Herbsttage am Königssee
Herbsttage am Königssee.
Die Tage werden kürzer, die Touristenbesuche spärlicher, und nicht mehr wie in den Erntetagen der Saison steht der Schiffmeister an der Lände, um das Gedränge der Wallfahrer, die nach dem herrlichen Sankt Bartholomä steuern wollen, zu zertheilen. Lange währt es nimmer, und alle Thüren und Läden in dem Dorfe Königssee sind fest verschlossen, die Ruderknechte auf den Almen zerstreut, die schmucken Kähne zur Ueberwinterung in die dumpfen Schiffshütten geborgen. O du wonnige Sommerszeit, wo bist du geblieben! Es war kein sonderliches Vergnügen, den großstädtisch verwöhnten Magen mit der urwüchsigen Kost der Köche von Königssee zu laben, es war ein zweifelhaftes Ergötzen, das mörderisch verstimmte Klavier des Schiffmeisters – das einzige im Orte – wimmern und ächzen zu hören; aber was bedeutete all dies kleine Menschenleid im Vergleiche mit den hundert Herrlichkeiten, welche, täglich erneut, dieser wahre König unter den deutschen Alpenseen zu verschenken hatte! Der König unter den Seen – hat er seinen Namen von seiner eigenen Majestät oder davon, daß er dem Könige gehört? Gleichviel, wenn ich Musterung halte über die übrigen Seen im deutschen und österreichischen Alpengebiete, wenn ich an den Traunsee denke mit seinen flachen Nord- und seinen düster zerrissenen Südufern, an den Attersee, der fast wie ein Binnenmeer sich in die Ebene hinausdehnt, an das Miniaturpanorama des Hallstätter Sees, an Starnberg mit seinem unruhigen Billensaum und an den unbestimmten Charakter des Achensees, so dünkt es mich, daß der See im Berchtesgadener Lande gar nicht anders heißen könnte, als er heißt – der König über sie alle in seiner starren, unzugänglichen, fast beklemmenden Hoheit. Du hörst nicht den lästigen Pfiff der Lokomotive, kein Dampfschiff wühlt dreist den durchsichtig grünen Wasserspiegel auf – die Fische haben Ruhe und die Menschen auch vor den Danaergeschenken der Kultur, an denen sich unsere armen Nerven zu schanden leben. Ein ferner Schuß, ein hallender Jodler – das ist Alles, was dieser Königssee in seiner Nähe duldet, und zürnen kann er, daß du im Innern erbebst. Wenn es ihm zuviel wird der lachenden Touristenschwärme, dann verfinstert er sich, die Wellen schlagen wild an den Wänden empor, und weithin versagen die steilen Ufer dem geängstigten Schiffer die rettende Landung. An der Falkenstein- und an der Hachelwand, über dem Rentamtsloche siehst du in deiner Noth die zahlreichen „Marterln“,. Kreuze und Muttergottesbilder, schreckliche Gedenkzeichen an den Untergang unglückseliger Menschenkinder, welche von der Fluth verschlungen.
Mich hat tiefe Wehmuth angefaßt, als ich die Inschrift las, mit welcher Karl Stieler sich in das felsige Fremdenbuch des Königssees eingeschrieben. In die Steinwand grub er die Worte: „Weihnachten 1879“. Seitdem sind sechs kurze Jahre verflossen, und der Dichter ist todt. Damals – im Winter 1879 – war der mächtige Seespiegel eine einzige große Eisfläche, über welche die Holzknechte und die „Jagersleut“ ungefährdet dahinschritten. Der blonde Poet des Bayerlandes war unter ihnen schier wie ein Gleicher. Wie schnell solch ein Dichterleben erglüht und verlischt! Die Leute am Königssee wissen nichts von ihm und seinen Liedern; nur der Fels am Ufer bewahrt sein Andenken. Und weiter hinaus, über dem „Kessel“ tief im Waldesdickicht, steht ein armseliges hölzernes Blockhaus; darin hat bisweilen König Ludwig I. eine Nacht verbracht, um ungestört – zu dichten, wie er es eben vermochte. Auch heute noch pilgern phantasievolle Dichter in die einsame Ruhe dieser steinernen Romantik; Richard Voß hat sich unfern des Sees eine Villa in merkwürdig abenteuerlichem Stile erbaut, und Ludwig Ganghofer knallte heuer lustig auf Wildenten und Gemsen, wenn der „Edelweißkönig“, den er den Lesern der „Gartenlaube“ vorzustellen gedachte, ihn aus seinen arbeitsvollen Audienzen entließ. So kommt die Kunst alleweil als Gast zur Natur, und sie profitirt dabei mehr, als sie einzugestehen bereit ist.
