Erinnerung an Julius Mosen
Der Dichter, den sie jüngst begraben, war eine Erscheinung, die nicht erst der Verklärung des Todes bedurfte. Sie leuchtete schon im Leben wie ein schöner, heller Stern und wird leuchten im Gedächtniß derer, die ein Herz für deutsches Lied haben, die ihn kannten, die ihm näher standen. Wer den Mann vor dreißig Jahren sah, als seine begeisterten Polenlieder, vor Allem seine „Letzten Zehn vom vierten Regiment“, die Gemüther entflammten, als sein „Andreas Hofer“ entstand, den er, wie er einst selbst sagte, mit den besten Tropfen seines Herzblutes geschrieben – wer ihn damals sah – wie er fest und energisch einherschritt, das Haupt umwallt von tiefschwarzen Locken, von südlich gebräunter Gesichtsfarbe und einem Auge, so tief und gluthvoll blickend und von den dichtesten, hochgeschwungenen Brauen überschattet, daß man glaubte, einen Sohn der heißen Zone vor sich zu sehen – wie hätte der es für möglich gehalten, daß diese so glänzende, von der Natur verschwenderisch ausgestattete Erscheinung schon nach wenigen Jahren den Keim jener geheimnißvollen Krankheit in sich tragen würde, welche ihn auf ein Leidenslager streckte, wie dauernder und schmerzensreicher es das Geschick für einen armen Sterblichen nicht ersinnen kann!
Doch wir wollen heute nicht des unglücklichen, nur des glücklichen Dichters gedenken, wie er stand in der Vollkraft seines Schaffens, „tief in seinem Volke wurzelnd“, so recht ein Mann, dessen Gegenwart gleich anregend wie wohlthuend wirkte, den man hätte beneiden können, hätte man ihn nicht lieben müssen, denn kein Flecken trübte den reinen Spiegel dieser Seele; was er schien, war er, ein edler, ganzer Mann, still und erhaben in seinem innersten Gemüth – aufbrausend wie eine Wetterwolke, wenn es galt, ein Vertreter für heilige Menschen- und Volksrechte.
Es mag wohl im Sommer des Jahres 1839 gewesen sein, als Mosen ein kleines Landhaus im Dorfe Strehlen, eine Viertelstunde von Dresden entfernt, bewohnte. Unsere Wohnung lag daneben. Es hatte mich schon lange gedrängt, den Nachbar kennen zu lernen, aber wie es anfangen, ohne aufdringlich, ohne unbescheiden zu scheinen, war wohl ein berechtigtes Bedenken für einen unbedeutenden, jungen Menschen einem Manne gegenüber, der einen gefeierten Namen trug. Da, eines Sonntags früh – das rothe Fez, welches der Dichter gewöhnlich im Hause trug und von dem er wohl wissen mochte, daß es seinem tiefschwarzen Haar besonders gut kleidete, schimmerte eben recht verführerisch durch die herabhängenden Zweige der Obstbäume – konnte ich nicht länger widerstehen. Eben Ball schlagend, ward ich von dem Gedanken durchzuckt: wie wenn ich unversehens den Ball in den Nachbargarten schleuderte, hinüber spränge und mich entschuldigend die gewünschte Vorstellung [791] und Bekanntschaft herbeiführte? Gedacht, gethan, der Ball flog wundervoll hinüber, mitten in das Kaffeegeschirr; ein leichter Aufschrei seitens der Frau vom Hause, und ich stand alsbald röther und verlegener, als es wohl anfangs in meiner Absicht lag, vor dem Ziel meiner Wünsche. Lächelnd ward mir Verzeihung gewährt, und nach guter sächsischer Sitte mußte ich nochmals Kaffee nehmen, obgleich ich wiederholt versicherte, bereits gefrühstückt zu haben. „In diesen Tagen,“ verabschiedete mich Mosen, „wird Uhland kommen, und da Sie sich schon so lebhaft für einen Dichter dritter Classe interessiren,“ (dies sagte er leicht ironisch in Bezug auf eine kurz vorher erschienene hämische Kritik) „um wie viel mehr muß es Ihnen wichtig sein, einen erster Classe kennen zu lernen. Ich werde es Ihnen melden lassen; sobald er da ist, schicke ich herum.“
Uhland kam, und mit ihm als Cicerone Hoffmann von oder besser „aus“ Fallersleben, denn sein usurpirtes „von“ führte eine komische Verwechselung herbei, indem eine mit anwesende Dame Hoffmann kurzweg „Herr von Fallersleben“ titulirte, was er sich nachdrücklichst verbat, indem er zugleich, um weiterem Irrthum vorzubeugen, die Gesellschaft ersuchte, ihn für heute „aus“ Fallersleben zu nennen.
