Um die Erde (Zweiter Brief: Auf dem Greenwood Cemetery zu Brooklyn)
Im Sommer des vergangenen Jahres saß ich in träumerischer Ruhe auf dem Friedhofe des Oybin in Sachsen; als im Herbste die Blätter fielen, wandelte ich einsam unter den düsteren Hollunderbäumen des alten Judenfriedhofes in Prag; jetzt, wo junges Grün den Zweigen entsprießt, lehne ich an einem Grabmale des Greenwood Cemetery in Brooklyn. Drei Plätze, denselben Zwecken dienend, derselben Bestimmung geweiht und doch – wie verschieden ist ihr Charakter, wie verschieden die Sprache, die aus ihrer Anlage, ihrem Pflanzenwuchs und ihren Monumenten zu uns redet!
Süßer, heimlicher Friede umfächelt uns auf den Höhen Oybin; das Herz hat innerhalb dieser Idylle kaum einen anderen Wunsch, als auch dereinst unter diesen alten Walnußbäumen zu Füßen der verfallenen Klosterruinen schlafen zu dürfen. Weltentrückt, schlägt das Herz ruhiger in stillem Entsagen.
Unter dem mauerumschlossenen Hollunderdickicht in Prag aber ist’s finster und schauerlich. Die verloschenen Schriftzüge, die fremdartig durch Gestrüpp und Unkraut von den zerborstenen Tafeln uns entgegenstarren, sie kälten das Herz; kein freundlicher Strahl der Hoffnung steigt aus dem über einander gethürmten Schutte der Gräber empor; unheimlich schüttelt’s uns, als fühlten wir die Nähe des Judengottes, der furtchtbar und unerbittlich richtet und keine Gnade kennt.
Nichts von dem empfinden wir, wenn wir über die Hügel des Greenwood wandern; kaum bemerken wir die traurige Bestimmung dieser paradiesischen Ruhestätte; sie breitet sich über eine Reihe wohlbewachsener Hügel aus, die allenthalben liebliche Plätze und reizende Ansichten bieten. Wunderbar schöne Baumgruppen neigen sich da und dort über einen stillen See, dem zur Sommerszeit ein Springbrunnen sprudelnd entsteigt, oder sie ziehen sich einen Hügel hinan, dessen Gipfel von einem prächtigen Denkmal geziert wird. Nirgends streiten die Todten sich um den Raum; der Freigebigkeit, mit welcher der Boden zugemessen wurde, entspricht der Reichthum und die Vornehmheit der Marmormonumente, die in schneeweißer Pracht dem Blumendickicht entsteigen.
Sie bekunden zwar nicht die unendliche Mannigfaltigkeit, den architektonischen Reichthum und die künstlerische Reinheit, die wir auf europäischen Friedhöfen zu finden gewohnt sind, dagegen überrascht uns eine seltene, an Verschwendung grenzende Benutzung der kostbarsten Materialien, sodaß sich wohl kaum ein Friedhof der Welt in dieser Hinsicht mit dem Greenwood messen dürfte. Der Gesammteindruck der zahllosen, schlanken Marmorobelisken, die neben Kreuz und Sarkophag vorherrschen und in allen erdenklichen Varianten erscheinen, ist ein ungemein edler und erhabener und kommt etwa dem gleich, den wir bei Betrachtung einer der edelsten Architekturblüthen des alten Griechenthums empfinden.
Greenwood Cemetery ist eine fashionable Ruhestätte mit [578] classischem Anstriche; es fehlt ihm ganz und gar der erkältende Hauch, der gar zu leicht derartige Anlagen zu einer gern gemiedenen Schauerstätte macht. Was ihn aber erst recht zu einem Juwel von höchstem Glanze erhebt, das ist der wunderbar schöne Ausblick, der sich von seinen höher gelegenen Punkten dem Auge bietet. Weit, weit hinaus schweift der Blick über das herrlichste Panorama, über die langausgedehnten, wechselreichen Häuserlinien von Brooklyn, über das Häusermeer von Manhattaneiland, dem allenthalben reiche Paläste, stolze Thürme und kühne Brücken entsteigen. In majestätischer Ruhe liegt die Herrscherin der Neuen Welt vor uns da wie ein Zauberbild, umrahmt in blauer Ferne von den Höhenzügen der Staaten New-York, New-Jersey und Pennsylvania – zur Linken aber dehnen sich breit und gewaltig die dunkelblauen Fluthen der mächtigen Hudsonmündung, die, schon halb dem Meere zugehörig, einen der stolzesten und schönsten Häfen der Welt bildet. Und nichts ist da, was die tiefe Ruhe stört; wir hören kaum den Lärm der Riesenstadt, kaum das Rollen eines den Friedhof durcheilenden Wagens, kaum den Signallaut der Schiffe, welche in weiter Ferne mit weißschimmernden Segeln durch die blaue Meeresbucht ihre stillen Bahnen ziehen.