Doch mit Verlaub, es ist nicht Jedermanns Sache, sich vom Watzmann oder vom Funtenseetauern zu dichterischem oder künstlerischem Schaffen anregen zu lassen. Wer kein leidenschaftlicher Bergsteiger ist und sich begnügt, auch unterhalb der Schneelinie die Welt noch schön zu finden, dem wird der Anblick des schauerlich ernsten Funtensees in der Höhe von 5000 Fuß nicht zu Theil, und die zweifelhafte Heldenthat, über das Steinerne Meer und durch die „Saugasse“ gekommen zu sein, bleibt ihm versagt. Wunderliche Gesellen, die im Lodenrock, mit nackten Knieen und mit dem Rucksack auf der Achsel an den Felsen hinanklettern, nur um sich rühmen zu können, daß der Großglockner für sie ein Spielzeug sei! Zur Gotzenalm, zum Roint, zum Jenner empor führen auch Gottes Wege, und herrliche Almen, dralle Sennerinnen, Gemsen in schwerer Menge findet man auch auf ihnen, der Fernblick aber ist von mittleren Bergen zumeist schöner und umfassender als von den Schneescheiteln der Riesen, die alle möglichen Hindernisse um sich her aufthürmen, damit die vorwitzigen Menschen sie nicht in ihrer Ruhe stören.
Ich habe den See viel Dutzendmal befahren, am frühen Morgen und bei leuchtendem Mondenschein, in brennender Mittagsgluth und wenn die Abenddämmerung herniederkam, aber niemals wandelte mich die Lust an, es den Gemsen gleichzuthun, die da droben ihre halsbrecherischen Galopaden über das bröckelnde Gestein machten. Mir war’s genug, nordwärts den sagenreichen Untersberg mit seinen wilden Zacken, südwärts die mächtige Schönfeldspitze vor Augen zu haben, wie sie, als hätte sie der Herrgott zu Wächtern bestellt, über den Seekessel daherlugen. Und wenn es denn schon sein mußte, so ließ ich mir von den Schifferleuten berichten über die grausen Abenteuer verirrter Forstgehilfen und eingeschneiter Holzknechte, über Lust und Leid der Liebe auf den Almen, wobei freilich zumeist das aus der Ferne so poetische Bergvolk recht realistische Züge offenbarte.