Uhland war auf einer Rundreise begriffen, um seine hoch- und niederdeutschen Volkslieder zu sammeln. Er schien so von seinem Reisezweck erfüllt, daß ich mich kaum entsinne, je einen schweigsameren Menschen gesehen zu haben. Hätte nicht schon der Name Uhland das Auge bewundernd und ehrfurchtsvoll auf den Dichter blicken lassen, der schärfste Physiognomiker hätte in dem kleinen, wortkargen und mehr als unscheinbaren Männchen nimmer den letzten großen Dichter Deutschlands gesucht. Mosen wie Hoffmann und nach Maß und Kräften die übrige Gesellschaft versuchten Alles, versäumten keine jener kleinen Aufmerksamkeiten, mit denen man einem verehrten Gaste den Kreis angenehm und heimisch zu machen strebt – umsonst! Der große Schwabe blieb ernst und in sich gekehrt und beantwortete die meisten Fragen mit sichtlicher Zerstreutheit. Die fühlenden Menschen, unter denen er sich befand, ehrten sein schweigsames Wesen, indem sie ihn ferner seinen stillen Träumen überließen. Nur als die liebenswürdige Wirthin dem Dichter die wohlgestopfte Thonpfeife reichte, glitt ein sanftes Dankeslächeln über seine trockenen Züge, denn er, von dem man wußte, daß er die altgewohnte „lange“ Pfeife liebte, verstand gar wohl die zarte Aufmerksamkeit, und blies dann behaglich die dünnen, blauen Wölkchen vor sich hin.
Mosen’s schöne Augen ruhten indessen mit wahrer Kindesliebe auf Uhland’s Gestalt, die Augen der Andern mit zwiefachem Genuß auf Beiden. Hier ein Poet, fast noch als „Jüngling-Mann“ – dort ein Dichter an der Grenze männlichen Strebens und mit einem Wesen, als wiederholten seine Lippen immer und immer wieder nur „Greisenworte“. Die weihevollsten Stunden schwinden nur zu bald – und so auch diese. Beim Abschied ergriff Mosen das Glas, und in seinem Innern arbeitete es gewaltig; er versuchte zu sprechen, setzte zwei Mal an, kämpfte die Thränen nur mühsam hinunter und umarmte zuletzt den kleinen, schwächlichen Mann. Wie Uhland mit Hoffmann aus dem Garten gekommen, wußten wir Alle wohl nicht recht, nur die Stelle, wo er gesessen, war plötzlich leer – und sie schien uns geweiht. Mosen zog sich früher zurück als sonst, und noch lange sah man den Schatten seiner Gestalt durch den Vorhang seines Arbeitszimmers auf und nieder gehen und hörte noch lange seine Schritte durch das leichte bretterne Häuschen.
1842 verschlug mich das Schicksal nach Oldenburg, der kleinen Residenz des Großherzogthums gleichen Namens. Der noch mehr im persönlichen Umgang als in seinen Schriften geistvolle Theodor v. Kobbe (gestand er doch einmal selbst, daß er zuviel „Honorar“ spreche) schrieb damals in seinen „Humoristischen Blättern“ unter die Oldenburger Fremdenliste: „todte Stinte“, ein Beleg, daß der Fremdenandrang in der Oldenburgischen Metropole eben nicht groß war. Was indessen an der Ausdehnung dieses Verkehrs mangelte, ersetzte hinreichend ein Kreis hochgebildeter Männer, der schlechtes Klima und Kleinheit der Verhältnisse leicht übersehen ließ, und unter dem milden Regiment des guten alten Großherzogs, dem treu zur Seite seine Gemahlin Cäcilie (Tochter des unter dem Namen „Oberst Gustavson“ bekannten Exkönigs von Schweden), eine seltene fürstliche Erscheinung stand, und mit einem kunstsinnig geleiteten Theater ließ es sich schon in der so nordisch abgelegenen Stadt von neuntausend Einwohnern leben.
