte wuchs, die hohen Cypressen sich buchstäblich rötheten, der Thurm von Santa Agnese zu einem feurigen Ofen ward und wir in dieses Feuerwerk von Lebens- und Sterbensgluth des Lichtes stumm hinausstarrten – was half es mir, daß mein Geist anbetend bewunderte? Mir summte ein altes melancholisches Lied im Ohr, und schwermüthiger als jemals wanderte ich heim. Und in der Nacht fand ich keine Ruhe. Im Wachen wie im Traum war ich in meiner Vaterstadt, sah die Sonne hinter unserm See niedergehen, die Kähne, die Segel hin und wieder fahren; hörte deutschen Gesang, und unsere hellen, lachenden Mädchenstimmen, und unsere tiefen, feierlichen Sonntagsglocken – und endlich besann ich mich in tiefen Schmerzen, daß ich in Rom war.

Wohin soll ich hier flüchten? In den Kirchen verleid’ ich mir die Menschheit, in der Natur bin ich allein. Wenn ich in einem dieser christlichen Tempel das Geplärre höre und das stumpfsinnige oder heuchlerische Volk sehe, wie es seinen bronzenen Heiligen die Füße küßt, seine hastigen Gebete murmelt und die Augen verdreht, oder in Büßerinbrunst sich auf den Boden wirft und das Gesicht an die marmornen Fliesen drückt, oder die heilige Treppe des Lateran hinaufrutscht, – soll ich das noch für Menschen halten? Ich hatte mich heute wieder in eine der Kirchen verirrt; im innersten Herzen angewidert kam ich heraus und floh allein in die Campagna, um diesem Volk zu entrinnen. Aber die Oede da draußen bedrängte mir die Brust. Die Ruinen, die Gräberstraßen, die todten Gefilde – leben will ich, Julie, leben mit Meinesgleichen! im gegenwärtigen, augenblicklichen Dasein mich lebendig fühlen, lebendig und glücklich sein! Ich ging an den Teverone und sah, wie das riesenhohe Rohr an seinen Ufern gefällt ward; der Fluß wandert so still, so einsam, so geheimnißvoll durch das Weideland dem Tiber zu, sich hier und da an die wildbewachsenen Felsen herandrängend; weit und immer weiter zieht das Auge mit ihm den sanften, umdufteten Linien der Ferne zu, und ich, Julie, sah das Alles und schlich in Gedanken an unserm heimathlichen Flüßchen entlang und sah durch seine Weiden Anna’s gelben Strohhut herüberschimmern – und ganz Italien hätt’ ich für diesen Strohhut gegeben!