Es ist mißlich, ins Philosophiren zu gerathen, wenn das Auge, von zahllosen entzückenden Eindrücken ermüdet, die Herrschaft an den [771] bedächtigen Verstand abgiebt. Dann legt sich die graue Reflexion über alle Herrlichkeit der Natur, und unfruchtbare Melancholie gestaltet die Berghäupter zu eisgrauen Riesen, die den Menschen Böses sinnen, die Wellen zu tückischen Wassergeistern, welche gläubige Knaben und Mägdelein in die nasse Fluth hinablocken. Düster erscheint solcher Betrachtung, was im Sonnenscheine kurz vorher noch hell und licht gewesen. Der Königssee steht im Verrufe einer furchtbaren Ernsthaftigkeit, weil nicht lachende Ufer ihn umsäumen, sondern nacktes Gestein und kühle Waldeinsamkeit. Aber er ist gar nicht so ernsthaft, obgleich er – ein echter König – die Menschen erst eine Weile antichambriren läßt, bis er sich ihnen in seiner ganzen Größe zeigt. Mußt, neugieriger Besucher, erst um die kleine Christliegerinsel, um die von oben malerisch herabwinkende Villa Beust und um die Rabenwand herum, bis du daran glaubst, daß es ein wirklicher See ist, den du befährst. Dann aber weißt du nicht, wohin du zuerst den Blick wenden sollst in diesem wunderbaren Panorama zwischen dem Malerwinkel und Sankt Bartholomä, das, ein weißes Schlößlein auf grünem Vorsprung in der Ferne mit den Wellen zu verfließen scheint. Und wenn du endlich über Sankt Bartholomä hinaus bist, dann führt eine jähe Biegung zum Obersee, an dessen anderem Ende die Welt vor dir verbarrikadirt ist von den himmelhohen Wänden, die das Steinerne Meer gegen den See begrenzen. Hier allerdings ist erschreckende Stille, grandioses Schweigen, und man braucht kein Philosoph von Profession zu sein, ja nicht einmal ein Geologe, um an die Hilflosigkeit des kleinen Menschenvolks zu denken inmitten der zürnenden Gewalten der Natur. Was mag nur den mitteldeutschen Fürsten bewogen haben, sich in diese grausame Felsenöde ein zierliches Schweizerhaus hineinzubauen, in welchem er alljährlich ein paar Sommermonate verbringt? Studirt er als leidenschaftlicher Theatermann die Scenerie, um sie auf die Bühne zu übertragen, die ihm eine vielbestrittene Blüthe der Dekoration verdankt? Du lieber Gott, so naturwahr, wie diese finstere Wirklichkeit ist, möchte kein Maler der Welt ihr Abbild auf die Leinwand zaubern.
Alle Achtung vor dem Realismus, der heutzutage in Kunst und Dichtung das große Wort hat! Wenn er weiter nichts will, als sklavisch nachgestalten, was die Ohren hören, die Augen sehen, die Nase riecht und die Fingerspitzen tasten, so soll ihm sein Handwerk nicht verübelt sein. Aber schildere mir doch Einer den Glanz, der bei Sonnenschein auf dem Königssee liegt, die Nebel, welche ihn des Morgens verhüllen, mit dem unzulänglichen Mittel des Wortes und der Farbe. Ich spüre ein leises Frösteln und hülle mich fester in den Mantel; die Sonne ist noch nicht hinter dem Untersberg hervorgekommen; die Wellen murmeln um mein Boot ihr Morgengebet, und die Bäume am Ufer, halb herabhängend von dem kalten Gestein, flüstern geheimnißvolle Geschichten von der Nacht, die eben vor dem Morgenroth entflohen – wer sagt mir, was ich empfinde, was meine unruhig schweifenden Gedanken bewegt? Es knallt ein Schuß, und ich fahre unruhig auf; unter den Läufen einer Gemse, die zum Futterstande eilt, bröckelt der Fels; eintönig rieselt das Gewässer des Königsbaches zum See herab, und wie fernes Echo klingt der herzhafte Juchzer einer Sennerin durch die Stille. Dann wieder, zu vorgeschrittener Tageszeit, glitzern hundert Lichter über der Wasserfläche; der Blick irrt hinaus, bis wo sich der Horizont am Lattengebirge öffnet und der wunderliche Montgelaskopf die Aussicht begrenzt, dieses komische Bergeshaupt mit den Zügen eines alten Weibes, welche weiland König Ludwig so lebhaft an seinen Minister erinnerten, daß er dessen Namen in dem Berge verewigte; lachende Menschenkinder steuern über den See, und ein Tourist bläst auf dem Waldhorn melancholische deutsche Weisen. Solchen Eindrücken kommt kein Realist bei; sie wirbeln, stimmend und bestimmend, unaufhörlich durch einander und sind längst dahin, wenn man sie festhalten will.