Der Vorstand gedachter Bühne, Baron von Gall, einer jener ehrenwerthen Männer, welche ausnahmsweise das Theater nicht als Steckenpferd des Vergnügens oder der Langeweile, vielmehr als Kunstinstitut betrachtet wissen wollen, suchte im Stillen wohl schon lange nach einem Manne, welcher ihm mit gleichen Gesinnungen rathend und helfend zur Seite stehen möchte. Seine Intentionen nach dieser Richtung errathend, sagte ich ihm einst, auf Mosen’s Portrait, das in meinem Zimmer hing, deutend: „Einen solchen Mann wie Mosen könnten Sie wohl hier brauchen, Herr Baron.“ – „Wirklich?“ – Und nun erzählte und berichtete ich mit solchem Feuereifer von Mosen, daß zuletzt Herr von Gall mit den Worten schied: „Nun, wenn ich nächste Ferien nach Dresden komme, wird es mich freuen, den Mann, den auch ich hochschätze, persönlich kennen zu lernen; Sie führen mich dann wohl zu ihm.“ Und so geschah’s. Beide Männer fanden sich, wie es schien, schon im ersten Augenblick, und ich, als überflüssiger Dritter, verschwand pflichtschuldigst. Im nächsten Jahre ward Julius Mosen als Dramaturg des Oldenburger Hoftheaters mit Hofraths-Charakter installirt und bezog, wenn ich nicht irre, eintausend Thaler in Gold als Jahresgehalt, welche Summe ihm auch bis an seinen Tod verblieb. Ich erwähne dies ausdrücklich, entgegen gewissen dem widersprechenden Gerüchten, die sich gar zu gern darin gefallen, den deutschen Dichter ohne Ausnahme als darbend hinzustellen.
So traf ich eines Tages zu meiner nicht geringen Freude Mosen bequem auf dem Sopha sitzend bei Baron Gall in Oldenburg. Der neue Hofrath (ich hatte ihn doch kaum erst ein Jahr nicht gesehen) schien mir beleibter geworden als früher, in seinem Wesen lag etwas Passives, das sonst seiner Natur nicht eigen war. Und dem entsprechend entgegnete er mir, wohl nicht ohne Seitenhieb auf mein zu jener Zeit etwas excentrisches Wesen, als ich nicht umhin konnte, ihn lächelnd zu begrüßen: „Aber Sie haben ja eine wahrhaft Goethe’sche Ruhe bekommen, Herr Hofrath.“ – „Ja, wir wollen auch mit Goethe’scher Ruhe an’s Werk gehen und nicht mit der Wildheit eines jungen flüchtigen Rosses.“ – Ich bekenne, das verschnupfte mich, denn solche Sprache erinnerte ich mich in früherer Zeit nie von ihm gehört zu haben.
Dennoch gewann er auch in seiner neuen Stellung durch das Ehrenfeste und die Milde seines Charakters bald die aufrichtigsten Sympathien; wie er sonst in seiner Sphäre als Dramaturg wirkte, kann ich um so weniger beurtheilen, als ich kurze Zeit darauf Oldenburg verließ – ohne den Mann wieder zu sehen, welchem diese Zeilen in pietätvoller Erinnerung gewidmet sind. Seine späteren Leiden erfüllten gewiß mit tiefster Theilnahme die Herzen der Besten des Vaterlandes und sein Tod ergriff uns Alle, – denn auch er war ein treuer Hofer, auch er lag in Banden. Er starb aber tausend Mal furchtbarer noch als Hofer, und mit bebenden Herzen hören wir eins seiner letzten Worte: „Nicht einmal meine eigenen Thränen kann ich mir selbst trocknen!“