So wanderte ich denn endlich, ungebessert wie immer, zur Stadt zurück. Und wie ich so in meinen unaussprechlichen Gedanken durch die Straßen am Monte Pincio meiner Wohnung zu schlendere, hör’ ich auf einmal einen wilden, markdurchschneidenden Lärm; an der nächsten Ecke wickelte sich aus einer Frauengruppe ein junges Mädchen heraus, in rasenden Bewegungen und gellendem Schreien, zerschlug sich die Brust, riß wüthend an ihren langen Haaren und stieß wie sinnlos die andern Mädchen zurück, die sie zu besänftigen suchten. Weiter oben aber in der ansteigenden Gasse bewegte sich ein unruhiger Menschenknäuel, man hörte, wenn die gellende Stimme einmal verstummte, unheimliche Rufe durch einander; Alles blieb stehen, um die Auflösung dieses Räthsels abzuwarten. Nach einer Weile kam aus jenem Knäuel ein Wagen hervor und fuhr langsam auf uns zu, die Straße herab. Ein Gensd’arm saß neben dem Kutscher, in dem offenen Gefährt ein leichenfarbener Jüngling, mit aufgelösten Gliedern und durch den Tod geadelten, männlich schönen Zügen, das Hemd unter der Brust zurückgeschlagen, man sah seine blutige Wunde. Ein Freund hielt ihn im Arm, ein ihm gegenübersitzender Capuziner seinen kalten Puls. Als er vorbeifuhr, schrie das Mädchen so verzweifelt auf, daß ich zusammenfuhr: „Bruder! Bruder!“ – Die Frauen rangen mit ihr, um sie festzuhalten. Dann verschwand der Wagen, und die Unglückliche versank in eine dumpfe Stille. „Erstochen!“ murmelten die Leute um mich her. Auf einmal stand eine ältere Matrone neben mir, sah mit nassen Augen, aber einem erstarrt stillen Gesicht uns an und sagte scheinbar ruhig: „Das ist mein Sohn.“ Weiter nichts. Ich schüttelte mich und ging von dannen. Mir schauderte die Seele. Im Vorbeigehen hörte ich die Leute sagen, der Andere hab’ ihn aus Eifersucht erstochen; es fiel ihnen nicht auf, sie waren daran gewöhnt. Er war der Bevorzugte, der Geliebte, da mußte er freilich sterben! O Julie, ein Haß überkam mich auf dieses Volk. Sie sind das Leben nicht werth. Mir fiel wieder Walter ein, der Gute, Edle – und damit mein ganzes elendes, unsinniges Schicksal – und ich schlich bei Seite, den ödesten Straßen zu, um meine unaufhaltsamen Thränen zu verbergen.

Julie, Schwesterherz, wie soll ich hier genesen? Alles reißt nur an meiner Wunde, ich weiß keinen Balsam, ich sehe keine Rettung.




Elfter Brief.

Liebe Julie, ich habe eine Gelegenheit gefunden, mit einem Freund auf ein paar Monate nach Neapel und Sicilien zu gehen, und habe sie eilig ergriffen. Hier in Rom halt’ ich’s nicht aus. Bewegung, Veränderung! Das Reisen, das eifrige Arbeiten – denn ich setze dort meine Studien fort – wird mich wenigstens nicht in den Abgrund meines kläglichen Ich versinken lassen… Ich sage Dir, ich kenne mich nicht mehr. Wie ein Jüngling ging ich von hier nach Deutschland, wie ein Greis komm’ ich zurück. Oder nein – wie ein Mann, aber ein unglücklicher Mann! – Doch kein Klagwort mehr, ich muß es tragen.

Morgen ziehen wir davon. Heute noch einmal in die Campagna und in’s Pantheon, und dann hinweg,

Der Flüchtling ich, der Unbehaus’te!
Der Unmensch ohne Zweck und Ruh’!
Der wie ein Wassersturz –

Doch lies es nach, Julie, es sind goldene, grausame, unerbittliche Worte!



[820]
Zwölfter Brief.

Mein Brief von gestern liegt noch auf meinem Tisch, und ich sitze noch hier in Rom. O Du Verrätherin! O Du liebe, hinterlistige – – Doch nein, das will ich nicht sagen. Fasse Dich, alter Friedrich, überstürze nichts; laß sich Alles, was Dir geschehen, vor den Augen Deiner neugierigen Leserin langsam entwickeln! Ja, was wollt ich noch? Ich wollte Dir vor meiner Abreise noch etwas erzählen, eine kleine, wunderliche Geschichte; lies sie recht aufmerksam, liebe Seele, und erwarte das Ende.

Ich wollte heute Morgen fort; das hatte ich Dir geschrieben. Aber ohne einen letzten Abschied von meinen Lieblingsstätten wollt’ ich nicht gehen. Ich hatte zwei meiner Freunde beim „Carlin“ gefunden und zog mit ihnen hinaus auf die Via Cassia, auf die Höhe der alten Straße, von wo der Reisende den ersten und letzten Blick auf die ewige Stadt hat. Wir aber hatten uns bald unter ein paar mächtigen Korkeichen gelagert, denn die Sonne brannte gewaltig und alles Blut stand mir in den Augen. Wir fingen an, wie Zigeuner vor uns hinzuträumen. Unten auf der Straße zog das festtäglich bunte Landvolk vorbei, Büffel schlenderten vor ihren schwerbeladenen Karren her, und der einförmige, uralte, einschläfernde Gesang des Treibers klang wie ein Ammenlied an unser schon halb eingewiegtes Ohr. Unter meiner Hirnschale entstand ein wohlthuend dumpfer Traumzustand, der mich unfähig machte, Kummer zu haben; mir war ungefähr so wohl wie den Ziegen und Schafen, die an den steinigen Abhängen umherkletterten.