Gemalt und besungen haben Viele den Königssee; drüben im Malerwinkel unter weißem Schirmdach sitzt ein bloßer Künstler und müht sich, eine „Abenddämmerung am Königssee“, einen „Blick auf die Saletalp“, ein „Sankt Bartholomä in der Morgensonne“ seiner Palette abzugewinnen. Oder ein junger Poet schaukelt im Kahne und kritzelt auf ein Blatt Papier pathetische Verse von der wilden Schönheit der Wasserfrauen, die den Fuß des Watzmann umgaukeln. Dann wieder gleiten ein paar Menschenkinder, bequem im Boote lehnend, über die Fluth und rechnen an der Hand ihres rothgebundenen Reisebuches dem See seine Tiefe, den Bergen ihre Höhe nach, daß die Tausende von Metern wie kleine Rechengroschen umherfliegen. Und auch solche Touristen sind mir begegnet, deren Einbildung nichts so sehr beschäftigte, wie der bevorstehende Genuß der Saiblinge aus den Fischkästen des Försters von Bartholomä.
So läßt jeder in seiner Weise die Natur auf sich Wirken, die Wenigsten aber fragen sich, worin denn nun eigentlich die Individualität des Königssees bestehe. Und gerade dieser See hat mehr als jeder andere, den ich kenne, seine ausgeprochene Individualität, die zugleich seinen vornehmsten Reiz bildet; daß er nur einen einzigen Zugang besitzt und, wo er aufhört, kein Reiseziel, keine Ausfahrt in die Welt bietet, daß er nicht eine Passage ist, sondern um seiner selbst wegen gesehen sein will, das ist seine Specialität. Er ist im wahrsten Sinne ein stolzer See. Und er hat deßhalb auch sein eigenes Wetter. Wenn der Wind aus dem See herauskommt, sagen die Leute, so ist gute Zeit; umgekehrt, wenn die Wolken von Reichenhall hereinziehen, kommt Sturm und Regen.
Herbsttage am Königssee – anfangs waren sie mild und weich, man nahm sie nur an dem raschelnden Laub, an den tieferen Farben des Wassers, an der lebhafteren Bewegung unter den leichtfüßigen Gemsen wahr. Dann aber kam der Wind und pfiff in kurzen Stößen aus dem See daher, die Nebel wurden dichter, und noch tiefer in den Wasserspiegel gesenkt schien das weiße Schlößlein von Sankt Bartholomä. Und eines Morgens waren die Berge allesammt, vom Hohen Göll bis zum Watzmann, fast bis an den Rand des Wassers herab von einer leichten Schneedecke umhüllt. Das war das Zeichen zum Aufbruch. Ach, er ist mir trotzdem schwer geworden. Mir war’s, als ob ich von einem stolzen Menschenkinde schiede, dem sich nach langem Warten das Herz für mich geöffnet. Bald rückt der Schienenstrang diesem Einsiedler unter den Seen näher an den Leib, dann wird ein Stück seiner einsamen Herrlichkeit dahin sein. Modische Gasthäuser und Pensionen werden sich an ihn herandrängen, Komfort und Glanz werden ihn umgeben und vielleicht – ach, leider vielleicht – wird auch ein Dampfschiff ihn durchfurchen. Es ist kein Flüchten vor der Kultur; sie klettert über die steilsten Berge und was sie erfaßt, dem verwandelt sie die Physiognomie, zum Guten oder zum Schlimmen. Ade, du wundersam entlegener Erdenfleck, und wehre dich herzhaft gegen die Pfadfinder, auf daß du nicht entstellt bist:
„Wann i komm’, wann i komm’, wann i wiederum komm’.“