Als es Abend werden wollte, schlichen wir langsam nach der Stadt zurück. Ich löste mich unter einem Vorwand von meinen Gefährten ab und wandelte dem Pantheon zu, um dort noch einmal an Rafael’s Grab mich meinen römischen Erinnerungen hinzugeben. Der Abendhimmel leuchtete durch die große Kuppelöffnung melancholisch feierlich herunter; der hohe edle Raum wirkte wieder, wie er es immer gethan, befreiend und lindernd auf meine arme Seele. Und in diesem alten heidnischen Gewölbe die große Lorenzettische Madonna, mit ihrer barbarischen hohen Silberkrone, Silberherzen an rothen Bändern über ihren marmornen Arm gehängt, und um sie her an der Wand Hunderte von geopferten Herzen und Händen – mir wurde seltsam um mein eigenes Herz. Wäre ich ein Gläubiger gewesen, so hätt’ ich mich hier auf die Kniee geworfen, Julie, und die gute Madonna um ihre Vermittelung bei der guten Anna gebeten! – Aber indem ich das denke, spricht auf einmal etwas mit halblauter, ein wenig zitternder Stimme hinter mir: „Friedrich, willst Du mich noch?“

Julie, die Frage kam mir in diesem Augenblick so unerwartet, daß ich in der Ueberraschung fast vergessen hätte, mich nach der freundlichen Stimme herumzudrehen. Ich dachte in die harten Marmorplatten zu versinken. Doch Du Verrätherin weißt es schon, wer hinter mir stand! – Sie trug ein reizendes Reisekleid, in dem ich sie nie gesehen, und lächelte mich an, aber als ich sie nun fassungslos mit meinen Blicken verzehrte, traten ihr die Thränen in die Augen. „Ich habe Dich endlich gefunden,“ sagte sie und gab mir ihre weiche, warme Hand. „Seit drei Tagen hab’ ich dich gesucht, und auf der ganzen Reise hoffte ich nur auf Rom und Dich; und nun sage mir, Friedrich, ob Du mich noch lieb hast, ob Du mich noch willst?“ Sie glühte dabei vor Erröthen auf, aber nur einen Augenblick; dann sagte sie mit dem süßesten Lächeln: „Ich muß eilen, Dich aufzuklären, sonst erwachst Du mir nicht aus Deiner Verzauberung! Hier an meinem Herzen hab’ ich die Zwischenträger, die mich über Dich erleuchtet haben,“ und sie zog aus ihrem Busen ein Häuflein Papiere hervor, die ich sinnlos anstarrte, ohne sie zu erkennen. „Ich war sehr dreist,“ setzte sie leiser hinzu, „es sind Deine Briefe an Deine Schwester, sie hatte Mitleid mit uns, sie hat sie mir geschickt; ich habe sie alle gelesen. Und nun kenn’ ich Dich ganz. Willst Du mir verzeihen, Friedrich, was ich unglückliches Mädchen Dir zu Leide gethan?“

Ich hatte nur immerfort ihre Hand gedrückt. Nun endlich sagte ich wohl auch etwas, aber ich glaube, Julie, etwas Besonderes wird es nicht gewesen sein! Wir lagen uns in den Armen und waren stumm. Mein Glück schmerzte mich in Kopf und Brust; ich bekenne Dir, ich konnte es kaum ertragen. Als ich endlich wieder aufsah, stand der Kirchenschließer in der Thür, ein langer, hagerer Mann, und klapperte ungeduldig mit seinen Schlüsseln. Aber nicht weit von ihm, in einer der Altarnischen, bog Frau Amanda sich vor, die ich nun erst entdeckte, und blickte in herzlicher Rührung zu uns herüber.

Ach, was sag’ ich Dir weiter? – Ich führte Anna hinaus; draußen, unter den alten gebräunten Säulen der Vorhalle, umschlang ich sie wieder und meine Schmerzen fingen an zu entweichen. Der Brunnen rauschte auf dem stillen Platz; ich sah mich auf einmal in Gedanken an dem plätschernden Brünnlein auf dem Hof in unserm Vaterhaus, wo ich als Knabe Anna zum ersten Mal begrüßt, ihr linkisch und blöd die Hand hingereicht hatte. Nun drückte ich sie an mein Herz und fühlte, wie alle die zerstreuten Bächlein meines unruhigen Lebens wieder gesammelt in einem Strom dahinflossen.

O Du Verrätherin! O Du hinterlistige, ränkevolle, liebe, theure, geliebte Verrätherin! Nun seh’ ich klar, nun durchschau’ ich erst die ganze Intrigue. Seit sie Dir, um Dich kennen zu lernen, jenen ersten Brief geschrieben, von dem ich niemals erfahren hatte, seitdem war meine kluge Schwester die geschäftigste Spinnerin, um an dem feinen Gewebe unseres Schicksals mitzuweben! Darum hatte sie es so eilig, meinen hingeworfenen Gedanken lebendig zu machen und eine nicht minder herzhafte Evastochter, die Frau Amanda, an Anna’s Seite zu bringen! Und darum warf sie, als wider ihr Ahnen und Erwarten meine Rückkehr und jener unselige Riß erfolgt war, Pflicht, Treu’ und Gewissen über Bord und schickte meine Briefe nach Rom, damit das neugierigste aller Mädchen sie lesen sollte, und während ich am Teverone saß und an Glück und Leben verzweifelte, saß dieses Mädchen hier auf diesem Platz, mit strömenden Augen und ihre Thränen flossen auf meine Beichte an ein verrätherisch mitleidiges Schwesterherz! – O ihr Frauen, ihr Kupplerinnen, ihr rettenden Engel! –

Frau Amanda und Anna sitzen im Nebenzimmer, ich schreibe in ihrer Wohnung, ich höre das unerträglich süße Flüstern – und länger halt’ ich’s nicht aus. Ich glaube, ich habe Dir den längsten aller Briefe geschrieben! Nun weißt Du Alles, leb’ wohl! – In diesem Augenblick tritt sie in die Thür und lächelt mich an, und da fällt mir ein, Du bist ja auch einmal verliebt und verlobt gewesen.

Nachschrift, eine Stunde später. Ich lasse Anna die Feder.

„Meine gute, neue Schwester! Mir schwindelt, das ist Alles, was ich Dir zu sagen weiß. Du hast mir das Leben gerettet; laß uns erst bei Dir sein, so will ich Dir’s auf Deinen Lippen danken!“

Und nun, liebe Julie, von mir noch ein letztes Wort! In dieser Stunde hat mir Anna, in holder Beklemmung, auch von jenem verzweifelten Augenblick erzählt, wo sie mit geschlossenen Augen in den Abgrund hineinspringen wollte und Walter ihr Jawort gab. Jetzt eben schreibt die Tante: Walter ist wieder bei ihr gewesen; er hat ihr versichert, er sei auf dem besten Wege der Genesung. Er werde bald mehr von sich verlauten lassen. Und so werden diesmal die Leute wohl Recht behalten: er wird seine Jugendliebe heimführen – und nicht er allein.

Ja, so ist es gekommen! O, daß Du Recht haben mußtest! Leb’ wohl, Du Schadenfrohe, bis meine dankbaren Arme Dich umschließen!